Die Zähmung des Menschen - Richard Wrangham - E-Book

Die Zähmung des Menschen E-Book

Richard Wrangham

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Beschreibung

»Eine neue, bestechende Analyse menschlicher Gewalt, voller neuer Ideen und packender Zeugnisse von unseren Vettern, den Primaten, unseren historischen Vorfahren und unseren gegenwärtigen Nachbarn.« Steven Pinker

Die Erfindung der Todesstrafe hat uns zum Menschen gemacht – das ist die aufsehenerregende Theorie des Harvard-Anthropologen und Schimpansenforschers Richard Wrangham. Demnach zähmten sich unsere Vorfahren selbst, indem sie dafür sorgten, dass nur noch diejenigen Gruppenmitglieder sich fortpflanzen konnten, die sozial eingestellt waren. Aggressives Verhalten wurde mit dem Tod bestraft und dadurch aus dem Genpool entfernt.

Anhand zahlreicher anthropologischer Studien und seinen eigenen Beobachtungen an Menschenaffen und indigenen Völkern zeigt Wrangham, wie wir im Laufe der Evolution durch die Anwendung tödlicher Gewalt zu den zivilisierten Wesen wurden, die wir heute sind. Er führt uns auch vor Augen, dass diese Entwicklung zugleich den Grundstein für unsere schlimmsten Gräueltaten gelegt hat.

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Zum Buch

Die Erfindung der Todesstrafe hat uns zum Menschen gemacht – das ist die aufsehenerregende Theorie des Harvard-Anthropologen und Schimpansenforschers Richard Wrangham. Demnach zähmten sich unsere Vorfahren selbst, indem sie dafür sorgten, dass nur noch diejenigen Gruppenmitglieder sich fortpflanzen konnten, die sozial eingestellt waren. Aggressives Verhalten wurde mit dem Tod bestraft und dadurch aus dem Genpool entfernt. Anhand zahlreicher anthropologischer Studien und seinen eigenen Beobachtungen bei Menschenaffen und indigenen Völkern zeigt Wrangham, wie wir im Laufe der Evolution durch die Anwendung tödlicher Gewalt zu den zivilisierten Wesen wurden, die wir heute sind. Dabei führt er uns vor Augen, dass diese Entwicklung zugleich den Grundstein für unsere schlimmsten Gräueltaten gelegt hat.

Zum Autor

Richard Wrangham, geboren 1948, ist Professor für biologische Anthropologie an der Harvard University und einer der weltweit führenden Primatenforscher. Er wurde bekannt durch seine langjährigen Studien an wild lebenden Schimpansen in Afrika. Sein Buch Feuer fangen. Wie uns das Kochen zum Menschen machte« (DVA 2009) war ein internationaler Erfolg.

Richard Wrangham

Die Zähmung des Menschen

Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat

Eine neue Geschichte der Menschwerdung

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Deutsche Verlags-Anstalt

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Goodness Paradox. The Strange Relationship Between Virtue and Violence in Human Evolution bei Pantheon Books, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 Richard Wrangham Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv: akg-images/De Agostini Picture Lib./M. Seemuller Typografie: Andrea Mogwitz Gesetzt aus der Caecilia Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-20155-5V001www.dva.de

INHALT

Vorwort

Einleitung Tugend und Gewalt in der menschlichen Evolution

1 Ein unauflösbarer Widerspruch

2 Zwei Arten der Aggression

3 Die Domestizierung des Menschen

4 Frieden züchten

5 Wilde Haustiere

6 Die Beljajew’sche Regel in der menschlichen Evolution

7 Das Problem mit den Tyrannen

8 Todesstrafe

9 Die Folgen der Domestizierung

10 Die Evolution von Richtig und Falsch

11 Absolute Macht

12 Krieg

13 Die Auflösung des Widerspruchs

Nachwort

Dank

Anmerkungen

Bibliografie

Register

Für Elizabeth

VORWORT

Wenn mir zu Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn jemand gesagt hätte, dass ich fünfzig Jahre später ein Buch über den Menschen schreiben würde, dann hätte ich vermutlich ungläubig den Kopf geschüttelt. In den Siebzigerjahren hatte ich das große Glück, als Doktorand in Jane Goodalls Forschungsprojekt in Tansania zu arbeiten. Es machte mir Freude, tagelang einzelnen Schimpansen durch ihren natürlichen Lebensraum zu folgen. Ich träumte davon, das Verhalten von Tieren zu erforschen, und 1987 bekam ich tatsächlich mein eigenes Forschungsprojekt mit frei lebenden Schimpansen im Kibale-Nationalpark von Uganda.

Dann brachen jedoch Beobachtungen in mein idyllisches Forscherleben ein, die so faszinierend waren, dass ich sie unmöglich ignorieren konnte. Hin und wieder wurden wir nämlich Zeugen von Episoden extremer Gewalt unter Schimpansen. Um die evolutionären Hintergründe dieses Verhaltens zu verstehen, stellte ich Vergleiche zwischen den Schimpansen und ihren nächsten Verwandten, den Bonobos, an. In den Neunzigerjahren begann die ernsthafte Erforschung der Bonobos. Schimpansen und Bonobos erwiesen sich als ungleiches Geschwisterpaar, die Bonobos waren auffällig friedlicher als die vergleichsweise aggressiven Schimpansen. In verschiedenen Gemeinschaftsprojekten, die ich in diesem Buch erwähne, aber vor allem in Zusammenarbeit mit meinen Kollegen Brian Hare und Victoria Wobber kamen wir zu dem Schluss, dass die Entwicklung der Bonobos aus einem schimpansenähnlichen Vorfahren große Ähnlichkeit mit dem Prozess der Domestizierung von Haustieren hat. Wir beschrieben diese Entwicklung daher als »Selbstdomestizierung«. Und da das menschliche Verhalten oftmals mit dem Verhalten von domestizierten Tieren verglichen wird, schienen die Erkenntnisse über Bonobos auch Einblicke in die menschliche Evolution zu gestatten. Der Mensch hat die auffällige Eigenschaft, innerhalb seiner Gemeinschaften verhältnismäßig selten mit seinen Artgenossen zu kämpfen: Verglichen mit den meisten wilden Säugetieren sind wir ausgesprochen friedlich.

Doch so bemerkenswert sanft wir Menschen in vieler Hinsicht sind, so aggressiv sind wir in anderer. In dem Buch Bruder Affe, das ich 1996 zusammen mit Dale Peterson veröffentlichte, versuchten wir die Parallelen in der Aggression von Menschen und Schimpansen aus der Evolution heraus zu erklären. Gewalt scheint die gesamte menschliche Gesellschaft zu durchdringen, und die evolutionären Erklärungen dafür scheinen schlüssig. Aber wie lassen sich unsere domestizierten Eigenschaften einerseits und unsere Fähigkeit zu grausamer Gewalt andererseits unter einen Hut bringen? Mit dieser Frage habe ich während der vergangenen zwanzig Jahre gerungen.

Die Antwort auf diese Frage führe ich in diesem Buch aus. Auf den folgenden Seiten werde ich ausführen, dass unsere gesellschaftliche Toleranz und unsere Aggressivität keineswegs das Gegensatzpaar sind, das sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, weil sie nämlich auf ganz unterschiedlichen Formen der Aggression beruhen. Unsere soziale Toleranz rührt von unserer relativ schwach ausgeprägten Tendenz zu reaktiver Aggression her, wohingegen die Gewalt, die uns als Menschen so tödlich macht, eine aktive Form der Aggression ist. Die Geschichte, wie unsere Spezies diese beiden Neigungen – eine schwache reaktive und eine ausgeprägte aktive Aggression – in Einklang brachte, ist bislang nicht erzählt worden. Sie führt uns in zahlreiche Winkel der Anthropologie, Biologie und Psychologie und wird zweifelsohne weiter ausgearbeitet werden müssen. Doch ich bin überzeugt, dass sie schon jetzt einen frischen und bereichernden Blick auf die Evolution unseres Verhaltens und unserer Moral ermöglicht und faszinierende Antworten auf die Frage gibt, wie und warum unsere Art, der Homo sapiens, entstand.

Das in diesem Buch verwendete Material ist zum großen Teil so neu, dass es bislang nur in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurde. Mir geht es darum, diese Fachliteratur einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und ihre weitreichenden Konsequenzen zu erläutern. Ich nähere mich dem Thema mit dem Blick des Schimpansenforschers, der viele Lebensräume in Ost- und Zentralafrika kennengelernt und dort Augen und Ohren weit aufgesperrt hat. Wer das Glück hatte, einige Tage allein mit diesen Tieren zu verbringen, hat das Gefühl, die Luft der menschlichen Vorgeschichte zu atmen. Die Geschichte unserer Vorfahren ist faszinierend, und künftige Forschergenerationen, die in der Vergangenheit nach den Ursprüngen des modernen Menschen suchen, haben noch viele Geheimnisse zu lüften. Damit werden sie zum einen besser verstehen, woher wir kommen. Aber wenn wir uns für Welten öffnen, die jenseits der uns vertrauten liegen, dann können uns die von der afrikanischen Luft angeregten Träume zum anderen auch helfen, uns selbst besser zu verstehen.

EINLEITUNG

Tugend und Gewalt in der menschlichen Evolution

Adolf Hitler, der die Ermordung von rund acht Millionen Menschen anordnete und viele weitere Millionen Tote auf dem Gewissen hat, wurde von seiner Sekretärin Traudl Junge als umgänglicher, freundlicher und väterlicher Mann beschrieben. Gewalt gegen Tiere war ihm ein Gräuel: Er war Vegetarier, liebte seine Schäferhündin Blondi und soll über ihren Tod untröstlich gewesen sein.

Pol Pot, der kommunistische Diktator Kambodschas, dessen Politik etwa ein Viertel der Bevölkerung seines Landes das Leben kostete, galt unter seinen Bekannten als stiller und liebenswürdiger Französischlehrer.

