Die Zeitung - Michael Fleischhacker - E-Book

Die Zeitung E-Book

Michael Fleischhacker

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Beschreibung

Das Gerücht, dass Die Zeitung gestorben sei, hält sich hartnäckig. "The Economist" veröffentlichte die Todesnachricht bereits am 24. August 2006: "Who killed the Newspaper?" fragte das renommierteste Nachrichtenmagazin der Welt auf der Titelseite. Eine Finanz- und Wirtschaftskrise später lebt sie immer noch. Aber es sind Untote, die den Markt bevölkern. Die großen Flaggschiffe der Gutenberg-Welt machen schon lange keine Gewinne mehr. Entweder verzehren sie das Vermögen ihrer Eigentümer-Stiftungen, oder sie werden zum Spielzeug russischer Oligarchen. Das Ende der Gutenberg-Galaxis ist unabwendbar, auch wenn sich die Zeitungsverleger noch mit Mark Twains berühmtem Diktum trösten, wonach die Nachrichten von seinem Tod stark übertrieben seien. Tageszeitungen verfügen über kein valides Geschäftsmodell mehr. Und sie werden keines finden, so lange ihre Eigentümer den absurden Versuch unternehmen, im Netz so weiterzumachen, wie sie es auf Papier gelernt haben. Das Prinzip Zeitung kann nur weiterleben, wenn die Medienunternehmer aufhören, sich an die gedruckte Tageszeitung zu klammern. Ihr Versuch, sie nach den Regeln des skalenorientierten Industriekapitalismus am Leben zu erhalten, wird ihren Tod nur beschleunigen. Nach der Zeitung ist vor der Zeitung. Die Rede von der "Gutenberg-Parenthese" macht das deutlich. Was jetzt kommt, war schon da, bevor der Siegeszug des gedruckten Wortes begann: Das vielstimmige Gespräch von Menschen, die Interessantes zu erzählen haben, auf dem digitalen Marktplatz.

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Michael Fleischhacker · Die Zeitung · Ein Nachruf

Michael Fleischhacker

Die Zeitung.

Ein Nachruf

Inhalt

ZUM LETZTEN GELEIT

Marshall McLuhan und die FolgenAm Ende der Gutenberg-GalaxisSchmerzhafte ErkenntnisseKein Trost nirgends – das Riepl’sche GesetzTodesursachenDas Ende der „vierten Gewalt“?Was meinen wir, wenn wir „Öffentlichkeit“ sagen?„Fünfte Gewalt“?

ERINNERUNGEN AN DIE ZUKUNFT

Eine deutsche AngelegenheitDie VorläuferAuf dem Weg zur ProduktreifeDie GründungsurkundeAsymmetrische EntwicklungenGemeinsamkeitenFrühe Impulse aus EnglandDie Pressefreiheit wird exportiert: AmerikaZeitungen im Kampf um die Unabhängigkeit„Bürgerliche Öffentlichkeit“Von 1780 bis heute – die Neue Zürcher ZeitungDie Revolution und ihre KinderNapoleon als VorbildDurch den VormärzEin Kind der 1848er-Revolution – Die PresseDer Beginn des „Goldenen Zeitalters“BeschleunigungsprozesseMedienmogulnKonzentrationsprozesseDer „Herr über Presse und Film“Globale ExpansionenDie große Zäsur und die „Stunde null“„Umerziehung“ und „vierte Gewalt“

DAS EWIGE LEBEN

#Tag2020Das kleine Ich im geistigen ZusammenhangDie Theorie von der Gutenberg-ParentheseDie alte Idee der „Restauration“Wir sprechen schreibend und wir schreiben sprechendDer Blick nach vorne ist ein Blick zurückJournalismus ist Im-Gespräch-Sein

Anmerkungen und Quellen

Marshall McLuhan (1911-1980), der Pionier der Medientheorie, beschrieb in den frühen 60er Jahren die „Gutenberg-Galaxis“ und ihr Ende. Die intellektuellen Spuren, die er hinterlassen hat, reichen bis in die unmittelbare Gegenwart.

