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Frieder Bergmann soll sich nach Auffassung seiner Mutter im diesjährigen Urlaub körperlich und mental auf die Übernahme eines noch höheren Verwaltungsamtes vorbereiten. Deswegen legt sie fest, dass die Familie eine Radtour, den Elbradweg entlang, von Dresden bis Hamburg zur allgemeinen Ertüchtigung zurücklegt. Dass die Strecke fast 650 Kilometer misst ruft bei Bergmann wenig Begeisterung hervor, denn er vermutet eine endlose Quälerei auf dem Drahtesel. Dies bestätigt sich auf den ersten Etappen durchaus, aber dann kommen alle besser in Tritt. Wie es Frieder Bergmann gemein ist, stolpert er in jeden verfügbaren Fettnapf, hinterlässt allerorten seine "Spuren" und drückt Personen und Gegenständen seinen unverwechselbaren "Stempel" auf. Auch diesmal schafft er es, jede noch so unverfängliche Situation in kürzester Zeit in absolut chaotische Zustände zu verwandeln. Dass er damit nicht allein dasteht beweist unter anderem Peter Petersen, der sich an einem etwas anrüchigen Etablissement erwischen lässt. Da er Hannelore Bergmann dadurch schwer verärgert wird ihm von den anderen Familienmitgliedern zu einer bedeutsamen Entscheidung geraten, die er dann auch in die Tat umsetzt. Auch in diesem Jahr zeigt sich wieder einmal, dass die Familie trotz aller Ausrutscher verschiedener Personen zusammen hält, wenn es hart auf hart kommt.
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Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Impressum
Familienurlaub könnte so schön sein, wenn bloß Mutter nicht mit dabei wäre …..
Band 4
Mit dem Drahtesel von Dresden nach Hamburg
oder:
Eine mörderische Radtour!
Copyright: © Jörn Kolder, 2017 überarbeitet
published by: epubli GmbH, Berlin
www. epubli.de
Zwischenfall auf der Autobahn
Vorbereitungen
Vorbereitung der Mitarbeiterversammlung
Das Tribunal
Die Westernstadt
Berichterstattung
Die Promotionsverteidigung und die anschließende Feier
Der Urlaubsplan
Im Schützenverein
Erste Etappe
2. Reisetag
Auf nach Torgau
Die Höllentour
Das Flugzeugmuseum in Dessau
Zwischenfall auf dem Zeltplatz
Getränkebeschaffung in Magdeburg
Das rote Haus in Tangermünde
Havelberg
Der Uhrenturm in Wittenberge
Ein peinlicher Zwischenfall in Hitzacker
Dieselmotorcrash in Lauenburg
Auf nach Hamburg
Heimreise
Frieder Bergmann hatte sich immer noch nicht richtig daran gewöhnt, dass er täglich von seinem Chauffeur in einem protzigen Audi A 8 von zu Hause abgeholt und abends auch wieder dorthin zurück gebracht wurde. Im Regelfall stieg er früh 8 Uhr 30 in das Auto ein, so dass er seinen Arbeitsplatz im Ministerium gegen 9 Uhr einnahm. Nachmittags oder abends waren die Zeiten des Rücktransports sehr unterschiedlich, das lag zum einen an seinen dienstlichen Verpflichtungen und zum anderen an seiner Lust, sich noch mit irgendwelchen Vorgängen herumschlagen zu wollen. Seinen Jaguar nutzte er nur noch für privaten Zwecke, da ihm der Stress im Berufsverkehr immer mehr auf die Nerven gegangen war. Er liebte es aber, mit Petra am Wochenende erst ein Stück auf der Autobahn entlang zu brettern, und dann irgendwo einzukehren oder ein Stück spazieren zu gehen. Er hatte das schnelle Fahrzeug nunmehr voll im Griff und brachte es auf dem Highway gern bis ans Limit. Unbestritten gehörte die linke Spur ihm, und da das Auto nicht bei 250 Kilometern in der Stunde elektronisch abgeregelt wurde, raste er mit teilweise knapp 300 Kilometern in der Stunde über die Piste. Bergmann verschaffte sich durch häufigen Einsatz der Lichthupe Platz, und die erschrockenen Porschefahrer räumten ihre Position auf der schnellen Spur sofort. Eines Tages hatte er es aber etwas übertrieben, und war einem 911er bei 230 Kilometern in der Stunde bis auf 2 Meter Abstand an den Heckflügel herangerückt. Ein unscheinbarer VW Passat (es war ein getarntes Fahrzeug der Autobahnbullen, welches den Jaguar locker verblasen könnte) war nun seinerseits dem Jaguar ebenfalls dicht auf die Pelle gerückt, dann leuchte ein auf einem Dachbalken montiertes Display auf. Bergmann konnte „Bitte folgen“ lesen und ahnte Ungemach auf sich zukommen. Auf einem Rastplatz hielt er hinter dem Polizeifahrzeug an, öffnete die linke Seitenscheibe, schaltete den Motor aus und legte die Hände fest auf das Lenkrad.
„Was machst du denn“ fragte ihn seine Frau erstaunt.
„Ich verhalte mich so, wie es bei einer Polizeikontrolle vorgeschrieben ist“ antwortete er „wichtig ist vor allem, die Hände auf das Lenkrad zu legen, um so zu demonstrieren, dass man keinen Widerstand leisten will und keine Waffe führt.“
„Aber das ist doch nur bei den Amis üblich.“
„Genau. Aber man weiß ja nie, ob unseren Bullen die Knarren jetzt nicht auch so locker sitzen wie ihren Kollegen hinter dem großen Teich. Da haben schon etliche ins Gras beißen müssen, weil sie hektisch rumgezappelt haben. Außerdem sind die Polizisten ja sicher auch durch die neuen Verhältnisse, du weißt schon was ich meine, sicher etwas nervös.“
„Nein, das weiß ich nicht, was meinst du damit?“
„Na die ganzen terrorverdächtigen Typen, die sich mittlerweile überall hier rumdrücken und denen die Messer locker sitzen.“
„Und die fahren garantiert einen absolut unauffälligen Jaguar.“
„Siehst du“ raunte Bergmann „sie kommen, und sie haben schon die Waffen gezogen.“
Zwei Autobahnpolizisten in Zivil näherten sich dem Jaguar langsam, sie hielten Pistolen im Kampfanschlag in den Händen.
„HK P30, eine Heckler und Koch, 15schüssige Selbstladepistole mit 9 Millimetern Kaliber. Die Dinger machen ganz schön große Löcher“ flüsterte Bergmann seiner Frau zu.
Petra erbleichte.
Einer der Beamten trat vorsichtig an das Auto heran, dann sprach er Bergmann an.
„Na, was haben wir denn falsch gemacht?“
„Ich war vielleicht n bisschen zu flott unterwegs“ antwortete Bergmann und mimte den Einsichtigen „aber hier gibt es ja keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Demzufolge bin ich mir keiner Schuld bewusst.“
„Haben Sie schon mal was vom Sicherheitsabstand gehört?“
„Natürlich.“
„Und, was wissen Sie darüber?“
„Na der muss so bemessen sein, dass ich das Fahrzeug rechtzeitig zum Stehen bringen kann.“
„Guter Mann“ höhnte der Polizist „es gibt eine goldene Regel, und die heißt, halber Tachoabstand. Das wären in Ihrem Fall wie viele Meter gewesen?“
„Vielleicht so um die 110 Meter.“
„Na bitte. Unsere Kamera hat festgehalten, dass Sie 3 Meter hinter Ihrem Vordermann waren. Das ist doch schon n großer Unterschied, 110 zu 3 Metern, oder?“
„Mein Auto hat einen Bremsweg von 34,7 Metern aus 100 Km/h, einer der Bestwerte in diversen Tests“ warf Bergmann ein. „Warten Sie mal…“
Auch welchen besonderen Effekt die Keramikbremsen aufwiesen wusste er nicht.
„Keramikbremsen sind ein absolutes Muss für ein PS-starkes Fahrzeug“ hatte ihm der Autoverkäufer damals erklärt „wer was auf sich hält, kommt daran nicht vorbei. Außerdem macht die Optik tierisch was her und man kann schnell erkennen, wer ein absoluter Freak ist.“
Bergmann hatte bloß genickt, und die Keramikbremsen als Sonderausstattung bestellt. Was ein Freak war wusste er nicht und googelte den Begriff. Nach Wikipedia war das ein Mensch, der sich für etwas übermäßig begeistern konnte, oder dessen Lebensweise von der als normal empfundenen abwich. Bergmann fühlte sich keineswegs so, aber fand die Keramikbremsen dennoch cool.
