Die Worte der weißen Königin - Antonia Michaelis - E-Book

Die Worte der weißen Königin E-Book

Antonia Michaelis

4,5

Beschreibung

Poetisch und voller Sehnsucht - der neue Roman der "Märchenerzählerin" Niemanden beneidet Lion mehr als die Seeadler, wenn er sie beobachtet, wie sie hoch am Himmel kreisen, so frei und glücklich. Bei ihm zu Hause in dem Dorf an der Ostsee gibt es nicht viel, auf das man neidisch sein könnte. Immer häufiger verwandelt sein Vater sich im Alkoholrausch in den gewalttätigen schwarzen König, der Lion misshandelt. Als er es nicht mehr aushält, flüchtet Lion in den Wald zu den Adlern. Doch das Leben dort ist hart und immer wieder denkt Lion an die weiße Königin, die alte Frau, die ihm einst so wunderbar vorgelesen hat. Durch sie hat er den Zauber der Worte, ihre Wärme und Kraft entdeckt ... Antonia Michaelis erzählt eine tief berührende Geschichte über familiäre Gewalt und die Kraft, sich zu befreien Eine sprachlich brillante Hommage an die Macht der Worte und der Fantasie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 301

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (30 Bewertungen)
21
4
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Birgit und Klaus Berge, deren entlaufene Ziege ihren Weg in dieses Buch gefunden hat und die schuld daran sind, dass Lion die Kirche fast nicht mehr erkannt hätte, weil sie für ihre Restaurierung gesorgt haben. Und für Hanne und Lona, die wie ich die Seeadler auf ihren weiten Spaziergängen treffen.

Vorwort

Ein blaues Viereck Freiheit

Meine Geschichte beginnt in der Dunkelheit.

Denn in der Dunkelheit traf ich die erste wirklich wichtige, wirklich mutige Entscheidung meines Lebens. Es war die Entscheidung, die Dunkelheit zu verlassen. Und meine eigene Geschichte zu beginnen, draußen, im Licht.

Ich lag da und konnte mich kaum rühren. Es war kalt.

Jeder Zentimeter meines Körpers tat weh, und in meinem Kopf tickte der Schmerz wie die Zeiger einer Uhr. Die Zeit verging und verging und verging, während ich in der Dunkelheit lag, hinter einer verriegelten Tür, ganz allein.

Ich weiß nicht, wie lange ich so lag. Lange. Viele, viele Stunden. Einen Tag, oder zwei oder drei. Ich schlief und erwachte und schlief wieder ein, doch es gab keinen Unterschied zwischen Schlafen und Wachen, denn alles war dunkel. Nur in den Schacht vor dem winzigen Kellerfenster fiel ein wenig Licht. Der schwarze König, der noch dunkler war als die Dunkelheit, hatte mich eingesperrt. Und er ging dort oben auf und ab, über meinem Verlies. Manchmal glaubte ich, seine Schritte zu hören, die näher kamen. Vielleicht bildete ich mir die Schritte nur ein. Vielleicht hatte er mich vergessen.

Und dann begriff ich ganz plötzlich, dass es zwei Möglichkeiten gab.

Ich konnte aufgeben. Darauf warten, dass der schwarze König die Tür öffnete und mich herausließ und mir zu essen gab. Aber er würde mich wieder einsperren, und er würde wieder dafür sorgen, dass in meinem Kopf der Schmerz tickte. Es würde immer und immer so weitergehen. Und wenn ich alt genug wäre, den schwarzen König zu verlassen, wäre mein Herz so hart wie sein eigenes. Ich wäre wie er, wütend und unberechenbar, ungerecht und kalt.

Oder ich konnte fliehen. In diesem Fall brauchte man mehr Mut dafür, zu fliehen, als zu bleiben. Ich konnte versuchen, einen Weg in die Freiheit zu finden. Ich konnte zum ersten Mal wirklich etwas tun. Bisher hatte ich mich meistens geduckt und Angst gehabt vor dem schwarzen König. Ich hatte die Augen geschlossen vor seiner Wut und gedacht: Es geht vorbei, es geht vorbei, es geht vorbei. Wenn ich den schwarzen König verließ, würde niemand mir mehr zu essen geben. Ich hätte kein Dach über dem Kopf und kein Bett. Er würde mich suchen, und falls er mich fände, würde etwas Schreckliches geschehen. Doch was konnte schrecklicher sein als ein aufgegebenes Leben mit einem gefrorenen Herzen?

Das, dachte ich, war ein Satz wie aus einem Buch, und es war ein guter Satz.

»Ich werde es tun«, flüsterte ich. Meine Stimme klang heiser und kratzig von der Kälte. »Jetzt. Ehe der schwarze König zurückkommt, um mich zu holen.«

Ich stützte mich an der Wand ab, kam auf die Beine und schaffte es bis zum Kellerfenster. Meine Zähne schlugen aufeinander vor Kälte. Mir war schwindelig. Aber wenn ich die Wange an das Glas der Scheibe legte, konnte ich durch den schrägen Schacht ein Stück des Himmels sehen: blau und unendlich weit weg.

Und in diesem winzigen blauen Viereck schwebte ein Vogel mit riesigen Schwingen. Er sah nicht riesig aus, denn er schwebte hoch, hoch oben im Blau. Seine Schwingen wirkten breit und kantig, und die kurzen Federn an seinem Schweif waren hell wie Licht. Später habe ich mich oft gefragt, ob es möglich ist, dass er mich gesehen hat. So weit unten, hinter der Scheibe, in der Dunkelheit. Denn in diesem Moment begann er hinabzugleiten. Er glitt in weiten Bögen hinab, ab und zu verließ er das Himmelsviereck, das ich sehen konnte, und wenn er zurückkehrte, war er jedes Mal näher. Wie frei er war, dort in der Luft. Er kannte keine Grenzen, keine Mauern, keine Zwänge.

