Die zehn Lieben des Nishino - Hiromi Kawakami - E-Book

Die zehn Lieben des Nishino E-Book

Hiromi Kawakami

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Beschreibung

Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät. Warum hat keine seiner Lieben Bestand? Es beginnt schon in der Schule. Warum ist die Welt so unendlich? fragt Nishino seine Freundin, um sie gleich mit der nächsten zu betrügen. Ein Mädchen spricht ihn auf der Straße an und will sofort Sex mit ihm. Seine Chefin hat sich geschworen, nichts mit ihm anzufangen, bis er sie aus heiterem Himmel verführt. In seinen Fünfzigern möchte er zusammen mit einer jungen Geliebten sterben, doch so weit will sie nicht mit ihm gehen. "Die zehn Lieben des Nishino" erzählt nicht nur von diesen zehn Beziehungen, sondern – poetisch und genau – vom Verhältnis zwischen Mann und Frau.

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Über das Buch

Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät. Warum hat keine seiner Lieben Bestand? Es beginnt schon in der Schule. Warum ist die Welt so unendlich? fragt Nishino seine Freundin, um sie gleich mit der nächsten zu betrügen. Ein Mädchen spricht ihn auf der Straße an und will sofort Sex mit ihm. Seine Chefin hat sich geschworen, nichts mit ihm anzufangen, bis er sie aus heiterem Himmel verführt. In seinen Fünfzigern möchte er zusammen mit einer jungen Geliebten sterben, doch so weit will sie nicht mit ihm gehen. »Die zehn Lieben von Nishino« erzählt nicht nur von diesen zehn Beziehungen, sondern — poetisch und genau — vom Verhältnis zwischen Mann und Frau.

HIROMI KAWAKAMI

Die zehn Lieben des Nishino

Roman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Die zehn Lieben des Nishino

PARFAIT

IM GRAS

GUTE NACHT

HERZKLOPFEN

IM KÖNIGREICH DES SPÄTSOMMERS

DER TURM, DER IN DEN HIMMEL WÄCHST

STILLE

MARIMO

WEINTRAUBEN

DAS FIEBERTHERMOMETER

Die zehn Lieben des Nishino

PARFAIT

Minami war damals sieben Jahre alt.

Sie war ein schüchternes kleines Mädchen, das mit seinen zierlichen Fingern unentwegt kleine Kunstwerke aus Papier faltete: Orgel. Trichterwinde. Wellensittich. Sanbō — ein Tischchen für Opfergaben. All diese Werke bewahrte sie in einer mit Buntpapier beklebten Schachtel auf. Ich hatte Minami sehr jung bekommen.

Als sie sieben war und ich Mitte zwanzig, gab es Momente, in denen ich sie ganz schön satthatte. Was mir hinterher immer so leidtat, dass ich sie besonders ungestüm in die Arme schloss. Offenbar war es eine Mischung aus meiner Jugend und Minamis kindlicher Wehrlosigkeit, die diesen Widerwillen in mir hervorrief. Wenn ich sie dann an mich riss, ließ sie es stets stumm über sich ergehen. Sie war überhaupt sehr still für ein so kleines Kind.

Damals verliebte ich mich.

Liebe — was war das eigentlich?

Der Mann, in den ich mich verliebte, war ein gewisser Nishino. Er war etwa zehn Jahre älter als ich und umarmte mich ständig.

Als er es das erste Mal tat, blieb ich ganz still wie Minami. Überließ mich stumm seiner Umarmung, ohne darüber nachzudenken, ob es aus Liebe oder Verliebtheit geschah. Mit jedem Mal fühlte ich mich stärker zu ihm hingezogen, wohingegen seine Gefühle von Anfang an immer gleich zu bleiben schienen.

Was ist Liebe? Ein Mensch hat das Recht, einen anderen zu lieben, aber keinen Anspruch, von diesem wiedergeliebt zu werden. Nishino war also keineswegs verpflichtet, mich zu lieben. Dennoch litt ich darunter, dass er mich nicht so liebte wie ich ihn. Und weil ich so litt, wuchs meine Verliebtheit.

