Die Zeit im Sommerlicht - Ann-Helén Laestadius - E-Book

Die Zeit im Sommerlicht E-Book

Ann-Helén Laestadius

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Beschreibung

»Ein einzigartiger Roman – Gerüche, Geschmäcker, Gedanken galoppieren über die Seiten wie eine gewaltige Rentierherde.« Alingsås Tidning Im Land der Rentiere wird eine Gruppe von Kindern ihrer Welt entrissen und in ein entlegenes Internat verbracht, wo sie sich großen Herausforderungen stellen müssen. Eine unvergessliche Geschichte über dunkle Geheimnisse, Hoffnung und Zusammenhalt und die Rückkehr ins Licht. Schweden in den 1950er Jahren. Else-Maj ist sieben Jahre alt, als sie das vertraute Leben im Sámi-Dorf und die wärmende Gegenwart ihrer geliebten Rentiere hinter sich lassen und in ein sogenanntes Nomadeninternat gehen muss. Hier trifft sie auf Jon-Ante, Marge und andere Sámi-Kinder, die wie Else-Maj von nun an all das verleugnen sollen, was sie von der Welt kennen. Allein die gutmütige Erzieherin Anna, eine Sámi wie sie, hält eine schützende Hand über die Kinder. Doch eines Tages verschwindet sie ohne jede Spur. Erst viele Jahre später erfahren die einstigen Schüler die Antwort und mit ihr endlich eine Chance auf Genugtuung – und Heilung.

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Seitenzahl: 615

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Ann-Helén Laestadius

Die Zeit im Sommerlicht

Roman

Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt

Hoffmann und Campe

Prolog

Anna hatte die Schuhe ausgezogen und ging auf Strümpfen über den kalten Boden im Flur. Nur ein paar Minuten Zeit hatte sie gehabt, um ihre Sachen zusammenzupacken. Wegzugehen, ohne die Möglichkeit, sich von den Kindern zu verabschieden. Hätte sie gewusst, wie es kommen würde, hätte sie einige von ihnen ein letztes Mal in den Arm genommen. Hätte nicht nur gewinkt, als sie im Bus saßen, ganz aufgeregt, dass sie in den Weihnachtsferien nach Hause zu ihren Familien fahren durften, die sie mehrere Monate lang nicht gesehen hatten.

Die Schlafsäle waren leer und die Betten abgezogen, einige mit unübersehbaren Flecken auf der Matratze. Die Kinder nässten manchmal ein und trauten sich nicht immer, es zu sagen.

Die Betreuerinnen hatten ein paar Tage Urlaub gehabt, waren aber fürs Großreinemachen vor dem neuen Schulhalbjahr wieder zurückgekehrt. Anna hätte es auch so gemacht, gehörte jetzt aber nicht mehr dazu.

Langsam ging sie zu Else-Majs Bett an der Wand, hob das Kissen hoch, drückte die Nase leicht in das Weiche. Bildete sich ein, der Duft des Mädchens hinge noch darin. Das Stehen fiel ihr plötzlich schwer, und sie sank auf das Bett.

Sechs Mädchen in jedem Schlafsaal; und alle waren noch so klein, als sie zum ersten Mal hier angekommen waren, doch Else-Maj war so winzig gewesen, dass Anna dachte, etwas stimme mit ihr nicht. Konnte das schmächtige, kleine Mädchen wirklich sieben Jahre alt sein? Jetzt war sie elf, eines der älteren Kinder, füllte das Bett aber immer noch nicht aus.

Anne-Risten hatte ihren Platz neben Else-Maj, dicht am Fenster, in der Zugluft, die sie nicht mochte. Sie war ein schönes Kind, da waren sich die Betreuerinnen einig. Sie hatten besprochen, dass sie sie künftig ein wenig genauer im Auge behalten mussten, jetzt war sie erst acht. Denn es gab Jungen, die sich nicht benehmen konnten. Nilsa war der schlimmste. Er war schwierig, dieser Junge. Genauso alt wie Else-Maj, schon hoch aufgeschossen und noch dazu hinterhältig.

Als sich die Tür am anderen Ende des Flurs öffnete, sprang Anna schnell auf und drückte sich in die schmale Lücke zwischen den Betten an die Wand. Sie wollte Hausmutter nicht noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen müssen. Aus ihrer Wohnung waren das Radio zu hören und anschließend ihre schnellen Schritte auf der Treppe.

Anna berührte mit den Fingern leicht die Kopfenden der Betten, flüsterte den Kindern ein Hej då zu. Marge war die Einzige, die vor der Abfahrt ihre Bettwäsche abgezogen und mit der Decke zu einem ordentlichen Stapel am Fußende zusammengelegt hatte. Darunter hatte ein Papierherz gesteckt, auf dem »Anna« geschrieben stand. Sie lächelte bei der Erinnerung, das Herz hatte sie aufbewahrt, in ein Kästchen gelegt.

Hausmutter war wieder im Flur und knallte ihre Wohnungstür zu, dass die Wände vibrierten. Anna überquerte ihn auf leisen Sohlen und schlich geräuschlos eine Etage tiefer. Ging in einen Schlafsaal der Jungen, in dem ein Fenster angelehnt war.

Sie fröstelte und blieb am Bett vom kleinen Jon-Ante stehen. Es tat zu sehr weh, es war zu schwer. Aber ihre Stimme trug. »Ich hätte mehr tun können. Verzeih.«

Das reichte nicht, das wusste sie. Es war unverzeihlich.

Sie verließ den Schlafsaal, stieg die nächste Treppe nach unten in den Keller und holte ihre Schuhe, Kleider, eine Brotdose und die Haarbürste. Die Sauna war kalt und roch muffig. Die Betreuerinnen würden hier bald waschen, jetzt aßen sie bei Lisbet in der Küche zu Mittag. Vor dem Badezimmer hing die Rute am Nagel. Die müsste man im Kamin des Gemeinschaftsraums verbrennen. Die Wut war da, doch sie besann sich. Wenn die Rute fehlte, würde mit Sicherheit eines der Kinder die Schuld bekommen. Das war nicht zu ertragen. Und sie musste schon mit so viel mehr leben.

In der Diele stand sie am Ende, drehte sich um und warf einen Blick in den Gemeinschaftsraum, wo das Feuer knisterte, als wäre es dort gemütlich. Neben der Haustür hatte jemand an der Wand einen Artikel befestigt, das Foto zeigte Hausmutter mit einigen Mädchen: Frau Rita Olsson, »die Ersatzmutter der Kinder«, hatte der Journalist geschrieben.

Anna legte die Hand auf das vergilbte Papier, ihre Fingernägel kratzten über den Text, hinterließen eine Schramme im Auge der Teufelin.

Zum letzten Mal ging sie aus der Tür. Zum Schneefegen draußen auf der Treppe hatte niemand die Zeit gefunden. Der Wind pfiff über den Schulhof und wirbelte ihr die oberste Schicht ins Gesicht. Es brannte, und sie weinte.

Else-Maj

1950

Sie war klein, die Kleinste von allen. Niemand wollte glauben, dass sie schon sieben Jahre alt war. Aber was half es? War man sieben, durfte man nicht mehr zu Hause wohnen.

Else-Maj saß im Klassenzimmer in der zweiten Reihe neben einem Mädchen, das Biret hieß. Sie waren gleich alt, doch Else-Maj reichte ihr nur bis zur Schulter. Hätte sie zu Hause am Küchentisch oder im Dorf auf dem Melkschemel gesessen, hätte sie mit den Beinen gebaumelt. Auch hier reichten ihre Füße nicht auf den Boden; sie ließ sie aber nur baumeln, wenn sie fröhlich war. Hier war der Körper wie im Winter gefroren.

Vor zwei Wochen hatte man sie ihrer Familie weggenommen, sie gezwungen, in einen Bus einzusteigen, der von ihrem Heimatdorf Badje Sohppar ins fünfzehn Kilometer entfernte Láttevárri fuhr. Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.

Else-Maj konnte kein Schwedisch und verstand nicht, was sie sagten. Ihre älteren Brüder hatten ihr vor der Abfahrt erzählt, dass sie kein Samisch mehr sprechen durfte. Sie warnten sie vor Hausmutter. »Mach sie nicht wütend, weil es dann knallt.« Sie biss sich jeden Tag auf die Unterlippe, um sich ständig daran zu erinnern, nichts in ihrer eigenen Sprache zu sagen.

Nach der Begrüßung in der Nomadenschule an diesem ersten Tag hatten die Betreuerinnen den Kindern ihre Schlafsäle gezeigt; und Else-Maj schleppte als Letzte ihre Tasche nach oben, die auf jeder Treppenstufe aufschlug. Die Schlafsäle für die Mädchen lagen in der ersten Etage; auf der Hälfte der ersten Treppe ruhte sie sich aus, und außer ihr war niemand mehr übrig. Die anderen hatten ihre Zimmer schon erreicht und wussten anscheinend, wie alles gemacht werden sollte. Else-Maj begriff nichts. Sie guckte zur Haustür, und ihr Blick verschwamm vor Tränen, als sie daran dachte, dass sie eingesperrt war. Eine Betreuerin kam zurück, und sie wischte sich schnell eine Träne weg.

»Komm jetzt, meine Kleine«, sagte die junge Frau auf Schwedisch und griff nach der Tasche, um ihr zu helfen.