»Komm!«, flüsterte ich. »Komm und hilf mir!«

Ja, dachte ich. Ich würde meinen eigenen Weg gehen. Den Weg des Seeadlers.

1. Kapitel

Ri-ki-ki-kri

Während ich dem Seeadler zusah, sammelte ich alle Kraft in mir, die ich hatte. Kraft, um zu fliehen. Ich wusste: Ich musste an etwas Helles, Schönes, Warmes denken, um diese Kraft zu sammeln. Und ich dachte daran, wie alles gewesen war, bevor es den schwarzen König gab.

Denn natürlich beginnt meine Geschichte eigentlich früher. Sie beginnt vermutlich damit, dass ich geboren wurde, im Sommer 1999. Daran erinnere ich mich nicht mehr, obwohl ich es oft versucht habe. Ich wüsste gern, wie das Gesicht meiner Mutter aussah, als sie mich zum ersten Mal in ihren Armen hielt. Vielleicht hat sie gelächelt. Vielleicht hat sie sich gefreut, mich zu sehen. Vielleicht hat sie mich an sich gedrückt und gesagt: »Willkommen, mein kleiner Junge, auf der Welt. Du sollst einen großen, starken Namen bekommen, damit sie dich nicht unterkriegt, die Welt. Lion sollst du heißen, Li-Jonn Justin Torgelow. Lion ist ein englisches Wort, und es bedeutet Löwe, obwohl ich nicht weiß, wie man es auf Englisch ausspricht. Aber englische Namen sind gut, denn die Leute in Amerika, wo man englisch spricht, haben alle große Autos und viel Geld und spielen im Fernsehen mit. Wer einen englischen Namen hat, schafft es womöglich einmal ins Fernsehen.«

Natürlich hat meine Mutter das nicht gesagt. Ich stelle es mir nur gern vor. In meiner Vorstellung spricht meine Mutter wie die Leute in Büchern, obwohl das mit dem Fernsehen nicht in einem Buch stehen würde, das hat sie wirklich gesagt, nur auf eine andere Art und Weise. Dass sie es gesagt hat, weiß ich von meinem Vater. So wie alles, was ich über meine Mutter weiß. Das ist nicht viel.

Ich weiß, dass sie gern getanzt hat und in derselben Woche manchmal zweimal ihre Haarfarbe änderte. Und dass sie vor meiner Geburt in der Drogerie an der Kasse saß. Ich weiß, dass sie hübsch war und jung und dass sie eine Tätowierung auf der rechten Schulter hatte, nämlich eine Rose mit Flammen. Und dass sie leben wollte, laut und fröhlich und ausgelassen. Mein Vater hat gesagt, sie wollte so sehr leben, dass es ihm Angst machte, obwohl ich nicht genau weiß, was er damit gemeint hat.

Vor allem weiß ich, dass sie weggegangen ist. Sie ist in den Westen gegangen, wo es mehr Arbeit gibt, und mehr Autos, fast so wie in Amerika. Eines Tages, hat mein Vater gesagt, war sie einfach nicht mehr da. Nur einen Brief hat sie geschrieben. Dass sie es mit ihm in dieser Einöde hier nicht aushält.

Über mich stand nichts in dem Brief.

Ich habe meine Mutter nie vermisst, denn ich kannte sie ja nicht. Und ich mochte die Einöde, in der wir lebten. Es war eine wunderbare Einöde, ein Märchenland, in dem man alles erleben konnte, was man wollte. Jedenfalls dachte ich das, als ich klein war.

Das Haus, in dem wir wohnten, hatte mein Vater von seinen Eltern geerbt. Es hatte ein Reetdach voller Moos, so als wäre ein Garten für Kobolde auf dem Dach. Denn Kobolde schlafen gern auf Moospolstern, das wusste ich von meinem Vater. Hinter dem Haus gab es einen Hof, umgeben von einer Mauer aus Lehmziegeln. In den Fugen zwischen den Ziegeln hatten die Solitärbienen ihre Löcher. Das sind Bienen, die allein wohnen, und das wusste ich auch von meinem Vater, denn er kannte sich nicht nur mit Kobolden aus. Im Sommer hörte man die Bienen in der warmen Mauer summen, als wäre sie ein einziges großes Musikinstrument.

An einer Seite des Hofs lag ein Schuppen, in dem lebten im Winter die Ziegen. Im Sommer lebten sie im Garten, hinter dem Schuppen, zusammen mit den Hühnern. Als ich sehr klein war, fragte ich mich lange, welche der Tiere nun die Eier legten, die wir aßen.

Im Garten wuchsen auch Kartoffeln und Erbsen und Radieschen und tausend Dinge. Die Leute in der Gegend hatten alle ihr eigenes Gemüse, denn das Gemüse in der Kaufhalle war zu teuer.

Vor unserem Haus gab es einen breiten Sandweg mit tiefen Fahrspuren von Traktoren, und gegenüber standen die grauen Ruinen anderer Häuser. Sie hatten keine Dächer mehr, und der Holunder wuchs durch ihre Fenster hinein und wieder hinaus. Die Leute, die dort gewohnt hatten, waren weggegangen, um anderswo Arbeit und Geld zu finden.

Mir fehlten sie nicht.