Josef Stalin verhielt sich während seines achtzehnmonatigen Aufenthalts im Zuchthaus unauffällig, er wurde nie laut und sagte kein böses Wort. Er war ein geradezu vorbildlicher Häftling und wirkte nicht wie jemand, der später aus politischem Opportunismus Millionen von Menschen ermorden lassen würde.

Es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass bösartige Menschen eine liebevolle Seite haben können, weil wir Angst haben, damit ihre Verbrechen zu rationalisieren oder gar zu entschuldigen. Diese Menschen machen uns jedoch auf eine sonderbare Eigenschaft unserer Art aufmerksam. Wir sind nicht nur die intelligentesten Vertreter der Tierwelt, sondern wir bringen auch eine widersprüchliche Mischung von moralischen Veranlagungen mit: Wir können das abscheulichste aller Tiere sein, aber auch das freundlichste.

Der englische Dramatiker und Dichter Noël Coward brachte diese sonderbare Doppelnatur auf den Punkt. Er hatte den Zweiten Weltkrieg miterlebt und machte sich keine Illusionen über die Abgründe des Menschen. »Wenn man sich die Dummheit, Grausamkeit und Verblendung der Menschheit ansieht, dann ist es schwer zu verstehen, wie sie so lange überleben konnte«, schrieb er 1958. »Es ist kaum zu glauben, zu welchen Hexenjagden, Folterungen, Torheiten, Massenmorden, Ressentiments und rasender Sinnlosigkeit der Mensch in der Lage ist.«1

Trotzdem tun wir die meiste Zeit über Dinge, die das genaue Gegenteil von »Dummheit, Grausamkeit und Verblendung« sind und eher von Vernunft, Güte und Miteinander zeugen. Die technischen und kulturellen Wunder, die unsere Spezies vollbracht hat, werden durch das Zusammenspiel dieser Eigenschaften mit unserer Intelligenz ermöglicht. Auch hierfür fand Coward Beispiele:

Tote Herzen werden der menschlichen Brust entnommen und nach einer kleinen Behandlung so gut wie neu wieder eingesetzt. Der Himmel wird erobert. Sputniks schwirren um den Erdball und lassen sich steuern und lenken … Und gestern Abend hatte in London My Fair Lady Premiere.

Herzchirurgie, Raumfahrt und Operetten sind Beispiele für einen Fortschritt, der unsere fernen Vorfahren verblüfft hätte. Aus evolutionärer Sicht sind sie Ausdruck einer ganz und gar einzigartigen Kooperationsfähigkeit, die Toleranz, Vertrauen und Verständnis voraussetzt. Das sind einige der Eigenschaften, für die wir unsere Art als außergewöhnlich »gut« bezeichnen würden.

Das Sonderbare an unserer Art ist also vereinfacht gesagt unser breites moralisches Spektrum, das von abgrundtiefer Niedertracht bis zu herzerwärmender Güte reicht. Aus biologischer Sicht stellt uns diese Bandbreite vor eine knifflige Frage: Wenn wir uns im Laufe der Evolution dazu entwickelt haben sollten, gütig zu sein, warum sind wir dann gleichzeitig so schlecht? Oder wenn wir uns dazu entwickelt haben sollten, böse zu sein, warum können wir dann gleichzeitig so gütig sein?

Dieses Nebeneinander von Gut und Böse im Menschen ist keineswegs ein neues Phänomen. Wenn wir uns das Verhalten von Wildbeutern und die Funde der Archäologie ansehen, dann haben Menschen seit Hunderttausenden von Jahren Essen und Arbeit geteilt und den Bedürftigen geholfen. Unsere Vorfahren aus dem Pleistozän waren in vieler Hinsicht ausgesprochen tolerant und friedlich. Doch dieselben historischen Quellen belegen, dass sie Plünderung, sexuelle Gewalt, Folter und Morde kannten, die an Grausamkeit den Verbrechen der Neuzeit kaum nachstanden. Auch heute ist die Fähigkeit zu Grausamkeit und Gewalt nicht auf bestimmte Gruppen beschränkt. Eine Gesellschaft kann über Jahrzehnte hinweg in außergewöhnlichem Frieden gelebt haben, während gleichzeitig eine andere von außergewöhnlicher Gewalt erschüttert wurde. Das ist jedoch kein Hinweis auf angeborene psychische Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Regionen oder Epochen. Alle Menschen scheinen dieselbe Anlage zu Tugend und Gewalt mitzubringen.

Schon Säuglinge zeigen ähnlich widersprüchliche Tendenzen. Noch ehe sie sprechen können, lächeln sie und glucksen beim Anblick eines freundlichen Erwachsenen vor Freude und sind sogar in der Lage, ihm zu helfen, wenn er das braucht. Bei einer anderen Gelegenheit schreit und tobt derselbe großherzige Nachwuchs in überschäumendem Egoismus, um seinen Kopf durchzusetzen.

Es gibt zwei klassische Erklärungen für dieses paradoxe Nebeneinander von Selbstlosigkeit und Selbstsucht. Beide Erklärungen gehen davon aus, dass unser Sozialverhalten vor allem von unserer Biologie bestimmt wird. Sie sind sich außerdem einig, dass eine unserer beiden herausragenden Eigenschaften das Produkt der genetischen Evolution ist. Der Unterschied zwischen beiden Erklärungen ist jedoch, welche der beiden Aspekte unserer Persönlichkeit sie für die wesentliche halten: unsere Güte oder unsere Aggression.

Die erste dieser beiden Erklärungen geht davon aus, dass wir Menschen von Natur aus gütig und tolerant sind. Demnach sind wir unserem Wesen nach gut, doch weil wir gleichzeitig korrumpierbar sind, können wir nicht in ewigem Frieden leben. Religiöse Gelehrte suchen die Schuld für diesen Zustand bei übernatürlichen Kräften wie dem Teufel oder der »Erbsünde«. Weltliche Denker gehen eher davon aus, dass das Böse von gesellschaftlichen Kräften wie dem Patriarchat, dem Imperialismus oder der Ungleichheit hervorgerufen wird. So oder so nehmen sie an, dass wir als gute Wesen zur Welt kommen, aber für Verirrungen empfänglich sind.

Die zweite der beiden Erklärungen geht davon aus, dass unsere böse Seite die angeborene ist. Wir kommen als selbstsüchtige und neidische Wesen zur Welt und würden diese Eigenschaften auch ausleben, gäbe es da nicht zivilisierende Kräfte, die sich um unsere Vervollkommnung bemühen, seien es Eltern, Philosophen, Geistliche, Lehrer oder die Lektionen der Geschichte.

Jahrhundertelang haben Menschen das Bild unserer verwirrenden Welt zu vereinfachen gesucht, indem sie die eine oder andere dieser beiden Ansichten vertreten haben. Die Philosophen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes sind die Galionsfiguren der beiden Seiten. Der Name Rousseau steht stellvertretend für die Ansicht, dass der Mensch seinem Wesen nach gut ist, und Hobbes für die Position, dass der Mensch von Natur aus böse ist.2

Beide Positionen haben durchaus etwas für sich. Es gibt zahlreiche Belege für die angeborene Güte des Menschen und genauso viele für unseren spontanen Egoismus, der zur Aggression führen kann. Aber niemand hat den Beweis erbracht, dass eine der beiden Neigungen biologisch sinnvoller oder evolutionär einflussreicher wäre als die andere.

Die Einmischungen der Politik haben diese Diskussion nicht beigelegt, im Gegenteil, wenn diese Philosophien als Argumente in gesellschaftlichen Diskussionen aufgefahren werden, dann verhärten sich die Fronten eher noch. Anhänger des Rousseau’schen Denkens, die an das Gute im Menschen glauben, sind vermutlich friedliebende und gelassene Fürsprecher der sozialen Gerechtigkeit und glauben an die Weisheit der vielen. Und Anhänger von Hobbes, die den Menschen und seine Motive eher mit Zynismus betrachten, halten gesellschaftliche Kontrolle für unabdingbar, sie schätzen Hierarchien und betrachten Kriege als unvermeidliches Übel. In der Debatte geht es nun weniger um Biologie oder Psychologie als um gesellschaftliche Anliegen, politische Strukturen und Moral. So rückt eine Antwort auf unsere Frage nur in immer weitere Ferne.

Ich glaube allerdings, dass es einen Ausweg aus dieser Debatte um das Wesen des Menschen gibt. Statt zu versuchen, Beweise für eine der beiden Seiten zu finden, sollten wir uns fragen, ob diese Diskussion überhaupt sinnvoll ist. Säuglinge weisen uns in eine ganz andere Richtung: Die Rousseau’sche Sichtweise ist genauso richtig wie die Hobbes’sche. Wir sind unserem Wesen nach gut, wie es Rousseau behauptet haben soll, und wir sind unserem Wesen nach egoistisch, wie Hobbes behauptete. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu Gut und Böse in sich. Unsere Biologie gibt diese widersprüchlichen Aspekte unserer Persönlichkeit vor, und die Gesellschaft modifiziert beide Tendenzen. Unsere Güte kann verstärkt oder geschwächt werden, genau wie unser Egoismus aufgeblasen oder zurückgenommen werden kann.

Wenn wir erkennen, dass wir dem Wesen nach gut und böse sind, dann löst sich die alte Diskussion in Luft auf, und an ihre Stelle treten neue und faszinierende Fragen. Wenn die Anhänger von Rousseau und Hobbes recht haben, woher kommt dann unsere widersprüchliche Mischung von Anlagen? Aus der Erforschung anderer Tierarten, namentlich Vögel und Säugetiere, wissen wir, dass die Evolution eine große Bandbreite von Verhaltensweisen hervorbringen kann. Einige Arten sind friedlicher, andere aggressiver, wieder andere beides oder nichts von beidem. Wir Menschen sind dagegen eine sonderbare Mischung: In unseren normalen zwischenmenschlichen Interaktionen sind wir ungewöhnlich sanftmütig, aber unter den richtigen Umständen können wir derart aggressiv sein, dass wir mit Lust töten. Woher kommt das?

