Die Zeit, die vor uns liegt - Maria Barbal - E-Book

Die Zeit, die vor uns liegt E-Book

Maria Barbal

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die große Erzählerin und Weltbestsellerautorin von »Wie ein Stein im Geröll« schreibt in ihrem preisgekrönten neuen Roman über verspätetes Glück und die Schönheit des Augenblicks – facettenreich und bildgewaltig.

Elena und Armand begegnen sich bei einem Yogakurs in Barcelona. Sie kennen sich kaum und sind doch bald einander größter Halt. Zusammen verschwindet auf einmal die Distanz, die sie zwischen sich und der Welt empfinden. Zusammen fühlen sie sich schwerelos. Und trotzdem dauert es nicht lang, bis die lauten und leisen Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte in ihre Beziehung einbrechen. Die Zweifel und Widerstände. Da ist der Ehemann, über den Elena schweigt. Der Sohn, von dem sich Armand entfremdet hat. Werden Elena und Armand sich die Freiheit nehmen, das Glück in seiner ganzen Fülle auszukosten?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 138

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MARIA

BARBAL

Die Zeit,

die vor uns liegt

ROMAN

Aus dem Katalanischen

von Heike Nottebaum

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Übersetzung wurde gefördert

von Acción Cultural Española (AC/E).

Copyright © 2021 Maria Barbal

Die Originalausgabe erschien 2021

unter dem Titel Tàndem

bei Edicions Destino, Barcelona.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Palma Müller-Scherf

Umschlaggestaltung: SERIFA, München

Umschlagmotiv: © Thinkstock/Stockbyte/Getty Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-29258-4V003

www.diana-verlag.de

Meinen Freundinnen und meinen Freunden

I

ARMAND

1

Immer fehlt uns etwas, und als Elena in mein Leben trat, fehlte es mir an fast allem. Ich lebte einfach vor mich hin.

Es war einer dieser launischen Frühlingstage gegen Ende März, an denen es kühl ist in Barcelona und windig, aber dann, gegen Mittag, dringt die Hitze in die unvorbereiteten Körper, und man muss zusehen, sich möglichst schnell aller überflüssigen Kleidungsstücke zu entledigen. Für gewöhnlich trage ich kein Sakko, denn ich gehöre zu den Menschen, die lieber etwas Bequemes anziehen, zumal sich Remei ihre Zeit zuletzt mit dem Stricken von Jacken vertrieben hatte. Vier Stück habe ich insgesamt, in verschiedenen Farben. Sie ist nicht an Krebs gestorben. Nein, es war keine lange Krankheit. Eines Nachmittags, sie hatte gerade mit der Arbeit an der fünften Strickjacke begonnen und gemeint, dass mir ja noch eine in Grün fehlen würde, hörte ich sie auf einmal sagen, der Schädel tut mir weh, genau so hat sie es gesagt, und dabei wie ein kleines Kind ihre Hand an die Stirn gelegt. Die Nadeln, mit denen sie bereits ein paar Reihen gestrickt hatte, waren ihr in den Schoß geglitten und, verwirrt und fassungslos, lief ich zum Telefon, um den Rettungsdienst zu alarmieren. Zum ersten Mal sah ich jemanden sterben, und es war ausgerechnet Remei, die Frau, in die ich mich vor viel zu langer Zeit verliebt hatte.

Um von meiner ersten Begegnung mit Elena zu erzählen, habe ich angefangen, über den Frühling zu schreiben und bin letztlich bei Remei gestrandet. Das war nicht meine Absicht. Ganz bestimmt nicht. Also beginne ich am besten noch einmal von vorn.

Wegen meiner Rückenschmerzen und weil ich auch über Schlafstörungen klagte, hatte mir mein Arzt empfohlen, es doch einmal mit Yoga zu versuchen. Also meldete ich mich für einen Anfängerkurs im Bürgerzentrum Cotxeres an, das im Stadtviertel von Sants liegt, in dem ich wohne. Als ich zum ersten Mal den Übungsraum betrat, stellte ich fest, dass ich unter einem guten Dutzend Frauen der einzige Mann war. Das gefiel mir zwar nicht unbedingt, aber in meinem Alter machte mir eine Situation, die vor einigen Jahren noch für Unbehagen gesorgt hätte, so gut wie nichts mehr aus, und mit der Zeit fühlte ich mich sogar recht wohl dabei.