Ich spielte in den Ruinen zwischen den Holunderbüschen und fand Schätze dort, die ich unter dem Bett sammelte: glitzernde leere Aluminiumstreifen von Tabletten, einen alten Ball, Scherben von geblümten Fliesen, Hühnerknochen, den blanken Schädel einer Katze mit beinahe allen Zähnen.

Außer uns wohnten im Dorf nur noch ein paar alte Leute. Es gab keinen Laden und überhaupt gar nichts, nur eine Bushaltestelle. Dort stieg mein Vater jeden Morgen in den Bus zur Arbeit.

Er war stark, mein Vater, stark wie ein Löwe, so stark, wie ich einmal werden sollte, wenn es nach meiner Mutter ging. Er arbeitete auf der Werft in der Stadt und half, die großen Schiffe zu bauen, die aufs Meer hinausfuhren, in die große, unendliche Freiheit. Aber wenn er zu Hause war, gehörte er nur mir. Dann gingen wir zusammen zum Meer und schoben das alte Holzboot durchs Schilf, um draußen auf dem Wasser zu angeln. Oder wir wanderten durch die Wälder und fanden Vogelnester und Rehkitze.

Die Wälder waren unendlich wie das Meer, grün und voller Geraschel und Gewisper. Voller verborgener Gefahren. Doch wenn ich neben meinem Vater ging, fühlte ich mich unverwundbar. In seinem Schatten war ich sicher.

Er spielte nie Spiele mit mir, die man mit Kindern spielt. Er tat einfach die Dinge, die er ohnehin tat, und ich durfte ihn begleiten, und das war das Beste daran.

Im Frühjahr schwebte unser Haus auf einer violetten Wolke aus blühendem Flieder. Auf den Feldern strahlte der Raps leuchtend gelb, und später blühten die Kornblumen blau wie Wasser und die Mohnblumen rot wie ein Sonnenuntergang.

Im Sommer machte ich in den Wiesen Irrgärten für mich selbst, indem ich die ungemähten Halme platt trat, und manchmal legte ich mich ins Gras und sah in den hohen Himmel, über den die Kormorane flogen wie geheime schwarze Zeichen.

Im Herbst kletterte ich in die Wipfel der Bäume und ließ mich vom Wind hin und her schaukeln.

Und im Winter hingen von unserem Reetdach Eiszapfen, die fast so lang waren wie ich selbst. Dann zogen wir durch die Wälder auf unseren Skiern. Mein Vater hatte sie selbst aus alten Brettern gemacht, und bestimmt gab es bessere Skier zu kaufen, aber für mich waren unsere Holzskier gut genug. Bei Schnee war alles im Wald still und ohne Farbe. Nur die Beeren an den Bäumen leuchteten rot wie Juwelen; und die Hasen saßen mit dummen Gesichtern mitten auf dem Feld und begriffen nicht, dass man sie sah. Das begriffen sie erst, wenn sie das Gewehr meines Vaters hörten, und dann war es zu spät.

Er brachte mir bei, wie man sie abzog, ehe ich schreiben konnte. Abends briet er ihr Fleisch in der Pfanne, während ich den Ofen mit Holz fütterte. Ich hörte dem Knistern des Feuers zu und versuchte, das unscharfe Bild unseres alten Fernsehers zu erkennen. Und ich roch das Fleisch und wusste, dass es verboten war, Hasen zu schießen. Man brauchte dafür einen Jagdschein und eine Erlaubnis und tausend Dinge, die Geld kosteten. Mein Vater sagte, man brauchte nur zuverlässige Nachbarn, denen man ab und zu eine Hasenkeule vorbeibrachte und die im Übrigen schön den Mund hielten, falls jemand sie nach Schüssen fragen sollte.

Hasen gab es sowieso zu viele in der Gegend. Rehe auch. Und Enten. Wir lebten ganz gut in unserer Einöde. Aber das war lange, lange, lange, bevor der schwarze König kam.

Bevor er kam und meinen Vater fing wie einen Hasen und ihn einsperrte. Aber davon will ich jetzt nicht erzählen. Noch nicht.

Denn dann passierten zunächst zwei Sachen, die mein Leben völlig veränderten.

Als die erste Sache geschah, war ich fünf Jahre alt. Es war die Zeit zwischen Winter und Frühjahr, wenn das Eis auf dem Meer zu Schollen zerbricht, die bei jeder Welle aneinanderstoßen wie ein großes klingendes Glockenspiel. Wenn die Möwen und Säger und Blesshühner wieder draußen auf dem freien Wasser schwimmen. Wenn am Boden zwischen den Buchenwurzeln die Schneeglöckchen mit ihren weißen Köpfen wippen und man sich fragt, ob sie bei uns an der Küste nicht Sturmglöckchen heißen sollten, weil es mehr stürmt als schneit. Es war ein Samstag, die Sonne schien, und wir ließen die Ziegen hinaus – zum ersten Mal nach dem Winter.

»Guck dir an«, sagte mein Vater, »wie sie ihre Nasen in die Luft strecken! Am liebsten würden sie über das Gatter springen und davonstürmen. Sie wittern die Veränderung. Sie wittern, dass etwas geschieht.«

Und damit, dass etwas geschehen würde, meinte er sicher den Frühling. Es geschah aber etwas anderes.

Mein Vater schritt die Gemüsebeete ab und zog an seiner Zigarette, während er sie begutachtete. Ich ging ihm nach, doch ich wusste nicht, was es da zu begutachten gab. Es wuchs ja noch nichts. Schließlich sah ich mich nach etwas Interessanterem um, und da stand mitten im Garten eine unserer Ziegen. Ich entdeckte die Lücke im Gatter, durch die sie sich gezwängt hatte. Ich riss am Ärmel meines Vaters.