Kommissar Dennis Lehmann war seit 8 Jahren als Autobahnpolizist im Dienst. Ihn hatte vor allem gereizt, mit aufgebrezelten aber unscheinbaren Karren den Rausch der Geschwindigkeit genießen zu können. Es war für ihn immer ein innerer Vorbeimarsch, wenn er plötzlich einem der arroganten Porschefahrer mit seinem VW Passat im Nacken saß, und die schockierten und total verblüfften Angeber auf den nächsten Rastplatz lotste. Wofür die normalen Verkehrsteilnehmer happige Strafen kassierten, war für ihn geradezu eine Dienstpflicht, nämlich die vorgeschriebene Geschwindigkeit regelmäßig zu überschreiten und durchaus gewagte Fahrmanöver zu unternehmen. Als er angefangen hatte, waren die ertappten Sünder noch wie Lämmchen gewesen, denn gerade die Fahrer der ausgesprochen teuren Karren – Anwälte, Ärzte, Architekten und ähnliche Gutverdienende - waren auf beste Mobilität angewiesen. Lehmann musste ständig eine Erektion unterdrücken, wenn er den auf ihren Fahrersitzen zusammengesunkenen und angstschlotternden Gestalten auseinandersetzte, dass deren Geschwindigkeitsübertretungen oder zu dichtes Auffahren eine saftige Geldstrafe nach sich ziehen würde. Er wusste ganz genau, dass diese betuchten Typen dies locker aus der Portokasse bezahlen konnten, aber er ließ seine Trumpfkarte noch im Ärmel stecken. Erst als sich spürbare Erleichterung bei den Verkehrsrowdies breitmachte und diese kriecherisch versicherten, das Bußgeld selbstredend unverzüglich zu begleichen, ließ er sie noch eine Weile zappeln und dozierte über mögliche Folgestrafen, falls sie noch einmal erwischt werden sollten. Die Delinquenten gingen zu diesem Zeitpunkt immer noch davon aus, dass sie gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen wären und wollten sich dann schnellstens trollen.
„Ach übrigens“ sagte Lehmann in diesem Moment immer süffisant lächelnd und fuhr seine Latte bis zum Anschlag aus „da ist noch was.“
Er legte dann immer eine Kunstpause ein und trat dicht an die Fahrertür heran, so dass die Insassen der Fahrzeuge seinen steifen Riemen nicht sehen konnten. Dann fuhr er fort:
„Leider, so leid es mir für Sie auch tut, sind Ihre Regelverletzungen so schwerwiegend, dass ich Ihnen ein Fahrverbot ankündigen muss. So über den Daumen gepeilt müssen Sie mit mindestens 3 Monaten rechnen, gehen Sie aber besser mal von einem halben Jahr aus, da sind Sie auf der sicheren Seite. Aber das wird der Richter entscheiden müssen, ich will Sie bloß schon einmal darauf vorbereiten. Sie werden also demnächst Post erhalten. Dort wird Ihnen das Strafmaß erläutert werden und Sie werden auch informiert, wo Sie Ihre Papiere abzugeben haben. Das Fahrverbot gilt übrigens ab sofort, mit der Einschränkung, dass Sie die Fahrt noch bis zu Ihrem Wohnort fortsetzen dürfen. Dort legen Sie das Fahrzeug sofort unverzüglich still. Sollten Sie das nicht tun, kann das zur Folge haben, dass Ihnen der Führerschein für eine unbestimmte Zeit entzogen wird und Sie eine Einladung zum Idiotentest, Sie wissen schon, was ich meine, erhalten werden. Mein Kollege ist gerade dabei, Ihre Kennzeichennummer in unsere Fahndungsdatenbank einzupflegen, das passiert in Echtzeit, da wir modernste Elektronik an Bord haben. Also, verhalten Sie sich bitte in Ihrem eigenen Interesse richtig.“
Lehmann hatte an dieser Stelle mächtig geflunkert. Zwar hatte das Polizeiauto durchaus moderne Überwachungstechnik mit Kameras an Bord, aber das war es auch schon. Seit Jahrzehnten wurde am Aufbau eines digitalen Polizeifunks herumgedoktert, aber das einzige Ergebnis war, dass etliche Millionen für die Entwicklung verbrannt worden waren und bislang nichts Praxistaugliches zustande gekommen war.
Immer wenn Lehmann seine Ansprache beendet hatte konnte er mit einem Gefühl allergrößter Befriedigung sehen, wie den aufgeblasenen Typen scheinbar der Stöpsel gezogen wurde, und sie im Sekundenschnelle zusammenschrumpften. In diesem Augenblick spürte er den Orgasmus nahen, und als er kam, lehnte sich der Kommissar mit vor Lust verzogenem Gesicht an die Fahrertür. Glücklicherweise standen die Fahrzeuginsassen im diesem Moment immer noch unter einem heftigen Schock und waren mit sich selbst beschäftigt, so dass sie den entrückten Gesichtsausdruck ihres Peinigers nicht wahrnahmen. Lehmann war bald zu der Überzeugung gekommen, dass er den Traumberuf gefunden hatte. Er durfte im staatlichen Auftrag hemmungslos rasen, konnte die Verkehrsteilnehmer maßregeln, und fand regelmäßig höchste sexuelle Befriedigung. Dass die Bezahlung nicht so berühmt war, spielte für ihn keine sonderlich große Rolle, er wurde durch die anderen Umstände im Dienst mehr als entschädigt. Er lebte zu diesem Zeitpunkt mit einer jungen Frau zusammen, die ihn anfangs mit wilden sexuellen Handlungen angefüttert hatte. Ihre Leidenschaft ließ aber schnell deutlich nach, und Lehmann war es bald leid, sich immer öfter anhören zu müssen, dass sie Migräne hätte, müde wäre oder von der Hausarbeit erschöpft sei. Letzteres stimmte nicht, denn Dennis Lehmann bediente die Waschmaschine und kümmerte sich um die Bekleidung, schon um nicht erklären zu müssen, warum seine Unterhosen ständig Spermaflecken aufwiesen. Auch ging er einkaufen und machte zu Hause klar Schiff. Eines Tages sagte er sich, dass er wohl mehr nur der Rundumversorger seiner Freundin wäre und diese sich einen schönen Tag machte, und er sie auch noch öfter erfolglos um Sex anbetteln musste. Nachdem sie 8 Monate zusammen gewesen waren, schmiss er sie hochkant raus und konnte sich nunmehr vollständig ausleben.
Mit der Zeit waren die Sitten auf der Autobahn rauer geworden, und die ertappten Verkehrssünder rabiater. Dazu kam, dass die Straßen seit 2015 zunehmend von lichtscheuen Elementen bevölkert wurden, die illegale Migranten schmuggelten oder sich im Waffenhandel versuchten. Eines Tages ging Lehmann und seinem Kollegen ein ziemlich dicker Fisch an die Angel. Ein Bulgare hatte sich überhaupt keine große Mühe gemacht, drei funktionstüchtige Kalaschnikow und die dazu passende Munition im Kofferraum seines PKW zu verstecken, er hatte die Waffen lediglich unter Decken und Gepäck verstaut. Wahrscheinlich war er davon ausgegangen, dass die unbeschreiblich naiven und permanent an das Gute im Menschen glaubenden Deutschen sowieso nicht so genau hinsehen würden, sie ließen ja ohnehin in dieser Zeit jedermann ohne nähere Kontrolle oder gar ohne Papiere ins Land. Als Lehmanns Kollege den Kofferraum untersuchte und die Sturmgewehre fand, war der Bulgare panisch geworden und wollte den Polizisten mit einem Messer attackieren. Dennis Lehmann fackelte nicht lange herum, und jagte den Angreifer drei Kugeln aus seiner Dienstwaffe ins rechte Bein. Bald darauf wurden die Autobahnpolizisten darin geschult, wie man gefährliche Situationen bewältigen konnte, und wie man vor allem auf Deeskalation setzte. Grundprinzip sollte sein, so wurde Ihnen erklärt, zunächst für die eigene Sicherheit und die der Kollegen zu sorgen. Wenn die Situation aber trotz aller Bemühungen aus dem Ruder laufen sollte, wäre der Einsatz der Dienstwaffe in höchster Gefahr zulässig. Vorzugsweise sollte durch Schüsse auf die Beine Bewegungsunfähigkeit bei einem Angreifer erreicht werden. Sollte dieser aber eine Schusswaffe einsetzen, wäre als Ultima Ratio ein letaler Schuss legitim.