Einmal ging mein Mann an den Apparat, als Nishino anrief.

»Jemand von der Versicherung«, sagte er ruhig, als er mir den Hörer reichte.

Ich beschränkte mich auf leise Äußerungen wie »ja«, »nein« oder »ich verstehe«, während Nishino sich am anderen Ende der Leitung einen Spaß daraus machte, im Ton eines Versicherungsvertreters zu erklären, er wolle jetzt sofort mit mir schlafen. Vielleicht liebte ich ihn ja in Wirklichkeit gar nicht.

Währenddessen sah mein Mann neben mir in aller Ruhe irgendwelche Papiere durch. Vielleicht wusste er alles, vielleicht nichts. In den gesamten drei Jahren, seit ich Nishino kennengelernt und mich in ihn verliebt hatte, bis ich mich allmählich von ihm distanzierte und schließlich nicht mehr mit ihm telefonierte, hatte mein Mann mir nie eine einzige Frage gestellt.

Den Blick auf seinen sauber ausrasierten Nacken gerichtet, wiederholte ich »ja«, »aha« und »genau«. Nachdem Nishino einige Minuten gesprochen hatte, legte er abrupt auf. Es war immer er, der zuerst auflegte. Wahrscheinlich mochte ich ihn gar nicht, war aber definitiv in ihn verliebt.

Manchmal nahm ich Minami mit, wenn ich mich mit Nishino traf. Auf seinen Wunsch.

»Wenn man Kinder hat, sollten es Töchter sein«, sagte er immer. Nishino war nicht verheiratet. Obwohl er damals schon über vierzig war. Er war sieben Jahre älter als mein Mann, besaß aber nicht annähernd dessen kühle Gelassenheit. Doch obwohl Nishino eher weltfremd wirkte, schien er beruflich ziemlich erfolgreich zu sein. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei unserer ersten Begegnung auf seiner Visitenkarte las, was für eine gehobene Position er hatte.

Nishino brachte Minami immer ein kleines Geschenk mit. »Mach es nur auf«, sagte er dann, und Minami löste, ohne etwas zu sagen, mit ihren zierlichen Fingerchen die rote Schleife. Das Papier raschelte.

Ein mit Tellinamuscheln besetzter Pinselhalter. Ein Briefbeschwerer in Form eines Hündchens. Ein mit Mohn bestreutes und mit Bohnenmus gefülltes Gebäckstück. Eine handtellergroße Spieluhr. Minami betrachtete das jeweilige Geschenk, ohne eine Miene zu verziehen. »Vielen Dank«, flüsterte sie mit einer leichten Verbeugung.

Von Anfang an hatte sie mich nie gefragt, wer dieser Bekannte denn sei, und war wie ein stummer kleiner Schatten an meiner Hand neben mir hergegangen. Musste ich fürchten, dass sie meinem Mann von Nishino erzählte? Hoffte ich vielleicht sogar, dass ihr gegenüber ihrem Vater unabsichtlich etwas über Nishino herausrutschte?

In Minamis Gegenwart verzichtete Nishino darauf, mich zu umarmen. Stattdessen führte er uns in ein Terrassenlokal und bestellte, ehe Minami noch den Mund aufmachte, ein Erdbeerparfait für sie und zwei Tassen Kaffee für uns. Wenn keine Erdbeersaison war, gab es ein Bananenparfait.

»Man spricht das ›Parfee‹ aus, also zum Beispiel Schokoladenparfeee«, erklärte Nishino, indem er das e übertrieben dehnte. Minami nickte unverbindlich. Auch ich nickte vage.

Dabei wechselten wir einen Blick. Das Weiße in ihren Augen war fast bläulich und die Pupillen in der dunklen Iris vollkommen rund. Als ich ein wenig die Stirn runzelte, zog auch sie die Brauen zusammen, lächelte aber dabei.