Als mich Elena eines Morgens fragte, ob ich eine Tochter hätte, die auf die Estrella-Schule gegangen sei, so wie ihr Sohn, als er klein war, erinnerte ich mich kaum noch daran, dass ich vor langer Zeit einmal Vater gewesen war. Ich möchte allerdings klarstellen, dass mein Sohn am Leben ist, nur waren wir uns seit Remeis Beerdigung nicht mehr begegnet. Elena meinte, sich an ein Mädchen namens Sílvia zu erinnern, mit dem ihr Sohn Marc sich gut verstanden habe, aber sie sei jünger gewesen, ein oder zwei Klassen unter ihm. Ich erkannte, dass sie mich für den Vater dieser kleinen Sílvia hielt. Angeblich hätten wir mit unseren Kindern und anderen Müttern und Vätern einmal einen Ausflug in den Zoo gemacht. Während sie mir all das erzählte, sah ich in ein Gesicht voller Licht und in wunderschöne Augen, die es aber vermieden, mich direkt anzuschauen.

Für gewöhnlich lüge ich nicht, doch eine innere Stimme flüsterte mir zu, wenn ich ihr jetzt sage, ich sei nicht der Vater einer Sílvia, dann wäre alles vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat. Später wurde mir allerdings bewusst, dass ich mich dadurch in eine Sackgasse manövriert hatte. Doch wie ich eingangs schon gesagt habe, es fehlte mir an fast allem. Ich denke, in gewisser Hinsicht kam mir die Lüge sogar zugute, denn wäre ich Elena nicht irgendwie bekannt vorgekommen, allein von meinem Äußeren, da mache ich mir nichts vor, hätte sie sich wohl kaum angezogen gefühlt. Um ehrlich zu sein, mir war Elena von Anfang an aufgefallen. Sie gehörte nicht zu den älteren Frauen der Gruppe, und ich fand ihre leicht rundlichen Formen sehr attraktiv. Auf eine ganz natürliche Weise sah sie um einiges jünger aus, als sie es in Wirklichkeit war.

Nach Kursende folgte ich ihr mit einigem Abstand und ohne bestimmte Absicht. Vielleicht hegte ich aber die Hoffnung, das Schicksal würde mir gnädig sein und mir eine weitere Begegnung mit ihr schenken. Nachdem sie eine Frau aus der Gruppe ein Stück begleitet hatte, verabschiedete sich Elena von ihr und betrat ein Café. Ich dagegen, erschrocken über diese glückliche Fügung, blieb nicht etwa stehen, sondern ging einfach auf dem Carrer Sants Richtung Plaça Espanya weiter und schaute dabei scheinbar interessiert in die Schaufenster, so als ob ich etwas suchen würde. Doch mit einem Mal fing ich an, mir eine Standpauke zu halten, ja sogar mich zu beschimpfen. Was war ich doch für ein Trottel, ich würde nie etwas haben, weil ich auch nicht einen Schritt tat, um es zu bekommen. Schließlich war ich dermaßen empört über mich selbst, dass ich auf dem Absatz kehrtmachte und zurück zum Café ging. Dort saß sie, trank einen Espresso, und als ich mich ihr näherte, schien sie, völlig gedankenverloren, gerade etwas vor sich hinzumurmeln.

Schon immer habe ich mich von Frauen angezogen gefühlt, die Kaffee ohne Milch trinken. Elena zeigte sich nicht überrascht von meinem plötzlichen Auftauchen. Sie erzählte weiter von ihrem Marc, und ich erfand das Leben einer Sílvia, die fürs Erste meine Tochter bleiben sollte, bevor ich sie dann nach und nach in der Versenkung verschwinden lassen würde.