Evolutionsbiologen halten sich an ein Prinzip, das der Genetiker Theodosius Dobzhansky 1973 in einem Vortrag vor dem Verband der amerikanischen Biologielehrer so auf den Punkt brachte: »In der Biologie ist nichts sinnvoll, es sei denn, man betrachtet es im Licht der Evolution.« Wobei heftig diskutiert wird, wie genau die Evolutionstheorie anzuwenden ist. Eine zentrale Frage dieses Buchs lautet: Was bedeutet das Verhalten von Primaten?

Lange Zeit war man der Ansicht, Tiere und Menschen unterschieden sich in ihrer Mentalität derart, dass Primaten für die Erforschung des menschlichen Wesens nicht relevant seien.3 Thomas Henry Huxley war der erste Evolutionsbiologe, der diese Ansicht infrage stellte. Schon 1863 vertrat er die Auffassung, dass Affen einen wertvollen Fingerzeig auf die Ursprünge des menschlichen Denkens und Handelns geben könnten: »Ich habe mich bemüht zu zeigen, dass sich keine strikte Trennlinie zwischen der tierischen und der menschlichen Welt ziehen lässt.« Huxley nahm die Einwände seiner Gegner vorweg, als er schrieb: »Ich höre schon von allen Seiten den Aufschrei: ›Die Macht des Wissens, das Bewusstsein um Gut und Böse, die Zartheit menschlicher Empfindungen, das alles erhebt uns über jede echte Gesellschaft mit dem Tier.‹«4 Diese Skepsis war verständlich, und sie ist bis heute nicht vollständig überwunden. Noch 2003 schrieb der Evolutionsbiologe David Barash: »Es ist zweifelhaft, ob im menschlichen Verhalten ein signifikantes Erbe von Primaten erkennbar ist.«5

Unserer Kultur verdanken wir eine große Bandbreite von Verhaltensweisen. Manche Gesellschaften sind friedlich, andere gewalttätig. Die einen leiten ihre Verwandtschaftsverhältnisse von der Linie der Mutter her, die anderen vom Vater. Manche haben strenge sexuelle Normen, andere handhaben das Thema recht entspannt. Der gemeinsame Nenner könnte so klein sein, dass er für einen Vergleich mit anderen Tieren nicht mehr ins Gewicht zu fallen scheint. Nach einer detaillierten Auswertung des Verhaltens von Wildbeutern verabschiedete sich der Anthropologe Robert Kelly von der Vorstellung, dass sich das menschliche Verhalten auf eine bestimmte Form festlegen lassen könnte: »Es gibt keine ursprüngliche menschliche Gesellschaft und keine grundlegenden menschlichen Anpassungen«, schrieb er 1995. »Es gab nie so etwas wie ein universelles menschliches Verhalten.«6

Man könnte daher leicht zu dem Schluss gelangen, das Verhalten der Menschen sei so unendlich vielfältig, dass wir keine nennenswerten Übereinstimmungen mit anderen Primaten haben. Dem stehen allerdings zwei Argumente entgegen.

Einerseits ist die Vielfalt des menschlichen Verhaltens begrenzt. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine charakteristische Gesellschaftsform. Nirgendwo auf der Welt leben Menschen in Rudeln, wie die Paviane, oder in isolierten Harems, wie die Gorillas, oder in Swinger-Clubs, wie Schimpansen und Bonobos. Menschliche Gesellschaften bestehen aus Familien innerhalb von übergeordneten Gruppen, die wiederum Teil größerer Gemeinschaften sind – eine Ordnung, die für unsere Art typisch ist und die sich von den Lebensformen anderer Arten klar unterscheidet.

Andererseits verhalten sich Menschen und Primaten in vieler Hinsicht ähnlich. Charles Darwin beobachtete schon früh Parallelen im Gefühlsausdruck bei Menschen und anderen Tieren, etwa »das Sträuben des Haares unter dem Einflusse des äußersten Schreckens, oder des Entblößens der Zähne unter dem der rasenden Wuth«. Er schrieb: »Die Gemeinsamkeit gewisser Ausdrucksweisen bei verschiedenen, aber verwandten Species, so die Bewegungen derselben Gesichtsmuskeln während des Lachens beim Menschen und bei verschiedenen Affen, wird etwas verständlicher, wenn wir an deren Abstammung von einem gemeinsamen Urerzeuger glauben.«7

So faszinierend es ist, dass wir genauso lächeln und die Stirn runzeln wie unsere äffischen Vettern – diese Feststellung verblasst neben den Entdeckungen der Verhaltensforschung an Schimpansen und Bonobos, die in den Sechzigerjahren begann und bis heute immer neue Erkenntnisse zutage fördert. Schimpansen und Bonobos sind unsere nächsten Verwandten, und sie sind beide gleich weit von uns entfernt. Sie sind ein verblüffendes Paar. Weil sie einander so ähnlich sehen, erkannte man lange Zeit gar nicht, dass es sich um unterschiedliche Arten handelte. Das Verhalten jeder der beiden Arten weist große Ähnlichkeiten zu dem von uns Menschen auf. Doch das Zusammenleben der beiden könnte in vieler Hinsicht kaum unterschiedlicher sein.

Bei den Schimpansen dominieren die Männchen über die Weibchen und sind verhältnismäßig gewalttätig. Bei den Bonobos dominieren oft die Weibchen über die Männchen, Gewalt ist vergleichsweise selten, und oftmals dient die Sexualität als Ersatz für Aggression. In den unterschiedlichen Verhaltensweisen der beiden klingen auf geradezu unheimliche Weise widerstreitende gesellschaftliche Standpunkte der modernen menschlichen Welt an: zum Beispiel der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Interessen; oder der zwischen Hierarchie, Wettbewerb und Macht auf der einen Seite und Gleichheit, Toleranz und Konsens auf der anderen. Weil die beiden Arten derart unterschiedliche Sichtweisen auf das Wesen von Affen bieten, wurde das ungleiche Geschwisterpaar zu einem Schlachtfeld der Primatenforscher: Widerstreitende Richtungen sehen in jeweils einer der beiden Arten einen besseren Vertreter für unsere Urahnen. Aber wie wir noch sehen werden, bringt es nicht allzu viel, wenn wir die Wurzeln unseres Verhaltens in nur einer der beiden Arten suchen statt in beiden. Eine viel interessantere Frage ist, warum sowohl Schimpansen als auch Bonobos, so unterschiedlich sie sind, so große Ähnlichkeit mit uns Menschen haben. Diese entgegengesetzten Verhaltensweisen der beiden Arten finden ihre Entsprechung in der zentralen Frage dieses Buchs: Warum sind wir Menschen einerseits so friedlich wie die Bonobos und andererseits so aggressiv wie die Schimpansen?

Kapitel 1 leitet die Untersuchung mit einer Beschreibung der Unterschiede im Verhalten von Menschen, Schimpansen und Bonobos ein. Jahrzehntelange Forschung vermittelt einen Eindruck davon, wie sich die Unterschiede bei der Aggression entwickelt haben. Aggression galt lange als eindimensionale Eigenschaft, die entlang einer einzigen Achse von schwach bis stark verlief. Heute wissen wir jedoch, dass es nicht eine, sondern zwei wesentliche Formen der Aggression gibt, jeweils mit einer eigenen biologischen Grundlage und Entwicklungsgeschichte. Wie ich in Kapitel 2 zeige, sind wir Menschen in unserer Aggression buchstäblich zwiegespalten: In der einen Dimension (der reaktiven Aggression) haben wir wenig davon, in der anderen (der aktiven Aggression) dagegen viel. Reaktive Aggression könnte man als »heißblütig« bezeichnen, man verliert die Kontrolle und schlägt zu. Aktive Aggression ist dagegen »kaltblütig«, sie wird bewusst und geplant ausgeführt. Unsere zentrale Frage besteht also eigentlich aus zwei Teilen: Warum weisen wir so wenig reaktive Aggression auf und warum so viel aktive Aggression? Die Antwort auf die erste Frage erklärt unsere Sanftmut, die Antwort auf die zweite unsere Gewalt.

Unserer schwach ausgeprägten Tendenz zu reaktiver Aggression haben wir unsere verhältnismäßige Sanftmut und Toleranz zu verdanken. Bei Wildtieren ist Toleranz eine ausgesprochen seltene Eigenschaft, zumindest in der extremen Form, wie sie bei uns Menschen zu beobachten ist. Bei domestizierten Tieren kommt sie dagegen häufig vor. In Kapitel 3 bespreche ich die Ähnlichkeiten zwischen Haustieren und Menschen und zeige, warum immer mehr Wissenschaftler den Menschen als domestizierte Form eines wilden menschlichen Vorfahren betrachten.

Einer der faszinierenden Aspekte der Biologie der domestizierten Tiere ist, dass die Wissenschaft allmählich immer besser versteht, warum sich nicht miteinander verwandte Arten in so vielen Aspekten so verblüffend ähneln. Wie kommt es beispielsweise, dass Katzen, Hunde und Pferde häufig weiße Flecken im Fell haben, während ihre wilden Vorfahren diese nicht aufweisen? Kapitel 4 erörtert neue evolutionäre Theorien zu diesen und anderen physischen Eigenschaften sowie zu Verhaltensänderungen bei domestizierten Tieren. Wir Menschen weisen eine hinreichend große Zahl dieser Eigenschaften auf, um als domestizierte Art gelten zu können. Diese These, die bereits vor über zweihundert Jahren aufgestellt wurde, wirft eine weitere Frage auf: Wenn wir eine domestizierte Art sind, wie sind wir dann dazu geworden? Wer sollte uns denn domestiziert haben?