Minami aß ihr Parfait nie auf. Dennoch bestellte Nishino unweigerlich eins für sie — Erdbeer oder Banane.

»Ein Parfait für unsere kleine Minami, ja?«, sagte er stets lauter als nötig und sah Minami, die den Blick gesenkt hielt, eindringlich ins Gesicht.

Nach dem Café drehten wir jedes Mal eine Runde in einem Park und gingen anschließend geradewegs zum Bahnhof. Nishino kaufte die Fahrkarten und drückte jeder von uns eine in die Hand, mir eine für Erwachsene, Minami eine für Kinder. An der Fahrkartensperre trennten wir uns.

Als ich sie entwertet hatte und mich umdrehte, stand Nishino noch an der Sperre und winkte mir lächelnd zu. Obwohl Minami immer, ohne sich umzuwenden, schnurstracks auf die Treppe zusteuerte, galt Nishinos Winken auch ihr. Er winkte uns beiden und sogar dem leeren Raum zwischen uns.

»Du, Mama?«, sagte Minami in dem Frühjahr, als sie gerade fünfzehn geworden war. »Dieser Herr Nishino war schon ein komischer Typ, findest du nicht?«

Unsere letzte Begegnung mit ihm hatte stattgefunden, als sie zehn war, im Winter. Damals hatte ich mich von Nishino getrennt, ohne ihr zu erklären, warum wir uns nicht mehr mit ihm trafen, aber auch sie hatte ihn nie wieder erwähnt.

Übrigens war Minami bei unseren Treffen mit Nishino mehrmals in Gelächter ausgebrochen, aber sichtlich verlegen verstummt, sobald sie merkte, dass ich sie ansah. Anschließend hatte sie immer ein paar Mal leise geniest.

Als Minami fünfzehn war, dachte ich kaum noch an Nishino. Dass sie in jenem Frühjahr plötzlich seinen Namen erwähnte, erstaunte und berührte mich. Seit langem hatte ich wieder einmal das Gefühl, als öffne sich ein Loch in meinem Bauch, aus dem sämtliche Luft aus mir herausströmte.

»Ihr wart damals doch ein Liebespaar, oder?«, fragte Minami und sah mir gerade in die Augen.

Ich überlegte, konnte mich aber nicht richtig erinnern. Ich wusste nicht einmal mehr, ob wir uns öfter getroffen hatten. War ich in ihn verliebt gewesen? Oder hatte ich ihn sogar geliebt? Ich wusste kaum noch, ob es diesen »Herrn Nishino« wirklich gegeben hatte oder nicht.

»Manchmal nannte mich Herr Nishino seine kleine Minami. Es fühlte sich an, als würde schwarze Farbe an meiner Hand kleben. Und ich konnte reiben und waschen, wie ich wollte, sie ging nicht ab«, flüsterte sie in singendem Tonfall.

Seit dem Vorjahr wurde Minami rasch größer. Ihre Arme und Beine wollten gar nicht aufhören zu wachsen. Ich hatte die Vorstellung, dass die Zellen, die Minami im Zuge dieser dramatischen Entwicklung ausbildete, sich alle paar Tage komplett erneuerten und ihr Körper ständig von frischen Zellen erfüllt war.

»Es war irgendwie blöd, als wir uns nicht mehr mit Herrn Nishino getroffen haben. Seine Präsenz wollte ewig nicht verschwinden.«

»Seine Präsenz?«

»Ja, es blieb lange so was bittersüß Nostalgisches.«

»Wir waren lange nicht Parfeee essen, kleine Minami. Möchtest du?«, imitierte ich Nishino, und sie lachte.

»Ob es ihm gut geht?«

»Ganz bestimmt.«

»Über den Hündchen-Briefbeschwerer habe ich mich gefreut.«

Auch nach meiner Trennung von Nishino hielt Minami den silbernen Briefbeschwerer in Ehren. Sie nannte ihn Koro und polierte ihn hin und wieder mit Sand.