Else-Maj blieb stehen, fragte sich, was sie gesagt hatte, und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Als ihre Unterlippe zu zittern begann, beugte sich die Betreuerin schnell zu ihr und flüsterte ihr auf Samisch zu: »Du kannst mit mir reden, wenn du etwas nicht verstehst. Aber denk dran, nicht, wenn Hausmutter in der Nähe ist.«

Die Betreuerin hieß Anna und kam aus Ađevuopmi. Sie war mollig und weich, hatte Sommersprossen und schiefe Zähne mit einem unübersehbaren Überbiss, den sie oft versteckte, indem sie mit geschlossenem Mund lächelte.

Als Else-Maj jetzt im Klassenzimmer des Schulgebäudes saß, behielt sie das Internat im Auge und vermisste Anna. Der Unterricht war schwierig, sie kam nicht mit und träumte sich fort. In der Schule war es trotzdem sicherer, weil Hausmutter nicht dort war. Der Magister hieß Bertil, durfte aber nie mit Namen angesprochen werden. Auch er war streng, aber niemand war wie Hausmutter.

Else-Maj hatte gesehen, dass sie die Rute geholt und ein Kind mit sich gezerrt hatte. Sie hatte die Schreie gehört. Die Spiele im Gemeinschaftsraum kamen zum Stillstand, und die Kinder dort starrten zu Boden. Alle außer Else-Maj, die Anna in der Diele entdeckte. Sie stand auf, weil sie in ihre Arme laufen wollte, doch Anna schüttelte wie wild den Kopf und verschwand außer Sichtweite.

Sie wollte fragen, was der Junge, der die Rute bekommen hatte, falsch gemacht hatte, damit sie nicht aus Versehen dasselbe tat. Sie flüsterte Biret ins Ohr, obwohl sie wusste, dass sie das Leben von ihnen beiden riskierte, schließlich hatte ein älterer Junge erzählt, Hausmutter habe einmal ein Kind umgebracht, weil es Samisch gesprochen hatte. So etwas erfuhr man, wenn man in der Pause oder nach dem Abendessen um die Hausecke des Internats schlich; denn da wurde heimlich Samisch gesprochen. Else-Maj traute sich selten dorthin, weil sie Hausmutter einmal hatte nach draußen stürmen sehen, nachdem diese das Fenster einen Spalt geöffnet und die Kinder gehört hatte.

Else-Maj versuchte stattdessen, sich unsichtbar zu machen, und blieb bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Annas Nähe. Wenn Hausmutter die Kinder anschrie, schaute Else-Maj Anna an und sah, dass auch sie kurz die Augen zukniff. Wie sie manchmal vor und zurück wiegte, als nähme sie Anlauf, um etwas zu sagen. Aber niemand, absolut niemand, widersprach Hausmutter.

Äußerlich unterschied sie sich eigentlich nicht viel von den alten Frauen im Dorf; vielleicht war sie etwas größer und ein bisschen breitschultrig, fast wie ein Mann, trug aber Rock und Strickjacke und hatte ihre dunklen Haare oft zu einem Knoten im Nacken hochgesteckt. Doch da waren der entschlossene Mund, das manchmal vorgeschobene Kinn und vor allem die Augen, die sich verengten und gefährlich wurden. Else-Maj hatte miterlebt, wie sie sich von einer normalen Frau in etwas völlig anderes verwandelte.

 

Lehrer Bertil schrieb mit weißer Kreide einen Satz an die Tafel. Else-Maj hasste die Schwedischstunden. Rechnen ging besser, obwohl sie die Zahlen nicht auf Schwedisch sagen konnte, doch das konnte sie herausfinden.

Am besten lief es, wenn sie im Chor auf Schwedisch etwas aufsagen mussten, weil sie dann nur die Lippen zu bewegen brauchte; als der Lehrer sie aber nacheinander hören wollte, schnürte sich ihr die Kehle zu, und sie guckte nach unten auf die Bank.

Ihr Magen knurrte, obwohl das Frühstück noch nicht lange her war. Sie starrte auf das Zifferblatt über der Tür, kannte die Uhr nicht, ihr war aber aufgefallen, dass eine Unterrichtsstunde oft dann zu Ende war, wenn der große Zeiger senkrecht nach oben zeigte. Jetzt dauerte es nicht mehr lange.

Plötzlich war es still um sie, sie hatte vergessen, die Lippen zu bewegen, und sie hatte das Gefühl, als würden alle auf etwas warten.

»Else-Maj, ich habe gesagt, du bist dran.«

Sie hörte ihren Namen und wusste, dass man von ihr erwartete, etwas zu sagen. Ihr Herz raste, als sich der Lehrer vom Pult erhob, zu ihr kam und mit einer Hand ihre Wangen umfasste, und sie roch Seife. Er drückte zu und sprach vor ihr das Wort überdeutlich aus. Offensichtlich wollte er sie dazu bringen, das Gleiche zu sagen, wollte den Mund zwingen, seinem Bewegungsmuster zu folgen.

Sie pinkelte in die Hose. Es rieselte einfach los, und die Beine ließen sich überhaupt nicht zusammendrücken. Es tropfte die Stuhlbeine hinunter, und jemand lachte. Der Lehrer wich instinktiv zurück und machte ein besorgtes Gesicht.

»Geh!«

Sie schaute zu ihm hoch, verstand nichts.

»Geh ins Internat!«

Er zeigte zur Tür. Sie verstand nicht.

»Mana!«, flüsterte Biret.

Der Lehrer starrte ihre Freundin wütend an. Else-Maj wusste, dass es böse enden konnte, stand schnell auf und lief zur Tür. Es war kalt am Po und bis unten an den Beinen. Sie rannte über den Schulhof, zum Internat, und Anna fing sie an der Tür ab. Else-Maj hielt ihren Hintern auf Abstand, weinte und sagte, sie habe in die Hose gepinkelt. Das Samische sprudelte nur so aus ihr heraus, und Anna legte ihr sanft eine warme Hand auf den Mund.

»Sie ist in der Nähe«, flüsterte sie Else-Maj ins Ohr. »Du musst aufhören zu weinen.«

Sie nahm sie an die Hand, und sie gingen zur Dusche im Keller. Else-Maj schälte sich aus nasser Strumpfhose und Unterhose und war wieder kurz vorm Weinen, als sie merkte, dass der Rock, den ihre Enná genäht hatte, Pipiflecken abbekommen hatte. Anna nahm die Kleider, um sie in der Badezimmerecke, wo der Waschbottich stand, zu schrubben.

»Spül dich schnell ab.«

Else-Maj brauste die Beine mit warmem Wasser ab, schämte sich, dass sie mit nacktem Unterkörper vor einem fremden Menschen stand. Versuchte, sich wegzudrehen, wollte sich hinhocken und sich verstecken.

»Ich hole dir frische Wäsche«, sagte Anna, bevor sie rasch wegging.

Else-Maj nahm ihr Handtuch vom Haken und zitterte ein wenig, bevor sie trocken war. Dann waren Absätze zu hören, hart und in einer Schnelligkeit, die nicht zu Anna gehörte. Sie wich zurück und versuchte, sich zwischen den Handtüchern zu verbergen. Der Duschkopf tropfte, Hausmutter war da und drehte ihn zu. Als sie sich umwandte, trafen sich ihre Blicke. Else-Maj schaute sofort auf ihre weißen Füße, die so breit waren wie die ihrer Enná.

»Was machst du hier?«

Die Stimme prallte von den Wänden ab, traf sie. Sie schaute hoch und schüttelte langsam den Kopf.

»Warum bist du ausgezogen?«

Else-Maj schaute auf ihren Mund, das wütende Gesicht und die zusammengekniffenen Lippen.

»Entschuldigung«, sagte sie leise auf Schwedisch.

Anna hatte es ihr beigebracht, gemeint, sie solle es sagen, wenn etwas schiefging. Hausmutter riss sie so am Arm, dass das Handtuch zu Boden fiel. Else-Maj versuchte, sich wegzudrehen, wollte sich aber weder von vorn noch von hinten zeigen. Wollte sich nur hinsetzen und die Schenkel verstecken. An der Wand hing die Rute, und sie wusste, dass Hausmutter auch die Kleinsten auspeitschte. Sie hatte das Gefühl, als würde sie sich wieder bepinkeln.

Annas leichte Schritte näherten sich, und sie kam mit einem Stapel Kleider in den Händen herein. Ihre Wangen waren gerötet und die Augen weit aufgerissen. Hausmutter schüttelte Else-Maj und sprach gleichzeitig Anna streng an, die mit fast flehender Stimme reagierte. Else-Maj wollte laut schreien, weil ihr der Arm wehtat, als Hausmutter ihre Nägel durch den dünnen Stoff bohrte. Sie bekam feuchte Augen und wusste, dass sie die Tränen hinunterschlucken musste, versuchte, sich fortzudenken. Woandershin, aber nicht nach Hause. Wenn sie auch nur eine Sekunde an zu Hause dachte, würde sie losheulen.

Hausmutter ließ sie los, gab Anna einen letzten Befehl und verließ das Badezimmer. Verschwunden war jetzt die sanfte Anna. Sie bewegte sich hektisch, reichte Else-Maj wortlos die Kleider, winkte nur, als müsse es schnell gehen. Else-Maj drehte sich um und kam zwar in die Unterwäsche, die Strumpfhose aber raffte sich um ihre nassen Füße. Anna konnte nicht warten und half beim Hochziehen. Sie roch nach Schweiß und sah Else-Maj nicht an, flüsterte ihr nichts ins Ohr. Doch, am Ende. Nur ein Wort.