»Guck mal!«, rief ich. »Guck doch mal!«

Wie man das als Fünfjähriger eben so ruft.

Mein Vater blickte auf. Einen Moment sahen er und die Ziege sich an. Dann drehte sie sich um und rannte. Mein Vater fluchte, ließ seine Zigarette fallen und rannte ihr nach. Ich holte ihn erst ein paar Felder weiter ein. Er war stehen geblieben. Das Feld lag auf einer Anhöhe, und ich werde nie vergessen, wie mein Vater dort stand, am höchsten Punkt des Feldes, auf der dunklen, gefrorenen Erde unter dem hohen hellen Himmel. Wie ein Turm. Wie jemand, dem nichts je etwas anhaben könnte.

»Wo … wo ist die Ziege?«, fragte ich, nach Atem ringend.

Mein Vater schüttelte den Kopf und suchte in seinen Taschen nach einer neuen Zigarette.

»Ich habe sie verloren«, sagte er. »Der Frühling macht die Biester verrückt. Komm. Gehen wir zurück nach Hause.«

»Aber … wir können die Ziege doch nicht hierlassen«, sagte ich.

»Die kommt zurück«, sagte mein Vater. »Du wirst schon sehen. Hier draußen gibt es noch nicht genug Grünes zu fressen. Wenn sie Hunger hat, kommt sie.«

Ich ging neben meinem Vater her, quer über die Felder. Man sah unser Haus schon von Weitem, die Frühjahrssonne ließ das Koboldmoos auf dem Dach grün leuchten, und die Lehmmauern strahlten rotbraun und warm. Wenn ich eine Ziege wäre, dachte ich, würde ich auf dem kürzesten Weg dorthin zurückkehren.

»Komisch«, sagte mein Vater leise. »An dem Tag, bevor deine Mutter ging, ist auch eine Ziege weggelaufen. Es war genau so ein Tag wie heute.«

»Und?«, fragte ich. »Ist sie wiedergekommen?«

»Nein«, sagte mein Vater. Aber ich wusste nicht, ob er die Ziege meinte oder meine Mutter.

Unsere Ziege kam auch nicht wieder.

Am Nachmittag gingen wir los, um sie zu suchen. Mein Vater band einer der anderen Ziegen einen Strick um, und wir nahmen sie mit. Man konnte ja hoffen, dass die weggelaufene Ziege ihre Rufe hörte. Ich durfte den Strick halten.

Wir gingen über die Felder und an den Büschen vorbei, wo die andere Ziege verschwunden war. Wir gingen bis zum Steg im Schilf und wieder zurück. Wir gingen die Straße entlang. Und unsere Ziege am Strick rief brav nach ihrer Schwester. »Mähäää!«, rief sie. »Mähiiie! Komm her, komm wwieder!«

Aber die andere Ziege kam nicht.

Als es dämmerte, hatten wir sie noch immer nicht gefunden. Das neblige Zwielicht war voller Schatten; ich umklammerte den rauen Strick fest und ging dicht neben meinem Vater.

»Was ist, wenn wir sie nicht finden?«, flüsterte ich.

»Dann holt der Fuchs sie«, antwortete mein Vater. »Oder sie erfriert. Es ist noch zu kalt nachts.«

Wir wanderten ein Stück auf dem Deich entlang, zu unserer Linken den dunklen Wald, zu unserer Rechten das Schilf und das Wasser. Einmal bewegte sich etwas im Schilf, und die Halme brachen krachend.

»Wildschweine«, sagte mein Vater. »Besser, man begegnet ihnen nicht. Sie können verdammt wütend werden, wenn sie sich bedroht fühlen.«

Ich versuchte, mich noch dichter bei meinem Vater zu halten. Kurze Zeit später verließen wir den Deich, um in den Wald hinunterzugehen. Der Deich war steil.

Mein Vater ging voraus, und die Ziege riss ängstlich an ihrem Strick, denn ihre Hufe rutschten in dem halb überfrorenen Schlick. Ich rutschte hinter ihr her. Und dann verlor ich das Gleichgewicht.

Jetzt falle ich kopfüber den Deich hinunter, dachte ich, und breche mir beide Beine – aber mein Vater fing mich unten auf.

Er sagte nichts, lächelte nur, und wir gingen weiter. Aber sehr viel weiter kamen wir nicht. Bevor man in den richtigen Wald kam, musste man zwischen hohen vertrockneten Stauden hindurch, und dahinter über eine Lichtung. Als mein Vater auf die Lichtung trat, blieb er ganz plötzlich stehen. Er streckte die Hand aus, damit ich verstand, dass auch ich stehen bleiben musste. Und ich sah, was er sah.

Mitten auf der Lichtung, im langen, strähnig braunen Gras, lag etwas. Etwas Regloses. Darauf saßen zwei große Vögel. Riesige Vögel. Seeadler.

Ich hatte sie bisher nur hoch oben am Himmel dahingleiten sehen, und ich hatte gewusst, dass sie groß waren. Aber ich hatte gedacht, sie wären auf die Weise groß, auf die ein Bussard groß ist. In diesem Moment, auf der eisigen Nochwinterlichtung, begriff ich, dass ich mich geirrt hatte. Und im gleichen Moment begriff ich, auf was sie saßen. Es war unsere Ziege. Der größere der Seeadler war fast so groß wie sie. Fast so groß wie ich.