»Und das Gebäck mit Bohnenmus und Mohn hat mir auch geschmeckt.«

Nishino hatte ein Talent dafür, Geschenke auszuwählen. Auch mir hatte er eins gemacht. Ein silbernes Glöckchen mit einem sehr hellen Klang.

»Das musst du jetzt ständig bei dir tragen, Natsumi«, hatte er gesagt und dabei gelacht. »Damit ich immer weiß, wo du bist.« Und wenn du es weißt, hatte ich gefragt, was machst du dann? Ergreifst du die Flucht? Wie eine Maus vor einer Katze, die ein Glöckchen trägt? »Aber nein, Natsumi«, hatte er geantwortet, »es ist, damit ich dich besser packen kann. Auf diese Weise kannst du mir nicht entkommen.«

Bei seinen Worten errötete ich.

Beim nächsten Mal trug ich das Glöckchen an einer Kette um mein Handgelenk. Und sooft Nishino mich in die Arme nahm, läutete es. Ich lasse dich nie mehr gehen, sagte Nishino.

Wo es wohl geblieben war, das Glöckchen von damals? Bei der Erinnerung an Nishinos Umarmungen verspürte ich einen Anflug von Sehnsucht, konnte aber nicht mehr richtig nachempfinden, wie sehr ich in ihn verliebt gewesen war.

»Nishino hat damals gesagt, er würde dich ausführen, wenn du groß bist«, sagte ich.

»Was sollte das denn?«, sagte Minami empört.

»So war er eben.«

»Ein ziemlich schmuddeliger Typ, wie es aussieht.«

»Ach was, er war nur ein verspielter Charmeur.«

»Dieser Spinner«, sagte Minami, aber es klang zärtlich.

Vielleicht schmeichelte ihr die Vorstellung, ohne dass es ihr bewusst war.

»Bist du vielleicht in jemanden verliebt, Minami?«

»Nein«, erwiderte sie prompt. Stand auf, marschierte mit abweisender Miene die Treppe hinauf und schlug ihre Zimmertür hinter sich zu.

Wie hatte Nishino damals auf sie gewirkt? Eben auf der Treppe hatte sie den typischen süßen Duft junger Mädchen verströmt. Die fünfzehnjährige Minami ging mir anders auf die Nerven als die siebenjährige, und ich sehnte mich seit langem wieder einmal danach, Nishinos Stimme zu hören.

Inzwischen war Minami fünfundzwanzig.

Und allem Anschein nach öfter verliebt gewesen. Auch wenn sie mir nie etwas davon erzählt hatte. Sie ver- und entliebte sich genauso wortlos, wie sie als kleines Mädchen Papier gefaltet hatte.

Seit meiner Trennung von Nishino waren fünfzehn Jahre vergangen. Und endlich konnte ich mich an ihn erinnern.

Ich dachte nun besonders häufig an seine Stimme, seine Bewegungen und seine Worte. Als gehöre er noch zu meiner unmittelbaren Umgebung, weshalb ich mich mitunter sogar fragte, ob er womöglich nicht mehr am Leben war.

Nishino hatte öfter von seinem Tod gesprochen. »Wenn ich einmal sterbe …«, hatte er gern und ein wenig kokett gesagt. Der Gedanke, dass ich damals so alt gewesen war wie Minami heute, erstaunte mich immer wieder.

»Eigentlich würde ich gern heiraten«, hatte Nishino manchmal gesagt.

»Was hindert dich?«

Worauf er fragte, ob ich ihn heiraten würde.

Da ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, schüttelte ich jedes Mal nur den Kopf.

»Mit dir ist aber auch gar nichts los«, sagte er dann so leichthin, dass es mir einen Stich versetzte. Ich tat, als wisse ich nichts davon, aber Nishino traf sich damals noch mit einer Menge anderer mir unbekannter Frauen. Daher fand ich es ziemlich grausam von ihm, mit mir von Heirat zu sprechen.

