Die zerrissene Seele - Samuel Pfeifer - E-Book

Die zerrissene Seele E-Book

Samuel Pfeifer

3,9

Beschreibung

Rosen und Dornen, Liebe und Hass, Verletzlichkeit und Selbstverletzung. Borderline-Persönlichkeiten befinden sich auf einer Achterbahn der Gefühle. Sie kommen nicht nur selbst an ihre Grenzen, sondern auch ihre Therapeuten und Angehörigen. Der Psychiater Dr. Samuel Pfeifer und der Theologe Dr. Hans-Jörg Bräumer schreiben von der Entstehung und Entwicklung dieser tiefen seelischen Störung. Ein auch für den Laien gut verständliches Buch.

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Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

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ISBN 978-3-7751-7276-9 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5239-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:CPI books GmbH, Leck

Dieser Titel erschien zuvor bei SCM R.Brockhausunter der ISBN 978-3-417-20644-9.

© Copyright der deutschen Ausgabe 2010 bySCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.deE-Mail: [email protected]

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, AachenTitelbild: istockphoto.comSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Die verwendeten Bibelstellen sind von Hansjörg Bräumer eigenständig übersetzt worden.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1Borderline-Störungen – eine Herausforderung an die Seelsorge

Samuel Pfeifer

Kapitel 2Borderline-Störungen – eine Begriffsbestimmung

Samuel Pfeifer

Modebegriff oder echtes Leiden?

Die Geschichte des Borderline-Begriffs

Wechselhaft, unreif, frustriert

»Primitive« Abwehrmechanismen

Mangel an Identität

Vier Begriffe

Neun Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV

Begleitende Probleme

Verlauf

Genetische und neurobiologische Aspekte

Unterscheidung von anderen Störungen

Posttraumatische Belastungsstörung

Missbrauch der Diagnose »Borderline-Störung«

Kapitel 3Wie erleben sich Borderline-Patienten?

Samuel Pfeifer

Borderline und Depression

Dissoziation als Bewältigungsversuch

Selbstverletzung (Autoaggression)

Selbstverletzung in früheren Zeiten

Andere Formen selbstschädigenden Verhaltens

Suizidalität (Selbstmordgefährdung)

Borderline und Sexualität

Schwarz-Weiß-Denken

Psychotische Durchbrüche

Erarbeiten der Symptommuster

Ursachen der Borderline-Störung

Kapitel 4Marilyn Monroe – ein klassisches Beispiel

Samuel Pfeifer

Kapitel 5Sexueller Missbrauch und Borderline-Syndrom

S. Pfeifer unter Mitarbeit von M. Schleising, K. Kaldewey und A. Jonckers Nieboer

Was ist eigentlich sexueller Missbrauch?

Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs

Direkte Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs

Langfristige Störungen und Symptome

Zusammenhang zwischen Inzest und Borderline-Syndrom

Diagnostisches Vorgehen

Hinweise für den therapeutischen bzw. seelsorglichen Umgang

Wie ist Vergebung möglich?

Anhang

Kapitel 6Multiple Persönlichkeiten (Dissoziative Identitätsstörung)

Samuel Pfeifer

Was ist eine Multiple Persönlichkeit?

Entstehung neuer »Personen«

Ein wissenschaftliches Entstehungsmodell

Probleme der Diagnose einer »Multiplen Persönlichkeit«

Besessenheit und Multiple Persönlichkeit

Wie kann man »Multiplen« helfen?

Integration der »Personen«

Kapitel 7Hilfen zur Gesprächsführung

Samuel Pfeifer

Therapeutische Ansätze bei Borderline-Störungen

Das Dilemma: Opfer oder Verantwortung?

Das »vierfache Ackerfeld« der Therapie von Borderline-Störungen

Gesunde Bedürfniserfüllung

Gesunde Grenzen setzen

Problematische Bedürfniserfüllung

Wiederholen von alten Mustern und Themen

Problematische Aspekte der alten Muster und Themen

Opfer oder Gewinner?

Aufarbeiten der alten Muster und Themen (Feld 3)

Zusammenfassung: Die Aufgabe des Therapeuten

Kapitel 8Therapeutische Strategien bei schweren Krisen

S.Pfeifer unter Mitarbeit von A. Jonckers Nieboer und M. Schleising

Wann ist ein Klinikaufenthalt nötig?

