Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Mann, die Frau und der Junge starten zu ihrem ersten Zeltplatzurlaub in Frankreich mit großen Erwartungen. Anfangs geht fast alles schief, denn erst nach einigen Tagen und unfreiwilligen Zwischenstationen finden sie einen Zeltplatz mit freien Plätzen. Dort angekommen richten sie sich ein, müssen aber wegen etwas aufdringlicher Nachbarn aus Belgien ihren Platz wechseln. Ihre Ausflüge führen sie dann in verträumte und romantische Städtchen aber auch in Metropolen wie Avignon. Auch der Mount Ventou steht auf den Besuchsprogramm und tatsächlich ist er das Mekka der französischen Radfahrer und bietet von seinem Gipfel her einen sensationellen Ausblick. Wein aus Châteauneuf-du-Pape hat einen besonderen Ruf und so stellt die Stadt ein weiteres Ausflugsziel dar. Sehr schnell fühlen sie sich die Urlauber in dem Land heimisch und genießen vor allem die unaufgeregte und entspannte Art der Franzosen. Das Zeltplatzleben ist erholsam aber die Franzosen wären nicht sie selbst, wenn sie nicht auch einen Grund für eine Feierlichkeit finden würden. Die drei Urlauber genießen so einen lockeren, schönen und unvergesslichen Barbecue-Abend mit Leuten aus verschiedenen Ländern. Was dem Mann, der Frau und dem Jungen besonders gefällt ist die Art der Franzosen, das Leben auf eine ganz andere Art zu führen, als es die Deutschen tun. Ohne jegliche Hektik werden Dinge, die getan werden müssen, angegangen und selbst wenn es länger als gewohnt dauert, so ist das Ergebnis doch stets in Ordnung. Viele Begegnungen und kleine Begebenheiten lassen den Mann, die Frau und den Jungen immer mehr Sympathie für die Menschen und das Land verspüren. Für sie ist es eine sehr berührende Erfahrung, dass es heute – nach den beiden schrecklichen Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich- keinerlei Ressentiments mehr gibt und sie freundlich empfangen werden. Nach dem Urlaub steht für sie fest, dass es im nächsten Jahr wieder nach Frankreich gehen wird.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Impressum
Die zarte Fee und die Garage
Urlaubsimpressionen aus Frankreich
Copyright: © 2014 Ronald Weißig
Published by: epubli GmbH, Berlin
www. epubli.de
ISBN 978-3-8442-7620-6
Inhalt
Vorbereitungen
Gardasee
Hotel Diana
Studie Hotel
Ankommen
Das belgische Hundearschloch
Die Wette
Geisterstunde
Die zarte Fee und die Garage
Abendstunde
Rätselhafte Rückleuchten
Die fliegende Frau
Das verschwundene Städtchen
Der Nebelberg
Tückischer Ocker
Über Land
Avignon
Der geheimnisvolle Fremde
Schmutziges Geld
Arbeitsschutz geht alle an!
Bacchus Tränen
Mount Ventou
Zwischenfall im Freibad
Decathlon
Gewitter
Grignan
Auberge
Erinnerungslücken
Schlussakkord
Wenn der Mann eine Sache richtig machen wollte gab er sich Mühe das ordentlich zu erledigen. Wenn ihn etwas weniger interessierte war es ihm lieber, dass sich andere damit beschäftigten, so wie die Frau das jetzt tat. Sie saß vor dem Computer und klickte sich durch eine Vielzahl von Webpages französischer Campingplätze. Vom Wohnzimmer aus hörte er sie manchmal entzückt Worte wie „oh, schön“, „das sieht ja toll aus“, „auch nicht schlecht“ sagen und er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ihn auffordern würde, sich am Bildschirm etwas anzusehen. Wie selbstverständlich hatte die Frau die Initiative ergriffen als feststand, dass sie in diesem Jahr mit dem Zelt nach Frankreich fahren würden. Der Mann wusste, dass sie die Vorbereitungen perfekt erledigen sollte (sowohl mit Verstand als auch Gefühl), es gab für ihn also keinen zwingenden Grund sich weiter zu engagieren zumal es auch so war, dass sie meist sehr überzeugende Argumente für ihre Entschlüsse aufführen konnte. Diese Mischung aus Rationalität (manchmal staunte er über ihre Gedankengänge wenn sie sich über bestimmte Dinge unterhielten) und Fürsorge (für ihn und die Jungs) gefiel ihm gut. Dass sie ihm auch noch bestimmte Entscheidungen abnahm (oder für die Familie traf) fand er eigentlich gar nicht schlimm, sie war nun mal der aktivere Partner in ihrer Beziehung (jedenfalls in dieser Angelegenheit).
„Komm‘ mal bitte her“ rief sie jetzt und der Mann kannte das Szenario schon vorher.
Neben der Tastatur lag eine Karte von Frankreich in die bereits Zahlen eingetragen waren (höchstwahrscheinlich potentielle Reiseziele). Er sah, dass die Eins noch recht nah am Mittelmeer lag, die Fünf mehr in nördlicher Richtung und die Elf erkannte er in der Nähe von Nyons (dort waren sie im vorigen Jahr schon einmal gewesen) noch weiter im Norden.
Aha, sie hatte also den Vormarsch der deutschen Truppe schon geplant. Die erste Etappe sollte bis zum Bündnispartner Italien führen (Gardasee). Dort war Treibstoff- und Munitionsergänzung (in Form von Pasta) geplant. Dann sollte der überraschende Raid mit dem Mannschaftswagen über die Küstenregion folgen und später war der Vorstoß des schnellen Verbandes in den Norden vorgesehen; die Franzosen würden überrumpelt sein (leider wurde das später eindrucksvoll wahr) denn ihre Befestigungen waren mehr auf einen Einfall im Ostteil des Landes vorbereitet (der Mann interessierte sich sehr für Militärgeschichte).