Der Wind trug unseren Geruch und die Geräusche unserer Schritte fort, die Adler hatten uns nicht bemerkt. Sie rissen Stücke aus dem Körper der Ziege, und ihre gelben Schnäbel waren rot vom Blut. Ich wollte nach der Hand meines Vaters greifen, doch er schüttelte mich ab. Er brauchte seine Hände.

»Die Scheißviecher«, knurrte er und nahm sein Gewehr von der Schulter. Die Ziege neben mir stand still wie Eis. Ich spürte ihre Angst durch den Strick.

Mein Vater lud sein Gewehr. Die Seeadler fraßen weiter. Ich wagte nicht zu atmen. Ich wagte nicht zu denken. Ich hätte mein Blut angehalten, wenn ich gekonnt hätte. Mein Vater legte das Gewehr an und zielte.

Da hob der kleinere Seeadler den Kopf und sah uns an. Seine Augen waren gelb wie sein Schnabel. Nein, er sah nicht uns an. Er sah mich an. Es war ein junger Adler. Einer, der erst im letzten Frühjahr das Fliegen gelernt hatte. Er war, in Seeadlerzeiten gerechnet, so jung wie ich selbst. Und in der Sekunde, als mein Vater schoss, sah ich die Nochwinterwelt durch seine gelben Augen: Ich sah, dass es unter den Eisschollen nicht genügend Fische gab. Ich sah, dass der Wald zu wenig Nahrung bot. Ich sah eine Ziege, die den glatten Pfad vom Deich hinunterrutschte und sich die Beine brach. Ich sah den älteren Seeadler neben mir, groß und stark und unverwundbar, den älteren, in dessen Schatten dem jungen nichts geschehen konnte.

Dann zerriss der Schuss meines Vaters die Luft, zerriss das Bild, das ich durch die Adleraugen sah. Die Ziege, die lebendige Ziege, zerrte an ihrem Seil, und ich krallte meine Finger darum, während vor uns die Adler mit einem seltsam hohen Schreckensschrei aufflogen. Sie waren zu groß und zu schwer, um rasch aufzufliegen. Als sie ihre Schwingen ausbreiteten, wurden sie noch riesiger. Die Schwingen des alten Adlers waren zusammen so breit, wie mein Vater groß war. Ich sah seine weißen Schwanzfedern, sah seine Krallen, seinen scharfen Schnabel, seine langen braunen Federn – und spürte, wie mein Vater mich zu Boden drückte. Die beiden riesigen Vögel flogen direkt auf uns zu. Sie strichen über unsere Köpfe hinweg; ich spürte den Luftzug ihrer Flügel. Ich sah sogar, dass der junge Adler einen Ring an seinem linken Bein trug, wie eine zahme Taube. Ich fürchtete mich so sehr, dass ich glaubte, ich müsste auf der Stelle vor Angst sterben. Und gleichzeitig wollte ich nichts lieber, als mit den Adlern fliegen. Sie waren das Schönste, das Beeindruckendste, das Wunderbarste, das ich je gesehen hatte. Königlich, prächtig, vollkommen. Obwohl ich für diese großen Worte mit fünf Jahren natürlich noch zu klein war. Die großen Worte bekam ich erst später geschenkt.

In diesem Augenblick bekam ich ein Gefühl geschenkt: die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach etwas Unmöglichem.

Die Adler stiegen auf, stiegen höher, doch der ältere hatte Schwierigkeiten. Er taumelte jetzt durch die Luft wie ein verletzter Schmetterling. Mein Vater musste seinen Flügel getroffen haben. Er schoss noch einmal, und ich zuckte zusammen, als hätte er mich getroffen. Der Adler tat einen letzten Flügelschlag und stürzte vom Himmel wie ein Stein. Ich sah den jungen Adler zögern. Er flog eine Schleife über der Lichtung, als könnte er sich nicht vom Körper des anderen Adlers trennen, der jetzt dort unten lag. Der Ring an seinem Bein glänzte einmal kurz auf im letzten Abendlicht.

Flieg weg!, wollte ich schreien. Rasch! Der Himmel war so groß und die Freiheit so unendlich, doch der Seeadler flog eine weitere Schleife. Er rief dabei wie ein viel, viel kleinerer Vogel: »Ri-ki-ki-kriii! Ri-ki-krriii!«

Er rief den alten Adler. »Steh auf!«, rief er. »Flieg wieder mit mir durch die Lüfte, damit ich in deinem Schatten sicher sein kann. Flieg, flieg, ri-ki-ki-kriii!«

Mein Vater zielte ein drittes Mal.

Da ließ ich den Strick der Ziege los, und sie rannte über die Lichtung, panisch. Und mein Vater schoss nicht. Er fluchte, ließ sein Gewehr fallen und machte einen Satz vorwärts, um das Ende des Stricks zu packen.

Und ich hob den Kopf und sah den Adler eine letzte Schleife fliegen.

»Jetzt flieg fort!«, flüsterte ich, obwohl er das natürlich nicht hören konnte. »Flieg, flieg, Rikikikri!«

Es war, als spräche ich den Namen des Adlers aus, und vielleicht verstand er mich deshalb. Denn er flog fort. Ich sah ihn mit zwei langen Flügelschlägen emporsteigen in den grauen Dämmerungshimmel des Nochwinters und auf dem Wind davongleiten. Davon, davon, davon.

Aber ich wusste, dass ich ihn nie vergessen würde.