»Weißt du, Natsumi, wenn ich sterbe, komme ich zu dir«, hatte Nishino gesagt.

»Wie bitte?«

»Wenn ich sterbe, will ich, dass du mich siehst.«

»Das sagst du doch zu allen«, erwiderte ich, aber Nishino widersprach mir ungewöhnlich ernst: So sei das keinesfalls.

»Mama, ich glaube, im Garten ist jemand«, rief Minami.

Es war Freitag, und sie war den ganzen Tag zu Hause, weil sie sich Urlaub genommen hatte. Mitunter tat sie das ohne besonderen Grund. Wenn ich sie danach fragte, lächelte sie nur und gab keine Antwort.

Instinktiv spürte ich, dass der Jemand Nishino war.

Der leicht süßliche Duft des Kürbisgerichts, das ich gerade kochte, erfüllte die ganze Küche. Unser alter Kühlschrank brummte geräuschvoll.

»Minami, geh mal gucken«, rief ich am Spülbecken stehend.

Jemand öffnete das hölzerne Gartentor. Kurz darauf vernahm ich das Klappern von Holzsandalen auf den Trittsteinen. Ein plötzlicher Windstoß zauste die Pflanzen.

Alle Geräusche verstummten.

»Mama, komm mal«, rief Minami aus dem Garten.

Der Kühlschrank begann wieder zu rumpeln.

»Nein, ich komme nicht«, antwortete ich ruhig durch das Küchenfenster und spähte durch das Gitter nach draußen.

Zwischen den Pflanzen saß eine schemenhafte Gestalt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Nishino hatte.

Sie schien mit dem Garten zu verschmelzen. Im üppigen Gras aufzugehen. Minami ging vor ihm in die Hocke und sah ihm forschend ins Gesicht. Nishino.

Er saß sehr aufrecht und wirkte weit weniger lässig als zu Lebzeiten. Seine Ausstrahlung passte nicht zu der Art, wie er sich früher die Haare zurückgestrichen und mir zugezwinkert hatte.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Minami. »Ein Glas Wasser vielleicht?«

Der Schatten nickte verhalten.

Obgleich Minami und Nishino sich in einiger Entfernung zur Küche befanden, konnte ich aus irgendeinem Grund jede ihrer Bewegungen deutlich erkennen.

Ich öffnete den Wasserhahn und füllte ein dünnwandiges Glas. Vorsichtig, um keinen Tropfen zu verschütten, ging ich damit zur Tür und durch den Garten.

Minami wartete geduldig auf einem Trittstein sitzend.

»Mama, was bedeutet das?«, fragte sie.

»Das weißt du doch, Minami«, erwiderte ich leise.

»Ist das Herr Nishino?«

»Ja, gewiss.«

»Ist er gestorben?«

»Ja, ich vermute es.«

Minami und ich tauschten einen verstohlenen Blick. Das Windglöckchen läutete. Nishino schwankte sacht im Gras.

»Solltest nicht lieber du es ihm bringen, Mama?«, fragte Minami, während sie mir das Glas abnahm.

»Bring du es ihm, bitte.«

»Aber …«

»Bitte!«

Die Lippen zusammengepresst und etwas unsicher ging Minami auf Nishino zu. Das Wasser schwappte im Glas, sodass sie ein wenig davon verschüttete. Nachdem sie es ihm gereicht hatte, hockte sie sich neben ihn. Nishino hielt das Glas in beiden Händen und trank es sorgfältig aus.

»Bestimmt möchte er noch mehr.« Minami drückte mir das leere Glas in die Hand und sah mich vorwurfsvoll an. »Willst du ihm nicht noch ein Glas holen?«

Libellen schwirrten anmutig zwischen den Pflanzen umher. Zwischen Fuchsschwanzgras und Knöterich. Nishino saß da und sah mich an. Er bewegte den Mund, aber ich konnte nicht hören, was er sagte. Ich ging in die Küche, um ihm ein weiteres Glas Wasser zu holen.