„Also ich habe mir das so gedacht“ sagte die Frau „an der Küste wird zuviel los sein. Demzufolge fahren wir am zweiten Tag nach Vence, das liegt zwar auch an der Côte d’Azur aber schon nicht mehr so nah, damit entgehen wir den Touristenhorden hundertprozentig und es gibt dort auch drei schöne Plätze, die zeig‘ ich dir jetzt mal.“
Er stand hinter ihr, die Seiten der Zeltplätze waren vielfach auch in Deutsch gehalten. Wie zur Probe prüfte sie auf jeder die Verfügbarkeit, immer gab es freie Stellflächen.
„Na bitte, überall ist was frei, das passt, und wenn uns einer nicht gefällt fahren wir halt zum Nächsten, so wie im vorigen Jahr.“
Mit dem Wohnmobil waren sie damals auf gut Glück durch das Land gefahren, oft konnten sie zwischen mehreren Stellplätzen wählen, nur in Carcassonne war es einmal knapp geworden aber sie kamen noch unter. Nachdem der Mann seine Zustimmung zu ihren Vorschlägen abgegeben hatte bereitete er seinen Abgang aus der Küche vor indem er sich immer wieder kurz von der Frau entfernte, um etwas in den Geschirrspüler zu räumen, einen Schluck Bier zu trinken, einen Fleck wegzuwischen. Dann wagte er es ins Wohnzimmer zu gehen und griff sich die aktuelle Ausgabe des SPIEGEL. Er wusste, dass die Frau ihn jetzt nicht vermisste und noch Stunden vor dem Computer sitzen würde, seine Mithilfe wurde nicht gebraucht und er machte es sich mit einem Bier vor dem Fernseher gemütlich.
Die Frau würde den Schlachtplan nach und nach verfeinern bis jedes Detail der Operation stimmte, nichts würde sie dem Zufall überlassen und das gesamte touristische Programm eine wohl abgewogene Kombination aus Kultur und Erholung darstellen, die ihnen gut tun sollte. Abends studierte sie noch bis zum Schlafengehen mehrere Reiseführer und der Mann war sich sicher, dass sie noch die eine oder andere Änderungen in Erwägung zog, aber das würde zumindest den Aufmarschplan nicht ändern.
Es konnte nichts mehr schiefgehen, die Operation „Zelten 2011“ würde ein voller Erfolg der kleinen deutschen Truppe werden.
Die Strecke bis München kannte er aus dem Effeff, schließlich war sie die letzten Jahre immer das Einfalltor in den Süden gewesen, jedenfalls wenn sie in den Urlaub fuhren. Der Ford Focus war bis unter die Decke beladen, Kofferraum und Dachbox waren bis auf den letzten Winkel gefüllt und neben der Frau türmten sich auf den rechten Rücksitz Boxen mit Geschirr, Kopfkissen und anderes Kleinzeug, so dass sie den schlechtesten Platz an Bord abbekommen hatte. Hinter dem rechten Beifahrersitz, den der Junge belegte, stand die Kühlbox. Vorerst war sie nicht in Betrieb weil das Navigationsgerät am Zigarettenanzünder hing. Nach ihrem Urlaub im Vorjahr mit dem Wohnmobil hatte der Mann Blut geleckt, sonst war er eigentlich immer bestrebt gewesen möglichst schnell wieder nach Hause zu kommen, sozusagen wieder auf seine Scholle zurück zu kehren.
Urlaube waren für ihn als Schüler und Student immer wichtig gewesen. Zusammen mit den Kumpels mit dem Moped oder später mit dem Auto zu den Tschechen zum Zelten zu fahren und dort ordentlich Bier zu trinken gehörte zum Pflichtprogramm. Als sie sich nach dem Studium verstreuten verlor auch der Urlaub für ihn an Bedeutung, ein paar Mal noch hängte er sich an eine Gruppe an, als er selbständig war blieb keine Zeit mehr dafür und die wenigen freien Tage verbrachte er damit, rumzuhängen und zu schlafen. Erst als er mit der Frau zusammen war wurde dieses Thema wieder wichtiger und seine erste Reise in den „Westen“ führte ihn zusammen mit dem großen Sohn der Frau nach Italien, genauer, drei Tage nach Rom, sein Jugendweihegeschenk. Sie reisten mit dem Schlafwagen und auf diesem Gebiet konnte der Mann durchaus mitreden, denn er war nach dem Abitur in der verbleibenden Zeit bis zum Wehrdienst selbst als Schlafwagenschaffner gefahren, eine Arbeit die ihn bis Bulgarien brachte, Spaß machte und sein Taschengeld ordentlich auffüllte. Als sie den Wagen bestiegen musterte er das Abteil kritisch.
„Die Kiste hat mindestens dreißig Jahre auf den Drehgestellen, das sehe ich sofort“ erklärte er der Frau und dem großen Sohn der Frau fachmännisch „kuckt mal, wie abgewetzt die Bezüge sind. Genau in solchen Wagen bin ich schon vor mehr als zehn Jahren gefahren, und die waren weiß Gott besser in Schuss gewesen.“
Die anderen beiden sahen sich ebenfalls um und da es schon spät war krochen sie in ihre Betten die bereits heruntergeklappt waren. Die Frau bezog das untere Bett (denn sie war schwanger), der Mann belegte das mittlere und der große Sohn der Frau kletterte ganz nach oben, das hatte er sich so gewünscht. Der Erfahrungsträger im Schlafwagenfahren hatte darüber gar keine Diskussion angefangen (etwa, dass er nach oben wollte) denn er wusste, dass es da am Unruhigsten zuging, das war so, und wegen seiner Schwäche in Physik versuchte er gar nicht erst, eine sinnvolle wissenschaftliche Erklärung zu finden. Sicher hing es mit irgendwelchen Kräften und dem Abstand vom Schwerpunkt zusammen.