Eine Antwort geben die Bonobos. In Kapitel 5 zeige ich, warum die Bonobos, genau wie der Mensch, viele Merkmale von Haustieren aufweisen. Die Bonobos wurden natürlich nicht von Menschen domestiziert. Der Prozess verlief in der Natur und hatte nichts mit uns Menschen zu tun. Die Bonobos müssen sich also selbst domestiziert haben. Dieser evolutionäre Wandel scheint unter Wildtierarten verbreitet zu sein. Sollte das tatsächlich zutreffen, dann wäre die Selbstdomestizierung unserer Vorfahren nichts Außergewöhnliches. In Kapitel 6 präsentiere ich daher Belege dafür, dass der Homo sapiens seit seinen Anfängen vor rund 300 000 Jahren ein sogenanntes Domestizierungssyndrom aufweist. Bislang wurden erstaunlich wenige Versuche unternommen zu erklären, warum der Homo sapiens entstand, und selbst jüngste paläoanthropologische Szenarien lassen die wichtige Frage unbeantwortet, warum die Evolution eine relativ tolerante und sanftmütige Spezies mit einer schwach ausgeprägten Neigung zu reaktiver Aggression begünstigt haben könnte.

Wir wissen nicht, wie die Selbstdomestizierung vonstattengegangen sein könnte, und vermutlich verlief sie bei jeder Spezies anders. Hinweise finden sich darin, wie aggressive Individuen daran gehindert werden, andere zu unterdrücken. Bei den Bonobos werden aggressive Männchen vor allem durch das gemeinsame Vorgehen von kooperierenden Weibchen im Zaum gehalten. Hier begann die Selbstdomestizierung also offenbar damit, dass Weibchen in der Lage waren, aggressive Männchen zu bestrafen. In menschlichen Kleingesellschaften üben Frauen keine vergleichbare Kontrolle über Männer aus; hier ist das letzte Mittel gegen männliche Aggressoren die Hinrichtung durch ein Bündnis anderer Männer. In Kapitel 7 und 8 beschreibe ich die Todesstrafe in menschlichen Gesellschaften als Mittel, mit der dominante Männer gezwungen werden, sich den egalitären Normen unterzuordnen, und ich erläutere, warum meiner Ansicht nach die Selbstdomestizierung durch die selektive Kraft der Hinrichtung dafür verantwortlich war, dass die reaktive Aggression von den Ursprüngen des Homo sapiens an reduziert wurde.

Wenn die genetische Auslese gegen reaktive Aggression tatsächlich durch einen Prozess der Selbstdomestizierung erfolgte, dann sollte man erwarten, dass das menschliche Verhalten auch über die verringerte Aggression hinaus Ähnlichkeiten mit dem von Haustieren aufweist. Dieser Hypothese gehe ich in Kapitel 9 nach. An dieser Stelle möchte ich unterstreichen, dass der beste Vergleich nicht der zwischen Menschen und Menschenaffen ist, da sich in den sieben Millionen Jahren, die seit der Trennung unserer evolutionären Wege vergangen sind, zu viele Veränderungen eingestellt haben. Der beste Vergleich ist vielmehr der zwischen dem Homo sapiens und dem Neandertaler, den ich stellvertretend für alle Vorfahren des Homo sapiens betrachten möchte. In Kapitel 9 gehe ich Belegen dafür nach, dass der Homo sapiens eine höher entwickelte Kultur hatte als der Neandertaler. Der Unterschied ist meiner Ansicht nach auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Homo sapiens mehr von der Aggressivität des gemeinsamen Vorfahren verloren hatte als der Neandertaler.

Eine schwach ausgeprägte Tendenz zu reaktiver Aggression ermöglicht ein größeres Maß an Kooperation, doch sie ist nicht der einzige Grund für die sozialen Tugenden des Menschen. Genauso wichtig ist die Moral. Kapitel 10 geht daher der Frage nach, warum unsere hochentwickelten moralischen Antennen so oft bewirken, dass wir uns vor Kritik fürchten. Wenn die Evolution Empfänglichkeit für Kritik begünstigte, dann könnte das derselben gesellschaftlichen Institution zu verdanken sein wie unsere Selbstdomestizierung: einem Bündnis, das in der Lage war, willkürlich Hinrichtungen durchzuführen. Das moralische Empfinden unserer Vorfahren schützte sie davor, für Verstöße gegen die gesellschaftliche Norm getötet zu werden.

Die Fähigkeit von Erwachsenen, insbesondere erwachsenen Männern, sich zur Ausführung der Todesstrafe zusammenzuschließen, ist Teil eines umfassenderen Systems der sozialen Kontrolle durch aktive Aggression, das alle menschlichen Gesellschaften auszeichnet. Kapitel 11 legt dar, wie Menschen hier in gewisser Hinsicht den Schimpansen ähneln, auch wenn sie dieses Verhalten weit über die Schimpansen hinaus entwickelt haben. Da aktive Aggression das Gegenstück zur reaktiven Aggression ist (und nicht etwa ihr Gegenteil), kann die aktive, geplante Aggression durch die Evolution begünstigt werden, während reaktive, emotionale Aggression gleichzeitig unterdrückt wurde. Daher sind Menschen in der Lage, ihre Übermacht im Bündnis zu nutzen, um einen ausgewählten Gegner zu töten. Diese einmalige Fähigkeit erweist sich als Gestaltungsprinzip der Gesellschaft und hat dazu geführt, dass wir hierarchische Sozialbeziehungen entwickelt haben, die weitaus despotischer sind als diejenigen bei anderen Tierarten.

Eine bekannte und wichtige Form der aktiven Aggression ist der Krieg, weshalb ich in Kapitel 12 zeige, wie sich die Psychologie der Aggression in der Kriegsführung niederschlägt. Moderne Kriege sind zwar weit stärker institutionalisiert als die gewalttätigen Konfrontationen zwischen prähistorischen Gruppen, doch unsere jeweiligen Tendenzen zu aktiver und reaktiver Aggression spielen weiterhin eine wichtige Rolle und wirken sich mal begünstigend, mal hinderlich auf unsere militärischen Ziele aus.

Kapitel 13 beschäftigt sich schließlich mit dem Paradox, dass Moral und Gewalt im menschlichen Leben eine derart zentrale Rolle spielen. Die Antwort ist weder so einfach noch so moralisch erstrebenswert, wie wir uns das vielleicht wünschen würden: Wir Menschen sind weder vollkommen gut noch vollkommen böse. Im Laufe der Evolution haben wir uns in beide Richtungen gleichzeitig entwickelt. Unsere Toleranz und unsere Gewalt sind evolutionäre Anpassungen an die Umwelt, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Der Gedanke ist schwer zu akzeptieren, dass der Mensch seinem Wesen nach sowohl gut als auch böse sein soll, und vermutlich würden wir uns wünschen, dass es eine einfachere Antwort gäbe. Doch wie F. Scott Fitzgerald schrieb: »Der wahre Prüfstein für eine außergewöhnliche Intelligenz ist die Fähigkeit, zwei widersprüchliche Gedanken gleichzeitig zu denken und trotzdem zu funktionieren.« Und er fuhr fort: »Ich muss ein Gleichgewicht halten zwischen der toten Hand der Vergangenheit und den hehren Absichten der Zukunft.«8 Diesen Gedanken finde ich sympathisch. Die moralischen Widersprüche unserer Vorfahren sollten uns nicht daran hindern, eine realistische Selbsteinschätzung vorzunehmen. Wenn wir das tun, sind hehre Ziele immer noch möglich.

Einleitung

KAPITEL 1

Ein unauflösbarer Widerspruch

Die biologischen Wurzeln der Friedfertigkeit beschäftigten mich zum ersten Mal vor einigen Jahrzehnten in einem abgelegenen Winkel der Demokratischen Republik Kongo. Später sollte der Kongo von großer Gewalt zerrissen werden, doch 1980, als Elizabeth Ross und ich unsere neun Monate langen Flitterwochen im Ituri-Regenwald begannen, war das Land friedlich.

Unser Forschungsteam bestand aus zwei Ehepaaren. Wir hatten uns vorgenommen, das Leben zweier Gesellschaften zu dokumentieren, die dort nebeneinander lebten – Bauern der Volksgruppe der Lese und Sammler der Volksgruppe der Efé. Kleine Dörfer der Lese waren weit über die Ituri-Ebene verstreut und lagen zum Teil mehr als zwei Tagesmärsche auseinander. Die Efé, ein Pygmäenvolk, lebten in derselben Region. Solange die Efé Wurzeln und Früchte fanden, schlugen sie ihre Lager tief im Wald auf. In kargen Zeiten ließen sie sich am Rand eines vertrauten Dorfs nieder. Die Frauen der Efé arbeiteten dann in den Gärten der Lese und erhielten dafür Maniok, Bananen oder Reis.

Wir lebten in einer Lehmhütte mit Blätterdach auf unserer eigenen kleinen Lichtung in der Nähe eines Dorfs der Lese. Die Hauptsprache Lese beherrschten wir zwar nicht, doch wir sprachen genug Kingwana, den Swahili-Dialekt der Region, um uns angeregt mit den Dorfbewohnern unterhalten zu können. Die Menschen im Ituri-Regenwald wussten wenig vom Rest der Welt. Ihre Wirtschaft basierte vor allem auf Tausch. Dinge wie Atombomben, Getränkedosen oder elektrischer Strom befanden sich jenseits ihres Horizonts.

Die Hütten der Efé und der Lese waren klein und dunkel und wurden tagsüber kaum genutzt. Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang spielte sich das Leben im Freien ab, das heißt, tagsüber konnten wir das Verhalten der Menschen ungehindert beobachten. Wir sahen zu, lauschten und folgten. Wir aßen mit den Dorfbewohnern und nahmen an ihren Aktivitäten teil. Als Verhaltensbiologe, der Schimpansen erforscht und ihre ungezügelte Aggression untereinander beobachtet hatte, hielt ich nach aussagekräftigen Ereignissen wie geballten Fäusten oder gezückten Bogen Ausschau. Als jemand, der in einem verschlafenen englischen Dorf aufgewachsen war, in dem kaum jemand auch nur die Stimme hob, geschweige denn in der Öffentlichkeit gewalttätig wurde, fragte ich mich, ob die Aggression in diesem Urwalddorf sichtbarer wäre.