ZUM LETZTEN GELEIT

In meinem Besitz befindet sich das Faksimile eines Einblattdruckes aus dem Jahr 1502. Es wurde vom Deutschen Museum für Buch und Schrift 1920 in einer Auflage von 300 Exemplaren veröffentlicht. Meines trägt die Nummer 65. Ich habe es in einem Wiener Antiquariat gefunden, ohne es gesucht zu haben. Wie in jeder guten Buchhandlung auch, funktioniert das nach dem analogen Amazon-System: „Warten Sie, ich habe da noch etwas, das Sie interessieren könnte“, sagen die algorithmisch naturbegabten Buchhändler und Antiquare. In das Antiquariat allerdings hatte mich das digitale Amazon-Prinzip gebracht: Auf der Suche nach ein paar älteren Büchern über Zeitungsgeschichte hatte ich auf amazon.de erfahren, dass in dem besagten Antiquariat gut erhaltene Exemplare zu kriegen seien. Warum sollte ich es von Wien nach Deutschland und dann zurück nach Wien transportieren lassen?

Bei der Abholung der bestellten Bücher also bot mir der Antiquar auch den erwähnten Faksimile-Druck an. Natürlich habe ich ihn gekauft: Es handelt sich um jenes im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek befindliche Blatt, auf dem vor einem halben Jahrtausend das Wort „zeytung“ erstmals in gedruckter Form zu lesen war. „Newe zeytung von orient und auff gange“ heißt es in einer Zwischenüberschrift auf der zweiten Seite. Ich bin also ziemlich authentisch darüber informiert, dass die Insel Lesbos, die 1462 durch Sultan Muhammed II. in türkischen Besitz gekommen, 1500 teilweise rückerobert, im Jahr darauf aber erneut an die Türken gegangen war, nun, gegen Ende 1501, von Venezianern und Franzosen wiedererobert worden ist. Ich bewahre es auf wie andere vielleicht die Taschenuhr ihres Urgroßvaters. Für mich ist es eine Art Selbstvergewisserungsübung in einer über die Jahre gewachsenen Überzeugung: Dass die Zukunft, die gerade in der Gegenwart Gestalt annimmt und zu deren Mitgestaltung es für uns keine Alternative gibt, sehr viel mit Herkunft zu tun hat.

„Newe zeytung von orient und auff gange.“ Auf dem Einblattdruck aus dem Jahr 1502 findet sich, in einer Zwischenüberschrift auf der Rückseite, zum ersten Mal das Wort „zeytung“ in gedruckter Form.

Wir alle sitzen, ob beruflich, politisch oder familiär, auf den Schultern anderer. Ob wir ihnen zur Last werden oder sie aus unserer exponierteren Position mit Informationen versorgen können; ob wir die nächsten nach uns noch tragen können oder nicht; ob diese Herkunft ein reiches Erbe oder eine schwere Hypothek ist – zwei Dinge sind gewiss: Erstens, dass wir uns in irgendeiner Weise zu dieser Herkunft verhalten müssen; zweitens, dass wir selbst dann, wenn wir es mit vermeintlich oder tatsächlich disruptiven Veränderungen zu tun haben, nicht dem Irrtum verfallen sollten, dass das Neue mit dem Alten nichts mehr gemein hat. Denn hinter den Klippen revolutionärer Neuerungen kauert nicht selten das Unvordenkliche.

Wir befinden uns mit dem Faksimile der „Newen zeytung von orient und auff gange“ am Beginn dessen, was Marshall McLuhan die „Gutenberg-Galaxis“ nannte. Knapp ein halbes Jahrtausend, nachdem jene Ära begann, in der mit dem Buch auch die Zeitung Schritt für Schritt – aber bei weitem nicht überall gleichzeitig – zum dominierenden Instrument der gesellschaftlichen Selbstverständigung wurde, fragen sich immer mehr Menschen, ob und wie es denn mit der Zeitung weitergehen werde. Die einen, weil sie wie ich in und mit Zeitungen ihre Berufsbiografien geschrieben haben und sich fragen, ob es irgendwie weitergeht oder eine Umschulung auf „spin doctor“ oder Regierungssprecher angezeigt wäre. Die anderen – und es wird nicht wenige geben, denen beide Anliegen wichtig sind –, weil sie sich um die demokratische Balance sorgen und also fragen, wer denn die Rolle der Zeitungen als vierte, kontrollierende Gewalt im Staat übernehmen könne, falls es eine solche Rolle in legitimer Weise geben sollte.