Die Tage in Rom waren schön, dem Mann blieb immer in Erinnerung, dass er dort das erste Mal Miesmuscheln in Weißweinsoße gegessen hatte, ein Gedicht! Staunend stellte er fest, dass die Restaurants selbst um einundzwanzig Uhr fast leer waren, erst später füllten sie sich bis zum letzten Platz und das Stimmengewirr lag wie ein Teppich über der schönen Plazza.
Ja, die Italiener machten es sich schon gemütlich, da fielen Schmutz und heruntergekommene Hausfassaden nicht so ins Gewicht, das dolce vita nahm keinen Schaden, auch wenn der Putz blätterte. Diese Lockerheit gefiel ihm gut, da kam er sich als Deutscher schon verkrampft vor, obwohl die Sachsen ja auch als gemütlich galten und gern immer ein bisschen rum muddelten (es sich landestypisch ebenfalls gemütlich machten, allerdings war mit dem muddln immer irgendeine Tätigkeit verbunden). Die Stadt protzte an allen Ecken und Enden mit alten Steinen, überall war die Geschichte zu erspüren und dazwischenflanierten unzählige Touristen.
Leider geriet die Rückreise mit der italienischen Staatsbahn ausgesprochen rustikal. Der Liegewagenschaffner dokumentierte mit seiner Jacke deutlich, dass er schon das eine oder andere Weinchen intus hatte, denn das Kleidungsstück war an etlichen Stellen mit Rotweinflecken versehen. Gut, der Mann wusste ja nicht, wie die Anforderungen an diesen Job hier formuliert waren. Bei der Deutschen Reichsbahn war es damals klar gewesen, dass es ein Bierchen erst geben durfte, wenn er den Wagen für die Nacht vorbereitet hatte (die Betten gerichtet und die Toiletten noch mal geputzt waren), das nahm man hier nicht so streng wie auch der Zustand der Toiletten zeigte. Da musste er durch, aber zuerst einen Platz für schwangere Frau organisieren, denn auch die Buchung war in die Hose gegangen. Er lief durch den ganzen Zug, schließlich konnte die Frau ein Bett beziehen und er und der große Sohn der Frau richteten sich in ihrem Abteil ein. Nun ja, er hatte nach seinen bisherigen Erfahrungen nicht das Niveau eines Reinstraumes erwartet, aber an der Wand klebte kalter Bauer!
Alterkalter Bauer!
Da war einem das Essen aus dem Gesicht gefallen, er hatte gebröckelt, sich übergeben, gekotzt und die Brocken waren wie für die Ewigkeit dort festgebacken (der Schaffner hatte ja andere Sorgen). Ach, die Sorge vor dem Bröckeln verfolgte ihn auch jetzt, denn der Junge bekam beim Autofahren manchmal Probleme und er hatte ihnen auch schon einige Male in das Fahrzeug gespien. Die Reisekaugummis schienen ihm zu helfen und da ihm während der Fahrt das Lesen untersagt war (womöglich ein Grund für das Bröckeln) hörten sie eine CD mit Geschichten, er führte eine ganze Kollektion davon mit.
Der Gardasee kam in Sicht, eine endlose Autoschlange schlich auf der einzigen Straße die zu ihrem Zielort führte entlang. Mist, das konnte ja noch ewig dauern und der Junge forderte Essen ein. Für die knapp zehn Kilometer benötigten sie eine gute Stunde. Das Hotel war okay, sie gingen zum See hinunter, fanden ein schönes Restaurant von dem sie direkt auf das Wasser schauen konnten, als der Mann seinen Martini schlürfte und die Spaghetti mit Meeresfrüchten vertilgt waren kam ein Urlaubsgefühl auf. So konnte es weitergehen!
Vence sollte ihnen anfangs in schlechter Erinnerung bleiben: Zeltplatz Nummer fünf teilte ihnen mit Hilfe einer Papptafel mit (man wollte die verzweifelt suchenden Touristen schon vor der Rezeption abwimmeln), dass er (wie die anderen vier davor auch) „Complete“ (also überfüllt) wäre, keine große Überraschung für ihn. Die Frau blätterte angestrengt in ihren Reiseunterlagen und mit einem Blick in den Rückspiegel meinte der Mann erste Anzeichen von Unsicherheit in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie hatten die Stadt jetzt mehrfach durchfahren, weil vielleicht der municipal noch eine Stellfläche bieten würde oder der große, im Norden liegende Zeltplatz, ihnen Unterschlupft gewähren könnte. Langsam glaubte er am keinen Zufall mehr und Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn, immer wieder schaltete er die Klimaanlage kurz ein und dann wieder aus.
„Wir probieren es noch mal im Westen, da muss es noch einen Zeltplatz geben der ist nicht so groß“ legte die Frau fest, der Uhrzeiger näherte sich der sechs. Sie kannte den Mann bestens und wusste ganz genau, was sie ihm noch zumuten konnte. Manchmal erinnerte er sie mit seiner Langmut und der Gutmütigkeit an einen Schäferhund (an einen deutschen selbstverständlich, denn in Bezug auf Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein war er typisch deutsch) und als er schweigend weiterfuhr ahnte er schon, dass es wieder ein Schlag ins Wasser werden würde. Die Straße führte sie über Serpentinen in ein abgelegenes Waldstück, hier, mitten in der Pampa sollte doch noch etwas zu haben sein, Fehlanzeige. Der Mann schaute auf die Uhr: Achtzehn Uhr dreißig.