Elena sprach also weiter über ihren Sohn. Er hatte den gleichen Beruf gewählt wie sie, er war Lehrer, und er lebte allein, sie sahen sich nur selten. Was meinen Sohn anbelangt, Antoni, so lebt er seit gut zehn Jahren im Ausland, in Großbritannien. Die letzten drei Jahre in Bournemouth, eine Stadt an der Südküste von England, gegenüber der Isle of Wight, und er scheint keinerlei Absicht zu haben, wieder zurückzukommen.

– Sílvia lebt in Deutschland.

Sie musste in einem anderen Land leben, keine Ahnung, wie ich darauf kam, aber da war es auch schon ausgesprochen. Ich hatte mich ganz spontan für Deutschland entschieden, genauer gesagt für Köln, weil ich dort schon einmal gewesen war. Als Elena mir eine weitere Frage stellte und ich nichts darauf zu sagen wusste, konnte ich unser Schweigen förmlich spüren, aber diese Stille störte mich nicht, ich empfand sie sogar als angenehm, und einen Augenblick lang war ich wie verzaubert. Elena wiederholte ihre Frage nicht, auch sie schien sich wohlzufühlen, ohne etwas sagen zu müssen. Inzwischen hatte ich mir schon eine Vorstellung davon gemacht, was für ein Mensch sie war, und ich fühlte mich ein wenig benommen. Am merkwürdigsten aber war, dass sich das ganze Café abgesprochen zu haben schien, denn für einen Augenblick verstummten alle Gespräche. Ich drehte mich um, wollte sehen, ob irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen war, und da platzte es aus mir heraus:

– Wo du doch einen so liebenswerten Sohn hast, weshalb bist du dann so traurig?

Ein Schleier legte sich über ihre Augen. Grün sind sie, mit einem hellen Rostton. Damals war ich mir aber nicht sicher. Erst kamen sie mir nur grün vor, doch im nächsten Augenblick, als sie aufstand, schienen sie die Farbe des Herbstes anzunehmen.

2

Ich hatte mich mit dem Umziehen beeilt, denn ich wollte sie auf der Straße abpassen. Während der Stunde hatte es sich nicht ergeben, dass Elena und ich wieder Seite an Seite unsere Übungen machten. Ich hatte nur hinten im Raum einen Platz gefunden, aber während wir den Anweisungen lauschten, konnte ich sie immerhin anschauen. Sie strahlte Ruhe aus, und die Sonne, die an diesem Morgen durch die hohen Fenster in den Kursraum fiel, verlieh ihrem Haar den Glanz von Kastanien. Vielleicht war das ja ein gutes Omen.

Als ich nach dem Unterricht die Treppe hinunterging, gesellte sich eine der Damen zu mir – »Damen« sage ich prinzipiell zu allen Frauen, die älter sind als ich –, eine sympathische Seniorin, die anfing, mir von den positiven Auswirkungen des Yoga auf ihre Gesundheit zu erzählen. Gerade an diesem Tag hätte ich sie mir allerdings weit weg gewünscht, denn zwei Stockwerke tiefer hatte ich Elena auf der Treppe ausgemacht. Normalerweise brauchen Frauen ja länger zum Umziehen als Männer, und ich hatte zudem die ganze Umkleide für mich allein, war also immer schnell fertig, aber an diesem Morgen war Elena noch schneller gewesen. Während ich mit der alten Dame sprach, schoss mir durch den Kopf, dass sie mir vielleicht aus dem Weg gehen wollte. Da ließ ich alle Regeln der Höflichkeit außer Acht und fiel der begeisterten Yogaanhängerin ins Wort:

– Ich muss mich beeilen! Bis nächsten Donnerstag.

Mich beeilen, beeilen.

Als ich den Carrer Sants erreichte, konnte ich Elena nirgends ausfindig machen. Sie hatte sich in Luft aufgelöst. Ich wollte nicht Gefahr laufen, auf eine andere Kursteilnehmerin zu treffen, also überquerte ich schnell die Straße und machte mich auf den Heimweg. Als ich bei Vives vorbeikam, warf ich einen Blick in die Konditorei, und da entdeckte ich Elena, sah durch die Glastür ihren Rücken. Ich blieb vor der Auslage stehen, um auf sie zu warten, und merkte mit einem Mal, wie ich Appetit auf Süßes bekam.