Es war wunderbar, das soziale Miteinander so ungehindert beobachten zu können. Aggression sahen wir jedoch kaum. Selbst wenn Dutzende Menschen um das Fleisch eines toten Elefanten rangelten, passierte kaum mehr, als dass jemand einmal laut wurde. Einmal begegnete ich drei Männern, die sich in Kriegermontur auf den Weg zum Dorf des Häuptlings machten. Sie hatten gehört, dass Verwandte des Häuptlings ihre minderjährigen Schwestern zu einem Fest mitgenommen hatten, und wollten verhindern, dass die Mädchen dort verführt wurden. Später erfuhren wir, dass sie ihre Schwestern frei bekamen, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Wir hörten von einem Efé-Mann, der seine Frau mit einem brennenden Holzscheit geschlagen hatte. Zweifelsohne blieb uns vieles hinter vorgehaltenen Händen und Lehmwänden verborgen, doch die Verletzungen, die wir sahen, waren ausschließlich auf Unfälle und Krankheiten zurückzuführen.

Das Leben unserer Nachbarn im Ituri-Regenwald war entbehrungsreicher als das der meisten anderen Menschen auf der Erde. Sie lebten von dem, was sie im kargen Wald erjagten, anbauten oder fanden, litten unter Hunger, Armut, Unannehmlichkeiten und schweren Krankheiten und hatten kaum moderne medizinische Versorgung. Mit ihren kulturellen Praktiken schienen sie sich das Leben oft genug noch zusätzlich schwer zu machen. So galt es zum Beispiel unter Frauen als schön, sich mit grobem Werkzeug die Zähne zu beschneiden. Sie erinnerten sich, dass ihre Vorfahren Kannibalen gewesen waren; weil auf den Etiketten unserer Fleischdosen lächelnde Menschen abgebildet waren, zogen uns die Lese auf, dass auch wir Europäer Kannibalen seien. Bei Bestattungen begann unweigerlich ein Streit um den Wert der Verstorbenen: Hatte eine Frau genügend Kinder geboren, um ihren Brautpreis von sieben Hühnern zu rechtfertigen? Selbst gewöhnliche Missgeschicke wurden auf Hexerei zurückgeführt, eine alltägliche Quelle irrationaler Gefahr. In vieler Hinsicht war der Ituri-Regenwald ein Ort, an dem alles passieren konnte.1

Aber abgesehen von ihrem beschwerlichen Alltag und ihrem befremdlichen Aberglauben war uns die Psychologie der Lese und Efé vollkommen vertraut. In einem englischen Dorf sahen irrationale Glaubensvorstellungen, Armut oder traditionelle Heilmethoden zwar etwas anders aus als im Kongo, doch vorhanden waren sie hier wie da. Im Grunde waren die Bewohner des Ituri den englischen Dörflern erstaunlich ähnlich – sie liebten ihre Kinder, stritten sich um Geliebte, ärgerten sich über Klatsch, suchten Verbündete, rangen um Macht, tauschten Informationen aus, fürchteten sich vor Fremden, planten Feste, begingen Rituale, klagten über das Schicksal – und griffen nur in extrem seltenen Fällen zu körperlicher Gewalt.

Natürlich können Menschen je nach ihrem gesellschaftlichen Kontext mehr oder weniger gewalttätig sein. Der Kongo hatte eine Zentralregierung, und obwohl die Urwaldbewohner in vieler Hinsicht unabhängig davon waren, lebten sie nicht in völliger Isolation. Möglicherweise verdankte sich die Ruhe unter den Lese und Efé den zivilisierenden Einflüssen aus der fernen Hauptstadt Kinshasa. So gab es zum Beispiel eine Polizei. Die Polizisten waren meist männliche Verwandte des Häuptlings der Region und nutzten ihren Status weniger zur Wahrung von Recht und Ordnung als zur Ausbeutung der Bewohner. Sie schauten nur selten in der Gegend vorbei, und wenn, dann nur nach einem stundenlangen Fußmarsch. Da sie nichts zu essen mitbrachten, suchten sie einen Vorwand, um einem bedauernswerten Dorfbewohner ein Huhn abzuknöpfen, das sie am Abend verzehrten. Sie blieben so lange, wie sie in der Lage waren, sich auf diese Weise Mahlzeiten zu beschaffen. Da sich die Dorfbewohner natürlich über diese Form der Korruption ärgerten, hatte die Polizei keinen sonderlich guten Ruf. Trotzdem könnten ihre sporadische Anwesenheit und ihre vermutete Verbindung zur Staatsmacht zumindest theoretisch dazu beigetragen haben, den spontanen Ausdruck von Zorn zu zügeln. Man könnte also vielleicht behaupten, dass der Einfluss der modernen Gesellschaft die Gewalt im Ituri-Regenwald im Zaum gehalten habe.

Um herauszufinden, ob Menschen genauso friedfertig sind, wenn sie keinerlei staatliche Gewalt kennen, müssen wir uns daher Gemeinschaften ansehen, die gänzlich ohne Polizei, Armee oder eine andere staatliche Zwangseinrichtung leben.

Neuguinea ist einer der wenigen Orte auf der Welt, an dem kleine Gemeinschaften in wahrer politischer Anarchie und ohne die entferntesten Eingriffe eines Zentralstaats beobachtet wurden. Die Kulturen der Insel sind besonders aufschlussreich, da sie zeigen, wie sich Menschen verhalten, wenn sie fortwährend mit der Gefahr eines Angriffs durch eine benachbarte Gruppe leben müssen.

Der Anthropologe Karl Heider besuchte eine solche Gesellschaft. Im März 1961 startete er mit einem Kleinflugzeug an der Nordküste Neuguineas, nahm Kurs auf das Herz der Insel, kam an eine hohe Bergkette, überquerte einen wolkenfreien Pass und sah, wie sich unter ihm das breite und grüne Baliem-Tal öffnete. Diese verborgene Welt war von amerikanischen Soldaten entdeckt worden, die 1944 hier mit ihrem Flugzeug abgestürzt und auf rund 50 000 Bauern vom Volk der Dani gestoßen waren, die lebten wie in der Steinzeit. Unbedarft, wie sie waren, nannten die Soldaten das Tal Shangri-La, nach dem Utopia aus James Hiltons Roman Irgendwo in Tibet (1933). Doch der Friede war trügerisch, das fruchtbare Land der Dani war keineswegs ein Paradies, sondern ein Kriegsgebiet.2

Die Dani wiesen eine der höchsten Mordquoten auf, die jemals irgendwo ermittelt wurde. Manchmal beobachtete Heider, wie sich kleine Gruppen von Männern auf den Weg machten, um ein ahnungsloses Opfer zu überfallen. Gelegentlich kam es zu regelrechten Schlachten: Im Niemandsland zwischen Dörfern konnten sich kleinere Handgemenge zu größeren Auseinandersetzungen auswachsen, in deren Verlauf bis zu 125 Männer getötet wurden. Die Dani hatten eine besonders makabre Art, das Blutvergießen zu dokumentieren: Für jeden gefallenen Krieger schnitten sie einem Mädchen einen Finger ab. Die jüngsten verstümmelten Mädchen waren drei Jahre alt, und es gab kaum eine Frau, die noch alle zehn Finger hatte. Wenn man Heiders Beobachtungen der Dani zugrunde legen und davon ausgehen würde, dass im Rest der Welt ein ähnlich hoher Anteil der Bevölkerung eines gewaltsamen Todes stirbt, dann wären im blutigen 20. Jahrhundert keine 100 Millionen Kriegstoten zu beklagen gewesen, sondern unvorstellbare 2 Milliarden.3

Trotzdem bezeichnete Heider die Dani im Untertitel seines Buchs als »friedliche Krieger«. Das ist ein Hinweis auf den großen Widerspruch des Menschen. Abgesehen von den gelegentlichen Gewaltausbrüchen war Shangri-La nämlich durchaus ein zutreffender Name für den Alltag im Baliem-Tal. Mit der typischen Duldsamkeit von Bauern züchteten die Dani hier ihre Schweine und Knollen. Heider beschrieb den ruhigen Charakter der Dani, ihre Freundlichkeit und ihre seltenen Temperamentsausbrüche. Sie waren friedliche und fürsorgliche Menschen, die in einem System von wechselseitiger Abhängigkeit und Unterstützung lebten. Ihre Hütten waren von Gesprächen, Gelächter und Gesang erfüllt. Das zwischenmenschliche Miteinander war von Zurückhaltung und Respekt geprägt. Solange die Dani keinen Krieg führten, waren sie ganz normale Landbewohner und führten ein ruhiges Leben ohne jede Aggression.4

Mit dieser Mischung aus Frieden innerhalb der Gruppe und Gewalt gegenüber Fremden erwiesen sich die Dani als typische Bewohner des Hochlands von Neuguinea. Ein anderes Inselvolk, die Baktaman, lebte am Oberlauf des Fly. Jede Gruppe dieses Volkes setzte sich gegen Eindringlinge zur Wehr, oftmals mit Gewalt. Gebietsstreitigkeiten wurden mit solcher Heftigkeit geführt, dass sie für ein Drittel aller Todesfälle in der Gemeinschaft verantwortlich waren. Doch innerhalb der Dörfer wurde die Gewalt scharf kontrolliert, und »Morde galten als unvorstellbar«5. Dasselbe galt im Tagari-Tal im Westen des Hochlandes von Papua-Neuguinea, wo die Huli ihre Feinde terrorisierten, aber in ihren Dörfern keine Gewalt kannten.6 Der Kontakt mit Missionaren und dem Staat veränderte diese Völker Neuguineas schnell. Doch vor der Ankunft dieser Institutionen waren sie der Beleg für etwas ganz Wichtiges: Selbst unter Menschen, die dauernd im Krieg lebten, gab es einen gewaltigen Unterschied zwischen »Frieden zu Hause« und »Krieg in der Fremde«.