„Wir hören jetzt auf zu suchen“ sagte er noch ruhig zu der Frau „heute haben wir eh kein Glück mehr, lass‘ uns ein einem Hotel einchecken, es wird langsam Zeit.“
Sie nickte zustimmend, allerdings hatte der deutsche Spähtrupp jetzt jegliches Angriffskonzept verloren und irrte mehr oder weniger planlos durch die Gegend.
„Vorhin habe ich beim Vorbeifahren ein Hotel gesehen, „Royal Hotel oder so, sah allerdings recht vornehm aus“ informierte der Mann die Frau.
„Na gut“ erwiderte sie „schauen wir uns das mal an.“
Das Hotel machte schon von außen einen gediegenen und teuren Eindruck, zwei Autos verloren sich auf dem großen Parkplatz. Wie üblich schickte der Mann die Frau vor, das stimmte eigentlich so nicht, denn sie war nun mal der Organisator und übernahm diese Rolle auch jetzt wie selbstverständlich. Mit einem verstörten Gesichtsausdruck kam sie zurück, ließ sich in das Auto fallen und sagte lapidar:
„Wir hätten ein Zimmer für vierhundertfünfzig Euro bekommen können, falls noch eins frei gewesen wäre. Die sind ausgebucht, der Mann an der Rezeption hat es mir gezeigt.“
Heilige Scheiße, er versuchte gar nicht sich vorzustellen wie es weiterging, jedes Hotel, das sie jetzt noch anfahren würden, wärevollständig belegt, zu guter Letzt müssten sie im Auto schlafen und er wusste, dass es dann nicht mehr lange dauern würde, bis sie sich gegenseitig mörderisch auf die Nerven gingen und Gebrüll würde das Ventil ihrer Verzweiflung sein. Klar, Restaurants gab es wie Sand am Meer hier, das war nicht das Thema, aber ungewaschen, möglicherweise mit enormem Druck auf Blase und Schließmuskel und in der stickigen Luft im Auto könnten sich Aggressionen entwickeln, die den Traum vom schönen Urlaub zerplatzen ließen, bevor er überhaupt begonnen hatte.
„Was machen wir jetzt“ fragte der Junge (der in großer Sorge darum war, nichts zu essen zu bekommen, er wuchs beinahe stündlich und sein Appetit war dementsprechend groß).
„Na weitersuchen“ teilte ihm der Mann kurz angebunden mit, er merkte, dass sich sein Tonfall ungünstig veränderte. Dabei konnte der Junge doch auch nichts dafür, dass ihr Operationsplan nur noch Makulatur war, da konnte die Frau in ihren Unterlagen bis zum jüngsten Tag blättern. Langsam fuhren sie weiter, das nächste Hotel war wohl eine Preiskategorie niedriger, aber auch dieses war ausgebucht. Zurück in der Stadt fuhren sie auf gut Glück durch die Straßen, der Junge sah einen Hinweis auf das Hotel Diana, allerdings fehlte die nächste Anzeige. Plötzlich schrie die Frau auf:
„Da, da vorn links, dort ist es, versuch‘ mal zu halten.“
Diesmal hatten sie Glück, der Mann konnte direkt vor dem Eingang auf einer Fläche halten, die wohl zum Be- und Entladen vorgesehen war, die Frau hatte ihre Tatkraft wieder gewonnen und verschwand in dem Haus. Als sie nach drei Minuten immer noch nicht zurück war klopfte der Manndem Jungen, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, auf die Schenkel, produzierte so etwas wie ein grimassenhaftes Lächeln und nickte nur mit zusammen gebissenen Zähnen, mein Gott, hatte er die Schnauze voll!
Erst die Kutscherei über die Autobahnen mit ihren unzähligen Mautstellen, dann ein Schlag in die Magengrube nach dem anderen. Er überlegte krampfhaft, wenn das wieder nichts wurde, woran er seinen Frust auslassen sollte. In der Armeezeit war der Spind sein Punchingball gewesen. Erst wenn er den Schrank mit Füßen und Händen so lange traktiert hatte bis ihm die Knochen wehtaten flaute die Wut ab, er musste unbedingt (im Fall der Fälle) ein Objekt finden, das er bearbeiten konnte, denn an der Frau und dem Jungen konnte er seine maßlose Enttäuschung über den ganzen Mist nicht auslassen, sie hatten das nicht verdient!
Natürlich wäre es nicht die feine französische Art, wenn er beispielsweise die Rückspiegel an den dicht gedrängt stehenden Fahrzeugen abtreten (falls er sein Bein so hoch bekäme) und dazu Karatelaute ausstoßen würde. Wer weiß, wie lange die Einheimischen seinem Tun tatenlos zusehen würden, jedenfalls hätte er für diese Nacht dann mit Sicherheit ein Quartier, nämlich im Knast. Das wiederum konnte er der Frau und dem Jungen schlechterdings antun, schließlich war er der Fels in der Brandung der Übernachtungssuche. Scheiben einzuschmeißen hätte wohl die gleiche Wirkung, alles was mit Sachbeschädigung zu tun hatte schied aus (wenig später sollte es doch noch auf eindrucksvolle Art dazu kommen), er musste subtiler vorgehen. Freilich war ihm klar, dass er sich als Deutscher keineswegs besondere Sympathien bei den Franzosen erwerben würde wenn er laut brüllend auf sein Dilemma hinwies, ändern könnte das an der vertrackten Situation ohnehin nichts.