»Várálaš.«

Gefährlich.

Gemeinsam hasteten sie die Treppe hoch, und Anna ging in eine Toilette neben den Schlafsälen der Jungen, rollte ein großes Stück Klopapier ab und drückte es Else-Maj in die Hand, schob sie sanft vor sich her. Schnell. Schnell.

Else-Maj wollte sich mit den Füßen dagegenstemmen. Musste sie zurück ins Klassenzimmer? Musste sie vor den anderen die Pisse aufwischen?

»In hálet …«

Anna hielt ihr die Hand vor den Mund, diesmal fester, und schüttelte den Kopf. Sie hatte Angst, das war ihr anzusehen. Gab Else-Maj einen Schubs durch die Tür, und da stand sie in der kalten Herbstsonne und schaute zur Schule. Zu dem gelb gestrichenen Gebäude mit den langen Fensterreihen führte eine Steintreppe mit schwarzem schmiedeeisernem Geländer. Sie guckte die Straße entlang, die nach Hause führte. Niemand hatte gesagt, wann sie wieder nach Hause fahren durfte. Es klopfte laut an einem Fenster, und sie zuckte zusammen. Anna stand dort und wedelte mit der Hand. Mana! Geh!

Langsam überquerte sie den Schulhof. Der Kies knirschte, kurz schoben sich Wolken vor die Sonne, und der Wind zerrte an Haarsträhnen, die herausgerutscht waren. Sie konnte nicht so gut flechten, war an die flinken Hände ihrer Enná gewöhnt, die ihre Ohren streiften. Die Beine wollten nicht weitergehen, sie durfte aber nicht stehen bleiben. Als sie sich umdrehte, stand am Fenster niemand mehr. Das raue Papier war in ihrer Hand zu einem Ball zerknüllt. Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, als sie aufflog und die Klasse nach draußen stürmte. Jemand lachte sie aus und rief »Scheißgöre«. Auf Samisch sogar. Baikabahta. Streng verboten, aber in den Pausen auf dem Hof waren manche ungehorsam. Else-Maj suchte nach Biret, dem Mädchen, mit dem sie sich so schnell angefreundet hatte und sich auf Samisch zu flüstern traute. Sie wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit ihr zu spielen. Sie rannte die Treppe nach oben und öffnete die Tür zum Klassenzimmer. Der Lehrer saß noch am Pult und blinzelte hinter seiner Brille.

Sie hob die Hand, um das Papier zu zeigen, und er nickte kaum merklich. Sie ging zu ihrem Stuhl und wischte schnell die Sitzfläche, die Stuhlbeine von oben bis unten und den Boden trocken. Es roch schlecht, und sie bekam es an die Hände.

Der Lehrer schien laut und verärgert zu seufzen, und sie beeilte sich, fertig zu werden. Knickste dann schnell und versteckte das nasse Papier hinter dem Rücken, als sie mit schweren Schritten das Klassenzimmer verließ.

Else-Maj

1985

Sie behielt den Kaffeekessel auf dem Feuer im Auge, schlug nach den Mücken, stellte sich zur Abwehr in den Rauch und schloss die Augen. Obwohl das Kopftuch im Nacken fest zugeknotet war, hatten die Kriebelmücken Streifen von getrocknetem Blut hinter dem Ohr hinterlassen.

Else-Maj schaute über den Zaun, hörte das Trommeln von den Hufen der Rentiere, die gegen den Uhrzeigersinn ihre Kreise liefen. Die Söhne waren bei ihnen. Der jüngste, Nils Johan, war an Gustus Seite, weil er wie immer eifrig von seinem Isá lernen wollte. Der große Bruder, Per Duommá, befolgte keine Anweisungen, wollte als Autodidakt gelten, nach seinen eigenen Methoden arbeiten. Trotzdem sauste sein Lasso mit dem gleichen Ruck wie bei Gustu über die Rentierherde.

Else-Maj ließ ihren Blick weiter schweifen. Er blieb an einem fremden Jungen im späten Teenageralter hängen; ihn erkannte sie nicht, obwohl sie sonst immer wusste, wer alle waren. Er hielt das Lasso seltsam und wirkte unsicher. Jugendliche wie er kamen manchmal vorbei und dachten, es wäre einfach, einen Platz zu finden; doch wenn man nicht schon als Kind mitgemacht hatte, war es schwierig. Das war nicht ihre Schuld, sondern die der Eltern.

Der Junge wurde von ihrer Cousine Inga überholt, die mit Hanna auf dem Weg zum Feuerplatz war. Mutter und Tochter hatten die Angewohnheit, die Köpfe eng zusammenzustecken, und hielten sich oft an den Händen, obwohl das Mädchen wie Else-Majs Tochter Ella zwölf Jahre alt war. Sie nahm Ella nicht mehr an die Hand. Das würde sich unnatürlich und seltsam anfühlen. Ella war groß und benahm sich fast wie eine Erwachsene. Alles konnte ihre Nieida: kochen, Häute gerben, sogar Blutwürste machen, Schuhbänder weben, und bald hätte sie ihren ersten Kolt genäht. Else-Maj hatte früh angefangen, ihr alles beigebracht, war dabei vielleicht manchmal streng gewesen, hatte keine Schlamperei durchgehen lassen. Je schneller Ella eine geschickte Hand bekam, desto besser, und im Laufe der Jahre würde sich alles Weitere ganz von selbst ergeben. Die Tochter sah es jetzt vielleicht noch nicht so, aber früher oder später würde sie verstehen, dass es Sicherheit gab, wenn sie allein zurechtkommen konnte.

Ella war gesprächig, manchmal bis an die Grenze des Erträglichen, und Else-Maj musste sie auffordern, sich zu konzentrieren: »Rede nicht über was anderes, sag, was du gerade mit deinen Händen machst, wenn du unbedingt schwatzen musst.« Das brachte das Kind zum Lachen, ein ansteckendes Kichern, das als Lachen heraussprudelte und seit ihrer Kindheit Aufmerksamkeit weckte, anderen ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Sie hatte eine ausgelassene Seite, die schwer nachvollziehbar war; niemand war wie sie, was aber zugegebenermaßen für eine Enná eine Erleichterung war. Manchmal, wenn sie streng sein wollte, musste sie ihr Gesicht abwenden und über Ellas Quatsch grinsen.

Mit Söhnen war es trotzdem einfacher. Sie erwarteten nicht, dass sie sich mit ihnen über etwas anderes als Rentierhaltung unterhielt. Sie waren praktisch veranlagt, kamen zu ihr, wenn sie gekochte Mahlzeiten oder frisch gewaschene Wäsche brauchten. Und sie konnten mit den Rentieren fast so gut umgehen wie die erwachsenen Männer. Sie hatte ihre drei Kinder zu selbstständigen Menschen erzogen, damit sie nicht hilflos waren, das wenigstens stand fest.

Else-Maj und Gustu hatten hart dafür gearbeitet, dass die Jungen eine Zukunft in der Rentierzucht hatten, und die Rentiere waren das Einzige, was die Söhne interessierte. Ella hingegen sprach vom Gymnasium in der Stadt, obwohl sie erst zwölf war. Sie wollte die Welt sehen, platzte es manchmal aus ihr heraus. »Und dafür muss ich wohl mit Giron anfangen.« Das machte Else-Maj Sorgen, war aber auch der Grund, warum sie hinter ihr her war und dafür sorgte, dass sie alles konnte. Alles sollte ihr in Fleisch und Blut übergehen.

Inga und Hanna vermischten Samisch mit Schwedisch, und Else-Maj rümpfte die Nase. Die beiden waren kein Einzelfall. Obwohl sie meistens Samisch sprachen, nistete sich Schwedisch ein. Andere in der weitläufigen Familie hatten die Sprache gar nicht an ihre Kinder weitergegeben. Dann standen sie stumm nebeneinander, stumm war man ohne Gollegiella, die goldene Sprache. Sie sprachen stattdessen Schwedisch und hörten sich richtig fein an, meinten sie wohl. Sie gaben der Nomadenschule und allem Möglichen die Schuld. Sie war auch auf die Nomadenschule gegangen, hatte aber nie im Traum daran gedacht zuzulassen, dass ihre Kinder die Sprache des Herzens verloren. Zu Hause hatten sie kein Schwedisch zu hören bekommen, und darauf war sie stolz.

Heute hatten einige ihre schwedischsprachigen Teenager zum Gehege mitgebracht. Dieser unsichere Junge war vermutlich einer davon. Nicht einmal hier, auf ihrem eigenen Grund und Boden, konnten sie Samisch sprechen.

Inga und Hanna nahmen auf ihren Sitzunterlagen Platz und streckten die Hände zum Feuer aus, um sich aufzuwärmen.

»Heute Abend ist es kalt geworden«, stellte Inga fest.

»Ja, aber es wird noch kälter, wir müssen uns also beeilen.«

Else-Maj hatte ein Gespür für Wetter. Sie konnte die Winde erfühlen und hatte ihren Söhnen beigebracht, das Verhalten der Rentiere zu verschiedenen Jahreszeiten zu beobachten. Das Klima wirkte sich auf die Herde aus, die sich schon im Frühjahr in die Berge aufmachen konnte, obwohl es laut Kalender noch nicht Zeit dafür war.

»Zu wem gehört der neue Junge da?«, fragte sie Inga.