Es gibt nicht viele Weltgegenden, die eine so gute Gelegenheit zur Erforschung unabhängiger und nicht vom Staat beeinflusster Gesellschaften bieten wie Neuguinea. Ein anderes Volk sind die isoliert lebenden Yanomami in Venezuela, die Napoleon Chagnon zwischen Mitte der Sechziger- und Mitte der Neunzigerjahre erforschte.7 Der Anthropologe beobachtete einen ähnlich scharfen Gegensatz. Der Kontakt zwischen Dörfern verlief ausgesprochen tödlich, doch selbst bei diesem Volk, das Chagnon als »grimmig« beschrieb, war das Familienleben »sehr ruhig«, und Gewalt blieb weitgehend auf formalisierte Duelle beschränkt.8

Die Anthropologinnen Kim Hill und Magdalena Hurtado dokumentierten kriegerische Auseinandersetzungen der Aché in Paraguay, kurz nachdem sich dieses Volk von Wildbeutern auf einer Missionsstation niedergelassen hatte. Die Aché berichteten, sie hätten früher ihre Jagdwaffen, Pfeil und Bogen, verwendet, um auf Fremde zu schießen, sobald sie dieser ansichtig wurden. So kam es, dass viele Aché infolge von Gewalt starben. Aber in den siebzehn Jahren, während derer die beiden Anthropologinnen mit den Aché arbeiteten und sie zum Teil auf wochenlangen Streifzügen durch den Urwald begleiteten, beobachteten sie keine einzige Handgreiflichkeit innerhalb der Gruppe.9

In früheren Jahrhunderten, während des sogenannten Zeitalters der Entdeckungen, kamen europäische Reisende in verschiedenen Teilen der Welt in Kontakt mit unabhängigen Kleingesellschaften, darunter auch auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Einer war der französische Anwalt und Autor Marc Lescarbot, der 1606/07 ein Jahr bei den Mi’kmaq im Osten des heutigen Kanada lebte. Offenherzig beschrieb er ihre vermeintlichen Schwächen wie Völlerei, Kannibalismus und Grausamkeit gegenüber Gefangenen, aber er vergaß auch ihre Tugenden nicht. Es gebe kaum Auseinandersetzungen, schrieb er: »Sie haben kein Gesetz außer dem, das sie die Natur lehrt, nämlich dass sie einander kein Leid zufügen dürfen. Daher geraten sie nur sehr selten in Streit.« Lescarbots Beobachtungen machten großen Eindruck und prägten das Bild des »edlen Wilden«, ein Symbol der angeborenen Güte des Menschen, das sich im Europa des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute. Heute wird der Gedanke des edlen Wilden meist mit Rousseau in Verbindung gebracht, doch der französische Philosoph verwendete diesen Begriff selbst nie; er hielt die Menschen keineswegs für so gütig, wie ihm heute oft unterstellt wird. Wenn man dem Ethnomusikologen Ter Ellingson glaubt, der die Geschichte des Bildes vom »edlen Wilden« nachgezeichnet hat, dann würde Rousseau mit seinem eher zynischen Menschenbild heute nicht einmal als »Rousseauianer« durchgehen!10

Lescarbot war nur einer von vielen Entdeckern, die von der internen Friedfertigkeit der Kleingesellschaften beeindruckt waren. Gilbert Chinard schreibt, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts »hatten Hunderte Reisende die Güte dieser primitiven Menschen beobachtet«. Diese »Güte« bezog sich allerdings ausschließlich auf die Angehörigen der eigenen Gruppe.11 Im Jahr 1929 fasste der Anthropologe Maurice Davie den wissenschaftlichen Konsens zusammen, der sich bis heute gehalten hat: Die Menschen waren so sanftmütig gegenüber Angehörigen ihrer eigenen Gruppe, wie sie hart gegenüber Angehörigen einer anderen waren.

Es gibt zwei Sittenkodizes, zwei Arten von Gepflogenheiten: eine für die Kameraden innerhalb der eigenen Gruppe und eine andere für Fremde außerhalb der Gruppe. Beide entspringen denselben Interessen. Im Verhältnis zu Fremden gelten Mord, Raub, Blutrache, Versklavung und Entführung von Frauen als verdienstvoll, doch innerhalb der Gruppe kann keine dieser Verhaltensweisen gestattet werden, weil sie Streit und Schwächung bedeuten würde. Die Sioux müssen einen Feind töten, ehe er zum Tapferen wird, und die Dyak, ehe er ins heiratsfähige Alter kommt. Aber, wie Tylor sagt: »Untereinander betrachten die Sioux Tötung als Verbrechen, es sei denn, es handelt sich um Blutrache; und die Dyak bestrafen einen Mord … Die Tötung eines Feindes im Krieg gilt dagegen als tugendhaft, und das uralte Gesetz geht von dem Gedanken aus, dass die Tötung eines Angehörigen des eigenen Stammes und eines Fremden grundsätzlich unterschiedliche Verbrechen sind.«12

Auch von Soldaten aus modernen Industrienationen wissen wir, dass sie sich im Krieg vollkommen anders verhalten als zu Hause. Der Spanische Bürgerkrieg unterschied sich in seiner Grausamkeit nicht von anderen. George Orwell nahm als Freiwilliger am Bürgerkrieg teil; unter der Woche erlebte er die Schrecken der Front, die Wochenenden verbrachte er bei seiner Frau. Der Klimawechsel war »so plötzlich wie erschreckend«. In Barcelona, eine kurze Zugfahrt vom Chaos entfernt, bestimmten »dicke reiche Männer, elegante Frauen und schicke Autos« das Straßenbild, und in Tarragona »nahm der Alltag des schmucken Strandbadeorts nahezu ungestört seinen Lauf«13.

Ob im Ituri-Regenwald oder im Hochland von Neuguinea – überall auf der Welt zeigt sich dasselbe Muster. Selbst wenn das Leben der Menschen jenseits des Dorfs vom Krieg verzehrt wird, kann es zu Hause in erstaunlich friedlichen Bahnen verlaufen. Meine Erfahrung im Kongo scheint der Normalfall für unsere Spezies zu sein.

Auch wenn die physische Aggression »zu Hause« vergleichsweise gering ist, kann sie aus moralischer Sicht immer noch alles übersteigen, was uns als wünschenswert erscheint. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker und andere haben gezeigt, dass es im Laufe des vergangenen Jahrtausends in vielen Gegenden der Welt immer unwahrscheinlicher wurde, infolge von Gewalteinwirkung ums Leben zu kommen – eine Entwicklung, für die wir sehr dankbar sein sollten. Es besteht kein Zweifel, dass viele Millionen Menschen heute ein angenehmeres Leben führen würden, wenn dieser Anteil noch weiter zurückgehen würde.14

Aus evolutionärer Sicht ist die körperliche Aggression in menschlichen Gemeinschaften allerdings schon heute verblüffend gering. Als einer der zwei nächsten Verwandten des Menschen bieten die Schimpansen einen aufschlussreichen Vergleich. Schimpansen sind nicht wie Menschen. An einem Tag mit frei lebenden Schimpansen können Sie Verfolgungsjagden und Schlägereien erleben und entsetzliches Geschrei hören. Mindestens einmal im Monat fließt Blut. In Zusammenarbeit mit den Primatologen Martin Muller und Michael Wilson habe ich eine gewöhnliche Gruppe von Schimpansen mit einer besonders verhaltensauffälligen Gruppe von australischen Aborigines verglichen, die kürzlich ihr Leben als Wildbeuter aufgegeben hatte. Unter den Aborigines herrschte ein toxisches Ausmaß an physischer Aggression, für das der gesellschaftliche Zerfall und der Alkoholismus verantwortlich gemacht wurden. Doch die Schimpansen waren noch hundert- bis tausendmal aggressiver als diese ungewöhnlich gewalttätige menschliche Gruppe. Was die Häufigkeit der körperlichen Auseinandersetzungen angeht, besteht ein riesiger Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen.15

Bonobos sind die zweite eng mit den Menschen verwandte Primatenart. Bonobos sehen Schimpansen äußerlich sehr ähnlich, doch sie gelten zu Recht als die deutlich friedlichere Art. Ohne Aggression leben freilich auch sie nicht. Eine jüngere Langzeituntersuchung an frei lebenden Tieren stellte fest, dass Bonobomännchen etwa halb so oft aggressiv sind wie Schimpansenmännchen, während Bonoboweibchen häufiger aggressiv sind als Schimpansenweibchen. Wenn Bonobomännchen auch weniger aggressiv sind als Schimpansenmännchen, sind beide Primatenarten doch immer noch um ein Vielfaches aggressiver als Menschen. Insgesamt ist die körperliche Aggression unter unseren äffischen Verwandten mehr als hundert Mal häufiger als beim Menschen. Zumindest in diesem Vergleich sind wir also eine ausgesprochen friedliche Spezies.16

Die Behauptung, dass der Mensch innerhalb seiner Gemeinschaften im Allgemeinen ausgesprochen friedlich ist, bedarf der sorgfältigen Überprüfung. Die Statistiken zu körperlicher Gewalt scheinen eindeutig. Zwar machen gerade in den Vereinigten Staaten immer wieder Amokläufe an Schulen und Universitäten Schlagzeilen, doch auch diese fallen im Vergleich mit der Gewalt unter Schimpansen und Bonobos kaum ins Gewicht. Aber wie steht es mit häuslicher Gewalt?