Schließlich verfiel er darauf, das Auto zu verlassen und sich wie ein Spastiker mit eigenartig verdrehten Gliedmaßen vor dem Eingang des Hotels hin und her zu bewegen und unnatürliche Laute auszustoßen. Dazu hielt er seinen im vorigen Jahr in Grignan erworbenen Strohhut vor sich hin, so als würde er um eine Spende bitten, möglicherweise hielt er mit dieser Aktion weitere potentielle Zimmersuchende davon ab, sich dem Hotel Diana zu nähern. DieFrau stand am Tresen des Hotels und bekam von seinem Tun nichts mit, nur der Junge schaute ihn entgeistert an, auch die Passanten zogen es vor, besser den Fußweg auf der anderen Straßenseite zu nutzen. Als sich ein Auto mit holländischem Kennzeichen näherte und der Fahrer aus dem geöffneten Fenster seinen Blick hoffnungsvoll auf das Hotel richtete trat der Mann mit abgehackten und spastischen Bewegungen an ihn heran, hielt ihm den Strohhut vor die Nase und sagte „Spende, bitte Spende, Tagung von psychisch Kranke hier in Hotel“ (wohl wissend, dass der Holländer ihn verstehen würde).
Der Holländer gab Gas, würgte den Motor aber aufgrund des Schocks ab, dann starte er wieder und der Mann sah, dass sich vier blonde Kinder auf der Rückbank drängten, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anblickten. Für das Erste war sein Plan aufgegangen, nach dieser Einlage fühlte er sich deutlich besser und gerade in dem Moment, als er sich wieder normal bewegte, kam die Frau aus dem Hotel.
„Wir können zwei Zimmer kriegen, allerdings kostet uns das insgesamt 225 Euro, ohne Frühstück.“
„Machen wir, machen wir“ erwiderte er.
„Geht’s dir gut“ fragte sie besorgt.
„Ja, ja, alles in Ordnung, alles in bester Ordnung“ stammelte er jetzt.
Sie sah ihn nachdenklich an, dann gingen sie gemeinsam zur Rezeption und die Frau hinter dem Tresen begrüßte ihn freundlich. Radebrechend machten sie ihr klar, dass ihr Auto (welches die Rezeptionistin gut im Blick hatte) auch untergebracht werden müsste, kein Problem, sie würde das Tor zur Tiefgarage öffnen, er könnte dort parken. Die Frau und der Junge griffen sich einige Sachen aus dem Auto, sie wollten auf ihn an der Rezeption warten.
Die Einfahrt war eng aber er schaffte es. Als das Auto langsam die Rampe herunter rollte öffnete sich surrend das Tor. Geduldig wartete er ab bis es ganz oben war, dann ging er von der Bremse und als die Vorderräder die ebene Parkfläche berührten war es nur noch ein Moment, bis er einparken, hoch gehen, ein Bier aufreißen und sich erst mal entspannt auf das Klo verziehen würde (in dieser Reihenfolge). Plötzlich gab es ein widerliches Geräusch, so als ob eine riesige Feile über einen gewaltigen Metallklotz streichen würde, im gleichen Moment schoss es ihm siedend heiß durch den Kopf: verdammter Mist, er hatte nicht an die Dachbox gedacht!
Panisch warf er den Rückwärtsgang hinein, das Auto schien wie festgeklebt, nichts tat sich. Dann versuchte er vorwärts voranzukommen, das brutale Kreischen marterte seine Ohren, er gewann keinen Millimeter. Mit etwas mehr Gas rückte das Auto langsam vor aber das Geräusch war so schlimm, dass er sicher war, dass die Dachbox im nächsten Moment vom Auto gerissen werden würde (was dann alles zu Bruch ging wagte er sich nicht vorzustellen), jetzt war er zur Hälfte durch und was auch immer kommen würde, er konnte nicht mehr zurück.Fatalistisch starrte er nach vorn und streichelte das Gaspedal, es ruckte vernehmlich und das Auto kam frei. Vor Anspannung musste er dreimal ansetzen, um auf einen der freien Stellplätze zu kommen, dann holte er tief Luft und stieg aus. Die Box war noch oben, er öffnete die Türen, stieg auf die Schweller und sah sich das Ergebnis der Durchfahrt an: auf beiden Seiten war das Material der Box abgeschabt, an den höchsten Stellen kleine Risse sichtbar. Schwein gehabt, der Schaden hielt sich in Grenzen. Mittlerweile hatte sich das Tor wieder geschlossen (gleichzeitig ging das Licht aus), jetzt stand er allein in der stockfinsteren und verschlossenen Garage, kein Drücker weit und breit zu ertasten, nahm denn die Scheiße heute gar kein Ende!
Plötzlich ging das Tor surrend hoch, mit eiligen Schritten entkam er der Gruft und wie ein lange verschütteter Bergmann wollte er auf der Rampe in die Knie sinken und dem lieben Gott für seine Errettung danken. Am Ende der Auffahrt fiel er (vorsichtig, das war Beton) auf die Knie, verschränkte die Hände zum Gebet (davon hatte er eigentlich keine Ahnung, aber irgendwie würde er es schon richtig machen). Er murmelte Dankesworte, als vier blonde Kinder, die ihm bekannt vorkamen, sich vorsichtig dem Hotel näherten, ihn in der Beterhaltung erblickten und sofort wieder wegrannten. Mein Gott, die sollten sich doch nicht so haben, schließlich konnte er beten wo er wollte und was war denn so besonderes daran, dass jemand auf einer Tiefgaragenzufahrt aus Dank zu seinem Schöpfer sprach. Nachdenklich ging er zur Rezeption.
„Was war das denn für ein Geräusch“ fragte die Frau, er winkte bloß ab und sagte „erzähle ich dann oben“.
„Ich bin mit der Dachbox am Tor hängengeblieben“ sagte er nach dem ersten Schluck Bier (die Frau wusste, dass jegliches Drängeln, von ihm etwas zu erfahren nichts brachte, er würde erst reden, wenn er dazu bereit war). Das Zimmer protzte mit schicken Möbeln und einem komfortablen Bad, ein Balkon zeigte in den Innenhof, zur Freude des Jungen war ein Fernseher vorhanden.