Kommissar Dennis Lehmann war überwiegend auf einem besonders brisanten Autobahnbereich im Einsatz. Mit einem untrüglichen Gespür fischte er verdächtige Fahrzeuge heraus, bei denen er Unregelmäßigkeiten vermutete. Fast immer bestätigte sich sein Verdacht, und er geriet zunehmend an Leute, die Gewalt als einziges Argument akzeptierten. Die Polizisten hatten sich zum Selbstschutz angewöhnt, auch bei scheinbar harmlosen Fällen, stets ihre Dienstwaffen schussbereit zu haben. Allein vom Herbst 2016 bis zum Frühsommer 2017 musste Lehmann wegen bedrohlicher Situationen fünfmal seine Schusswaffe einsetzen. Demzufolge war sein Misstrauen immer mehr gestiegen, und die Pistole saß ihm jetzt tatsächlich locker. Frieder Bergmann wollte den Polizisten davon überzeugen, dass die Bremsverzögerung tatsächlich beeindruckend war und an das Manual gelangen. Mit einer von Lehmann vollkommen unerwarteten und schellen Bewegung beugte sich Bergmann nach rechts, um an das Handschuhfach zu kommen. Der Kommissar schlussfolgerte blitzschnell, dass der Mann vor ihm sich jetzt eine versteckte Waffe greifen wollte, um Widerstand leisten zu können. Die Schusssituation war denkbar ungünstig, würde er in den Innenraum feuern, könnte er den halb liegenden Mann eventuell tödlich treffen und womöglich würden Querschläger umherschwirren. Einen letalen Schuss hatte Lehmann bislang vermeiden können, und er war auch nicht scharf darauf, sich dann in einem langwierigen Disziplinarverfahren wiederzufinden. Zwar verschaffte ihm die Ballerei noch höhere Lüste als die reine Fahrzeugkontrolle und die Erniedrigung der Täter, aber er legte es nicht darauf an, jemanden umzulegen. Außerdem gab es bei dem Typen im Jaguar momentan auch keine begründeten Verdachtsmomente, vermutlich handelte es sich nur um einen gewöhnlichen Raser. Dennoch war Lehmann äußerst misstrauisch und ohne weitere Alternative gab er zwei Schüsse auf die rechte Seitenscheibe des Fahrzeuges ab, das sollte die beiden Insassen von weiteren unbedachten Handlungen abhalten. Das Sicherheitsglas konnte den 9 Millimeter Geschossen nicht standhalten, und zerbarst in tausend Stücke, die vor allem auf die schockierte Petra Bergmann herabregneten, sie rutschte noch tiefer in den Fußraum hinab. Ihr Mann blieb wie erstarrt liegen und war von dem Dröhnen in seinen Ohren wie paralysiert. Lehmann hatte tatsächlich erreicht, dass die beiden Verdächtigen keine Regung mehr zeigten und unverletzt geblieben waren. Jetzt zeigte sich die ganze Routine der beiden Autobahnpolizisten. Nahezu synchron rissen sie die beiden Fahrzeugtüren auf, zerrten Bergmann und seine Frau grob aus dem Auto heraus, warfen sie bäuchlings auf den Boden und knieten sich auf deren Rücken. Eine Sekunde später hatten sie die Arme der Verdächtigen auf den Rücken gebogen und legten ihnen Handschellen an. Dann packten sie ihre Gefangenen, bugsierten sie zur Kühlerhaube, spreizten ihnen mit kräftigen Fußtritten die Beine und pressten sie mit dem Oberkörper auf das Blech. Frieder Bergmann rief verzweifelt:
„Ein Missverständnis! Ich wollte Ihnen doch nur das Handbuch des Autos zeigen und beweisen, wie hoch die Bremsbeschleunigung ist, um das Fahrzeug schnell genug anhalten zu können. Der Wagen hat auch noch sehr wirksame Keramikbremsen. Außerdem bin ich Minister im Landeskabinett!“
Von den Polizisten und Bergmanns unbemerkt, hatte sich der gerade noch bis auf die letzte Parkbucht besetzte Rastplatz nach den Schüssen blitzartig geleert.
Kommissar Dennis Lehmann hatte schon viele Lügen und Ausflüchte gehört. Dass sich jemand als Minister ausgab war allerdings neu.
„Hören Sie doch auf mit dem Blödsinn“ sagte er giftig „dann bin ich der Kaiser von China. Peter, nimm ihm mal die Papiere ab.“
Der andere Polizist durchsuchte Bergmanns Jackentaschen, dann zog er mit spitzen Fingern dessen Portemonnaie heraus. Frieder Bergmann hatte seine Geldbörse schon lange einmal ausräumen wollen, aber das aus Faulheit immer wieder verschoben. Dunkel erinnerte sich, dass sich darin etliche Strafzettel wegen Falschparkens befanden, irgendwo mussten noch drei Mitteilungen der Bußgeldstelle über Geschwindigkeitsübertretungen stecken. Was ihm den Schweiß jetzt auf die Stirn trieb war, dass er, als Petra eine Woche zu einer Weiterbildung außerhalb war, einen Porno mit dem sinnigen Titel „Rammeln bis nur noch heiße Luft kommt“ bei einem Internetanbieter bestellt hatte und die Bestellbestätigung sicherheitshalber aufbewahrt hatte. Dieses Filmkunstwerk hatte er sich einige Male auf Arbeit, als er noch Referatsleiter war, reingezogen. Von einer Handlung zu sprechen wäre vermessen gewesen, aber zumindest verfügten die Darsteller über ausgesprochen ansehnliche Körper und simulierten ganz gut glühende Leidenschaft.
Lehmanns Kollege hatte die verdächtigen Stücke aus der Brieftasche fein säuberlich auf der Kühlerhaube nebeneinander gelegt, und übernahm jetzt die Bewachung der Verdächtigen. Dennis Lehmann ließ seinen Blick über die Asservate schweifen. Für ihn war die Sache klar, es handelte sich einerseits um einen undisziplinierten und rücksichtslosen Verkehrsteilnehmer, um einen Gauner, der seine Bußgelder nicht beglich, um einen alten Lustmolch, und zusätzlich noch um einen Hochstapler. Wie kam der Mann dazu, sich als Minister auszugeben? Bloß, weil er einen Jaguar fuhr? Er beschloss auf Nummer sicher zu gehen, und rief aus dem Polizeifahrzeug seine Dienststelle an.
„Rudi, du musst mir helfen“ sagte er am Telefon „wir haben hier einen gewissen Frieder Bergmann, geboren 1956, wohnhaft Paradiesstraße 8, der sich als Minister ausgibt. Kannst du mal bitte nachsehen, ich bleibe dran.“
Es dauerte eine Weile, dann kam es aus dem Hörer:
„Dennis, so einen Typen mit den von dir angegeben Daten gibt es tatsächlich. Allerdings ist er nicht Minister, sondern Behördenleiter vom Amt 3 in der Stadt. So was, sich als Minister auszugeben, obwohl er nur ein kleiner popliger Beamter ist. Auf welche Ideen die Leute heutzutage kommen.“
Dennis Lehmann war nun endgültig im Bild, und seine Wut auf den Mann stieg immer mehr.
„Sie können sich jetzt wieder umdrehen“ sagte er mit eisiger Stimme.
Frieder und Petra Bergmann kamen aus der unbequemen Lage wieder hoch, und konnten nun Lehmann und seinen Kollegen ansehen.
„Dass Sie ihren Zahlungsverpflichtungen aus den Bußgeldbescheiden nicht nachkommen, geschenkt, dass versucht ja jeder heutzutage. Dass Sie sich Pornos reinziehen, ist zwar eine schmutzige und perverse Sache, aber Ihre Privatsache“ sagte Lehmann noch einigermaßen ruhig.
Jetzt konnte der Mann seine Erregung nicht mehr zügeln und schrie Bergmann an:
„Aber dass Sie mich und meinen Kollegen mit einer scheinbar hohen politischen Funktion unter Druck setzen wollten, das lasse ich Ihnen nicht durchgehen. Sie sind ein ganz gewöhnlicher Sesselfurzer, der sich als Minister ausgibt. Das nenne ich Angabe einer falschen Identität, um die Sicherheitskräfte zu täuschen. Aber mit ein paar beschränkten und geistig minderbemittelten Bullen kann man das ja machen, so haben Sie sich es doch gedacht, oder?“
„Keineswegs“ antwortete Bergmann schüchtern „niemals würde ich…“
„Diesen Ärschen, die für andere Berufe viel zu blöd sind, selbstständiges Denken zutrauen“ brüllte Lehmann jetzt wie enthemmt los „das waren doch Ihre Überlegungen, nicht wahr. Und diese Tussi hier, die haben Sie doch mit Ihren Münchhausengeschichten ebenfalls getäuscht, weil sie sie irgendwo in einer Absteige langlegen wollten.“
„Das ist meine Frau“ warf Bergmann leise ein.