An diesem Abend saß mein Vater nach dem Essen lange am Küchentisch und rauchte. Er starrte den Fernseher an, in dem die Leute an diesem Tag alle breit und kurz waren wegen der Bildstörung. Aber er dachte nicht an die breiten kurzen Leute, das sah man. Er dachte an die Ziege, die wir verloren hatten. Der Rauch seiner Zigarette füllte die Luft mit blauen Schwaden, und auf einem Teller vor ihm sammelten sich die Kippen wie ein Ziegengrab.

»Der Weg den Deich runter war so glatt«, sagte ich leise. »Ich glaube, die Ziege ist da runtergefallen. Ich glaube, sie war schon tot. Die Adler haben sie nur gefunden.«

Mein Vater drückte seine letzte Zigarette aus und sah mich an.

»Sie ist vielleicht gefallen«, sagte er. »Sie war vielleicht verletzt. Aber die Adler haben sie getötet. Sie reißen auch Hasen, wenn sie nichts zu fressen haben. Im Winter. Die Scheißviecher.«

»Wir … wir hätten die Ziege auch irgendwann geschlachtet«, meinte ich. Ich wollte ihn trösten, meinen Vater. Ich wusste so wenig. »Weißt du, ich denke, sie hatte einen schönen Tod. Erst hat sie noch ein Abenteuer erlebt, im Wald. In der Freiheit.«

»Ja, wir hätten sie irgendwann geschlachtet«, sagte mein Vater bitter. »Und weißt du, Lion, wie viel Fleisch so eine Ziege hat? Wie lange es gereicht hätte?« Er schlug mit der Hand auf den Tisch und plättete die leere Zigarettenpackung. »Ich lasse mir von diesen Biestern nicht meine Ziegen stehlen! Eines Tages kommen sie hierher und bedienen sich auf unserer Weide! Ich sage dir, Lion: Jeden einzelnen Seeadler, den ich erwische, werde ich abschießen. Verlass dich drauf.«

»Aber …«, begann ich. Und ich wollte ihm sagen, dass er die Adler nicht abschießen dürfe, weil sie so schön waren und so frei, aber ich war erst fünf Jahre alt, und ich fand nicht die richtigen Worte.

»Zeit fürs Bett«, sagte mein Vater schroff.

In dieser Nacht stand ich lange barfuß am Fenster und sah hinaus. Es gab nichts zu sehen, es war einfach nur dunkel. Doch ich wusste, dass irgendwo in dieser Dunkelheit der Wald lag, in dem die Seeadler ihre Nester hatten, hoch oben in den Ästen der hohen Kiefern und der alten Buchen. Nur mein Seeadler war ein junger Seeadler ohne Nest, und irgendwo dort draußen flog er herum, rastlos, ziellos, auf der Suche.

Ich öffnete das Fenster ganz leise und beugte mich hinaus. Die Luft, die hereinfloss, war eiskalt, doch sie roch bereits nach Frühling.

»Rikikikri!«, rief ich leise, denn ich wollte nicht, dass mein Vater mich rufen hörte. »Rikikikri, bist du da?«

Ich lauschte lange in die Nacht. Ich bekam keine Antwort. Mein Adler war weit, weit weg. Eines Tages, dachte ich, kommt er wieder.

Ich würde auf ihn warten.

2. Kapitel

Man braucht etwas, auf das man warten kann

Die zweite Sache, die mein Leben veränderte, war die alte Dame, und die war natürlich keine Sache. Ich begegnete ihr ein oder zwei Wochen später.

Mein Vater und ich gingen an jenem Tag über die Feldwege nach Wehrland, weil jemand dort einen Hasen kaufen wollte. Der Hase war eingefroren gewesen, ohne Fell, und mein Vater trug ihn in einer Plastiktüte, im Rucksack.

Die Felder hatten bereits einen leichten grünen Schimmer vom Frühling, der kam. Ich suchte den Himmel nach einem schwarzen Umriss mit breiten kantigen Flügeln ab, aber es war keiner da.

»Wenn du dauernd in den Himmel guckst, fällst du irgendwann auf die Nase«, sagte mein Vater. »Und außerdem kommen wir so nie an.«

Also vergrub ich meine Hände tiefer in den Jackentaschen und guckte nicht mehr in den Himmel. Es war seltsam – seit dem Tag, an dem die Adler so dicht über uns hinweggeflogen waren, hatte sich etwas zwischen uns verändert. Als wäre da eine Hecke zwischen uns gewachsen, durch die man sich schlecht unterhalten konnte.

An einer Stelle führte der Weg durch den Wald. Und ich sah einen Schatten zwischen den Bäumen davonhuschen. Einen Augenblick dachte ich, es wäre ein Kind, ungefähr so groß wie ich. Aber nein, sagte ich mir, es musste wohl ein Reh oder ein Hase gewesen sein. Denn was sollte ein Kind allein hier draußen im Wald, in der Eiseskälte des Nochwinters?

Ich vergaß den Schatten wieder. Eine Zeit lang.

Wehrland besteht auch nur aus ein paar Häusern, aber es liegt direkt neben der Durchgangsstraße und sie haben eine Kirche dort. Eine schöne alte Kirche aus großen Steinen, vor der sich die Touristen aus dem Westen gern fotografieren. Im Sommer. Ein schmiedeeisernes Gittertor führt auf den kleinen Friedhof und zur Kirche. Bis dahin war ich nie durch das Tor gegangen. Doch an jenem Tag stand es einen Spaltbreit offen. Wie eine geheime Einladung.

Der Mann, der den Hasen kaufen wollte, wohnte schräg gegenüber der Kirche hinter einem gelben Zaun, von dem die Farbe abblätterte.