»Das ist Anne-Ristens Niklas.«

»Sie hat schon so große Kinder? Er ist doch früher nie hier gewesen.«

»Nein, er ist wohl zum ersten Mal dabei.«

»Das sieht man. Anne-Risten ist nicht hier, oder?«

»Nein, das wird nicht passieren«, antwortete Inga und zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

Hanna winkte jemandem und lächelte. Inga nannte ihre Tochter übertrieben einen Sonnenschein. Else-Maj schaute das Mädchen an, und, doch, sie war oft einem Lächeln nahe. Ella war genauso, trotzdem sprach Else-Maj von ihrer Tochter nicht als einem Sonnenschein. So etwas machte man einfach nicht.

Else-Maj hatte Hanna kürzlich einen Kolt genäht. Die Zeit war schon knapp geworden, aber dann kamen sie zu ihr. Alle wussten, dass sie schnell nähen konnte, und im Laufe der Jahre hatte sie viele gerettet, die in Panik feststellten, dass sie etwas Neues für eine Hochzeit, Konfirmation oder den Wintermarkt in Jokkmokk brauchten.

»Hast du inzwischen angefangen zu nähen, Hanna?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, machte ein Getue und setzte dieses Gesicht auf, dem Inga, wie Else-Maj wusste, nicht widerstehen konnte.

»Enná hat versucht, es mir beizubringen, aber ich finde es ziemlich langweilig.«

»Sie ist ein hoffnungsloser Fall«, meinte Inga.

»Wenn alle das Talent zur Schneiderin geerbt hätten, gäbe es viel zu viele Klamotten auf der Welt«, sagte Hanna.

Sie lachten, knufften die Schultern aneinander; es war richtig unangenehm dabeizusitzen, weil es so, ja, fast albern war. Else-Maj hob mit dem Stock den Deckel vom Kaffeekessel, in dem das Wasser sprudelnd kochte, öffnete Áhkkus alten Kaffeebeutel und atmete den Duft von Leder und Kaffee tief ein, hielt einen Moment inne. Áhkku hatte Pfeife geraucht. Auch den Geruch von Pfeifenrauch konnte sie beinahe wahrnehmen. Sie schüttete das Pulver in den Kessel, kannte die Menge genau, brauchte kein Maß, fühlte es in der Hand. Verwendete den Stock, um den Kaffeekessel an einer ebeneren Stelle gerade hinzustellen.

Sie hörte Nils Johan rufen und hielt nach ihm Ausschau. Allerdings brauchte er nicht sie dort draußen im Gehege. Trotzdem reagierte sie immer auf seine Stimme.

Hanna stand auf, sie war bereits hoch aufgeschossen, mindestens einen Kopf größer als Else-Maj, es war aber nicht schwer, größer zu sein als sie; das waren die meisten schon vor oder zumindest in der frühen Jugend. Sie winkte ein paar Mädchen, die auf sie zusteuerten, holte dann eine Plastikbox mit blauem Deckel heraus und hielt sie ihnen hin, als sie wieder am Feuer war. »Wenigstens lebe ich mein Talent als Bäckerin für Zimtschnecken aus. Möchtest du?«

Else-Maj schnappte sich ein perfekt aufgerolltes Stück Hefegebäck mit Hagelzucker. Sie brauchte jetzt etwas Süßes, es war schon spät. Die Sonne würde bald den Horizont streifen, um von neuem aufzusteigen; doch wie gesagt, die Winde schwatzten darüber, dass sich anderes Wetter zusammenbraute.

Die Freundinnen waren bei ihnen angekommen, und am Feuer wurde gekichert. Sie hatten aber Lassos dabei, sie waren nicht ganz unfähig. Sie lernten, genau wie die Jungen. Was sie dann später daraus machten, stand auf einem anderen Blatt.

Else-Maj zog den Kessel beiseite, goss Kaffee in die Kosa, die Gustu geschnitzt hatte. Die hölzerne Tasse war perfekt für sie, hübsch und für eine kleine Hand wie ihre leicht zu halten. Er hatte nicht viele Worte verloren, aber natürlich war ihr die Größe der Kosa aufgefallen, als er sie ihr vor vielen Jahren geschenkt hatte. Als sie damals angefangen hatten, von sich als ein Wir zu sprechen.

Sie goss den Kaffee zurück in den Kessel, doch, er war fertig, hatte die richtige Stärke. Servierte ihn Inga, und sie tranken ihn schweigend. Else-Maj hörte den Mädchen zu und rümpfte verärgert die Nase. »Warum sprecht ihr Schwedisch?«

»Was?« Das kam von Hanna, die von der Mädchengruppe aufsah. »Ich weiß nicht.«

»Du solltest Samisch sprechen. Meine Kinder sprechen nur Samisch.«

Die Mädchen lachten, tuschelten miteinander und verließen im nächsten Moment das Feuer.

»Ich glaube, ein paar von ihnen haben sich in Nils Johan verguckt«, sagte Inga.

»Ach ja?« Else-Maj schaute ihnen nach. Beobachtete, wie sie sich den Rentieren und ihren Söhnen näherten. Machten ein Getue. Das konnte sie von ihrem Platz aus sehen.

»Ja, doch, am Telefon ist er oft Gesprächsthema, habe ich gehört. Nicht dass ich gelauscht hätte. Oder doch, habe ich.«

Inga lächelte, erntete ihrerseits aber kein Lächeln. Sie waren erst zwölf, dreizehn Jahre alt, hatten so was noch nicht im Sinn, oder? Die Jungen hatten doch noch keine Augen für Mädchen, soweit Else-Maj es mitbekommen hatte. Sie waren entweder bei den Rentieren oder spielten Fußball. Die Augenblicke im Haus waren an einer Hand abzuzählen, ihr ganzes Leben spielte sich draußen ab.

»Ich finde es trotzdem merkwürdig, dass sie ihren Kindern erlauben, Schwedisch zu sprechen.« Else-Maj nickte zu den Müttern, die etwas weiter weg standen, hoffte, dass Inga die spitze Bemerkung verstand.

»Ist doch wohl nicht so schlimm.«

»Lernt Hanna, Samisch zu lesen und zu schreiben?«

»Sie hat damit angefangen, dann aber aufgehört. Eigentlich muss das nicht sein, sie spricht doch Samisch. Und wie du ja weißt, sieht es für sie in der Schule schnell düster aus, weil sie Samen sind. Man hat es leichter, wenn man ist wie alle anderen.« Inga zuckte mit den Schultern.

Else-Maj traute ihren Ohren nicht. Düster? Wenn sie nur wüssten, wie übel einem in der Schule mitgespielt werden konnte.

»Ich habe gehört, dass einige gehänselt wurden. Nicht Hanna, aber andere.«

Else-Maj nickte, sah den Jungen nach. Ihr Bauch meldete sich ängstlich. Hatte sie etwas nicht mitgekriegt?

Sie drehte den Kaffeebeutel fest zu. Musste wieder an ihre Áhkku denken. Als sie ihre letzte Zeit im Pflegeheim in Vazáš verbracht hatte, wollte Else-Maj ihr zum Geburtstag eine Karte schicken.

Mit dem Füller in der Hand hatte sie dagesessen und festgestellt, dass sie es nicht hinbekam. Dass sie nicht in der Lage war, in ihrer eigenen Sprache zu schreiben; und selbst wenn sie halbwegs so hätte schreiben können, wie man sprach, konnte ihre Áhkku es noch weniger als sie selbst lesen. Else-Maj hatte nur die schwedische Schriftsprache in den Fingern, und Áhkku beherrschte Samisch nur mündlich. Also wurde nichts aus der Geburtstagskarte.

Seltsamerweise nahm sie es für einen Augenblick als selbstverständlich hin. Damals konnte sie die samischen Artikel im Samefolket kaum lesen und buchstabierte sich wie ein Kleinkind durch die Texte, bis die Wut überhandnahm und sie die Zeitung wegwarf.

Anschließend hatte sie die Kinder streng gedrillt, hatte dafür gesorgt, dass sie ihre Hausaufgaben machten, als sie in die Schule kamen, dass sie sowohl auf Samisch als auch auf Schwedisch lesen und schreiben lernten. Die Jungen waren bockig gewesen, hatten gesagt, es reiche, Schwedisch schreiben zu lernen, doch sie hatte nicht nachgegeben.

Gustu machte sich nicht so viele Gedanken, nicht einmal um sich selbst. Dass er Samisch weder schreiben noch lesen konnte, machte ihm nichts aus. Das meiste in den Zeitungen blieb bei ihm ohnehin ungelesen. Ihm fehlte nichts.

Jon-Ante

1954

Er war stumm. Nicht so geboren. Sondern durch Zwang.

Das war jetzt schon seit ein paar Tagen so. Die Zunge drückte gegen den Gaumen, und die Lippen waren zusammengepresst.

Jon-Ante folgte gehorsam dem Strom der Kinder, wenn sie sich zwischen verschiedenen Räumen und Fluren, zwischen Schule und Internat bewegten. Ohne einen Ton zu sagen. Eigentlich war es kein Wunder und hatte sich von einem Augenblick auf den anderen vollzogen. Als er vor vier Tagen sein Bett im Internat zugewiesen bekam und seine Tasche auf den Boden fallen ließ, wurde er stumm. Er durfte nicht mehr Samisch sprechen, und eine andere Sprache war nicht in seinem Körper.