„Geht das schon wieder los“ tobte Lehmann „welche Märchen aus tausend und einer Nacht sollen wir uns heute noch anhören müssen.“
„Petra“ sagte Bergmann zu seiner Frau „zeig dem Herrn deinen Ausweis.“
„Erstens kann ich das wegen der Handschellen nicht, zweitens habe ich den Ausweis nicht mit dabei.“
„So ein Zufall, nein, so ein Zufall“ schrie Lehmann „jetzt ist das Maß voll. Frank“ sprach er seinen Kollegen an „fordere mal einen Streifenwagen an. Wenn die Jungs da sind, wird einer den Jaguar zur Dienststelle fahren, schließlich können wir die Karre hier nicht mit kaputter Seitenscheibe rumstehen lassen. Dieses durchtriebene Hochstaplerfrüchtchen hier“, er schaute Bergmann durchdringend an, „und seine Konkubine…“
„Seine was“ fragte Frank.
„Na seine Nutte, oder seine Mätresse, ganz wie du willst“ klärte ihn Lehmann wütend auf „die nehmen wir natürlich auch mit. Die beiden werden erst mal vorsorglich in Haft genommen, wer weiß, was noch so alles zu Tage kommt. Mein Gefühl sagt mir, dass dieser miese Typ noch viel mehr Dreck am Stecken hat, viel, viel mehr. Vielleicht tarnt er sich nur mit der fetten Karre, um den erfolgreichen Biedermann zu mimen, aber in Wahrheit arbeitet er für den Mossad oder gar für den IS. Möglicherweise ist er ein Konvertit. Schau dir die Karre noch mal gründlich an, Frank.“
Frank durchsuchte den Kofferraum, dort war nichts Verdächtiges. Aber ganz unten im Handschuhfach fand er einen mit arabischen Schriftzeichen bedruckten Zettel.
„هلترغبفيأنتقدمأنتأيضالزوارموقعكنفسالخدمةجزءًامنصفحتك؟فأدرجلوحةالمفاتيحهذهفيهابلاتكلف! انقرعلىزروانسخالكودالذييظهربعدذلكوضعهفيالموضعالمفضلفيكودصفحتك.“
„Wir haben ihn Dennis“ brüllte Frank begeistert und reichte seinem Kollegen den Zettel. Kommissar Dennis Lehmann starrte wie gebannt auf die arabischen Schriftzeichen. Nachdem er Weile verständnislos auf die Hieroglyphen geblickt hatte ahnte er, dass er an einer ganz großen Sache dran war.
„So Herr Bergmann“ sprach er den blassen Frieder an „oder sollte ich Sie besser Abdul Abdel Fattah, Mustafa Aziz, Mohammed Sharif oder Ali Hussein nennen? Der Phantasie sind ja in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt. Egal wie Sie sich auch immer nennen, die Jungs vom Staatsschutz werden die Wahrheit schon aus Ihnen herausholen. Ich möchte nicht verschweigen, dass es bei den Verhören, nun ja, wie soll ich es sagen, nicht wie im Mädcheninternat zugeht. Mein Kollege veranlasst jetzt, dass Sie und Ihre Gespielin in Bälde abgeholt werden. Ein normaler Streifenwagen ist für einen Typen Ihres Kalibers nicht das geeignete Transportmittel, den hat er abbestellt.“
„Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen“ sagte der den Tränen nahe Frieder Bergmann „ich war zu schnell, bin zu dicht aufgefahren, das ist doch kein Grund für eine Haft.“
„Sie vergessen den Zettel aus Ihrem Handschuhfach.“
„Das kann ich Ihnen erklären. Mein Admin hatte mich gedrängt, unsere Homepage auch für unsere neuen Bürger zugänglich zu machen und hat zu Testzwecken diesen Text eingestellt. Er enthält, glaube ich, Codezeilen für den Befehl „Tastatur einbetten“.
„Sie denken wohl, Sie können mich mit Ihrer Klugscheißerei beeindrucken“ erregte sich Lehmann schon wieder „Codezeilen. Klingt schön kompliziert, aber in Wahrheit schmeißen Sie doch bloß mit Ihrem Halbwissen um sich, um andere zu verunsichern. Aber das Grinsen wird Ihnen bald vergehen. Ah, da kommt der Transporter vom Staatsschutz.“
Ohne große Worte wurden Bergmann und seine Frau in das Fahrzeug gezerrt und jeweils in eine rundum mit Stahlwänden abgeschlossene Zelle gesperrt. Nach einiger Zeit hielt das Auto an, jetzt wurden beide wortlos gepackt und in einem düsteren Gebäude in Zellen eingeschlossen. Vorher hatte man eine Leibesvisitation durchgeführt aber nichts Verdächtiges gefunden, ihnen allerdings etliche Dinge, vor allem die Handys, abgenommen. Niemand kümmerte sich in den folgenden Stunden um sie, erst gegen Abend wurde Ihnen etwas zu essen und zu trinken gebracht. Danach lag Bergmann unruhig auf seinem harten Bett und fragte sich die ganze Nacht durch, was er denn so Schwerwiegendes getan haben sollte. Punkt 6 Uhr wurde er vom Rasseln der Türschlösser geweckt, dann donnerte ein Beamter das Frühstück auf den kleinen Tisch. Frieder Bergmann war nicht in der Lage, vor Nervosität etwas zu sich zu nehmen. Nach endlosen Minuten wurde er geholt und in einen mittelgroßen Raum geführt. Dort musste er vor einem leeren Tisch Platz nehmen, rechts und links von ihm saßen zwei Beamte, die jede seiner Regungen aufmerksam beobachten. Nachts hatte man ihm die Handschellen abgenommen, aber jetzt wieder angelegt. Eine Tür ins seinem Rücken öffnete sich, ein Mann trat an den Tisch heran und nahm gegenüber Bergmann auf einem Stuhl Platz.
„Frieder“ fragte er total verblüfft „was machst du denn hier?“
„Hartmut, Gott sei Dank“ stammelte Bergmann „du musst das alles aufklären, es ist ein einziges großes Missverständnis. Bitte, bitte hilf mir, ich bin am Ende meiner Kräfte und Nerven!“
Bergmann hatte sich als Amtsleiter gern auf diversen Veranstaltungen der haute volée der Stadt herumgedrückt. Erstens gab es immer erlesenes Essen, Getränke der Spitzenklasse und jede Menge scharfer Weiber. Da er ohne Petra dort hin ging (“Das würde dich nur langweilen, ist vor allem Lobbyarbeit mit trockenen Fachgesprächen“) verhielt er sich nicht gerade zurückhaltend. Er kippte ordentlich und stopfte sich mit den Köstlichkeiten voll. Als er leicht angetrunken und mit vollem Bauch vor der Tür eine Zigarette rauchte, kam er mit Hartmut Drechsler ins Gespräch, der ebenfalls eine dampfte.
„Ist sicher ein hartes Brot, mit all diesen Gaunern und Galgenvögeln als Haftrichter umzugehen, oder“ hatte er gefragt.
„Es ist sehr fordernd“ hatte Drechsler bestätigt „sich täglich mit diesem Abschaum beschäftigen zu müssen. Aller zwei Stunden muss ich mir die Hände waschen weil ich das Gefühl habe, mich mit dem Schmutz aus der Gosse besudelt zu haben.“
Die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch und setzten ihre Konversation an der Bar fort. Bergmann erlitt infolgedessen einen Filmriss, und musste am nächsten Abend eine fürchterliche Standpauke seiner Frau überstehen.
„Bei uns ist die Bude bis zur letzten Zelle voll“ sagte Drechsler „den Tatbericht konnte ich noch gar nicht lesen. Den komischen Zettel habe ich allerdings schon übersetzen lassen. Harmloses Zeug: „Öffnen Sie das Menü Geräteverwaltung. Wählen Sie „Tastatur“ und so weiter. Ich überfliege den Bericht mal schnell.“
Drechsler las, dann schaute er hoch.