»Ich glaube, ich gehe nicht mit rein«, sagte ich. »Ich bleibe draußen und spiele ein bisschen.«

Mein Vater nickte. Er nahm den Rucksack mit dem totgeschossenen, eingefrorenen, aufgetauten Hasen und verschwand hinter einer fremden Haustür.

Als er sie hinter sich schloss, schlüpfte ich leise durch das angelehnte Eisengittertor. Dahinter lag eine andere Welt.

Nein, leider ist das gelogen. Es war der gleiche alte Friedhof, den man schon durch das Gitter gesehen hatte. Tannengrün bedeckte die Gräber, damit die Blumen nicht erfroren, und irgendwo ganz hinten goss ein sehr alter Mann ein Grab mit einer Gießkanne. Vielleicht lag seine tote Frau darin. Vielleicht dachte er, wenn er sie nur regelmäßig gießt, wächst sie wieder neu.

Ich ging den schmalen Steinplattenweg zwischen den Gräbern entlang. Er war elf Schritte lang, und an seinem Ende gab es eine weitere angelehnte Tür. Das war die Tür zur Kirche.

Von drinnen hörte ich Stimmen. Die Stimmen gehörten Kindern, und sie redeten alle durcheinander. Dann waren sie still, und es gab nur noch eine Stimme: eine erwachsene Stimme. Diese Stimme las eine Geschichte vor.

Ich hatte oft Erwachsenen zugehört, die Geschichten vorlasen, im Kindergarten. Sie lasen Sätze vor, und die Sätze gaben einen Sinn, und das war in Ordnung so. Doch die Stimme hinter dieser Tür las Worte, und die Worte gaben einen Klang, und ich stand ganz still, um keines zu verpassen. Es war wie Musik. Es war wunderbar. Ich verstand nicht alles, was dort drinnen gelesen wurde, manche Worte waren schwierig und sperrig und viele hatte ich noch nie gehört. Aber ihr Klang floss in mich hinein wie Wasser. Ich verstand, dass es eine Geschichte über jemanden war, der eine Geschichte durch eine Tür hört. Genau wie ich. Ist das nicht merkwürdig? In der Geschichte war es ein Mädchen, und sie vergaß alles wieder, was sie gehört hatte. Sie behielt nur einen Satz: Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall. Ich dachte, dass ich diesen Satz ebenfalls behalten wollte.

Er war wie ein Zauberspruch.

»Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall«, sagte ich vor mich hin, immer und immer wieder, und so bekam ich nicht mit, wie die Geschichte weiterging. Was das Mädchen mit dem Satz machte und wohin es ihn mitnahm. Aber das Mädchen war unwichtig.

Als die Stimme schwieg, stieß ich die Kirchentür vorsichtig auf und betrat den dämmrigen Raum dahinter.

»Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall«, murmelte ich und ging zwischen den Bänken hindurch. Ganz vorn, vor dem Altar, standen Klappstühle, und darauf saßen Kinder. Ungefähr sieben Kinder. Die meisten kannte ich vom Sehen, sie waren aus Wehrland oder aus einem der anderen Dörfer. Zwischen ihnen jedoch saß jemand, den ich noch nie gesehen hatte: Es war eine alte Dame in einem dicken roten Wintermantel.

Keine Frau, eine Dame. Sie saß ganz aufrecht. An den Händen trug sie altmodische schwarze Handschuhe aus feiner Wolle, und das weiße Haar hatte sie hinten mit einer Silberspange zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie saß da wie eine Königin, und in der Hand hielt sie ein Buch wie ein Zepter. Versteht mich nicht falsch: Sie wirkte nicht hochnäsig oder herablassend, sondern auf eine ganz andere, unerklärliche Weise königlich. Sie sprach jetzt mit den Kindern, alle redeten wieder durcheinander, und die Königin lachte. Ihr Gesicht war voller Lachfalten.

Als ich durch den ganzen Mittelgang gegangen und vorn angekommen war, sah die Königin auf und blickte mich an.

»Ich … oh … ich …«, stotterte ich. Ich wusste ja nicht, ob ich hier sein durfte. Ein paar andere Kinder drehten sich um.

»Das ist Lion«, sagte ein Mädchen. »Seine Mutter ist weggelaufen, und sein Vater verkauft Hasen.«

»Tote Hasen«, sagte ein Junge. »Von den Feldern. Ohne Fell. Obwohl er das gar nicht darf, weil er kein richtiger Jäger ist.«

Ich sah zu Boden. Bestimmt würde die Königin jetzt ärgerlich werden.

»Hasen?«, fragte sie, so als hänge ihr Kopf noch in der Geschichte von der Linde und sie habe vorübergehend vergessen, was Hasen sind. Aber dann fiel es ihr wohl wieder ein, denn sie nickte. »Aah so, Hasen«, sagte sie zu mir. »Ja, leider bist du zu spät gekommen. Für heute sind wir fertig mit Vorlesen. Vielleicht kommst du nächste Woche früher?«

»Früher«, wiederholte ich. »Nächste Woche.«

»Wir fangen immer um vier an«, sagte die Königin. »Jeden Samstag.«

Sie lächelte mich an, und da wusste ich, dass ihr die Hasen egal waren. Sie fragte auch nicht, was für einen komischen Namen ich da hatte. Stattdessen stand sie auf und half, die Stühle zusammenzuklappen und an die Wand zu stellen, und dann gingen wir alle zusammen hinaus in den Nochwinternachmittag.

Aber plötzlich war es ein Schonfrühlingsnachmittag. Plötzlich schien die Luft milder. Ich hörte die erste Meise hoch in einem Baum singen.