Es gefiel mir, dass sie kein Wort über mein unerwartetes Erscheinen verlor und auch, dass sie mir von den Schokoladenkeksen anbot, die sie gerade gekauft hatte. Allem Anschein nach hatten wir beide denselben Weg. Es war windig, Wolkenungetüme trieben über unsere Köpfe hinweg und hoben sich vom strahlend blauen Himmel ab. Mal viel Licht, mal wieder etwas weniger. Trotz des Verkehrslärms und der Auspuffgase all der Fahrzeuge, die in beiden Richtungen an uns vorbeirauschten, hatte ich das Gefühl, endlich wieder durchatmen zu können, so als sei das Leben nicht einfach nur armselig, sondern würde auch für mich noch Schönes und Gutes bereithalten.

– Seit dem letzten Mal …

Sie schwieg noch immer und aß, vertrauensvoll wie ein kleines Mädchen, in aller Ruhe ihren Schokoladenkeks.

– … kann ich es kaum erwarten, mich wieder mit dir zu unterhalten.

Aber gleich hatte ich das Bedürfnis, mich zu korrigieren.

– … mit dir zusammen zu sein!

– Als ob ich Sophia Loren wäre!

Sie hatte das ziemlich laut gesagt, und ein Mann, der gerade an uns vorbeiging, drehte sich um. Wir fingen an zu lachen und blieben stehen, der Mann ging weiter. Als Elena aufhörte zu lachen, entdeckte ich links auf ihrer Oberlippe ein kleines Stück Schokolade. Ich wischte es sanft mit dem Finger weg und zögerte die Berührung hinaus. Elena schaute mich unverwandt an, und ich fürchtete, gleich würde sie mir eine Ohrfeige verpassen.

– Worüber willst du denn reden? Über Yogastellungen?

Gerade als der Himmel sich wieder zu verdüstern drohte, sah ich bei dem Wort »Stellungen« mit einem Mal einen Lichtstreif am Horizont.

– Wir gehen besser an einen Ort, wo es ruhiger ist.

Ich nahm sie an die Hand und so schnell, wie wir gingen, dürften wir kaum fünf Minuten bis zu mir gebraucht haben. Ich fürchtete, sie würde mich wegstoßen oder böse anfunkeln, sie könne mich anblaffen, du bist wohl nicht ganz bei Trost. Zumindest mit einer Frage rechnete ich, aber wie ein Teenager, der mit einem Klassenkameraden den Unterricht schwänzt, folgte sie mir die Treppe hoch zu meiner Wohnung, und sie sagte kein Wort.

3

Unser Zusammensein hatte mich dermaßen aufgewühlt, dass wir uns die nächsten beiden Wochen nach dem Yoga zwar trafen, ich aber nicht den Mut aufbrachte, ihr vorzuschlagen, wieder mit zu mir nach Hause zu kommen.

Später dann schien Elena bereits vor dem Unterricht Bescheid gegeben zu haben, denn kein einziges Mal benutzte sie mehr ihr Handy in meiner Gegenwart. An unserem ersten Donnerstag hatte sie einen gewissen Ramir angerufen und ihm gesagt, er möge allein zu Mittag essen, es sei schon alles vorbereitet, sie würde nach dem Yoga mit Pilar etwas essen gehen, das hätten sie so ausgemacht. Der Name schien beiden sehr vertraut zu sein. Ich stellte ihr keine Fragen. Meine Gedanken schweiften ab zu der neuen Matratze, die ich erst vor Kurzem gekauft hatte, worüber ich jetzt mehr als froh war. Währenddessen bot ich ihr etwas zu trinken an und, nachdem sie dankend angenommen hatte, ging sie zum Fenster und öffnete es. Als ich aus der Küche zurückkam, saß sie auf dem Sofa. Mit einem Lächeln erzählte sie mir von ihren Jungen und Mädchen, von all den Knirpsen, die einen großen Teil ihrer Zeit ausgefüllt hatten, als sie noch unterrichtete. Vor weniger als einem Jahr hatte sie aufgehört zu arbeiten. Ihr Klassenzimmer war eine Welt im Kleinen gewesen, und mit den Kindern hatte sich jedes neue Schuljahr auch die Landschaft dieser Welt verändert. Dann waren ihre Schutzbefohlenen in die nächste Klasse gekommen, und sie hatte sich auf die neuen Fünfjährigen eingestellt.