„Und, ist was passiert“ drängelte die Frau nun doch.
Manchmal brachte er sie aus der Ruhe, wenn er mit ruhigem Tonfall Bericht gab und sich so gar nicht erregte.
„Bisschen Plaste ist ab, sind auch zwei Riefen drin. Kucke ich mir morgen an. Ist bloß die Frage, wie wir wieder rauskommen. Vielleicht Dachbox abmontieren, raus fahren und dann wieder drauf machen.“
Der Tag hatte ihm zugesetzt, am liebsten wäre er jetzt in das Bett gekrochen. Leider wusste er, dass die Frau bereits wieder tatendurstig war. Wie um seine Überlegungen zu bestätigen sagte sie jetzt:
„Wir machen noch eine kurze Pause, ich räume ein bisschen auf, dann gehen wir in die Stadt zum Abendessen“, er hatte es gewusst!
An der Rezeption empfahl ihnen die freundliche Rezeptionistin (die blöde Kuh hätte ihn daran erinnern können, dass er die Box auf dem Auto hatte!) einige Restaurants, alles war in fünf Minuten zu erreichen. Ihre Getränke waren zur Neige gegangen, der in einer kleinen Straße liegende Lebensmittelladen kam gerade recht. Der Junge griff sich eine Cola, der Mann zwei Bier und die Frau eine Flasche Wein.
An der einzigen Kasse scannte die Verkäuferin die Waren gewissenhaft (also sehr bedächtig). Obwohl nur wenige neue Kunden den Laden betraten wuchs die Schlange der Wartenden immer mehr an, aber außer den gelangweilten Blicken der anderen Kunden fiel dem Mann nicht auf, dass jemand ungeduldig wurde. Nach geraumer Zeit hatten sie die Kasse passiert, die Frau rannte mit den Getränken zum Hotel zurück, schnell war sie wieder da und sie setzten sich Richtung Stadtzentrum in Marsch. Die Gaststätten waren schon gut frequentiert und als sie der Kellnerin ihren Bedarf an drei Plätzen anmeldete, bereitete sie ihnen den Tisch entsprechend vor. Das Essen war gut, danach liefen sie noch ein bisschen die Gassen entlang und machten es sich in dem vornehmen Zimmer gemütlich. Der Mann und der Junge liebten keine Überraschungen, ihnen war es weitaus lieber zu wissen, woran sie waren. Daraus ergab sich beim Eintreten unverhoffter Situationen bei beiden eine gewisse Unsicherheit, was aber keineswegs bedeutete, dass sie sich nicht darauf einstellen konnten. Dennoch war der Junge in vielen Dingen sehr genau, zum Beispiel was die konkrete Uhrzeit anbetraf. Da konnte er sich sehr wohl mit Philias Fogg, dem exzentrischen Gentleman aus dem Buch „Die Reise in 80 Tagen um die Welt“ messen, welcher immer die exakte Zeit parat hatte. Der Mann war da großzügiger, aber wie spät es war, war ihm momentan egal, er musste eine Lösung für das Dachbox-Problem finden. Natürlich könnte er sie abmontieren, dann würde das Auto ja problemlos das Tor passieren können, aber eigentlich hatte er keine Lust darauf, er vertagte die Sache einfach auf den nächsten Morgen.
Das Frühstück nahmen sie im Garten des Hotels ein, vornehm, vornehm, so ließ es sich speisen, aber diese Hotelübernachtungen waren nach dem Urlaub im vorigen Jahr so gar nicht mehr sein Ding. Er sehnte sich schon danach vor dem Zelt zu sitzen und am Kaffee zu nippen (falls es ihnen jemals gelingen sollte einen freien Platz zu bekommen). Das Ausfahrtproblem klärte sich auf einfache Art und Weise: die Tiefgarage hatte ein zweites Tor, welches wesentlich höher war (für die Warenanlieferung). Der Mann an der Rezeption wies ihn in der engen Garage ein und sie kamen ohne Schaden hinaus. Auf, die Suche ging weiter.
Mit einer heulenden Frauund einem heulenden Jungen im Mannschaftstransporter war die Schlacht kaum zu gewinnen, geschweige denn der Feldzug (der Mann hatte ja ein großes Interesse für Militärgeschichte). Alles kam ihm bekannt vor: wieder waren alle Plätze belegt gewesen und er musste sich zusammen reißen, nicht die Schilder „Complete“ von ihren Befestigungen zu treten (falls er das Bein so hoch bekäme). Gleichzeitig mit ihnen zogen Touristen aus aller Herren Länder mit vernagelten Gesichtern wieder unverrichteter Dinge ab. Es war nicht zu fassen: innerhalb von zwei Tagen hatten sie bislang mehr als zehn Plätze angefahren, große (auf die sie eigentlich nicht wollten), gemütliche (die jetzt gar nicht mehr so gemütlich aussahen), es wäre ihnen vollkommen Wurscht gewesen wie viele Leute sich dort drängen würden, Hauptsache erst einmal ankommen und ein bisschen Ruhe gewinnen. Das war reines Wunschdenken, jedes Mal trat ihnen das „Complete“ Schild furchtbar in den Hintern und er fragte sich, wo der Fehler lag.
Voriges Jahr war alles kein Thema gewesen, sie fuhren vor, gingen zur Rezeption und konnten sich einen Platz aussuchen, nach einer halben Stunde saßen sie entspannt am Tisch und er zischte ein Bier (die Frau einen Rotwein und der Junge eine Cola). Verdammter Mist, was war dieses Jahr bloß los? Es war jetzt schon nach zwölf Uhr und der Mann steuerte wieder einmal einen Platz an. Die freundliche Rezeptionistin telefonierte sogar noch herum um ihnen zu helfen: ohne Erfolg. Als er den Motor wütend anließ und weiterfahren wollte sah er bei einem flüchtigen Blick in den Rückspiegel, dass die Frau wie ein Schlosshund (wieso eigentlich Schlosshund?) heulte. Dieses tapfere Mädchen war jetzt vollkommen am Ende!