„Alles klar. Herr Bergmann, ich hebe die Haft gegen Sie unverzüglich auf und übergebe den Fall in die Hände der Autobahnpolizei. Von dort wird Ihnen das Strafmaß für Ihre Verkehrsvergehen per Brief mitgeteilt werden. Wachtmeister, sorgen Sie dafür, dass Herr Bergmann seine persönlichen Dinge zurückerhält.“
„Ähm, Hartmut“ sagte Bergmann „Petra sitzt auch noch hier ein.“
„Wachtmeister, gleiches gilt für Frau Petra Bergmann. Beide zu Unrecht inhaftierten Personen sind mit einem Fahrzeug der Dienststelle zu Ihrem Wohnort zu verbringen. Fertigen Sie für Herrn Frieder und Frau Petra Bergmann einen Antrag auf Haftentschädigung aus. Herr Bergmann, der Wachtmeister wird Sie und Ihre Frau jetzt begleiten, und alles Erforderliche veranlassen.“
„Das war der blanke Albtraum“ sagte Frieder Bergmann zu seiner Frau, als sie zu Hause auf dem Sofa saßen „so was möchte ich so schnell nicht wieder erleben.“
„Wir haben es überstanden, Frieder. Und du hast dich ganz wacker gehalten. Dafür hast du dir eine Belohnung verdient.“
„Oh“ freute sich Bergmann „auf ein paar kühle Biere habe ich mich schon die ganzen Stunden gefreut.“
„Du Blödmann, Bier kannst du später trinken. Komm mit ins Schlafzimmer.“
Da der Ministerpräsident nach dem unrühmlichen letalen Abgang von Bergmanns Vorgänger Krauswetter und dessen persönlicher Referentin in Bezug auf die Neubesetzung des Ministerpostens für Arbeit und Soziales sehr unter Druck gestanden hatte war es für Bergmann ein Leichtes gewesen, bestimmte Bedingungen zu diktieren. Neben der Vergütung von 25.000 Euro im Monat, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, 40 Tagen Urlaubsanspruch, üppigen Pensionszusagen, monatlichem Kleidergeld in Höhe von 300 Euro und anderen Annehmlichkeiten war es Frieder Bergmann sehr wichtig gewesen, seine Dienstzeiten zu optimieren. Darunter verstand er vor allem, seine Anwesenheit im Ministerium möglichst knapp zu halten, und „von zu Hause aus“ zu arbeiten, weil so seine Kreativität besser zur Geltung kommen würde, denn in ungestörter Atmosphäre wäre er besonders produktiv. Dies wurde ihm zwei Wochen nach seiner Vereidigung als Minister zugesagt und damit einher ging die Einrichtung eines Arbeitszimmers in seiner Eigentumswohnung, natürlich auf Kosten der Behörde, also des Steuerzahlers. Frieder Bergmann konnte mit einem Betrag von 10.000 Euro frei und ohne Nachweis disponieren und ließ sich bei der Einrichtung des Zimmers nicht lumpen. Edle Büromöbel kombinierte er mit modernster Rechen- und Drucktechnik, und da dafür kaum ein Drittel des Geldes draufging, erwarb er noch zwei Bilder aus der Leipziger Schule in der Hoffnung, dass sich deren Wert über die Zeit hin erheblich erhöhen würde. Der eigentliche Grund für die Einrichtung Bergmanns Homeoffice war aber ein ganz anderer gewesen und hatte mit seinem Job als Minister nur bedingt zu tun. Schon wenige Tage nach seinem Amtsantritt musste er erkennen, dass er jetzt in Gefilde der Bürokratie vorgestoßen war, wo unter anderem akademische Titel eine große Rolle spielten und er mit seinem Diplom-Verwaltungswirt kaum protzen konnte. Keineswegs konnte man einen direkten Zusammenhang zwischen einem höherwertigen Titel als seinem und der Güte der fachlichen Kompetenz des entsprechenden Titelträgers herstellen, dies wurde Bergmann schon nach den ersten Gesprächen mit den Leitern bestimmter Bereiche schmerzhaft bewusst. Manche der schon älteren Beamten hatten schon vor Jahrzehnten über irgendwelche Themen promoviert, die weder damals noch heute kein Schwein interessierten. Allein durch ihre lange Verweildauer im Ministerium waren die Angestellten aber über die Jahre immer höher aufgestiegen und wer sich an bestimmte Regeln hielt, nicht negativ auffiel und dem Mechanismus der Bürokratie streng folgte, konnte eigentlich nichts falsch machen. Ob so brauchbare Ergebnisse entstanden oder nicht war nicht so sehr ausschlaggebend, entscheidend war die scheinbare Beschäftigung. So richtig wohl hatte sich Bergmann nicht gefühlt, als er einen schon leicht degenerierten Referatsleiter, der von der Materie, die in seinem Verantwortungsbereich zu bearbeiten war, augenscheinlich keine Ahnung hatte, zusätzlich noch als Doktor ansprechen musste. Diese Begegnung war eine Art Schlüsselerlebnis für ihn gewesen und so kam er auf die Sache mit dem Homeoffice, denn für ihn war die Richtung jetzt klar: er musste eine Dissertationsarbeit abliefern. Damit ergab sich die Frage nach dem Thema und dem Betreuer. Frieder Bergmann war nach den Enthüllungen auf Wikiplag sicher, dass er als Funktionsträger besonders unter die Lupe genommen werden würde und es sich keinesfalls leisten konnte, bei dieser Arbeit zu schludern. Wie er das aber neben seinem Amt als Minister alles unter einen Hut bekommen war ihm vollkommen unklar, und so besprach er die Sache mit seiner Frau Petra.
„Wo ist das Problem“ sagte sie „du bist jetzt seit mehr als 20 Jahren Behördenangestellter und kennst somit alle Schwachstellen in den Ämtern. Stelle eine Analyse über die Durchläufe der Vorgänge auf, nein, besser, lasse sie deine Leute aufstellen. Das kannst du gleich nutzen, um an die Presse zu gehen und ein bisschen Wind zu machen. Das Datenmaterial übergibst du an Claudia und Nils und die stricken dir eine Software, mit welcher es möglich werden wird, alle Bearbeitungsvorgänge zu rationalisieren. Rüdiger spannst du für den juristischen Kram ringsum um das Doktorthema wie Datenschutz und so weiter ein, der ist gut in solchen Sachen. Paula und ich basteln dir ein oder zwei Kapitel über die Auswirkungen von Veränderungen auf den Gesundheitszustand und die Arbeitsmotivation. Nils wird sich zusätzlich mit psychologischen Problemen von Umstrukturierungsprozessen in lange gewachsenen Organisationen beschäftigen, gerade nach seinem erfolgreichen Studium dieses Faches dürfte das für ihn kein Problem darstellen. Peter Petersen kann ein bisschen über Sicherheitsstandards für die Hardware zusammen tragen, als ehemaliger Polizist kennt der die Knackpunkte sicher. Und rufe mal wieder Axel Trost an, der soll als Sportlehrer irgendwas über rückengerechte Arbeitsplätze oder so was in der Richtung rausfinden. Deine Mutter als Mathematik- und Physiklehrerin kann mit ihrer klaren Logik die Arbeit strukturieren, das heißt, sie wird anhand deiner Informationen eine Gliederung vorgeben, die wir anderen dann für unsere Teile abarbeiten. So entsteht eine Arbeit, die eine Vielzahl von Gebieten beleuchtet und sie wird allergrößte Resonanz hervorrufen.“
„Und was mache ich“ fragte Bergmann verunsichert.
„Na nichts“ antwortete Petra erstaunt „du gibst deine Unterschrift und paukst mit den anderen vor der Verteidigung die Sachen durch, das war’s.“
„Aber ich habe doch zum Beispiel gar keine Ahnung vom Programmieren.“
„Na und, was ist schlimm daran? Weil Claudia so gut rational organisiert ist wird sie vieles Visualisieren, das heißt Strukturbilder erstellen, Ablaufpläne ausarbeiten, Diagramme entwickeln und anderes mehr, so also Masse für die Arbeit schaffen. Das wirst du doch wohl erklären können. Und der Clou wird sein, dass du die Software allen Behörden unseres Bundeslandes unentgeltlich zur Verfügung stellen wirst.“
„Und wer soll die Arbeit betreuen, demjenigen wird doch schnell klar werden, dass das alles nicht auf meinem Mist gewachsen ist.“
„Ach iwo, du hältst an der Uni einen Vortrag vor Verwaltungswissenschaftler, das Thema geht ja in diese Richtung, und siehst dir die Typen dort genau an. Dann suchst du dir einen alten und vertrottelten Professor aus, der seine Finger noch nie auf eine Tastatur gelegt hat und damit von Software rein gar nichts versteht und sprichst ihn an. Der wird sich gebauchmiezelt fühlen, dass sich ein Minister an ihn wendet und die Betreuung mit Freude übernehmen. Zuzugeben, dass er von Software keinen blassen Schimmer hat kann er sich nicht leisten, denn dann würde er sich furchtbar blamieren. Und weil du nur Mitglieder deiner Familie einspannst gibt es auch kein Problem mit eventuellen Plagiaten, denn Claudia, Nils, Rüdiger, Peter Petersen, Paula und ich sowie deine Mutter tauchen nirgendwo als Quelle auf, alles stammt also scheinbar von dir. Die Sache ist wasserdicht, in einem halben Jahr bist du Doktor, also noch vor dem Urlaub. Wenn wir wieder zu Hause sind wirst du den Rektor der Uni dann in einem Vieraugengespräch ein bisschen unter Druck setzen und ihm ankündigen, dass du wegen der finanziellen Situation im Lande gezwungen wärst, ihm die Haushaltmittel zu kürzen. Jag‘ ihm richtig Angst ein! Und deute an, dass du dem Ruf an einen Lehrstuhl offen gegenüber stehen würdest. Ja, du hast richtig gehört, Ende des Jahres bist du dann Professor, denn in der Zwischenzeit haben wir alle aus der Familie weiter nachgedacht und die Habilitationsschrift nachgeschoben. Worum es darin gehen soll klären wir im Urlaub, da haben wir genug Zeit zum Diskutieren. Und wenn du dich ins Homeoffice abmeldest nimmst du dir immer Akten mit die für die Dissertation wichtig sind. Die sehen wir uns dann an.“
„Aber ich muss mich doch erst einmal als Minister einarbeiten“ gab Bergmann zu bedenken.