Marshall McLuhan und die Folgen

Die Kultur- und Medientheorie beschäftigt sich seit gut einem halben Jahrhundert mit dem Ende der dominierenden Stellung des geschriebenen Wortes im Gewebe von Kultur und Wissen. Am stärksten wurde diese Debatte von dem kanadischen Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan1 geprägt. Der Urheber von so wirkungsvollen Wortprägungen wie „The medium ist the message“2 und „global village“, veröffentlichte 1962 sein Buch The Gutenberg-Galaxy: The Making of Typographic Man. Darin beschreibt er eine Art Medienevolution, die von der oralen Kultur über die Literalität mit der Erfindung der Druckerpresse und dem Einsatz von beweglichen Metalllettern durch den Mainzer Johannes Gensfleisch in das Gutenberg-Zeitalter mündet. Gutenbergs Erfindungen gelten als wesentliche Voraussetzungen für das Renaissancezeitalter, sein Hauptwerk, die zwischen 1452 und 1454 entstandene Gutenberg-Bibel, setzte neue ästhetische und technische Maßstäbe. Das nach ihm benannte Zeitalter währte fast ein halbes Jahrtausend – kein Wunder also, dass Time-Life den Buchdruck zur wichtigsten Erfindung des zweiten Jahrtausends erklärte.

Das Ende des Gutenberg-Zeitalters und damit der Beginn des vierten medienevolutionären Abschnittes – des „elektronischen Zeitalters“ – zeichnet sich nach McLuhans Ansicht mit der Erfindung der drahtlosen Telegrafie durch Guglielmo Marconi Ende des 19. Jahrhunderts ab (andere, wie der Fluxus-Philosoph Vilém Flusser, setzen eher bei der Erfindung der Fotografie an, also bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Spätestens die elektronischen Medien, allen voran das Fernsehen, und die fortschreitende Vernetzung der Gesellschaften zu einem einzigen globalen Stamm (War and Peace in the Global Village erschien 1968) besiegelten das Ende des Buchzeitalters.

Was McLuhan und die anderen Vordenker der Medientheorie interessierte, waren nicht die vornehmlich ökonomischen Themen, die heute im Mittelpunkt der Mediendebatte stehen. Man war daran interessiert, was die neuen Technologien am Beginn der Renaissance und jene an der Wiege der Moderne mit den Menschen und ihrem Verhalten gemacht haben und nach wie vor machen. McLuhan, der marienfromme katholische Exzentriker, der seine Kinder bis in deren Erwachsenenalter zwang, vor dem gemeinsamen Essen einen Rosenkranz zu beten, erwarb sich den Ruf des ersten und größten „Medien-Gurus“. Aber er verstand sich nie als Wegbereiter und Einpeitscher des Neuen, Tollen, Nichtda-Gewesenen, sondern als Archäologe des menschlichen Kommunikationsverhaltens. Die einschlägigen Visionäre unserer Tage verkaufen in der Regel ein oder ihr Produkt, so wie die Google-Größen Eric Schmidt und Jared Cohen in ihrem Buch Die Vernetzung der Welt – Ein Blick in unsere Zukunft.

McLuhan hatte durchaus Reserven nicht nur gegenüber den Entwicklungen, die er am Ende der Gutenberg-Galaxis („Galaxis“ bedeutet in seinem Verständnis in erster Linie ein technologisch grundiertes „Environment“) beobachtete, sondern auch an deren Beginn. So bemerkte er, dass die visuelle Homogenisierung der Wahrnehmung, die mit dem Druckverfahren einherging, die Vielfalt der Sinnesempfindungen in den Hintergrund drängte. Sein gelegentlich gewagt, teils mutwillig wirkender Assoziationsstil führte ihn auch zu der Behauptung, die Durchsetzung des Buchdrucks habe die Entstehung des Nationalismus, des Dualismus, das Dominieren des Rationalismus, die Automatisierung der wissenschaftlichen Forschung sowie die Vereinheitlichung und Standardisierung der Kulturen und die Entfremdung der Individuen nach sich gezogen.