Seine Enná hatte seine Sachen gepackt, und er traute sich zuerst nicht, die Stofftasche aufzumachen, weil er wusste, dass ihn der Duft von getrocknetem Rentierfleisch vor Heimweh zum Weinen bringen würde. Und weinen durfte man auch nicht.

Am Ende hatte er sie geöffnet, die Augen geschlossen und die Luft angehalten, als er nach dem Schlafanzug und der Zahnbürste wühlte, wie er es bei den anderen Jungen gesehen hatte. Hatte den Reißverschluss wieder zugezogen und die Tasche unters Bett geschoben.

Es war schwer, stumm zu sein, löste manchmal sogar Panik aus, als ob man keine Luft mehr bekäme. Und seine Augen beherrschte er nicht.

Aber bald merkte er, dass die Kinder nachts weinten. Dann durfte er alles rauslassen, was sich im Laufe des Tages angestaut hatte. Wenn das Licht aus war und den Schlafsaal leises Schluchzen erfüllte, konnte man das Gesicht ins Kissen drücken und hoffen, dass die Krämpfe im Hals nicht zu hören waren. Die Nase war voller Rotz. Vielleicht schnarchten deshalb viele. Wenn es ihnen gelang einzuschlafen, dann mit offenem Mund, weil die Nase verstopft war.

Als er an diesem Morgen mit den anderen Kindern in der Diele stand, hatte er geschwollene Augen und hielt den Blick zu Boden gerichtet, vor allem, wenn Hausmutter in der Nähe war. Sie schien ihn mit wachsamen Augen zu verfolgen, aber nicht er wurde abgefangen. Sondern Aslak aus seinem Heimatdorf, der auch gerade aufs Internat gekommen war. Klein und leicht hochzuheben. Sie zischte ihm ins Ohr und packte ihn an den Oberarmen. Schüttelte ihn so heftig, dass es aussah, als würde sein Kopf abfallen. Jon-Antes Beine zitterten, und ihm wurde übel, er wollte die Augen schließen, aber es ging nicht. Aslak versuchte, sich loszuwinden, doch damit brachte er sich nur näher an die Wand, und sie schlug seinen Hinterkopf gegen die Paneele. Alles blieb still stehen, alles verstummte. Noch einmal knallte sie Aslaks Kopf dagegen, und sein Körper schien schlaff zu werden. Jon-Ante wollte schreien, blickte um sich in dem Versuch, bei den großen Jungen Hilfe zu finden. Bei denen, deren Stimmen schon vom Stimmbruch heiser oder die fast so groß wie Hausmutter waren. Nilsa, Aslaks älterer Bruder, war rot im Gesicht. Er ballte die Fäuste, und es fiel ihm schwer, still zu stehen, aber mehr tat weder er noch jemand anders.

Hausmutter atmete mühsam und ließ Aslak los, der mit geschlossenen Augen auf den Boden plumpste. War er tot? Jon-Ante hielt sich am Türrahmen fest, damit er nicht auch zusammenbrach. Er hörte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen, und schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Er durfte nicht weinen, das durfte er nicht.

»Worauf wartet ihr? Der Unterricht fängt an! Geht hier weg!«

Ihre Stimme war rau, sie war außer Atem, griff mit der Hand nach einer dunkelbraunen Haarsträhne, die sich aus dem Knoten im Nacken gelöst hatte. Sie schob das schwarze Brillengestell hoch, das bis auf ihre Nasenspitze gerutscht war, bekam wieder ihren Adlerblick und ballte die Fäuste beim Verlassen der Diele.

Jon-Ante blieb stehen, unfähig, sich zu rühren, und hatte auch nicht verstanden, was sie gesagt hatte. Nilsa fiel neben Aslak auf die Knie. Der schlug die Augen nicht auf. Ein anderer älterer Junge, Johánas, stieß Jon-Ante in den Rücken, stemmte sich gegen ihn.

»Wir müssen los. Du willst doch nicht auch auf dem Boden landen.« Er flüsterte auf Samisch.

Dass er sich das traute!

»Muhto …«, begann Jon-Ante.

Die Stummheit wich seiner eigenen weichen Sprache.

»Sch!« Johánas zog ihn am Arm, und Jon-Ante ließ sich wegführen. Die Treppe hinab, nach draußen in den Herbst, über raschelnde Ahornblätter und in die Schule. Aber im Klassenzimmer angekommen, ging es nicht mehr. Er plärrte wie ein Kleinkind. Der Lehrer am Pult kam aus dem Konzept.

»Wer heult hier rum?«

Der Lehrer kniff die Augen zusammen, und Jon-Ante rutschte vom Stuhl und versteckte sich hinter Anne-Risten, seiner Cousine, die in der Bank neben ihm saß. Er duckte sich und versuchte, seine Tränen hinunterzuschlucken.

»Ist er hingefallen?«

Der Lehrer war aufgestanden und seine Stimme streng. Anne-Risten streckte eine Hand nach hinten aus, packte Jon-Antes Finger und versuchte, ihn hervorzuziehen. Sie, die schon seit einem Jahr auf diese Schule ging und alle Regeln kannte, drehte sich zu ihm um, hielt warnend einen Zeigefinger vor den Mund. Jon-Ante schniefte und versuchte, zu Atem zu kommen.

»Ist das einer von den Kleinen? Setz dich wieder hin, Junge.«

Jon-Ante wischte sich die Tränen mit schweißnasser Hand ab.

»Sag Entschuldigung«, flüsterte Anne-Risten zwischen zugekniffenen Lippen.

»Ándagassii«, murmelte er mit belegter Stimme.

Sie keuchte und bohrte ihre Nägel in seine Handfläche. Er hatte Samisch gesprochen!

»Förlåt«, entschuldigte er sich schnell auf Schwedisch und ließ seine Zunge das R hart rollen. Verbeugte sich auch, zur Sicherheit.

Der Lehrer schlug sich mit dem Lineal leicht in die Hand, und Jon-Ante nahm schnell wieder auf dem Stuhl Platz.

»Na, sieht so aus, als hättest du aufgehört zu weinen. Gut so.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Lehrer die Reihen entlangging, Rücken streifte und die Kinder so dazu brachte, sich aufzurichten. Jon-Ante setzte sich kerzengerade hin, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. Aber der Lehrer kam gar nicht zu seinem Platz, sondern kehrte zur Tafel um, wo er das Lineal ablegte, einen Strich zog und seinen Unterricht fortsetzte.

Jon-Ante konnte es nicht glauben. Er hatte gegen Verbote verstoßen und war ohne Prügel davongekommen. Er drehte sich zu Anne-Risten um, die ihn anlächelte. Ihre zwei Zöpfe ringelten sich auf dem Rücken. Genau wie Ennás Zöpfe, wenn sie sich abends fertig machte, um ins Bett zu gehen. Sein Hals tat wieder beunruhigend weh, und er schluckte, sah die anderen Schüler an und suchte nach etwas Neuem, worüber er nachdenken konnte. Aslak ließ den Kopf so tief hängen, dass er fast die Tischplatte berührte, aber er war am Leben. Nilsa hatte ihn zum Schulgebäude getragen, und Aslak war auf seinen Platz gewankt.

Ein Junge, der aus Láttevárri kam, drehte sich zu Jon-Ante um, legte die Fingerknöchel in die Augen und rieb sie, wobei er lautlos sein Weinen nachäffte. Der Freund neben ihm lachte.

Der Lehrer hob nur warnend eine Hand und schnalzte mit der Zunge.

Jon-Ante starrte auf seine Hände auf dem Schoß. Seine Ohren brannten. Er durfte nie wieder weinen, beim nächsten Mal würde er nicht so viel Glück haben.

Anne-Risten kratzte sich am Unterarm. Als sie merkte, dass er sie beobachtete, hörte sie auf, doch kurz darauf zerkratzten ihre Nägel wieder die Haut. Sie biss sich auf die Oberlippe, die genauso rot war.

Der Lehrer drehte sich um, zeigte auf die Tafel und forderte sie auf, ihm die Worte nachzusprechen. Jon-Ante hörte angestrengt zu, doch sein Mund wollte sich nicht so formen. Anne-Risten kaute bloß auf ihrer Lippe.

Er legte den Kopf an die Rückenlehne und betrachtete die Schaubilder an den Wänden, gezeichnete Blumen und Bäume, die er noch nie im Leben gesehen hatte. Im hinteren Teil des Klassenzimmers standen Reihen von Regalen mit Glastüren, hinter denen viele Bücher standen. Das Klassenzimmer war frisch geschrubbt, und der Chlorgeruch stach in seine Nase. Er kannte ihn schon von den Toiletten im Internat. Hier roch alles anders, sogar seine Kleidung roch nicht mehr nach seinem Zuhause. Er hatte einen neuen Geruch, der nicht seiner war.

Der Junge aus Láttevárri wurde zum Lehrerpult gerufen und sollte das Datum, den Wochentag, den Monat und das Jahr sagen. Er zeigte auf Wörter und Zahlen im Kalender, der neben der Tafel hing, und war selbstsicher, war bereits gedrillt worden, sich im Dickicht der schwedischen Sprache zurechtzufinden.

»Neunzehnhundertvierundfünfzig«, sagte er.

Jon-Ante wusste nicht, wie er es jemals schaffen konnte, vor versammelter Klasse zu stehen und das Gleiche zu tun. Dass Gaskavahkku von nun an Mittwoch heißen sollte. Borgemánnu August war. Und diese lange Jahreszahl, nein, die war unmöglich auszusprechen.