Er erinnerte sich ganz genau, wie sie zu Hause stundenlang vor dem Computer gesessen hatte und den Plan aufstellte, alles war wohl durchdacht und eigentlich konnte nichts schiefgehen. Das Leben hielt aber bekannterweise genug Überraschungen bereit und hatte sie jetzt überdeutlich belehrt, dass es selbst den ausgeklügelsten Plan zunichte machen konnte, wenn ein paar Bedingungen nicht stimmten. Was diese genau waren wusste er nicht, die Dinge lagen dennoch vermutlich einfach und er erinnerte sich an irgendwelche Lehrveranstaltungen zur Modellaufstellung für ein beliebiges kybernetisches Problem: zweifellos war die Anforderung an das System Zeltplätze deutlich höher als die zur Verfügung stehende Kapazität (ihre Bedarfsanforderung wurde schlichtweg wegen Auslastung abgewiesen), ja, so einfach war es. Die Frau tat ihm in der Seele leid und er wusste, dass er jetzt den coolen Typen geben musste, der trotz aller Widrigkeiten lässig über den ganzen Ärger hinweg ging. Kurz entschlossen steuerte er einen Parkplatz in der kleinen Stadt an und legte fest:
„Wir gehen jetzt erst mal Mittag essen.“
Der Tränenfluss des Jungen versiegte sofort: die Aussicht auf eine ordentliche Mahlzeit ließ die verzweifelte Suche nach einer Unterkunft sofort in den Hintergrund treten. Auf dem Weg zum Restaurant flüsterte der Mann der Frau zu:
„Glaube nicht, dass mir das alles am Arsch vorbei geht, ich habe die Schnauze genau so voll wie du, aber einer muss jetzt für denJungen den lässigen und coolen Typen, der alles im Griff hat, spielen, das mache ich. Eigentlich möchte ich mich am liebsten dort in den Brunnen schmeißen und stundenlang da drinsitzen bleiben“; er küsste sie flüchtig.
Die Frau sah ihn dankbar an, diesmal hatte der Mann die Regie übernommen, und als er so schwitzend und mit verklebten Haaren aber entschlossen vor ihr stand konnte sie nicht anders, als ihn an sich heranzuziehen und zu umarmen, er war der Held in der Unterkunftssuche.
Das Mittagessen war schmackhaft, der Mann hatte der Frau eingeredet doch zur Entspannung einen Rosè zu trinken, er schlürfte eine Cola, schließlich war er sich ganz sicher, dass sie wohl noch einen Weile rumkutschen mussten und insgeheim stellte er sich schon darauf ein, nach einem geeigneten Hotel Ausschau zu halten. Bei ihrer vergeblichen Zeltplatzsuche handelte es sich keineswegs um Zufälle, das stand für ihn nunmehr fest. Vielmehr trat das Ereignis Abweisung wegen Überfüllung fortlaufend und systematisch ein. Man konnte also keineswegs davon ausgehen, dass die Belegung der Plätze keinem Schema folgte. Sah er sich die Systemelemente A für die Stellplatzkapazität und B für den Anforderungsstrom der Unterkunftssuchenden an, zog man weiter die Umweltbedingungen C für die Wetterlage ,D für die Ferienzeit der Franzosen und E für den Zustrom der Holländer und Belgier aus dem Norden in Betracht wurde klar deutlich, dass das System irgendwann an seine Grenzen stoßen musste, und dann zwangsläufig kollabieren würde. Dabei ließ er noch außer Acht, dass möglicherweise Reservierungen (Umweltbedingung F) vorlagen, die die zur Verfügung stehende Kapazität weiter einschränkte oder der Wetterbericht (Bedingung G) in seiner Prognose vollkommen falsch lag. Die abgewiesenen Anforderungen, also sie zum Beispiel, hätten dann keine andere Wahl, als marodierend durch die Lande zu ziehen und eventuell mehr im Norden (weil ja die Holländer und Belgier von dort aus in den Süden vorrückten) ihr Glück zu versuchen, genau das wollte er der Frau später vorschlagen. Mit diesem wissenschaftlichen Ansatz hatte er gerade eindrucksvoll bewiesen, dass sie demnächst also keinen Platz bekommen würden, aber das konnte er der Frau so nicht sagen.
Vielmehr musste er weiter Zuversicht heucheln, aber er hatte sich bereits auf eine weitere Übernachtung in einem Hotel eingestellt, und die nächste Abweisung würde ihn kalt lassen (so konnte er auch seine Coolness ausspielen indem er nur Schulter zuckend andeutete `Hab ich´s doch gewusst`), da er ja schon vorher wusste, wie die Sache laufen würde. Ja, es ging eben nichts über eine ordentliche Bildung und mit dieser wissenschaftlichen Erklärung im Hinterkopf fuhr er weiter. Während die Frau offenbar noch auf das Prinzip Hoffnung setzte war für ihn der Verlauf des Tages bereits vorhersehbar. Drei weitere Plätze waren logischerweise „Complete“. Bitte: da war die Bestätigung seiner Modellhypothese. Er lag vollkommen richtig (gerne hätte er die Systemelemente und die Umweltbedingungen noch in Formeln gebracht und das System mit Werten getestet ) und diese Ergebnisse brachten ihn nicht aus der Ruhe, nein; jetztwar er richtig (und nicht nur vorgetäuscht) cool und die Frau warf ihm eigenartige Blicke zu, als er scheinbar gut gelaunt vor sich hin pfiff.