Am Tor verabschiedete sich die Königin von jedem einzeln – außer von der Meise.

»Auf Wiedersehen, Lion«, sagte sie, und als sie meinen Namen aussprach, da klang er so wunderbar wie der Satz aus der Geschichte. Er klang, als müsste genau ich genau so heißen und als wäre auch meine Geschichte eine, die in einem Buch stünde. »Auf Wiedersehen, Lion. Bis nächsten Samstag.«

»Bis hmsten mstag«, nuschelte ich verlegen. Dann drehte ich mich um und rannte über den Matschweg zu dem abblätternden gelben Metallzaun.

Mein Vater stand schon dort und wartete, über der Schulter den leeren, hasenlosen Rucksack. Als ich bei ihm ankam, fuhr er mir mit seiner großen Hand durchs Haar.

»Ich … ich war in der Kirche«, erzählte ich atemlos, »jemand liest dort Geschichten vor, jeden Samstag, um vier Uhr, und alle anderen sind auch da, die anderen Kinder, und …« Ich verstummte.

»So, Geschichten«, sagte mein Vater. Mehr nicht.

Ich sah, wie er die Königin ansah. Er sah natürlich nur eine alte Dame. Sie nickte einen Gruß und stieg in ein Auto, das vor der Kirche parkte. Es war ein großes, blank geputztes Auto. Ein Königsauto. Mein Vater sah dem Auto nach.

»Ein schönes Auto«, sagte ich.

Er nickte. »Ja, wer so ein Auto fährt, kann es sich wohl leisten, in der Kirche zu sitzen und Geschichten zu lesen«, sagte er, und dann sagte er den ganzen Heimweg über nichts mehr. Aber ich spürte, dass die unsichtbare Hecke zwischen uns ein wenig dichter geworden war.

Die ganze Woche über sagte ich die Worte vor mich hin, die ich aus der Kirche mitgenommen hatte: Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall.

Und tatsächlich sprangen in dieser Woche die Knospen der Linden in den Alleen auf und wurden zu winzigen hellgrünen Blättern.

Am Samstag ging ich um zwei Uhr los. Ich ging den ganzen Weg nach Wehrland zu Fuß, allein. Ich hatte meinen Vater nicht gefragt, ob er mitkommen wolle. Ich hatte so ein Gefühl, dass er nicht wollte. Zwischen den Buchenwurzeln blühten jetzt kleine gelbe Sterne. In den Gärten, an denen ich vorbeikam, standen am Rand der Gemüsebeete Narzissen und Tulpen, blaue Perlhyazinthen und violette Krokusse, und die ganze Welt war wie ein Märchen.

Als ich durch den Wald ging, raschelte es neben mir, und etwas huschte durchs Gebüsch und verschwand.

»Hallo, Reh«, sagte ich laut. »Hallo, Hase. Ich bin es nur. Ich bin nicht mein Vater, habt keine Angst. Ich habe kein Gewehr.«

Doch ich war mir ziemlich sicher, dass der Schatten weder einem Reh noch einem Hasen gehört hatte. Es war der Schatten eines Kindes gewesen, ungefähr so groß wie ich. Mir war etwas unheimlich zumute, und ich beeilte mich, den Wald hinter mir zu lassen.

Ich bemühte mich, den Schatten im Wald zu vergessen. Ich bemühte mich so sehr, dass ich einmal falsch abbog, und so musste ich einen großen Umweg gehen, bis ich endlich in Wehrland war.

Die anderen saßen alle schon auf ihren Klappstühlen. Die alte Dame hatte den weißhaarigen Kopf über ein Buch gebeugt. Da war ein leerer Klappstuhl, und ich setzte mich darauf und war glücklich, dass jemand einen Stuhl für mich hingestellt hatte. Vielleicht war sie es selbst gewesen. Während ihre Worte meinen Kopf füllten, sah ich sie die ganze Zeit über an. Und da fiel mir auf, dass ihr weißes Haar auf die gleiche Art weiß war, wie die Schwanzfedern des alten Adlers es gewesen waren. War es möglich, dachte ich, dass der Adler sich verwandelt hatte? In eine Königin mit einem Buch? Die weiße Königin, dachte ich. Es klang schön.

Die ganze Vorlesestunde lang dachte ich darüber nach, und als wir hinterher am Tor standen, fragte ich die Königin ganz leise: »Glauben Sie, dass sich Sachen verwandeln? Ineinander? Zum Beispiel, wenn ein Adler stirbt, weil jemand auf ihn schießt, kann er etwas anderes werden?«

Da nickte die weiße Königin ganz langsam.

»Ich denke, alles kann sich verwandeln«, antwortete sie. »In manchen Ländern glauben sie, dass jeder Käfer ein gestorbener Großvater sein kann. Und bei den Christen, denen diese Kirche gehört, verwandeln sich die Toten in Engel. Manchmal.«

»Sind Sie denn kein Christ?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Bist du einer?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich bin gar nichts, glaube ich.«

»Oder alles«, sagte die weiße Königin.

»Oder alles«, wiederholte ich. Was meinte sie damit?

»Ich finde die Idee schön«, murmelte sie, »dass man mehrmals leben kann. Dass man eine zweite Chance bekommt. Ich glaube, es ist etwas Wahres dran. Alles geschieht zweimal. Mindestens.«

»Alles geschieht zweimal«, murmelte ich und war mir schon wieder nicht sicher, was sie meinte.

»Auf jeden Fall kann man nicht beweisen, dass irgendein Käfer oder Adler kein Großvater war.« Sie lachte. »Am sichersten ist es also, man benimmt sich zu allen gut.«