Draußen schwangen die Birken ihre Zweige im Wind, wie Arme mit Krallen peitschten sie. Der Regen war nicht weit. Er dachte, dass seine Enná jetzt wahrscheinlich mit Kopfschmerzen im Bett lag. Sie erspürte den Regen und vor allem den Donner, lange vor allen anderen.

Oskar, seinem besten Freund, ging es genauso. Mitten im Spielen hielt er manchmal inne, bekam blasse Wangen und sagte, er müsse nach Hause. Und dann schlich er mit hängendem Kopf über die Wiese am Fluss.

Oskar ging jetzt auf die Schule zu Hause im Dorf, in Badje Sohppar. Er durfte nach der Schule nach Hause gehen. Er würde nie in einen Bus steigen müssen, um nach Láttevárri zu fahren und in einem Internat zu leben.

»Warum?« Jon-Ante hatte ein paar Tage vor seiner Abfahrt am Küchentisch genörgelt. »Ich will auch hier in die Schule! Warum darf er und ich nicht?«

Seine Enná hatte den Ofen mit Holzscheiten gefüllt, sich taub gestellt, und als er lauter den Mund aufgerissen hatte, war sein Isá hereingekommen. Hatte ihn angestarrt.

»Was brüllst du hier rum? Du gehst auf die gleiche Schule wie deine Cousins und Cousinen.«

Aber die Kinder von Isás Bruder waren nicht mehr in der Nomadenschule, sie waren erwachsen, wieder zu Hause und durften draußen bei den Rentieren sein. Und er wusste, dass der Bus das Dorf am Montagmorgen verlassen und dann bis Weihnachten nicht zurückfahren würde. Er hatte seine Cousins und Cousinen im Laufe der Jahre verschwinden sehen. Er, der nie ohne seine jüngeren Brüder dicht neben sich geschlafen hatte, wurde nun gezwungen, allein zu schlafen. Und die Cousins und Cousinen hatten ihm Angst gemacht und blaue Flecken gezeigt.

»Warum kann ich nicht zu Hause schlafen?«

Sie hatten endlich ein Zuhause, hatten das Haus kaufen dürfen. Jemand war auf die Idee gekommen, ihren Teil der Dorfstraße die Samen-Schleife zu nennen. Den Samen war es vorher nicht erlaubt worden, Häuser zu besitzen; aber jetzt standen die Häuser in einer Reihe. Alles war wie aus einem Guss, zwei Zimmer, eine großzügige Küche und ein Badezimmer mit tiefer Badewanne und einem Fenster, durch das die Herbstsonne schien. Das Zuhause war sein sicherer Ort, dort sollte er sein.

»Warum?«, fragte er noch einmal.

»Sie haben das einfach entschieden, und dann ist das eben so. Du musst nach Láttevárri«, antwortete seine Enná, ohne sich umzudrehen.

Dass »die« entschieden, hatte er schon oft gehört, aber wer »die« waren, das sagte seine Enná nie. Auch nicht, wenn er danach fragte.

»Wird schon gut gehen«, sagte sie und sah ihn endlich an. Und er wollte sich in ihren Armen verkriechen.

»Deine Cousins und Cousinen waren kaum wiederzuerkennen, als sie nach dem ersten Schulhalbjahr nach Hause kamen«, sagte sein Isá lachend.

Sein Lachen war freudlos. Obwohl Jon-Ante erst sieben Jahre alt war, ließ er sich nicht so leicht täuschen.

»Was ist, wenn ihr mich später auch nicht wiedererkennt?«

Seine Enná stimmte in das Krähenlachen ein. »Du bleibst immer mein großer Reaŋga. Dich erkenne ich überall wieder.«

 

Oskar kräuselte die Lippen, als Jon-Ante ihm sagte, er müsse nach Láttevárri. War beleidigt gewesen, war wütend auf ihn geworden. Als ob er etwas dafür konnte. Und dann hatte er etwas Hässliches auf Schwedisch gesagt. Oskar konnte drei Sprachen sprechen, am liebsten mochte er Finnisch, aber wenn er mit Jon-Ante zusammen war, wechselte er zu Samisch, das er von seiner Mutter gelernt hatte. Er war auch ziemlich gut in Schwedisch, sprach es am seltensten, fluchte jedoch gerne in dieser Sprache.

Wenigstens hatten sie herausgefunden, dass die Kinder der Rentierzüchterfamilien am Montag den Bus nehmen mussten. Die anderen durften bleiben. Neben ihren Geschwistern schlafen. Den Duft ihrer Ennás riechen.

Und trotzdem war Oskar wütend auf ihn. Das war ungerecht.

Jon-Ante räusperte sich auf seinem Platz in der Schulbank, flüsterte leise »Oskar« vor sich hin, um zu sehen, ob seine Stimme jetzt wirklich da war. Der Lehrer hatte die Stummheit verjagt. Aber was nützte das? Trotzdem kam die falsche Sprache aus Jon-Ante.

Jon-Ante

1985

Er stand neben dem Auto, das er auf dem Hof geparkt hatte, beschattete seine Augen mit der Hand und blinzelte in die Sonne, die die Berggipfel am Horizont leckte. Bei der Bevölkerung von Kiruna konnte sich leicht eine Blindheit für ihre Heimat einschleichen, sodass sie den Ausblick auf die Bergwelt nicht richtig genossen; doch Jon-Ante war nicht wie sie. So oft wie möglich richtete er den Blick dorthin und hatte sich aus dem Grund nicht rein zufällig ein Haus am Stadtrand gesucht, das an der umgangssprachlich als Norwegenstraße bekannten Autobahn lag. Im vergangenen Herbst hatten der norwegische und der schwedische König die Trasse eingeweiht, und Jon-Ante war als einer der Ersten von Kiruna nach Narvik gefahren. Die Strecke war ausgesprochen schön, doch für die Campingplätze, Geschäfte und Tankstellen in den östlichen Gemeinden, für seine Heimatgegenden, war sie ein harter Schlag, weil die Touristen jetzt die neue Route nahmen, anstatt über Karesuando nach Norwegen zu fahren. Oskar fluchte, sobald die Rede davon war. Sein Vater hatte erst vor wenigen Jahren viel Geld in den Ausbau des Campingplatzes investiert, und nun sah es finster aus.

Jon-Ante schloss kurz die Augen. Er mochte die Stille in der Nacht, besonders wenn die Sonne nicht unterging. Als würde ihm für einen Moment die ganze Welt gehören. Das Gefühl kannte er seit seiner Kindheit. Als die Zeit keine Rolle spielte und er neben seinem Isá zwischen den Rentieren stand. Im Sommerlicht war die Zeit endlos, und sein Körper kannte keine Müdigkeit.

Diese Wachheit fühlte er jetzt, als er mit der Hand behutsam an den Konturen des schwarzen Autos entlangglitt. Die Sonnenstrahlen auf dem Chrom blendeten, und er senkte leicht den Blick. Seit fast zwei Jahren stand sein Lincoln Premiere von 1956 in der Garage. Er hatte sich Zeit gelassen und erkannt, dass in jedem Detail der Bauweise etwas von größter Bedeutung ablief, die das Auto der Perfektion näherbrachte. Es hatte seinen Sinn, sich nicht abzuhetzen. Wenn das Auto fertig war, wäre er sonst vielleicht enttäuscht, traurig, dass es zu Ende war.

Alle Teile, die er ausgetauscht hatte, waren ein gründliches Nachdenken wert gewesen. Wie die Lackierung, die er vor Ort überwacht hatte, die eigens bestellten Reifen und die originalgetreue Innenausstattung. Es hatte einige Zeit gedauert, die Teile aufzutreiben; er hatte alle Autozeitschriften genau durchgelesen und sogar eigene Anzeigen geschaltet.

Doch jetzt war der Wagen bereit für eine Vorführung; er wollte im Juli zum Drag-Racing in Pite fahren. Letztes Jahr waren sie in einer langen Kolonne in Kiruna gestartet, und er hatte mit Classe in dessen heidegrünem Cadillac Fleetwood von 1967 gesessen. In Pite hatten sie eine Gruppe Värmländer kennengelernt, die in einem ziemlich klapprigen Partywagen, der seinen Namen zu Recht trug, hochgekommen waren, denn sie feierten rund um die Uhr darin. Sie sprachen einen breiten Dialekt, hörten sich ein bisschen komisch an, fand Jon-Ante. Andererseits war auch sein Erbe durchgeklungen, und sie kamen ziemlich schnell zu dem Schluss, dass er »der Lappe« genannt werden sollte. Sie gaben Bier aus, und das Gesagte war nicht böse gemeint, schmerzte aber natürlich trotzdem.

Die Värmländer hatten versprochen, diesen Sommer wiederzukommen, und er wusste, dass sie darauf warteten, dass er in etwas wirklich Ausgefallenem aufkreuzte. Nach ein paar Bieren hatte er seine Zunge nicht mehr im Zaum halten können und angefangen, über seinen Lincoln zu sprechen. Über die Linien, den Sound und die Leistung des Motors, die Auspuffrohre und alle Originalteile. Sie hörten aufmerksam zu und stellten Fragen zu Details. Er wusste auf alles eine Antwort.

Bevor sie nach Pite aufgebrochen waren, hatte sich Jon-Ante das dunkle Haar zu einer Frisur mit besonders großer Tolle gekämmt, die mit Pomade in Form blieb. Seine Stirn wölbte sich hoch über den schwarzen markanten Augenbrauen. In Kiruna ließ er sich an Wochentagen meistens mit langen Haaren blicken; aber wenn Drag-Racing, Mittsommer auf der Insel Tärendöholmen oder Kindertag in der Stadt war, dann nahm er sich besonders viel Zeit, um die richtige Frisur zu stylen.