Marshall McLuhan starb 1980, lange bevor das Internet Mitte der 90er Jahre seinen Siegeszug antrat, nachdem es sich von der technologischen Infrastruktur für die sichere und schnelle Kommunikation von Wissenschaftlern und Militärs zum Massenmedium gewandelt hatte. Die interessantesten Ansätze zur Erklärung der Auswirkung der digitalen Technologien auf die zeitgenössischen Kulturtechniken kommen dieser Tage in der Tradition von McLuhans Arbeit vom Institute for Literature, Media and Cultural Studies der Universität von Süddänemark, das unter dem Titel „Gutenberg Parenthesis“ ein Forschungsprojekt zum Thema „Druck, Buch und Erkenntnis“ betreibt. Sie werden in unserem dritten Kapitel (Das ewige Leben) zur Sprache kommen.

Am Ende der Gutenberg-Galaxis

Bei der Analyse des Übergangs der Deutungsmacht von den Printmedien hin zu den digitalen Medien kommt im deutschsprachigen Raum Norbert Bolz eine besonders wichtige Rolle zu. Er veröffentlichte 1993 das Buch Am Ende der Gutenberg-Galaxis, in dem er so etwas wie eine Übergangsphase zwischen der Welt Gutenbergs und dem beschreibt, was danach kommen würde. Dieses Danach sei noch nicht genau abzusehen, meinte Bolz, wohl aber das neue Paradigma: die Vorherrschaft des Computers. „Das Buch wird als Leitmedium der Gegenwart vom Computer abgelöst“, schreibt Bolz. „Damit ist keineswegs gemeint, dass künftig keine Bücher mehr existieren werden oder gar, dass Schreiben und Lesen ihre Bedeutung verlieren.“ Dass Lesen und Schreiben als Kulturtechniken nicht obsolet würden, sehe man schon daran, dass, wie Bolz damals vorsichtig formulierte, „die heute bekannten Formen der Computerarbeit noch immer mit Lesen und Schreiben verknüpft sind“. Daran würde auch die Tatsache nichts ändern, dass im Zuge der medialen Evolution Bilder an die Stelle von alphabetischen Notationen träten.

Bolz beschreibt die vier elementaren Funktionen von Medien: Speichern, Übertragen, Rechnen und Kommunizieren. Die beiden ersten Funktionen gehören zum Kernbestand der menschlichen Kultur: Seit Menschen existieren, gibt es Medien, und deren erster und lange einziger Zweck war das Speichern. Sprachfindung ist Speicherfindung, worum es ging, war das Identifizieren von Notationen für Dinge, die in Realien gespeichert waren, also im Wesentlichen landwirtschaftliche Produkte.3 Im nächsten Schritt kam die Übertragungsfunktion dazu, deren begriffliche Blüte das „Broadcasting“ symbolisiert: über große Entfernungen für ein Massenpublikum.

An der Stelle, an der das Rechnen ins Spiel kommt, findet der eigentliche Bruch in der Mediengeschichte statt. Das Buch konnte sowohl speichern als auch übertragen, aber rechnen konnte es nicht. Mit dieser Zäsur wurden auch die beiden Leistungen der alten Medienwelt, das Speichern und das Übertragen, als Rechenleistungen verstanden. Die jüngste Medienleistung, die ebenfalls im Computer angelegt ist, geht über das Rechnen hinaus. Das Leitmedium der Gegenwart ist der Computer nicht wegen seiner Rechenfähigkeit, sondern „weil er technische Kommunikationsfähigkeiten des Menschen implementiert“, meint Bolz.

Noch mehr als die Auswirkungen dieses evolutionären Prozesses auf den Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff (er stellt auf die Sphäre Buch-Wissenschaft ab) interessieren im Zusammenhang mit der Geschichte der Zeitung als Teil der Gutenberg-Welt die politischen Auswirkungen, die Bolz in Am Ende der Gutenberg-Galaxis beschreibt. Nach seiner Einschätzung löst sich mit der neuen Medienwelt auch die Vorstellung einer aufgeklärten literarischen Öffentlichkeit auf: „Für mich ist die bürgerliche Öffentlichkeit keine Option mehr“, schreibt er in einem Text, in dem er seine Argumentation nach Veröffentlichung des Buches noch einmal zusammenfasst.4 Stattdessen würde das „Global Village“ Wirklichkeit, von dem Marshall McLuhan schon in den 50er Jahren erstmals gesprochen hatte. „Das elektronische Weltdorf“, so Bolz, „ist mittlerweile nicht mehr Science-Fiction oder die Vision eines Professors, sondern Glasfaserkabelwirklichkeit.“ Was noch seiner Verwirklichung harrt, ist das, was nach der bürgerlichen Öffentlichkeit kommen soll, wenn die keine Option mehr ist. Wie Politik aussehen könnte, „wenn die klassische Form des Räsonnements – die Öffentlichkeit – sich nicht mehr konstituieren kann“, war die Frage, die Norbert Bolz vor 20 Jahren für die interessanteste hielt. Sie ist es noch heute, und sie ist noch immer nicht beantwortet.