»Mama, warum ist Herr Nishino gekommen?«, fragte Minami. Ich zuckte stumm mit den Schultern.

Nachdem Nishino auch das zweite Glas geleert hatte, streckte er sich auf dem Boden aus. Minami holte einen alten Liegestuhl aus dem Schuppen, stellte ihn neben ihn, zog ihre Sandalen aus und setzte sich hinein. Dabei wechselten sie ein paar Worte.

»Ich habe ihn gefragt, aber er antwortet nicht«, wandte sie sich aus dem Liegestuhl an mich. Seufzend.

»Er hat doch gesagt, dass er kommen würde«, erwiderte ich, während ich mich auf der Stufe zur Veranda niederließ.

Nishino lag mit geschlossenen Augen da und summte. Das Gefühl von damals, als ich in ihn verliebt gewesen war, lebte wieder in mir auf. Sein Haar war an den Schläfen ergraut, und Falten hatten sich um seinen Mund und seine Augen gegraben. Es war das Gesicht eines Mannes über fünfzig.

»Nishino!«, sprach ich ihn nun zum ersten Mal an.

Er hörte nicht auf, das Lied am Strand1 zu summen. Minami sang dazu: »Wenn ich morgens wandre, am hellen Strande, kommt die Erinnerung …«

»Das passt jetzt genau zu dir«, sagte ich bemüht scherzhaft, worauf Nishino sich mit einem verlegenen Lachen hochrappelte.

»Siehst du, Natsumi, da bin ich«, sagte Nishino jetzt mit klarer Stimme. Er winkte mich zu sich.

»Stimmt, da bist du«, sagte ich, ohne auf sein Winken zu reagieren.

»Ich hatte es ja versprochen. Und ich habe mein Versprechen gehalten.«

Nishinos Tonfall. Sein typischer, leicht neckender Tonfall.

Minami saß, die Arme um die Knie geschlungen, mit resignierter Miene in ihrem Liegestuhl.

»Hast du noch eine Tochter bekommen?«, fragte ich aus der Distanz.

»Ich habe nie geheiratet.«

Es wimmelte jetzt von Libellen und Schmetterlingen. Einige ließen sich auf Minamis Schultern und Armen nieder. Das Windglöckchen läutete in der Brise.

»Hübsch bist du geworden, kleine Minami«, sagte Nishino und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Leider konnte ich mein Versprechen, mit dir auszugehen, nicht erfüllen.«

»Mit mir war nichts dergleichen ausgemacht«, erwiderte Minami gereizt.

»Diesmal hätte ich dich nicht zu einem Parfait eingeladen. Es wäre schon ein etwas erwachseneres Rendezvous geworden.« Noch immer dehnte er das e von Parfait.

»Wissen Sie, Herr Nishino, Ihre Parfaits haben mir sowieso nie geschmeckt«, sagte Minami mit boshaftem Unterton.

»Ich weiß«, sagte er und strich sacht über ihren bloßen Arm. Die Libellen und Schmetterlinge flogen auf.

»Nishino«, sagte ich sanft. Er setzte sich gerade hin und streckte mir die Hand entgegen.

»Komm her zu mir, Natsumi«, sagte er mit treuherzigem Hundeblick.

»Nein, es ist vorbei. Ich brauche nicht mehr zu dir zu kommen«, sagte ich ruhig.

»Ach, Natsumi, bitte komm doch, ich bin so traurig.«

»Ich bin auch traurig.«

»Du siehst deiner Mutter gar nicht ähnlich, Minami. Du bist auch hübsch, aber Natsumi war eine Schönheit«, wechselte Nishino das Thema.

So war er schon immer gewesen. Minami kicherte. »Die Augen vom Papa, die Nase von Mama und der Mund von Oma«, flötete sie leise.