Außer Classe hatte noch keiner seinen Wagen zu sehen gekriegt. Classe und einige der Jungs hatten zum Schrauben eine Garage angemietet und Jon-Ante dort einen Platz angeboten; er hatte aber abgelehnt. Er fühlte sich in seiner Garage im Stadtteil Lokstallarna an der Norwegenstraße wohl. Das Haus hatte er seit mehreren Jahren gemietet und rechnete damit, es den Eigentümern abkaufen zu können. Das hätte schon längst erledigt sein sollen; aber er wusste, dass Betty und Evert Bedenken bekommen hatten, als er seinen Lincoln in die Garage gerollt hatte, und seitdem den Verkauf hinauszögerten.

Er würde sich nie als Cruiser bezeichnen, so nannten die Leute in der Stadt Männer wie ihn. In der allgemeinen Wahrnehmung randalierten und soffen Cruiser; und Betty hatte gesehen, dass er oft spätnachts von Classes röhrendem Auto abgesetzt wurde. Aber erst, als er mit seinem eigenen Auto vorfuhr, bekamen die Vermieter richtig kalte Füße. Jon-Ante hatte einen wirklich schönen amerikanischen Straßenkreuzer besessen, den er verkauft hatte, bevor er in Lokstallarna einzog, einen knallroten Buick Electra Cabriolet von 1970. Nicht wie sein erstes, ziemlich heruntergekommenes Auto, ein Chevrolet Impala Sportcoupé von 1959; doch damals war er noch um einiges jünger gewesen und hatte reichlich gefeiert und das Auto ein bisschen darunter leiden lassen. Mit der Zeit fühlte er sich zu alt für Partys, aber den Traum, ein wirklich schönes Auto zu restaurieren, gab er nicht auf, und an dem Punkt war er nun.

Betty war aus ihrem neuen Haus auf der anderen Seite der Norwegenstraße nach draußen gekommen.

»Trinkst du?«

»Nein.«

Einem erwachsenen Mann diese Frage zu stellen war merkwürdig, eine eindeutige Verletzung seiner Privatsphäre, aber er gab bescheiden klein bei, um sein Zuhause nicht aufs Spiel zu setzen.

Jon-Ante war Anfang Mai achtunddreißig geworden. Er hatte zwar keine große Party veranstaltet, trotzdem kamen alle, wie immer, wenn jemand in der Verwandtschaft Geburtstag hatte, egal, ob es ein runder war oder nicht. Ununterbrochen trafen Autos ein, die auf dem Hof und an den Grabenrändern parkten; die Familie war groß. Sie hatten Geschenke mitgebracht, und in der Küche hatte seine Enná Smörgåstorten aufgetischt. Sie hatte ihren Kolt an, aber nicht damit gerechnet, dass er seinen auch trug. Die Brüder sahen in ihren Flanellhemden und Arbeitshosen aus, als kämen sie gerade aus dem Wald. Schlecht gelaunt, weil sie in die Stadt fahren mussten, behaupteten sie, dass sie viel zu tun hätten. Aber alle wussten, dass sie in einer Stunde mehr als hundertfünfundzwanzig Kilometer abrissen, also gab es nicht viel Grund zu meckern. Die Nichten und Neffen kamen angerannt und hatten mit großen Augen gefragt, was da für ein Auto in der Garage stand. Sie hatten durch das Fenster hineingelinst, an dem er vergessen hatte, den gelb geblümten Vorhang zuzuziehen, den Betty aufgesteckt und er hängen lassen hatte.

»Bist du ein Cruiser?«, prustete der Jüngste aufgeregt. Er hatte seinen Onkel, seinen Eahki, noch nie so wahrgenommen. Jedenfalls nicht auf diese Art.

Da hatte sogar seine Enná hochgeguckt und aufgehört, die Torte aufzuschneiden, und wie Betty geklungen.

»Trinkst du, Jon-Ante?«

In ihrer Stimme lag ein Hauch von Enttäuschung. Sie hatte mitbekommen, dass er ein neues Auto gekauft hatte. Er ging nicht davon aus, dass sie etwas gegen das Auto an sich hatte, sondern viel mehr dagegen, welch schlechten Ruf so ein Auto mit sich brachte. Und ihn damit ein Stück von ihr entfernte. Sie verschloss sich, wie vorher schon so oft, und er ärgerte sich über ihre Frage. Sie wusste sehr genau, dass er kaum trank.

Am Wochenende danach hatte er trotzdem getrunken. Classe hatte nicht lockergelassen und ihn zu einer spontanen Garagenparty mitgeschleppt. Die Jungs sangen »Happy Birthday«, als sie mitbekamen, dass er Geburtstag gehabt hatte, und brüllten ein vierfaches Hurra. Und Classe nannte ihn zufällig »den Lappen«.

Da war er abgehauen, hatte beschlossen, die ganze Strecke nach Hause zu latschen, obwohl es höllisch windig war. Das machte ihm nichts aus. Für ihn war die Feier gelaufen. Classe hatte ihm noch etwas hinterhergerufen.

»Jonne! Wir wollen doch noch weiter raus! Na los, wir fahren dich.«

Am nächsten Tag war es vergessen. Classe entschuldigte sich nicht, Gott sei Dank. Jon-Ante wollte sich nicht rechtfertigen, wollte nicht darüber reden, was bei der Arbeit abgehen konnte. Einige von den Jungs malochten auch im Bergwerk, und er hatte sie oft genug gehört, um zu wissen, was sie von Leuten wie ihm hielten.

 

Er setzte sich ans Steuer und schloss sanft die Tür. Eine Mücke sirrte an seinem Ohr; die Biester waren aggressiv, wie vor einem Regenschauer, waren schon vor Mittsommer aufgetaucht. Im Birkenwald war es manchmal nicht auszuhalten. Er zerklatschte die Mücke zwischen beiden Händen. Wie konnte er jemanden ins Auto lassen, der nicht kapierte, dass man Mücken nicht auf der Fahrzeugeinrichtung totschlagen durfte? Die Frage war, ob er es überhaupt aushalten würde, dass noch jemand im Auto war. Sein Wagen sollte nicht so aussehen wie der Ami-Hobel, der rostige Ford, den Classe mit ein paar anderen besaß. Der Partywagen war immer brechend voll, auf der Rückbank saßen die Leute mit halbem Hintern auf der Heckklappe. Grölend und besoffen. Im Teppichboden festgetrampelter Snus, Fingerabdrücke auf dem Lack und verschüttetes Bier. Classe hatte zwei Autos, und den Ami-Hobel hatten sie einem Betrunkenen in Gällivare abgekauft, der ihn viel zu billig vertickt hatte. Als der Typ am nächsten Tag wieder nüchtern war, hatte er es bereut und Classe angerufen und gebettelt, den Kauf rückgängig zu machen, aber vergebens.

Jon-Ante drehte den Schlüssel um, und das Geräusch des Motors streichelte seinen Nacken, bis die Härchen sich aufstellten. Seine Hände ruhten auf dem Steuer, aber der rechte kleine Finger bog sich nach außen, weg. Er legte die Hand aufs Knie und versuchte, wie schon tausendmal vorher, den Finger gefügig und gerade zu kriegen, ohne Erfolg.

Ja, er hatte einen krummen kleinen Finger, den er nur ungern ansah oder andere sehen ließ, aber Finger neigten nun einmal dazu, sichtbar zu sein. Als Kind hatte er gedacht, er könnte ihn genauso gut abhacken. Aber die Leute hatten die Angewohnheit, auch fehlende Finger zu bemerken. Damals war die Angst aufgekommen, dass er das Lasso nicht mehr würde halten können. Er musste Monate auf die Gelegenheit warten, bis er es versuchen konnte, und hatte sich fast selbst schon davon überzeugt, dass er genauso gut die Hoffnung aufgeben konnte, bei den Rentieren sein zu dürfen.

Als er nach dem ersten Schulhalbjahr nach Hause kam, hatte er das Lasso mit hinters Haus genommen, um es an einem Rentiergeweih auszuprobieren, das er im Schnee aufgestellt hatte, und er traf es problemlos. Rentiere blieben aber in Wirklichkeit nicht still stehen, sie zogen, senkten den Kopf und warfen sich hin und her. Dann durfte kein Finger fehlen.

Im Winter, versteckt in einem Handschuh, würde der Finger nicht auffallen; aber ihm war klar, dass es im Sommer schwieriger werden würde. Der Finger, der nicht nur krumm, sondern auch abgespreizt war, sah nicht normal aus. Zwar hatten die wenigsten die Zeit, nach einem kleinen Finger zu suchen, der zu den Sternen zeigte, wenn sie bei den Rentieren waren, aber er wollte nicht aussehen wie eine eingebildete Dame, die gerade eine hauchdünne Kaffeetasse anhob. Jon-Ante wollte aussehen wie sein Isá, stark, der mit all seinen Fingern das Lasso fest umschloss, mit dem er das Kalb einfing. Ganz so kam es nicht.

»Zum Glück ist es nicht der Daumen«, hatte seine Enná gesagt, als er in dem Jahr zu Weihnachten nach Hause kam und sie sich seit Monaten nicht mehr gesehen hatten. Die Tränen, die sie wegzublinzeln versuchte, waren ihm nicht entgangen.