Um das ideengeschichtliche Panorama, in dem sich die ökonomischen Debatten über die Zukunft des Zeitungswesens abspielen, fertig auszumalen, braucht es noch drei begriffliche Stationen auf dem Weg von McLuhan in die Gegenwart. Manuel Castells, der Stadt- und Mediensoziologe, veröffentlichte zwischen 1996 und 1998 seine Trilogie The Information Age: Economy, Society and Culture. Castells schließt an McLuhans Denken an und nennt folgerichtig die fernsehdominierte Übergangsphase vom Buch- zum Internetzeitalter die „McLuhan-Galaxis“.

Die Phase, in der wir uns derzeit befinden – das Computer- und Internetzeitalter –, bekam ihren sprechendsten Namen von Wolfgang Coy verpasst: Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Informatiker nannte 1993 seinen Vortrag auf der „Interface II“ in Hamburg: Die Turing-Galaxis. Computer als Medien. Alan Turing hatte 1936 eine universelle Maschine erdacht, um einer Lösung des grundsätzlichen Problems der Berechenbarkeit näherzukommen. Der dazugehörige Aufsatz ist inzwischen ein Kultobjekt und heißt On Computable Numbers, with an application to the Entscheidungsproblem. Die heute sogenannte „Turing-Maschine“ war dazu gebaut, mit drei Grundoperationen jedes mathematische Problem zu lösen, sofern es überhaupt mit einem Algorithmus zu lösen war.

Begriffsgeschichtlich fehlt zur Beschreibung unseres „Internetzeitalters“, das von „sozialen Netzwerken“ dominiert und von Algorithmen gesteuert wird, nur noch das Netz. Der kam von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Sie hatten in ihrem schon 1977 erschienenen Buch Rhizom Netzwerkstrukturen als Paradigma für die neuen Formen der Wissensorganisation identifiziert.

Man sieht, dass die Medientheorie in dem halben Jahrhundert, das hinter uns liegt, eine beeindruckende Dichte entwickelt hat. Eine große Zahl unterschiedlicher theoretischer Ansätze wurde aufgeboten, um erklären zu helfen, wie, wann und unter welchen Begleitumständen jenes Zeitalter zu Ende ging und geht, das zuvor, so jedenfalls die Theorie, für ein halbes Jahrtausend auf ziemlich konstante Weise unsere Art zu denken und zu kommunizieren geprägt hatte: das Buchzeitalter, das Zeitalter des gedruckten Wortes.

Schmerzhafte Erkenntnisse

So fein in der Theorie die gegenwärtigen Entwicklungen ausziseliert werden, so grob lässt man die Vergangenheit als eher robusten Block in der Theoriegegend herumstehen. Das muss einen stutzig machen: Es ist doch eigentlich nicht sehr wahrscheinlich, dass die durch die Erfindung des Buchdrucks angestoßene Entwicklung bis zu ihrem Ende ein halbes Jahrtausend später ohne innere Epochenbrüche vonstatten ging. Doch auch die aktuelle Debatte darüber, ob und wie und wie lange die Zeitung überleben kann, ist von ähnlichen Grundannahmen geprägt.

Vielleicht hat es mit diesem eher holzschnittartigen Blick auf die Vergangenheit zu tun, dass die Medienindustrie auch in der Gegenwart massive Einschätzungsprobleme hat. Die ökonomischen Effekte der digitalen Medien auf die etablierten Strukturen sowohl der Print- als auch der Fernsehbranche wurden zunächst schwer unterschätzt. Diese ignorante Haltung wurde durch das Platzen der „Dotcom-Blase“ rund um die Jahrtausendwende begünstigt: Man begnügte sich mit Häme über die Nerds, die ihre „Träume“, hinter denen keine validen Geschäftsmodelle stünden, teuer an irgendwelche reichen Idioten verkauft hätten, die sich die Zukunft kaufen wollten und nun auf ihren Verlusten sitzen blieben.