„Sicher, mach‘ den lahmen Bürohengsten dort Feuer unter dem Arsch und sie werden bald feststellen, dass mit dir nicht gut Kirschen essen ist, wenn sie weiter so rumtrödeln. Delegiere Aufgaben so oft wie es möglich ist, dann gewinnst du auch Zeit für dein eigenes Projekt.“
Frieder Bergmann war nach diesem Gespräch verunsichert, zu viel scheinbar Unlösbares lag vor ihm. In der kommenden Woche sollte er sich auf einer Mitarbeiterversammlung vorstellen, das würde kein Problem sein. Der offizielle Einstieg in sein Amt war nahezu perfekt gelungen. Zu seiner Vereidigung im Landtag hatte es von der Zuschauertribüne lautstarke Kommentare gegeben und die Leute extra ein Transparent ausgerollt. „Sagt endlich die Wahrheit über den Fall Trautwetter“ konnte er lesen und der Ministerpräsident hatte offensichtlich kein Konzept gehabt, wie er dieser Sache begegnen sollte. Bergmann war kurzerhand nach einer kurzen Absprache mit ihm ans Rednerpult gegangen und hatte sich an die Zuschauer gewandt:
„Wie Sie selbst vor 3 Tagen in einer Pressemitteilung nachlesen konnten, handelte es sich um einen bedauernswerten Unglücksfall, der auf eine defekte Gasleitung zurückzuführen war. Alle von bestimmten Blättern gestreuten Vermutungen haben sich als haltlos erwiesen. Dass Herr Trautwetter und Frau Scholz ein Verhältnis gehabt haben ist ja gar nicht bestritten worden, aber dafür kann ja der Arbeitgeber wohl nichts. Oder soll der Ministerpräsident in seiner knappen Zeit auch noch abends unter die Bettdecken seiner Mitarbeiter schauen?“
Das rief Lacher hervor und die Zeremonie verlief ohne weitere Zwischenfälle und sorgte für gute Presse für Frieder Bergmann. Eine Zeitung titelte:
Bilder Zeitung – Eine für alle!
Minister Frieder Bergmann zeigt sich bei Vereidigung durchsetzungsstark
Die Vereidigung von Frieder Bergmann zum Minister wurde gestern durch einige Zuschauer gestört. Herr Bergmann ergriff die Initiative und stellte die Ordnung wieder her. Eigentlich wäre das Sache des Ministerpräsidenten gewesen, aber dieser reagierte nicht. Sehen wir hier Führungsschwäche? So musste Herr Bergmann selbst handeln und konnte dann in aller Form vereidigt werden. Wir begleiten Minister Bergmann nun schon einige Zeit auf seinem beruflichen Weg und sind von seiner geradlinigen und zupackenden Art immer wieder begeistert. Sehen wir hier schon den zukünftigen neuen Ministerpräsidenten? Oder empfiehlt sich Herr Bergmann für noch höhere Ämter, etwa in Berlin, in Brüssel? So wie sich Herr Bergmann immer wieder weiterentwickelt, dürfte ihm noch eine interessante Karriere bevorstehen, da sind wir uns ganz sicher.
Weiterer Steuerflüchtling enttarnt
Nachdem der bekannte Fußballfunktionär H. seine Steuerhinterziehung eingestehen musste, ist ein weiterer Prominenter mit in den Strudel dieses Skandals hereingezogen worden. Auch Wolfram Schäu. musste zugeben, dass er 23 Millionen in der Schweiz „vergessen“ hätte, weil er fortlaufend mit der Eurorettung zu tun gehabt hätte und deswegen in aller Welt unterwegs gewesen wäre. Nun, lieber Herr S., das nehmen wir Ihnen nicht ab! Wir denken, dass Sie in Ihrem hohen Alter wohl etwas überfordert sind. Außerdem erscheint uns Ihr ständiges Lamentieren, dass kein Geld für Steuerentlastungen der Bürger da wäre, unglaubwürdig. Für die Neubürger ist doch wohl auch genug da, oder? Also ziehen Sie endlich die Konsequenzen und treten unverzüglich zurück, besser gleich morgen!
Bergmanns Mutter hatte abends bei ihm angerufen und ihm gratuliert.
„Das hast du gut gemacht, mein Junge“ hörte er „und Petra hat mir eine E-Mail mit deinen Qualifizierungswünschen geschickt. Auch das begrüße ich sehr. Wir machen das schrittweise, erst den Doktor, dann den zweiten Doktor und noch vor Weihnachten den Professor. Wann treffen wir uns mal zur Abstimmung? Was, du hast keine Zeit, weil du jetzt Minister bist? Erzähle doch nicht so was! Du hältst dir den kommenden Sonnabend frei, wir kommen zu euch. Du brauchst jetzt gar nicht mit mir rumdiskutieren wollen, es bleibt dabei! Also, bis Sonnabend.“
Bis dahin konnte sich Bergmann noch in seinem Ministerium nützlich machen und die ersten Tage hielt er tatsächlich bis kurz nach 17 Uhr durch. Als er das Haus verließ waren die Leute noch immer an ihren Arbeitsplätzen und er staunte, was die um diese Zeit dort noch zu tun hatten. Ich muss rauskriegen was die hier so treiben, ob was rauskommt oder ob die bloß so tun, als würden sie schuften. Bergmann selbst hatte für seine Begriffe eine Menge geschafft und beschloss, am nächsten Tag ab 16 Uhr durch die Zimmer zu streifen und sich einen Überblick zu verschaffen. Als er um diese Zeit das erste Zimmer neben seinem Arbeitsraum betrat fand er einen verstört wirkenden Mann Mitte der 50 vor, der eine Akte studierte. Bergmann hatte vorher auf das Türschild gesehen und gelesen: „Jürgen Haber – Sachbearbeiter Referat III Vergabe behördeninterner Aufträge“.
„Guten Tag Herr Haber“ sprach ihn Bergmann freundlich an „ich möchte mich über Ihr Arbeitsgebiet informieren. Bitte erklären Sie mir kurz, worin Ihre Tätigkeit besteht.“
Haber druckste herum und sagte dann:
„Nun Herr Minister, ich kümmere mich um die behördeninternen Aufträge.“
„Das habe ich gelesen“ erwiderte Bergmann freundlich „was muss ich darunter genau verstehen?“
„Also das ist so: wenn hier irgendwo ein Wasserhahn oder eine Lampe kaputt geht bekomme ich eine Schadensmeldung auf Formular BIA-34/0034. Dieses werte ich aus. Dann schreibe ich eine Anforderung an die Zentralstelle auf Formular ZS_HA/k/889. Dieses wird mit der Post dorthin befördert. Ein paar Tage später bekomme ich eine Information, wer den Auftrag bearbeiten wird. Mit dem setzte ich mich mittels Formular 23-H76-00/56 in Verbindung und erhalte im Regelfall 2 Wochen später eine Auftragsbestätigung. Diese muss ich quittiert wieder zurück schicken und wenn alles klappt, kann der Schadensfall nach 3 Wochen beseitigt werden.“
„Wie bitte“ fragte Frieder Bergmann erstaunt „um eine Lampe aus der Fassung zu drehen und eine neue einzuschrauben werden 3 Wochen oder länger benötigt?“
„Da geben wir jetzt schon mächtig Gas“ freute sich Haber ehrlich „früher hat das manchmal ein viertel Jahr gedauert. Bei einer Lampe war das ja nicht so schlimm, aber wenn mal ein Klo verstopft war doch schon ziemlich übel. Das hat man dann einfach zugeschlossen und manchmal auch vergessen was da passiert war. Wenn dann doch irgendwann mal die Handwerker kamen sind die bald umgefallen, Sie verstehen sicher was ich meine.“
„Wie viele Schadensfälle gehen denn am Tag hier ein“ erkundigte sich Bergmann gespannt.