Niemand hatte den Finger untersucht, und obwohl er gerade einmal sieben Jahre alt war, wusste er, dass es zu spät war, ihn zu schienen und die Krümmung zu begradigen. Er hatte beinahe gespürt, wie neuer Knorpel anfing, das zu flicken, worum sich kein Arzt gekümmert hatte.

Natürlich hatte seine Enná recht, denn wenn es sein Daumen gewesen wäre, hätte er das Auto, in dem er jetzt saß, niemals zusammenschrauben können, und er hätte nicht als Mechaniker im Bergwerk arbeiten können. Wäre es der Daumen gewesen, hätte er viel verpasst. Aber was wäre, wenn damals gar kein Finger zu Schaden gekommen wäre?

Er schlug sich in den Nacken und hatte in der flachen Hand Mückenmatsch und verschmiertes Blut. Er holte ein Feuchttuch aus dem Handschuhfach.

Nicht nur das Lasso hatte ihm Sorgen gemacht. Ihm war auch klar, dass aus ihm nie ein Handballer werden konnte. Mit dem Knacks im kleinen Finger kam die Erkenntnis. Na ja, der Traum wäre sowieso nicht in Erfüllung gegangen, wenn man bedachte, wer er war und wo er lebte. Die meisten Jungs im Dorf wollten Fußballer werden, aber seine Beinarbeit war nicht die beste, und er schaute lieber zu. Das machte er immer noch, fuhr nach Hause und stand in Vuolle Sohppar mit dem Rücken ans Clubhaus gelehnt da und guckte zu, wie die Mannschaften von Hakkas, Leipojärvi und Skaulo ins Dorf kamen. Die Soppero-Jungs, sowohl aus Vuolle als auch aus Badje, waren wirklich gut, oft zwar kleiner als ihre Gegner, grätschten aber kompromisslos und konterten blitzschnell. Hatten im Wald bei den Rentieren eine beneidenswerte Kondition aufgebaut. Nicht zuletzt sein Bruder Mikkel, er war ein echtes Talent.

Jon-Ante stellte den Motor ab. Er freute sich darauf, mit dem Auto ins Dorf zu fahren, langsam an den Häusern vorbeizugleiten, am Laden anzuhalten und weiter nach Hause zu fahren. Goahtu.

In der Stadt gab es seine Plätze nicht. Nicht die Fußabdrücke derer, die vorausgegangen waren. Im Dorf gab es alles. Und trotzdem war er abgehauen.

Marge

1954

»Wer war das?«

Speicheltröpfchen sprühten Hausmutter aus dem Mund. Sie starrte die Schar Kinder an, die sich im Gemeinschaftsraum an die Wand drückten.

»Ich habe jemanden joiken hören.« Sie drohte mit dem Zeigefinger. »Nur sündige Menschen joiken. Ihr führt euch auf wie Trunkenbolde. Pfui.«

Marge konnte sich kaum auf den Beinen halten und suchte mit verschwitzten Handflächen an der kühlen Wand nach Halt. Die Brille war ihr in Richtung Nasenspitze gerutscht, und der Pony stieß an ihre Wimpern.

Enná hatte ihr die langen hellbraunen Haare, erst wenige Tage bevor sie nach den Sommerferien in die Nomadenschule zurückfuhr, geschnitten und gesagt, dass eine kurze Frisur einfacher für sie zu pflegen sei. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass ihr Pony so schnell nachwachsen würde, immerhin hatte Enná ihn ziemlich weit oben auf der Stirn gekappt. Als sie mit der Schere kam, war Marge zuerst traurig gewesen, weil sie so stolz war auf ihre langen Haare, die ihr bis zur Taille reichten, doch als sie dann vor dem Spiegel stand und sah, dass ihr das Haar genau bis auf die Schultern fiel, hatte sie gestaunt. Sie sah aus wie eins von den großen Mädchen, obwohl sie erst acht war. Bloß das mit der Brille gefiel ihr gar nicht, und darum ließ sie den Kopf hängen. Keiner der anderen Schüler trug eine Brille. Sie auch noch nicht, als sie vor etwas mehr als einem Jahr in der Nomadenschule anfing. Nein, mit schönen langen Haaren war sie zur Schule abgefahren, und Enná hatte das rote Mal auf ihrer Wange geküsst, das sie schon seit ihrer Geburt hatte, und geflüstert, es sehe aus wie ein Herz, und das habe etwas zu bedeuten. Magister Bertil war es dann, der erkannte, dass Marge nicht richtig sehen konnte. Ihm fiel auf, dass sie die Augen zusammenkniff, und er setzte sie ganz nach vorn, aber das nützte wenig, wenn er an der Tafel nicht groß genug schrieb. Also bekam Marge eine Brille, und sie staunte darüber, wie scharf die Welt auf einmal wurde. Das war nur schwer zu ertragen. Alles kam ihr irgendwie zu nah, sodass sie am liebsten zurückgewichen wäre. Und die Jungen waren gemein und nannten sie Blindfisch. Čalmmehis čalbmi. Das konnte sie ja überhören, aber wenn die Jungen Hausmutter ebenfalls Blindfisch nannten, machte das Marge traurig, und sie nahm verstohlen die Brille ab. Außer ihr waren nur Hausmutter und der Lehrer Brillenträger, und sie wollte auf keinen Fall so aussehen wie sie.

Hausmutter stampfte wütend auf, und Marge zuckte zusammen.

»Wird’s bald! Wer war das? Wenn sich keiner meldet, werdet ihr alle bestraft. Alle! Hört ihr? Willst du, dass deine Schulkameraden deinetwegen bestraft werden?«

Keiner rührte sich, sie wagten kaum zu atmen. Marge wusste, wer es gewesen war. Alle wussten es. Wie üblich hatte Nilsa den Clown gespielt und zum Spaß gejoikt. Aber es wäre lebensgefährlich, ihn zu verraten. Und ihn nicht zu verraten, war genauso lebensgefährlich. Marge wünschte sich, irgendjemand brächte den Mut auf, den sie nicht hatte.

Hausmutter marschierte durch den Raum und riss die Rute vom Haken neben der Tür. Solche Ruten hingen auf jedem Stockwerk, und Marge hatte gehört, dass einige der Jungen zu Beginn des Schuljahres losgeschickt worden waren, um selbst die Reiser zu suchen, mit denen sie dann gezüchtigt werden sollten. Sie war jetzt den Tränen nahe und sah verstohlen zu Nilsa hinüber, der breitbeinig und mit trotzigem Gesicht dastand.

Warum hatte sie den Kopf bewegt? Hausmutter nahm auch die kleinste Bewegung wahr, und jetzt kam sie mit der Rute in der Hand auf sie zu.

»Margit! Wer war das?«

Sie wagte nicht, den Blick zu heben, sondern starrte auf Hausmutters schwarzen Rock und ihre ausgetretenen schwarzen Schuhe mit flachen Absätzen. Auf ihren nackten Beinen ringelten sich dünne blaue Schlangen.

»Antworte!«

Beim Klang der lauten Stimme schnappte sie nach Luft.

»Ich weiß es nicht.«

»Natürlich weißt du es. Sieh mich an!«

Marge blinzelte ein paarmal. Rasch schob sie den Zeigefinger unter die Brille und wischte sich eine Träne ab.

Die Ohrfeige schleuderte ihren Kopf zur Seite, und ihre Brille geriet ins Rutschen, ohne jedoch herunterzufallen. Jemand wimmerte. War sie das? Oder Anne-Risten, die neben ihr stand?

»Hör auf zu heulen.«

Hausmutter wandte sich ab, und ihre Absätze klackerten über den Boden, dann fuhr sie herum.

»Die Mädchen ab in die Schlafsäle und ins Bett. Die Jungen bleiben hier.«

Man hätte denken können, dass sie gerannt wären, aber sie schlichen mit gesenkten Köpfen an den Wänden entlang und auf leisen Sohlen die Treppen hinauf. Marge war übel, und in ihrem Ohr war ein Pfeifen. Hausmutters große Hand hatte sie gleichzeitig an der Wange und am Ohr getroffen. Sie nahm die Brille ab, alles verschwamm und bekam weiche Konturen, und das war beruhigend.

Im Schlafsaal zogen sie sich rasch aus, flüsterten sich zu, dass sie nicht einmal die Zähne geputzt hätten, legten sich aber trotzdem in ihre Betten. Sie schliefen jeweils zu sechst in einem Schlafsaal, und so still wie jetzt war es vor dem Einschlafen noch nie gewesen. Marge lag in ihrem Bett und starrte an die Decke. Von unten ertönte ein gellender Schrei. Sie hielt sich die Ohren zu, drehte sich auf die Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Du böse Hexe, dachte sie, du böse alte Hexe!

»Tut es weh?«, erkundigte sich Anne-Risten flüsternd aus dem Nachbarbett.

»Ja, da ist so ein Pfeifen in meinem Ohr.« Marge wölbte die Hand über ihr linkes Ohr, aber es half nicht.

»Du hättest sagen sollen, dass es Nilsa war.« Anne-Risten schwieg einen Moment. »Mir tun auch die Ohren weh. Sie hat so laut gebrüllt. Glaubst du, dass das gefährlich ist? Kann man taub werden, wenn einem jemand ins Ohr schreit?«

Von der Treppe kam das Geräusch der Absätze. Jemand machte »schschscht«.