Das renommierteste Magazin veröffentlichte 2006 die Todesnachricht. Verfrüht?

Aber nachdem Amazon den Buchhandel und diverse Tauschbörsen wie Napster die Plattenindustrie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatten, spürten auch die Zeitungen den Druck. Im August 2006 sorgte das britische Wirtschaftsmagazin The Economist für Aufregung: Unter dem Titel Who Killed The Newspaper? wurde ein Dossier über die Zukunft der Branche veröffentlicht, in dem die Autoren die These vertraten, dass es das Internet war, das die Zeitung umbringen würde. Vor allem deshalb, weil es der Grundaufgabe eines Mediums, „Käufer und Verkäufer zusammenzubringen“, besser nachkomme als die Zeitung und so „den Werbern beweisen kann, dass ihr Geld gut eingesetzt ist“. Man berief sich unter anderen auf Philip Meyer, der 2004 in seinem Buch The Vanishing Newspaper errechnet hatte, dass im Jahr 2043 die letzte gedruckte Tageszeitung in den Vereinigten Staaten erscheinen würde.

Seit der Economist die Todesnachricht veröffentlichte, sind sieben Jahre vergangen – die Zeitung aber lebt immer noch. Im deutschsprachigen Raum war mit der Financial Times Deutschland nur ein prominentes Opfer zu beklagen, die Frankfurter Rundschau wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernommen. Auch die Website newspaperdeathwatch.com verzeichnet seit ihrer Gründung im Mai 2007 in der Rubrik „R. I. P.“ („Rest In Peace“) nur zwölf Tote. Ebenso viele Titel werden unter „W. I. P.“ („Work In Progress“) gelistet: Zeitungen, die entweder ihre Erscheinungsfrequenz reduziert, in ein „hybrides“ Print-Online-Geschäftsmodell gegangen oder auf „online-only“ umgestellt haben. Letzteres hat im Herbst 2013 auch Lloyd’s List angekündigt, jenes aus den Schiffslisten am schwarzen Brett von George Lloyds Londoner Café entstandene Marineblatt, das seit 1734 täglich erschien und sich als die älteste Tageszeitung der Welt bezeichnet.

Angesichts der geringen Zahl an Todesopfern ist es kein Wunder, dass man in der zitatenhungrigen Branche, wenn es um die eigenen Zukunftsaussichten geht, gerne Mark Twain bemüht: „Die Nachricht von meinem Tod ist stark übertrieben.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Zahlen, vor allem aber der längerfristigen Trends, hört sich das eher an wie das laute Rufen ängstlicher Kinder im Wald. Ja, es ist wahr, dass im vergangenen Jahrzehnt nicht viele Zeitungen bankrott gegangen sind und den Betrieb einstellen mussten. Aber es ist auch wahr, dass Medienhäuser mit ihren gedruckten Tageszeitungen schon lange keinen Gewinn mehr machen. Und es zeigt sich, dass die gesammelten Auflagenverluste der Tageszeitungen im vergangenen Jahrzehnt das Äquivalent zur Einstellung mehrerer auflagenstarker Produkte bilden. Also: Ja, es sind noch (fast) alle Zeitungen da; aber (fast) keine kann mehr aus sich heraus leben – der Tageszeitungsmarkt wird von Untoten bevölkert.

Deutschland: Auflage der Tageszeitungen

(in Mio., Quelle: MW)

Man kann dazu eine einfache Rechnung aufmachen: Die absolute Zahl der in Deutschland gedruckten Tageszeitungen nahm im vergangenen Jahrzehnt um 25 Prozent ab. Das kann zweierlei bedeuten: Entweder verlieren die Zeitungen ein Viertel ihrer Reichweite oder jede vierte Zeitung stellt den Betrieb ein. Nachdem sie, wie sie stolz behaupten, bis auf die Financial Times Deutschland alle noch da sind, bedeutet das einen durchschnittlichen Auflagenverlust von 25 Prozent.