Selbst bei den !Kung San (auch Ju/’hoansi), einem legendär friedlichen Volk von Wildbeutern aus Botswana, wurde häusliche Gewalt häufig beobachtet. Es ist durchaus denkbar, dass diese Form der Gewalt systematisch unterschätzt wird. Frühe Reisende und Anthropologen waren fast ausschließlich Männer aus patriarchalen Gesellschaften. Gewalt gegen Ehefrauen findet im Privaten statt und kann daher von Anthropologen leicht übersehen werden. Könnte diese Form der Gewalt so häufig sein, dass sie die Behauptung widerlegt, Menschen seien innerhalb ihrer Gemeinschaften außergewöhnlich friedlich? Wie stehen die Menschen im Vergleich mit den Schimpansen da, wenn es um Gewalt von Männern gegen Frauen geht?17

Unter Menschen ist die Gewalt gegenüber Lebenspartnern ein verbreitetes Phänomen. Im Jahr 2005 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation eine Untersuchung zur Gesundheit von Frauen und zur häuslichen Gewalt, die auf detaillierten Daten von 24 000 Frauen aus zehn Ländern basierte.18 Zur Gewalt gegenüber Partnern zählten Schläge mit der Hand oder Faust, Stöße, Tritte, Prügel, Würgen, Verbrennungen und Androhung oder Anwendung von Waffengewalt. In den Städten lag der Anteil von Frauen, die über Gewalt von ihren Partnern berichteten, bei durchschnittlich 31 Prozent, von 13 Prozent in Japan bis zu 49 Prozent in Peru. Auf dem Land war der Anteil höher und lag bei durchschnittlich 41 Prozent. Zwischen 50 und 80 Prozent dieser Gewalt wurde als »schwer« eingestuft. Dieser Anteil liegt nur knapp über dem in den Vereinigten Staaten, wo von gut 9000 befragten Frauen 24 Prozent angaben, Opfer schwerer körperlicher Gewalt ihrer Partner geworden zu sein.19 Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass Christina Pallitto und Claudia García-Moreno, die diese Untersuchungen im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation durchführten, zu dem Schluss kamen: »Es besteht ein eindeutiger Bedarf, über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg verstärkt Maßnahmen zu ergreifen, um Gewalt schon im Vorfeld zu verhindern und um die erforderlichen Dienstleistungen für die betroffenen Frauen bereitzustellen.«20 Das Bild wird noch hässlicher, wenn man zur häuslichen die sexuelle Gewalt hinzunimmt. Eine 2013 von der Weltgesundheitsorganisation durchgeführte Untersuchung stellte fest, dass der Anteil der Frauen, die körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren hatten, in den Städten derselben zehn Länder bei durchschnittlich 41 Prozent lag und auf dem Land bei 51 Prozent. In den Vereinigten Staaten lag der entsprechende Anteil bei 36 Prozent.21

Es ist eine bedauerliche Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen ein in aller Welt verbreitetes Phänomen ist. Zwischen 41 und 71 Prozent aller Frauen wurden im Laufe ihres Lebens mindestens einmal von einem Mann geschlagen. Trotzdem ist dieser Anteil gering im Vergleich mit der Gewalt bei unseren nächsten tierischen Verwandten. 100 Prozent aller frei lebenden Schimpansenweibchen werden regelmäßig von Männchen misshandelt.22 Selbst bei den Bonobos, deren Gruppen von Weibchen geführt werden, greifen Männchen Weibchen häufig an. Der Primatenforscher Martin Surbeck beobachtete, dass in Untergruppen von durchschnittlich neun Individuen durchschnittlich alle sechs Tage ein Weibchen von einem Männchen angegriffen wurde.23 Wenn diese Zahlen bei den Efé und Lese im Ituri-Regenwald des Kongo gelten würden, dann wären Elizabeth und ich während unseres neunmonatigen Aufenthalts Hunderte Male Zeugen von häuslicher Gewalt geworden oder hätten zumindest davon gehört. Aber wir haben selbst nichts gesehen, und uns kamen auch nur einige wenige Geschichten zu Ohren.

Aggressive Verhaltensweisen von Männern gegenüber Frauen scheinen besonders in kleinen Gemeinschaften verbreitet, die Männer als Krieger verehren. Tatsächlich schilderten Besucher der Sambia auf Neuguinea24 oder der Yanomami in Venezuela25 drastisch, wie Männer Frauen tyrannisierten und schikanierten, und zwar zu einer Zeit, als die Gewalt zwischen Dörfern ganz real war. Doch auch wenn die Gewalt von Männern gegen Frauen in diesen Gesellschaften so hoch war wie in jeder anderen menschlichen Gesellschaft, dann verblasst dies, wie gesagt, im Vergleich zu den Zahlen unter unseren äffischen Verwandten. Es ist verständlich, warum Elizabeth Marshall Thomas die !Kung im Titel ihres Buches als »das harmlose Volk« bezeichnete, warum Jean Briggs ihr Buch über die Inuit »Nie im Zorn« nannte und Paul Malone die Penan von Borneo als »das friedliche Volk« bezeichnete.26

Häusliche Gewalt ist verabscheuenswert und sollte immer ernst genommen werden. Doch selbst wenn Männer eine dauernde Bedrohung für Frauen darstellen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass wir Menschen weniger aggressiv sind als unsere nächsten Verwandten.

Krieg ist allerdings ein ganz anderes Thema. Die Ereignisse in der Demokratischen Republik Kongo sind ein Beleg für den Unterschied zwischen dem friedlichen Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft und der Gewalt gegen Außenstehende. Nach dem Völkermord der Tutsi in Ruanda und dem Eintreffen von Hutu-Milizen im Kongo im Jahr 1994 verwandelte sich der Ituri-Regenwald in ein Schlachtfeld. Die Bewohner der Region litten unter dem Ersten und Zweiten Kongokrieg von 1996 bis 2008. Das Leben im Urwald wurde zum Albtraum. Unschuldige Dorfbewohner wurden von marodierenden Soldaten getötet und vergewaltigt. Im Ituri-Regenwald und den umliegenden Regionen im Osten des Kongo starben schätzungsweise fünf Millionen Menschen, Hunderttausende wurden vergewaltigt.27

Gesellschaften können jahrzehntelang im Frieden leben, doch wenn der Krieg wieder aufflammt, dann töten Menschen einander in größerem Umfang als Schimpansen oder jede andere Primatenart. Lawrence Keeley beobachtete, dass der Anteil der durch Gewalt zwischen Gruppen verursachten Todesfälle bei kleinen Gesellschaften von Wildbeutern oder Gartenbauern nicht nur höher war als bei Primaten. Er lag auch über dem, der in Russland, Deutschland, Frankreich, Schweden und Japan zwischen 1900 und 1990 verzeichnet wurde, und das trotz der gewaltigen Verluste, die diese Länder in zwei Weltkriegen erlitten.28 Wissenschaftler sind sich nicht einig, inwieweit Keeleys Daten einen langfristigen Durchschnitt erfassen, doch seine Zahlen belegen, dass der Anteil der Menschen, die durch Gewalt zwischen Gruppen zu Tode kommen, oftmals schmerzlich hoch ist.29

Ein hoher Anteil von Morden und anderen Formen der Gewalt ist nicht unvermeidlich, und es gibt erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften und Epochen. Doch alles in allem ist die Tendenz eindeutig: Verglichen mit anderen Primaten verüben wir im Alltag außergewöhnlich wenig Gewalt, in unseren Kriegen aber erreichen wir einen extrem hohen Anteil von gewaltsamen Todesfällen. Genau das ist der Widerspruch der menschlichen Aggression.

KAPITEL 2

Zwei Arten der Aggression

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die drängende Frage, wie man die übermäßige Aggression des Menschen eindämmen konnte. Im Jahr 1965 setzte der Physiologe José Delgado sein Leben aufs Spiel, um einen Durchbruch in dieser Frage zu demonstrieren. In einer Stierkampfarena stellte er sich allein einem anrennenden Stier entgegen, ohne Tuch, ohne Degen, ohne alles, was man im herkömmlichen Sinne als Waffe verstehen könnte. Er hatte lediglich ein Funkgerät. Im Labor hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet. Sein Patient war ein ausgewachsener Kampfstier von einer Rasse, die auf Aggression gezüchtet worden und selbst unter den mutigsten Matadoren gefürchtet war. Delgado hatte eine Elektrode in das Gehirn des Tiers implantiert, und zwar so, dass die Spitze genau im Hypothalamus des Stiers saß und die Drähte bis an die Oberfläche des Schädels reichten. Er hatte überprüft, dass er die Aktivität der Elektrode mit dem Funkgerät steuern konnte.

Nun kam der Moment der Wahrheit.

Der Stier lief in die Arena, sah Delgado und griff augenblicklich an. Was dann passierte, können Sie auf YouTube verfolgen. Schnaubend stürmt das Tier heran. Der scheinbar verrückte Delgado bewegt sich nicht vom Fleck. Dann drückt er einen Knopf.

Der Stier bleibt stehen, und Delgado geht weg.

Delgados Arbeit hat ihren Ursprung in der damals aufkommenden Begeisterung für die Vorstellung, man könne die Gewalttätigkeit des Menschen mit den Mitteln der Biologie unter Kontrolle bekommen. Als Neurobiologe, der sich mit der Aggression bei Tieren beschäftigte, glaubte er, dass Experimente wie sein Selbstversuch mit dem Kampfstier weitreichende Folgen haben könnten. Er träumte davon, den Menschen zu »psychozivilisieren«, und zwar »mithilfe von Elektroden, die ins Gehirn eingesetzt und mittels Fernsteuerung kontrolliert werden«1. Aus der Idee wurde nichts, doch Delgados Stunt zeigt, wie viel man schon 1965 über die neuronalen Ursachen der Aggression wusste. Seither haben wir viel dazugelernt.

Aggressive Verhaltensweisen beinhalten vielfältige und komplexe biologische Fähigkeiten und Emotionen. Manche Menschen sind aggressiver als andere. Auch in der Art und Weise, wie wir Aggression zum Ausdruck bringen, unterscheiden wir uns. Die einen suchen die direkte Konfrontation, andere verhalten sich passiv-aggressiv, wieder andere leben ihre Aggression im Klatsch aus. Die Bandbreite ist so groß, dass man meinen könnte, dass sich die Aggression kaum sinnvoll in Kategorien einteilen lasse.