»Sei doch nicht so, Mama, setz dich zu uns. Herr Nishino muss doch sicher gleich gehen.« Wie um Minamis Worte zu unterstreichen, raschelten die Blätter der Hortensien. Barfuß stieg ich in den Garten hinunter. Kiesel hefteten sich an meine Fußsohlen. Grashalme streiften meine Waden.

»Wie geht es deinem Mann?«, fragte Nishino höflich.

»Alles ruhig und friedlich. Jeden Tag das Gleiche.«

»Das freut mich. Ruhig und friedlich ist das Beste.« Er hatte es kaum ausgesprochen, als Minami niesen musste. Es sei nicht zu fassen, erklärte sie, dass wir beide Konversation machten, nachdem Herr Nishino doch gestorben und trotzdem eigens vorbeigekommen sei, worauf sie noch dreimal nieste.

»Es ist sehr nett, dass du gekommen bist«, sagte ich und legte meine Wange an seine.

»Natürlich! Ich hatte es doch versprochen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du so pflichtbewusst bist.«

»Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber im Herzen war ich es immer.«

»Du hast dich nicht verändert«, sagte ich und küsste ihn auf die Wange. Nishino machte ein Gesicht, als würde er gleich anfangen zu weinen, tat es aber nicht.

»Ich möchte in diesem Garten begraben werden«, sagte Nishino in ernstem Ton.

»Das geht nicht«, stieß Minami spontan hervor.

»Ja, stimmt, das geht wohl nicht.«

Bemüh dich nicht, Nishino, dachte ich. Mir genügt es schon, dass du gekommen bist.

»Doch! Macht mir ein Grab«, beharrte Nishino im gleichen bestimmenden Ton, in dem er früher das Parfait bestellt hatte.

»Ein Grab?«, fragte Minami erschrocken.

»Ja, so eins wie für einen Goldfisch würde mir schon reichen.«

Ich sah ihn an. Er machte ein Gesicht wie ein trotziges Kind, das von seiner Mutter ausgeschimpft wird. Genau wie zu seinen Lebzeiten.

»Also gut«, sagte ich und schloss ihn sacht in die Arme.

Nishino blieb bis kurz vor Sonnenuntergang.

Ich ging in die Küche zurück, um Gemüse zu frittieren, während Minami die ganze Zeit bei ihm im Garten saß. Als ich gerade das Öl erhitzte, hörte ich, wie sie einen Schrei ausstieß.

Er ist weg, dachte ich.

Gleich darauf kam sie zu mir in die Küche. »Er ist gegangen«, murmelte sie mit gesenktem Blick.

Ja, er ist gegangen, antwortete ich im Geist und suchte in einer Schublade nach einer Zange. Dann leerte ich einen Holzkasten, in dem ich Nudeln aufbewahrte, zog an allen vier Ecken die Nägel heraus, nahm ihn auseinander und legte eins der rechteckigen Brettchen auf die Arbeitsplatte. Ich kramte ein Schreibset aus Minamis Schulzeit hervor und schrieb mit schwarzer Tusche und einem großen Pinsel »Hier ruht Yukihiko Nishino« darauf.

Anschließend steckte ich das Brett im Garten neben den Gräbern von Goldfisch und Katze in die Erde.

Ich habe dich wirklich geliebt, Nishino, dachte ich, während ich mit gefalteten Händen davorkniete. Minami gesellte sich zu mir.

Eine Weile verharrten wir mit geschlossenen Augen in dieser Haltung. Schließlich blickten wir gemeinsam auf.

»Lass uns irgendwann mal wieder ein Parfait essen«, sagte ich, während ich mich langsam erhob. Minami nickte stumm.

Die Libellen und die Schmetterlinge hatten den Garten verlassen. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Glöckchen.

IM GRAS

Ich vergrub vierzehn Kerzen.

Mit einer kleinen, etwas rostigen Schaufel hob ich die feuchte Erde aus.