Deutschland: Anteil der Zeitungen am Gesamtwerbeaufwand

(Quelle: Nielsen)

Früher hätte das einem Zeitungsgeschäftsführer vermutlich keine großen Kopfschmerzen bereitet. In den Boomzeiten des Printmarktes kamen 70 Prozent der Erlöse aus dem Anzeigenmarkt und nur 30 Prozent aus dem Vertrieb des Produktes. 25 Prozent Rückgang bei der gedruckten Auflage hätte man ohne große Probleme als Straffung der Vertriebsstruktur verkaufen können.

Mittlerweile, nicht zuletzt im Gefolge der Krise, sind die Anzeigenerlöse das Hauptproblem im Geschäftsmodell Tageszeitung. Die Anzeigenumsätze wandern konsequent aus den Tageszeitungen ins Netz. Begonnen hat es mit der Abwanderung der sogenannten „Rubrikenmärkte“ („classifieds“), inzwischen sind auch die Flächenanzeigen gefolgt. Dass Meldungen wie jene, dass die New York Times 2012 erstmals mehr Vertriebs- als Anzeigenerlöse verzeichneten, als positive Nachrichten präsentiert werden, ist ein Zeugnis weitgehender Ahnungslosigkeit: Es bedeutet nur, dass die Anzeigenumsätze weiter erodieren. Und es gibt zurzeit keine Anzeichen dafür, dass sie durch neue Vertriebserlöse im Netz (etwa das „metered model“ der NYT) auch nur annähernd substituiert werden können. Im Herbst 2013 meldete die NYT, dass sie die Zahl ihrer Online-Abonnenten um 28 Prozent steigern konnte. Der Gesamtumsatz des Unternehmens stieg um zwei (!) Prozent.

USA: Entwicklung der Anzeigenerlöse von Tageszeitungen

Dabei gilt der deutschsprachige Raum noch immer als Insel der Seligen, was die Position der Zeitungen im Werbemarkt angeht. Die gängige Erklärung, dass eben in den USA die Dichte an Internetanschlüssen in den Haushalten sehr viel früher sehr viel größer gewesen sei, stimmt nur bedingt. Sowohl für die Auflagen- als auch für die Anzeigen-Situation ist vermutlich der Faktor TV entscheidender: Das erste große Zeitungssterben erfasste die USA mit dem Aufkommen des privaten Lokalfernsehens. In Deutschland gibt es erst seit 30 Jahren privates Fernsehen (SAT.1 startete im Januar 1984), regionales Privatfernsehen spielt im Vergleich zu den USA keine Rolle. In Österreich trat überhaupt erst 2001 das Privatfernsehgesetz in Kraft, de facto verfügt der öffentlich-rechtliche Sender ORF nach wie vor über ein Monopol, im Werbemarkt machen ihm eher die Satellitenfenster der deutschen Privatsender zu schaffen als das österreichische Angebot.

Dass der Anteil der Zeitungen am deutschsprachigen Werbekuchen noch vergleichsweise groß ist, liegt also nicht daran, dass es im deutschsprachigen Raum weniger Internet gibt als in den USA, sondern daran, dass es weniger lokales TV gibt. In den USA haben sich die beiden Bedrohungen so kumuliert, dass die einschlägigen Kurven noch viel dramatischer aussehen als im deutschsprachigen Raum.

Kein Trost nirgends – das Riepl’sche Gesetz

Angesichts der tristen Lage in der Praxis suchen nicht wenige den Trost in der Theorie: Kaum eine Diskussion über das Ende der gedruckten Tageszeitung, in der nicht emphatisch auf das Riepl’sche Gesetz hingewiesen würde. Es wurde 1913 von Wolfgang Riepl, dem Chefredakteur der größten Nürnberger Tageszeitung, aufgestellt und besagt in seiner medienwissenschaftlichen Adaption, dass kein neues, höher entwickeltes ein bestehendes Medium vollständig ersetzt. Riepls Erkenntnis ist Frucht seiner Dissertation über Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer. Er stellt darin fest, „dass neben den höchstentwickelten Mitteln, Methoden und Formen des Nachrichtenverkehrs in den Kulturstaaten auch die einfachsten Urformen bei verschiedenen Naturvölkern noch heute im Gebrauch sind […]. Andererseits ergibt sich gewissermaßen als Grundsatz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, dass die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden können, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen.“