„Och, das ist verschieden. Mal stehe ich unter Druck, dann sind es 2 bis 3, manchmal gar keiner. Da kann ich ohne Stress die Formulare ablegen.“
„Aber an manchen Tagen haben Sie eigentlich gar nichts zu tun, oder?“
„Das kann man so nicht sagen“ entrüstete sich Haber „ich hab‘ hier n Haufen Verwaltungsaufwand, muss ständig irgendwas koordinieren und den Terminen hinterher rennen. Da weiß ich abends manchmal nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Gerade heute habe ich eine außergewöhnliche Schadensmeldung bekommen. Hier: 3. Etage, Zimmer 3.128, Papierkorb gesprungen. Ich muss jetzt entscheiden, ob dieser Papierkorb repariert werden kann oder ersetzt werden muss. Der Kollege aus dem Zimmer hat der Meldung ein Foto beigefügt, so dass ich mir ein erstes Bild machen kann. Morgen werde ich mir den Korb dann vor Ort ansehen und festlegen wie es weitergeht. Wenn er aber ersetzt werden muss wird es haarig. Dann muss ich nämlich einen Antrag an Ihr Büro stellen um die Genehmigung dafür einzuholen, und das kann dauern.“
„Wie bitte“ fuhr Bergmann hoch „wegen ein paar läppischen Euro muss sich mein Büro um solche Sachen kümmern? Das kann doch nicht wahr sein!“
„Doch Herr Minister, dafür gibt es eine Dienstanweisung.“
„Die setzte ich sofort außer Kraft“ regte sich Bergmann auf „und Sie übernehmen ab heute die Gesamtverantwortung für alle fälligen Reparaturen.“
„Wie soll ich das denn bloß schaffen“ jammerte Haber „ich komme doch jetzt schon kaum über die Runden. Dann würde ich doch die ganze Arbeit der Zentralstelle übernehmen müssen.“
„Hören Sie auf“ blaffte ihn Bergmann an „das ist eine Anweisung von mir, also des Ministers. In zwei Tagen bin ich wieder hier und informiere mich wieder über den Stand der Dinge.“
Kopfschüttelnd durchschritt Frieder Bergmann den Gang und wählte eine andere Tür, hörte dahinter lautes Lachen und trat ohne anzuklopfen ein. Ein Mann saß mit dem Rücken zur Tür vor seinem Monitor, der andere hatte sich hinter dessen Stuhl aufgebaut und sie bemerkten den Besucher eine Weile nicht, denn das Geschehen auf dem Bildschirm schien sie enorm zu fesseln. Bergmann hatte also einen hervorragenden Blick auf das was zu sehen war und erkannte, dass die beiden sich offensichtlich an einem Online Spiel beteiligten. Es schien darum zu gehen Panzer zu vernichten, und der Sitzende schien darin ausgesprochen geschickt zu sein, denn er brachte gerade einen Treffer bei einem Gegner an, so dass der Turm des feindlichen Kampffahrzeuges in einer gewaltigen Explosion in die Luft flog. Rechts oben am Monitor blinkte eine 250 auf, das war sicher die Belohnung für den Erfolg.
„Was geht hier vor“ kam Bergmann wie ein Donnerwetter über die beiden „gehört das etwa zu Ihren Arbeitsaufgaben?“
Die Männer standen wie zu Salzsäulen erstarrt vor Frieder Bergmann und waren nicht in der Lage sich zu erklären.
„Noch einmal“ brüllte er sie an „was treiben Sie hier?“
„Äh, äh, wir haben mal n kurze Pause nach dem vielen Aktenstudium eingeschoben“ sagte der eine kläglich „wir machen jetzt sofort wieder weiter.“
„Das wird Konsequenzen haben, wie lange treiben Sie schon diese Spiele? Und wagen Sie ja nicht, mich reinlegen zu wollen! Über den Systemadministrator kriege ich das sowieso raus. Also, wie lange und wie oft gibt es diese sogenannten Pausen schon?“
„Ähm, manchmal.“
„Werden Sie endlich konkret oder ich explodiere!“
„Seit 6 Wochen“ gab jetzt einer zu.
Bergmann zückte sein Smartphone, schaute in den Kalender und bellte:
„Übermorgen 10 Uhr bei mir im Büro. Überlegen Sie sich gründlich, wie Sie diese Sache vergessen machen können. Diesmal sehe ich noch von personellen Konsequenzen ab aber meine Geduld ist endlich. Ab jetzt stehen Sie unter besonderer Beobachtung. Haben Sie mich verstanden?“
„Jawohl Herr Minister“ stammelte einer mit Tränen in den Augen „es wird nie wieder vorkommen. Was können wir für Sie tun?“
„Lassen Sie sich was einfallen“ knurrte Frieder Bergmann und verließ das Zimmer.
Draußen schaute er auf das Türschild, Herr Franke und Herr Knöfel waren für das Referat III – Finanzen - tätig.
Wütend stapfte Frieder Bergmann den Gang weiter und besah sich die Türschilder. Dr. pol. Alfred Weiland – Referat II - Referatsleiter Revision – las er und weiter noch: Sprechzeit: Mittwoch letzte Woche im Monat von 14.00 Uhr bis 14.30 Uhr. Diesmal klopfte er an. Keine Antwort. Er wartete einen Moment, dann öffnete er die Tür. Dr. pol. Weiland saß vor einem fast gänzlich leeren Schreibtisch, lediglich ein Blatt Papier lag vor ihm, ansonsten waren die wenigen Dinge im Büro alle akkurat ausgerichtet. Frieder Bergmann zuckte zusammen, der Mann war in seinem Stuhl zusammengesunken, seine bleiche Gesichtsfarbe deutete auf Schlimmes hin, die Regungslosigkeit und die geschlossenen Augen des Mannes versetzten Bergmann einen Schock. Ein Speichelfaden zog sich aus dem rechten Mundwinkel des Referatsleiters über das Kinn hin. War Dr. pol. Weiland während des Aktenstudiums unbemerkt von den anderen Mitarbeitern wegen Überarbeitung an einem Herzinfarkt verschieden? Frieder Bergmann überlegte verzweifelt, was er jetzt tun sollte. Er musste erste Hilfe leisten! Mit entschlossenen Schritten eilte er auf Dr. pol. Weiland zu, rammte aber in der Hektik den kleinen Besprechungstisch und räumte die darauf stehende Blumenvase ab, die klirrend auf dem Fußboden aufschlug und zersprang. Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung war der Referatsleiter aus dem Stuhl hochgekommen und starrte Frieder Bergmann wie eine Erscheinung an. Dieser war ebenfalls erschrocken und die beiden Männer standen sich schwer atmend gegenüber.
„Wer sind Sie“ fuhr Weiland Bergmann an.
„Der Minister“ erwiderte dieser verblüfft.
„Wie bitte, der Minister ist Herr Trautwetter, was soll der Quatsch!“
„Ich bin Frieder Bergmann, der neue Minister!“
„Niemals, das hätte ich doch irgendwie erfahren“ beharrte Weiland auf seinem Standpunkt.