Seit den Sechzigerjahren haben sich jedoch verschiedene Ansätze der Aggressionsforschung auf denselben entscheidenden Gedanken hin entwickelt. Aggression, verstanden als Verhalten, das den körperlichen oder seelischen Schaden eines anderen Menschen zum Ziel hat, lässt sich in zwei große Kategorien einteilen, die sich in ihrer Funktion und ihren biologischen Grundlagen so stark unterscheiden, dass sie aus evolutionärer Sicht getrennt behandelt werden müssen. In diesem Buch bezeichne ich sie als »aktive« und »reaktive Aggression«, doch zur Beschreibung lassen sich auch viele andere Begriffspaare verwenden: kalt und heiß, offensiv und defensiv oder geplant und spontan. Doch der Unterschied bleibt derselbe.2

Unter reaktiver Aggression versteht man die Reaktion auf eine Bedrohung. Diese Art der Aggression zeigte Delgados Kampfstier, und es ist die Art der Aggression, die uns am vertrautesten ist. Wir sehen sie zum Beispiel im Mannschaftssport, wenn sich Spieler über Gegner, Mitspieler oder den Schiedsrichter aufregen. Diese Art der Aggression wird auch in Lehrbüchern über das Verhalten von Tieren gern ausführlich dargestellt und anhand von Beschreibungen von Siamesischen Kampffischen oder brünftigen Hirschen illustriert. Sie ist bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen und steht in Zusammenhang mit einem hohem Testosteronspiegel.3 Im Vergleich mit anderen Tieren zeigen die meisten Menschen weniger häufig oder heftig reaktive Aggression, doch bedauerlicherweise gibt es auch Ausnahmen. Hier ein Beispiel.

An einem Tag im Oktober 2015 brachte der sechzehnjährige Bailey Gwynne eine Schachtel Kekse in seine Schule in Aberdeen mit und verteilte sie unter einer Gruppe von Jungen. Ein kleinerer Junge nahm einen Keks an, aß ihn und bat dann um einen weiteren Keks. Gwynne lehnte ab, nannte den Jungen einen Fettsack und wandte sich ab. Der frustrierte Junge antwortete: »Deine Mutter ist eine fette Kuh.« Das reichte. Gwynne drehte sich um und wollte die Rechnung begleichen. Die Fäuste flogen. Gwynne war größer als sein Gegner, nahm ihn in den Schwitzkasten und schlug ihn mehrmals gegen eine Wand. Bis der kleinere Junge ein Messer zückte und es Gwynne in die Brust stieß. Gwynne brach zusammen.

Der Mörder war außer sich vor Reue. »Ich bin schuld«, sagte er dem Direktor, während der Ältere blutend auf dem Boden lag. Wenige Minuten später starb Gwynne. Als die Polizisten dem Jungen die Handschellen anlegten, sagte er: »Es war nur ein Moment der Wut.« Und später erklärte er: »Das habe ich nicht gewollt. Aber ich habe ihn erstochen.« Das Gericht verurteilte ihn wegen Totschlags zu neun Jahren Jugendhaft.4

Kleine Beleidigungen waren so schnell in tödliche Aggression umgeschlagen, dass die Beteiligten nicht lange nachdenken konnten. Gwynnes Tod ist ein Beispiel für die tragische Fehlkalkulation, wie sie für ein eskaliertes »Kräftemessen« oder einen »Kampf um die Ehre« typisch ist. Es handelt sich um eine klassische und hochgradige Form der reaktiven Aggression. Ein Kampf um die Ehre beginnt oft mit einem Wortgefecht in einer Kneipe. Zwei Männer, durch Alkohol enthemmt, beleidigen einander. Sie gehen nach draußen, um ihren Zwist auszutragen, einer zieht eine Waffe, und mit einem Mal wird aus dem Streit tödlicher Ernst. Als der Kriminologe Marvin Wolfgang im Jahr 1958 in Philadelphia eine groß angelegte Untersuchung zu den Ursachen von Morden durchführte, stellte er fest, dass über einen Beobachtungszeitraum von vier Jahren diese Art von Ehrwettstreit für 35 Prozent aller Tötungsdelikte der Stadt verantwortlich war. Es war mit Abstand der wichtigste Grund für Mord und Totschlag, und diese Beobachtung wurde später an anderen Orten bestätigt.5

Reaktive Aggression wird als feindselig, wütend, spontan, affektiv oder »heiß« beschrieben. Sie geht häufig mit Zorn und mit Kontrollverlust einher. Sie ist eine Reaktion auf eine vermeintliche Provokation, zum Beispiel eine Beleidigung, Bloßstellung, körperliche Bedrohung oder einfach eine Enttäuschung. Im Zustand heftiger Erregung, wie er für reaktive Aggression kennzeichnend ist, schlägt der oder die Betroffene willkürlich um sich. Reaktive Aggressoren haben ein einziges Ziel, sie wollen den provozierenden Reiz beseitigen, und dieser ist oft die Person, von der die Beleidigung ausgeht.6

Wie einige Menschen stärker zu reaktiver Aggression neigen als andere, so gibt es auch Unterschiede zwischen Spezies. Die meisten Arten, seien es Schimpansen oder Wölfe, neigen eher zu reaktiver Aggression als Menschen. In Tieren ist das Muster gut erforscht. Reaktive Aggression ist besonders stark bei Männchen ausgeprägt, die um Rang oder Partnerinnen streiten. In der Regel gehen die Kämpfe unter Tieren ohne Verletzungen ab, doch wenn viel auf dem Spiel steht, kann der Wettstreit heftiger verlaufen. Eine Untersuchung von Brunftkämpfen unter männlichen Gabelböcken ergab, dass 12 Prozent der Auseinandersetzungen um ein Weibchen mit dem Tod eines der beiden Männchen endeten.7 In verschiedenen Rothirschpopulationen starben 13 bis 29 Prozent aller Männchen an den Folgen von Paarungskämpfen. Die Liste solcher Statistiken ist lang. Wenn Männer in ähnlichem Umfang zu reaktiver Aggression neigen würden wie brünftige Paarhufer, dann würden in den Vereinigten Staaten pro Jahr nicht weniger als 10 000 Männer bei einem Kampf um die Ehre ums Leben kommen, sondern weit mehr als 100 000.8

Vergleichen wir nun die reaktive Aggression mit der kaltblütig geplanten Gewalt, wie sie zum Beispiel im Mord von David Heiss an Matthew Pyke zum Ausdruck kommt. Heiss lebte in Frankfurt am Main, weit entfernt von Pykes Heimatstadt Nottingham im Herzen von England. Beide waren Anfang zwanzig, als sie sich 2007 in dem Internet-Spielforum kennenlernten, das Pykes Freundin Joanna Witton leitete. Heiss verliebte sich in Witton und beschloss, sie persönlich kennenzulernen. Ein Jahr später tauchte er unangemeldet in der Wohnung von Joanna und Matthew in Nottingham auf und erklärte ihr seine Liebe. Zu seinem Leidwesen wollte Witton jedoch nichts von ihm wissen. Aber Heiss ließ sich nicht abwimmeln. Einen Monat lang blieb er in England, schrieb ihr Briefe und stellte ihr nach.

Heiss kehrte nach Deutschland zurück, doch nach einigen Wochen führte ihn seine Leidenschaft zurück nach Nottingham. Witton wies in ein weiteres Mal ab, und er reiste abermals ab. Im September 2008 erklärte Witton, dass sie Pyke heiraten werde. Das war der Auslöser. Heiss kam ein weiteres Mal nach Nottingham. Er bereitete ein Alibi vor, einen gefälschten Abschiedsbrief von Pyke und bewaffnete sich mit einem Messer. Er näherte sich dem Haus des Paars, sah zu, wie Witton die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu gehen, und klingelte an der Tür. Als Pyke öffnete, fiel Heiss sofort über ihn her und stach auf ihn ein. Insgesamt versetzte er seinem Opfer 86 Stichwunden. Sterbend schrieb Pyke mit seinem Blut den Namen seines Mörders auf den Boden. Als Paarungsstrategie war Heiss’ Verhalten denkbar ungeeignet. Er wurde zu achtzehn Jahren Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verurteilt. Doch als Strategie zur Beseitigung eines Rivalen funktionierte es.9

Heiss’ Tat ist ein klassisches Beispiel für aktive Aggression. Die Art der Aggression wird auch als geplant, vorsätzlich, rücksichtslos, zweckdienlich oder »kalt« beschrieben. Anders als bei der reaktiven Aggression handelt es sich bei der aktiven nicht um die Beseitigung einer realen oder vermeintlichen Bedrohung, sondern um einen zielgerichteten Angriff mit dem Ziel einer äußeren oder inneren Belohnung. Sie ist die berechnende Tat eines Berufskillers, der ein Flugzeug in ein belebtes Gebäude steuert, mit einem gestohlenen Lastwagen in eine Menschenmenge rast oder in einer Schule Mitschüler und Lehrer niederschießt. Im Moment der Tat selbst kommen nicht unbedingt Ärger oder andere Emotionen zum Ausdruck, auch wenn an der Entscheidung zur Tat natürlich Emotionen beteiligt sind – wie wir noch sehen werden, zeigen Untersuchungen des Gehirns, dass Emotionen bei aktiven Mördern sogar besonders heftig sind.

Das Ziel von vorsätzlicher Gewalt kann etwas Konkretes sein, zum Beispiel Geld, Macht oder Paarung, aber es kann sich auch um etwas Abstraktes handeln, etwa Rache, Selbstschutz oder einfach nur die Einlösung eines Versprechens. Vieles von dem, was Menschen in Kriegen tun, ist eine Form der vorsätzlichen Aggression, etwa ein Überraschungsangriff. Die große Zahl von Kriegstoten ist ein Beleg, dass Menschen, genau wie Schimpansen, im Vergleich zu anderen Spezies ein hohes Maß an vorsätzlicher Aggression mitbringen. Wir sind hervorragende Planer, Jäger, Plünderer und, wenn wir das wollen, auch Mörder. Die Anthropologin Sarah Hrdy schrieb, wenn man Hunderte Schimpansen in ein Flugzeug packen würde, würde man damit Gewalt und Chaos entfesseln, während die meisten menschlichen Passagiere in derart beengten Verhältnissen erstaunlich ruhig bleiben. Dale Peterson ergänzte jedoch, dass man die Passagiere vorher intensiv durchleuchten muss, um zu verhindern, dass irgendein unbekannter Feind eine Bombe an Bord schmuggelt. Dieser Gegensatz ist ein weiteres Beispiel für unsere geringe Tendenz zu reaktiver und unsere ausgeprägte Neigung zu aktiver Aggression.10