In den ersten Tagen eines jeden Schuljahrs suchten ihre kleinen Schüler aus dem vergangenen Kurs sie noch auf dem Gang und kamen zu ihr gelaufen. Elena ihrerseits beobachtete sie im Pausenhof und erkundigte sich nach ihnen bei der Kollegin, die sie jetzt unterrichtete. Doch schon nach kurzer Zeit galt ihre ganze Fürsorge der neuen Gruppe, den Jungen und Mädchen, für die sie von September bis Ende Juni da sein würde. Sie fehlten ihr sehr, gestand sie mir, denn Kinder seien so voller Fantasie und Schönheit, eine Verheißung für die Zukunft. Und dann sagte sie noch:

– Die meisten von ihnen nehmen die Welt um sie herum mit wachen Augen wahr, doch manchmal ist da ein Kind, dessen Blick nur nach innen gerichtet ist, und diesem Kind wollte ich ein Lächeln entlocken, ihm Selbstvertrauen mit auf den Weg geben, auch wenn ich das ganze Schuljahr dafür brauchen sollte.

Ich habe als Aufzugsmonteur gearbeitet, und es wäre mir nicht im Traum eingefallen, ihr von Kabeln, Zahnrädern oder ähnlichen Dingen vorzuschwärmen. Es ist weiter nichts als eine Beschäftigung gewesen, eine Arbeit, die es mir erlaubt hat, mal hier, mal dort zu sein. Das lag mir, denn ich bin ein unruhiger Geist. Von den Hausbewohnern wurde ich stets sehnsüchtig erwartet und fast immer freudig begrüßt. Ganz zu schweigen davon, wenn ich mit meiner Arbeit fertig war und sie den Aufzug wieder benutzen, mit ihm hoch- und runterfahren konnten.

Während ich darüber nachdachte, saß Elena ganz still da. Und erst, als mir das auffiel, bemerkte ich auch, dass sie leise weinte. Mit einer Hand fuhr ich zärtlich über ihre Wangen und wischte die Tränen fort. Ich umarmte sie, wir schauten uns an und sagten kein Wort. Schließlich strich ich mit einem Finger, an dessen Spitze noch eine kleine salzige Träne haftete, über ihren Mund, zeichnete die Form ihrer Lippen nach, und dann küsste ich sie.

Alles hatte sich so abgespielt, als wären wir zwei erfahrene Schauspieler, die in jedem Augenblick wussten, was zu tun war. Als sie später ging, wollte sie nicht, dass ich sie begleite. Inmitten dieser nie da gewesenen Gefühle, die mich schier überwältigten, musste ich plötzlich daran denken, wie Elena am Mittag, kaum dass wir das Wohnzimmer betreten hatten, gleich zum Fenster gegangen war, um es zu öffnen, so als bekäme sie keine Luft. Einmal, als ich zum Skilaufen in Núria war, hatte ich einen Lawinenabgang miterlebt, eine ungehemmt herabstürzende Kaskade von Schnee. Und diese eine Geste Elenas hatte eine Gefühlslawine in mir zum Rollen gebracht. Eine Empfindung gab den Anstoß für die nächste, und all das, was sich in meinem Inneren über Jahre hinweg angestaut hatte, schlug wie eine weiße Masse über mir zusammen. Eine einzige Geste Elenas hatte so viel in mir ausgelöst! Aber sie hatte auch die Straße mit ins Zimmer hineingeholt, das Hupen der Autos und das Klingeln der Fahrräder, die Schritte und Stimmen der vorbeihastenden Menschen, den Geruch der Stadt.