„Ich bin seit voriger Woche Minister“ wiederholte Bergmann stur und zeigte seinen Dienstausweis vor „diese Tatsache ist allen hier im Ministerium Angestellten per Mail vor 4 Tagen mitgeteilt worden, morgen findet eine Mitarbeiterversammlung statt auf der ich mich richtig vorstellen werde. Lesen Sie denn außerdem keine Zeitung?“
„Natürlich, aber nur die „Frankfurter Allgemeine“, einzig die genügt meinen intellektuellen Ansprüchen. Da gibt es keine Nachrichten aus unserer Region.“
„Und die Mail haben Sie nicht gelesen?“
„Ich lehne die Arbeit an einem seelenlosen Computer ab, das habe ich dem Minister gegenüber ganz klar zum Ausdruck gebracht, ich konnte also keine Mail lesen.“
„Und haben Sie denn in den letzten Tagen gar keinen Kontakt mit Ihren Mitarbeitern gehabt, die eventuell mit Ihnen darüber gesprochen haben?“
„Warum, die Leute gehen ihren Aufgaben nach, was soll ich mich mit denen unterhalten?“
„Noch einmal“ fragte Frieder Bergmann nach „Sie besitzen keinen Computer, wie können Sie dann die Aufgaben der Revision erfüllen, da sind doch eine Menge von Daten auszuwerten?“
„Machen meine Leute.“
„Und Sie?“
„Ich koordiniere die Tätigkeiten.“
„Aber wenn Sie mit ihren Mitarbeitern keinen Kontakt haben, wie soll das denn funktionieren?“
„Na bestens! Wir treffen uns einmal im Quartal und da gebe ich die Revisionsaufträge aus.“
„Zeigen Sie mal einen her.“
Dr. pol. Weiland ging widerwillig zu einem Schrank in dem ein einziger dünner Ordner stand und nahm aus diesem ein Blatt heraus, welches er Bergmann hinreichte. Dieser las, was Weiland handschriftlich vor 8 Wochen formuliert hatte:
„Kollege Adler, geh‘ n Sie mal nach einer Vorbereitungszeit von zwei Wochen zu den Leuten vom Referat III und stellen Sie fest, wie viel Klopapier dort in einem Monat in den beiden Herrentoiletten verbraucht wird.“
„Was soll das bedeuten“ wurde Frieder Bergmann laut „heißt das etwa, dass sich dieser Adler 4 Wochen dort rumgedrückt und die Klopapierrollen gezählt hat? Und was ist dabei überhaupt rausgekommen?“
„Kollege Adler hat sich tatsächlich 4 Wochen dort aufgehalten und die Daten erhoben. Welches Ergebnisse er ermitteln konnte weiß ich noch nicht, er wird seinen Bericht in ebenfalls 4 Wochen vorlegen und ich werde dann natürlich die entsprechenden Änderungen veranlassen.“
„Moment mal“ rechnete der erregte Frieder Bergmann nach „vor 8 Wochen erhält der Adler den Auftrag den Klopapierverbrauch zu ermitteln, dann stimmt er sich zwei Wochen auf die Revision ein, ist 4 Wochen vor Ort, bereitet dann die Ergebnisse in einem Zeitraum von 4 Wochen auf und legt sie dann hier vor?“
„Korrekt“ erwiderte Dr. pol. Weiland.
„Das ist nicht doch Ihr Ernst“ wurde Bergmann laut „ich erwarte Sie und diesen Adler übermorgen mit dem Revisionsbericht 11 Uhr bei mir im Büro. Und bringen Sie eine Liste der anderen laufenden Revisionsthemen mit.“
Wutentbrannt stürmte Frieder Bergmann über den Gang zur Tiefgarage, auf dem Weg dorthin pickte er den in einem Bereitschaftszimmer wartenden Horst Hempel – seinen Fahrer – auf und ging mit diesem zum Auto.
„Na, wie war der Tag heute für Sie Herr Minister“ fragte Hempel freundlich „viel Aktenstaub geschluckt?“
„Hören Sie bloß auf“ erwiderte Bergmann genervt „ich habe Dinge erlebt, die ich nicht für möglich gehalten hätte.“
„Da werden Sie sicher noch ganz andere Sachen kennen lernen“ lachte Hempel „man hört ja so einiges, wenn ich auf Sie warte.“
„Ich will heute nichts mehr davon wissen“ stöhnte Bergmann „mir reicht es. Übermorgen habe ich ein paar Leute einbestellt, denen ich dann ordentlich Dampf machen werde.“
Der Chauffeur setzte Frieder Bergmann vor seiner Haustür ab und dieser fuhr mit dem Lift zu seiner Eigentumswohnung hoch. Petra erwartete ihn schon und fragte gespannt:
„Na, wie sind die neuen Eindrücke?“
„Katastrophal, das hat meine schlimmsten Erwartungen bei Weitem übertroffen. Es ist nicht zu fassen, was da abläuft, und die Leute dort halten das offensichtlich für normal“ und er erzählte von seinen Begegnungen in der Behörde.
„Beruhige dich doch“ besänftigte ihn Petra „du kannst diesen Laden nicht ein drei Tagen umkrempeln. Geh‘ Schritt für Schritt vor, schaffe dir Verbündete die qualifiziert sind und was leisten, drücke allen eine Arbeitsanalyse auf und du wirst sehen, nach und nach wird es besser werden. Rausschmeißen kannst du die Typen ja nicht, sind doch alles Beamte, aber du kannst versuchen, ihre Arbeitsweise zu verändern. Sei nicht allzu grob sondern lobe auch für kleine Fortschritte. Du brauchst ein eingeschworenes Kernteam, und das werden vor allem deine Büroleiterin und dein Fahrer sein.“
„Wieso der Fahrer“ fragte der verblüffte Bergmann.
„Weil der oft auf dich warten muss und so viel Zeit hat, sich umzuhören. Baue zu ihm ein Vertrauensverhältnis auf. Wie schätzt du ihn ein?“
„Macht einen patenten Eindruck.“
„Na bitte, der Mann ist genau der richtige Partner für dich. Dann packst du die von dir heute Ertappten morgen erst ziemlich hart an, aber reichst ihnen dann sozusagen symbolisch die Hand, damit sie den Mist, den sie verbockt haben, aus der Welt räumen können. Du musst sie motivieren, sich verändern zu wollen. Ich habe schon mal zwei Sektgläser ins Schlafzimmer gestellt. Hol‘ doch die Flasche aus dem Kühlschrank, denn ich will mit dir auf deine zukünftigen Erfolge anstoßen.“
„Warum denn im Schlafzimmer“ fragte Bergmann erstaunt.
„Aber Frieder, verstehst du nicht?“
„Ach so, ich fühle mich total ausgelaugt nach diesem Tag, bin richtig schlapp und außer Form.“
„Das las mal meine Sorge sein, ich werde dich schon wieder auf Trab bringen, komm‘ jetzt endlich.“
Punkt 9 Uhr rollte der Audi A 8 in den Innenhof des Ministeriums und Frieder Bergmann sah noch darin sitzend, dass sich hinter den Fenstern Schemen bewegten, er wurde also erwartet. Hempel riss die Tür auf und grinste Bergmann breit an, dann stieg der Minister aus. Bergmann stapfte durch die menschenleeren Flure zu seinem Büro und seine Schuhe erzeugten auf dem Steinboden heftig nachhallende Geräusche. Die Büroleiterin, Frau Wenzel, und Frau Meyer, die Sekretärin, sahen ihn an aber sagten nichts sondern beugten sich wieder über ihre Akten. Bergmann nahm Platz, beschäftigte sich noch ein wenig mit den Vorgängen und rief unwirsch, als Frau Wenzel die Tür öffnete und Franke und Knöfel ankündigte:
„Sollen reinkommen.“
Frieder Bergmann hatte zwei Stühle vor seinem Schreibtisch aufgebaut, auf diese deutete er jetzt wortlos und die beiden Männer setzten sich hin. Als er voriges Jahr immer mehr in die Rolle des Kaleun geschlüpft war hatte er eine Zeit lang dessen harten und unbewegten Blick trainiert und brachte ihn jetzt wieder zur Anwendung. Franke und Knöfel konnten dem nur kurz widerstehen, dann senkten sie die Köpfe.
„Was haben Sie mir zu sagen“ fragte Frieder Bergmann knapp.
„Herr Minister, wir möchten uns für unser Fehlverhalten entschuldigen und Ihnen versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommen wird“ erklärte Franke demütig und Knöfel nickte beflissen.
„Ist das alles?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, ich hatte mir vorgestellt, dass Sie mit einigen Vorschlägen bei mir erscheinen, wie Sie die Effektivität Ihrer Arbeit erhöhen können“ knurrte Bergmann.
„Da haben wir zwar einiges in petto“ sagte Knöfel „aber das würde Geld kosten, so ungefähr 500 Euro im Jahr, aber die Revision hat uns das Budget gekürzt, weil wir im vergangenen Jahr zu viel Klopapier verbraucht hatten.“
„Dr. pol. Weiland?“
„Ja. Und der hat dieses Jahr schon wieder eine Revision angesetzt um die Fortschritte bei der Verbrauchsreduzierung zu ermitteln“ sagte Franke.
„Warum haben Sie sich nicht dagegen zur Wehr gesetzt“ fragte Bergmann „das ist doch eine vollkommen sinnlose Aktion.“
„Mit Dr. Weiland zu diskutieren ist einfach nicht möglich, der hat ja nur einmal im Monat 30 Minuten Sprechzeit und dann ist er meist nicht in seinem Büro, jedenfalls ist es um diese Zeit. Das Büro ist dann immer verschlossen und ans Telefon geht er auch nicht. Da er nicht mit dem Computer arbeitet kann man ihn eigentlich gar nicht erreichen, nicht einmal mit einer Mail“ antwortete Knöfel.
„Das werde ich ändern, verlassen Sie sich darauf“ sagte Frieder Bergmann wütend „Sie können jetzt gehen.“