Wenn man etwa dreißig Schritte durch das im Sommer mannshoch wuchernde Unkraut in das unbebaute Grundstück hineinging, gelangte man zu einer Gruppe von Bäumen. Magnolie und Kampferbaum kannte ich. Es gab dort noch andere Arten, die ihr dichtes Astwerk in den Himmel reckten und im Herbst kleine Eckern abwarfen, aber ihre Namen kannte ich nicht.

Wo die Bäume standen, wucherte das Unkraut nicht so stark. Also grub ich zu Füßen des Kampferbaums ein etwa zehn Zentimeter tiefes Loch und legte die vierzehn kurzen dünnen Kerzen hinein. Und bedeckte sie mit der ausgehobenen Erde. Als nichts mehr von ihnen zu sehen war, strich ich die Erde sorgfältig glatt und stampfte sie fest. Ich stampfte so lange, bis nicht mehr zu erkennen war, dass dort etwas vergraben lag. Ich trat ein wenig zurück, um mein Werk zu betrachten. Die Stelle war nur wenig erhöht.

»So!«, sagte ich und nahm meine Mappe, die ich im Gras abgestellt hatte. Die Schaufel kam in eine Plastiktüte und in die Mappe. Achtlos das Unkraut niedertretend, marschierte ich durch das von herbstlichem Insektengezirp erfüllte Gelände und ging, ohne mich weiter aufzuhalten, nach Hause.

Am Tag zuvor war ich vierzehn geworden. Die Kerzen stammten von meiner Geburtstagstorte. Am Abend hatte ich sie alle auf einmal unter dem Applaus meines Vaters ausgepustet. Dann hatten wir die Torte angeschnitten und verzehrt, uns stumm die Rosen aus Buttercreme in den Mund gestopft.

»Lecker«, sagte ich, und mein Vater lächelte zustimmend. Obwohl die Torte in Wirklichkeit überhaupt nicht lecker war.

Es war das fünfte Mal, dass mein Vater und ich allein feierten. Meine Mutter hatte uns eine Woche vor meinem zehnten Geburtstag verlassen. Damals hatten wir den Tag zum ersten Mal zu zweit begangen. Im Vergleich zu der Torte, die meine Mutter immer zu meinem Geburtstag gekauft hatte, war die von meinem Vater irgendwie primitiv. Bei der von meiner Mutter war der Biskuitteig viel lockerer gewesen, gar nicht zu reden von der Schokoladensahne darauf. Die Anzahl der Kerzen hatte nicht meinem Alter entsprochen, sondern es waren immer nur drei gewesen. Und meine Mutter war jedes Mal eigens mit der Bahn in die Stadt gefahren, um die Torte bei der bekannten Konditorei abzuholen, wo sie sie immer bestellte.

Mein Vater machte nie den geringsten Versuch, mir zu erklären, warum meine Mutter uns verlassen hatte. Er hat nie wieder mit ihr gesprochen. Aber weil Namiko, meine Tante väterlicherseits, es mir irgendwann gesagt hatte, wusste ich, dass meine Mutter mit einem anderen Mann durchgebrannt war.

Natürlich erzählte ich meinem Vater nichts davon. Meine Mutter existierte nicht mehr, weder für ihn noch für mich. Seit jenem Tag bis in alle Ewigkeit.

Das brachliegende Grundstück kannte ich schon lange. In dem kleinen Hain tummelten sich besonders viele Hirschkäfer, und in meiner Grundschulzeit machten die Jungen, sobald die Sommerferien begannen, schon frühmorgens Jagd auf sie. Einmal schloss ich mich ihnen an und erwischte auch ein kleines Exemplar. Damals gab es in unserer Gegend noch massenhaft unbebaute Grundstücke, und das, auf dem ich die Kerzen vergrub, war nur eines davon.

Im Laufe der Jahre entstanden immer mehr neue Häuser, bis es überhaupt keine größeren freien Flächen mehr gab. Hirsch- und Nashornkäfer wurden zunehmend seltener und verschwanden schließlich ganz.