„Dir scheint das ja gar nichts auszumachen, dass wir überhaupt kein Glück haben“ sagte sie leise und wieder traten Tränen in ihre Augen. Der Junge heulte eine Runde mit, dann hörte er wieder zu wie „Wolfsblut“ (diese CD mit der Geschichte lief gerade) einen Hund nach dem anderen aufmischte, ihnen die Schlagadern zeriss, die Knochen brach und sie auf jede erdenkliche Art und Weise über den Jordan beförderte. Das war eine unschöne Angewohnheit dieses Tieres, aber man hatte ihm ja auch ziemlich übel mitgespielt, so dass er seine Wut eben an den anderen Hunden ausließ.
„Na ja, gleich sind wir in Castellan, du hast doch gesagt, dass dort noch drei Plätze sind, vielleicht haben wir diesmal Glück“ antwortete er und wagte nicht zu erklären, was er mithilfe der Systemtheorie herausgefunden hatte. Logisch, dass an allen Zeltplätzen „Complete“ prangte, was sollte anderes passieren, sein System verhielt sich genau so wie vorhergesehen und innerlich klopfte er sich auf die Schulter. Die Frau sah ihn sonderbar an, er war so cool, wie sie ihn noch nie erlebt hatte (den Grund kannte sie natürlich nicht). Beim Durchfahren der Stadt war er aufmerksam gewesen (er wusste ja wie es ausgehen würde) und am Stadtrand war ihm das „Studie Hotel“ aufgefallen, dort würde er in absehbarer Zeit vorfahren (die Frau ahnte noch nichts davon).
„Ich verstehe das nicht“ klagte die Frau „das kann doch nicht sein, alles, alles voll. Denk‘ mal an voriges Jahr, alles, alles, ging glatt. Kannst du mir das erklären?“
Oh ja, er hätte es erklären können (die Systemtheorie) aber beschränkte sich darauf nur zu sagen:
„Feierabend, ich habe vorhin ein Hotel gesehen, wir fahren jetzt dort hin, hoffentlich haben die noch was frei.“
In seiner Stimme lag tiefe Entschlossenheit, die Frau staunte darüber, wie sich der Mann in den letzten Stunden verhalten hatte. Locker steckte er einen Tiefschlag nach dem anderen weg und unerschütterlich fuhr er zu diesem und jenen Zeltplatz, ohne ein einziges Wort des Ärgers oder gar eines Anzeichens der Verzweiflung wenn wieder „Complete“ zu sehen war. Meistens war die Frau es, die die Richtung vorgab, aber diesmal hatte er das Zepter in der Hand.
Das „Studie Hotel“ war keine architektonische Perle, es erinnerte eher an eine militärische Einrichtung oder einen Knast. Der Waschbeton war pockennarbig und eine eventuell früher vorhandene farbliche Anmutung schon lange nicht mehr sichtbar. In der kleinen Rezeption klärte die Frau, dass sie gern eine Nacht in dem Haus verbringen würden, kein Problem, der Rezeptionist führte sie zu dem Zimmer, der Mann warf einen kurzen Blick hinein und nickte, es war okay. Sie schleppten ihre Sachen die sie für die Nacht benötigten in den dritten Stock hoch, die Kühlbox kam an das Stromnetz, der Mann griff sich ein Bier heraus und schaute sich näher um, der Junge war dabei, den Fernseher in Betrieb zu nehmen. Direkt neben der Eingangstür quetschte sich ein Bett in eine Nische, das Doppelbett dominierte den übrigen Raum und eine kleine Kückenzeile komplettierte die Einrichtung, wobei die Küchenschränke mit Bändern verschlossen (die Nutzung war extra zu bezahlen) aber wenigstens der Kühlschrank frei zugänglich war, gut für ein gepflegtes kühles Bier. Innerhalb von zwei Tagen hatten sie jetzt fast 1.500 Kilometer hinter sich gebracht und der Mann fühlte sich ein bisschen geschlaucht. Über den Fortgang des Tages hatte allerdings er keine Zweifel, die Frau würde ihnen gleich ankündigen, dass es demnächst in die Stadt gehen würde.
„Wir machen jetzt eine kurze Pause, dann gehen wir in die Stadt Abendessen“ (oh Mann, sie war wie ein Stehaufmännchen, zäh wie Leder) legte sie fest. Der Mann musste sich zusammen reißen um nicht einzunicken, wenig später waren sie unterwegs. Ja, die Franzosen hatten schon Stil, die Städte strahlten Leben aus, sie waren nicht so steril wie bei ihnen zu Hause. Die kleinen Gassen quollen vor Leuten über die in den Auslagen vor den Geschäften kramten, die Restaurants begannen sich zu füllen und über allem lag ein gewisser Trubel, ohne dass es laut zuging, es war eher ein unterschwelliges Gemurmel und Lachen. Es roch nach Geschichte und die unverputzten Häuser kündeten davon, dass ihre Erbauer wohl geschickte Handwerker gewesen waren, denn die Gemäuer standen seit Jahrhunderten an ihren Plätzen.
Die Heimatstadt der Frau, des Jungen und des Mannes hatte im Krieg sehr gelitten. Das gesamte Stadtzentrum war damals pulverisiert geworden und als es mit dem großdeutschen Reich vorbei war gingen die Menschen daran, den Schutt wegzuräumen, und den Ort wieder aufzubauen. Herausgekommen war ein gesichtsloses neues Zentrum, das nach der Wiedervereinigung durch einfallslose Architektur abermals verunstaltet wurde. Der Bereich um die Frauenkirche war der Wunsch der Dresdner, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, aber es mutete doch vielfach wie ein Disneyland an weil es eben nicht authentisch war, trotzdem drängten sich dort massenhaft Touristen die den Platz stürmten. Nein, er liebte seine Stadt sehr, wenig weg vom