Hauptthemen der Klinik-Behandlung

Was bringen Medikamente?

Therapieplanung und Erfolgsbewertung

Vom Umgang mit wiederholten Selbstmorddrohungen

Therapeutische Überlegungen bei Selbstverletzung

Gruppentherapie bei Borderline-Patienten

Therapeutisches oder medizinisches Modell?

Kapitel 9Ein neues Konzept zur Behandlung – die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan

Samuel Pfeifer

Dialektisch-Behaviorale Psychotherapie nach Linehan

Was bedeutet eigentlich »Dialektik«?

Ursachen: Biosoziale Grundlagen

Dialektische Strategien

Problembereiche in der ersten Therapiephase

Therapeutische Strategien

»Aus Zitronen Limonade machen« und andere Techniken

Wissenschaftliche Untersuchungen der DBT

Ausbildungsmöglichkeiten für Ärzte, Psychotherapeuten, Pflegende und Sozialpädagogen

Kapitel 10Chancen und Probleme der Seelsorge aus ärztlicher Sicht

Samuel Pfeifer

Der Stachel der Schwachen

Mögliche Probleme der Seelsorge

Krankheit oder Besessenheit?

Zusammenarbeit von Arzt und Seelsorger

Der Seelsorger als Fels?

Borderline-Seelsorge als Grenzerfahrung

Kapitel 11Seelische Instabilität – theologische und seelsorgerliche Aspekte

Hansjörg Bräumer

Support – Unterstützung, Ermutigung

Empathy – Einfühlung, Empathie

Truth – Wahrheit, Realität, Grenzen

Kapitel 12Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorge

Hansjörg Bräumer

Mitleben und Mitfeiern

Lebens- und Glaubenshilfe

Schweigen und Ruf in die Nachfolge

Literatur

Stichwort-Register

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Der Begriff Borderline hat in den letzten vierzig Jahren eine steile Karriere gemacht.1 War er zuerst nur als Restkategorie für eine schwierige Patientengruppe gedacht, so merkten immer mehr Therapeuten, dass auch sie mit den schweren Leidenszuständen und therapeutischen Herausforderungen kämpften, die nun endlich einen Namen hatten: Borderline. Bald schon wurde der Begriff verbunden mit der Überzeugung: »Einmal Borderline – immer Borderline!« Borderliner – die neuen chronischen Patienten? Dieses Vorurteil hat Generationen von Therapeuten und Patienten entmutigt. Manche haben eine regelrechte Aversion gegen diese Problemkonstellation. Manchmal ist Borderline sogar zum neuen Schimpfwort geworden.

Andere haben zum Glück eine besondere Liebe zu diesen Menschen entwickelt; ein Engagement, das sie nicht aufgeben ließ, trotz Rückschlägen, suizidalen Notfällen und blutigen Selbstverletzungen. Es ist eine Gnade, wenn es einem Therapeuten geschenkt wird, hinter die dornenreiche Maske zu blicken und das Leiden und die innere Schönheit einer Person wahrzunehmen, die doch letztlich heldenhaft kämpft gegen die seelische Unruhe und die zerstörerischen Impulse, die hungrig ist nach Leben trotz der fatalen Botschaft eines Suizidversuchs.

Borderline-Störungen sind auch eine Herausforderung für die Seelsorge. Dieses Buch ist aus Referaten entstanden, die an einem Seminar der Psychiatrischen Klinik Sonnenhalde gehalten wurden. Dabei wurden bewusst ganz unterschiedliche Perspektiven eingebracht, vom psychiatrischen bis zum theologischen Blickwinkel. Die Darstellung der Probleme von Borderlinepatienten ist nicht von einer einzigen therapeutischen Schule her geprägt. So finden sich in diesem Buch nicht in erster Linie tiefenpsychologisch-analytische Deutungen, sondern eine vielschichtig beschreibende Darlegung der Problematik; nicht nur eine psychologische Analyse, sondern auch eine theologische Standortbestimmung; nicht nur theoretische Aspekte, sondern auch praktische Hilfen für die Seelsorge und die Begleitung.

Das ist ja gerade unser Anliegen, nämlich den Graben zwischen Psychologie und Psychiatrie auf der einen Seite und Theologie und Seelsorge auf der anderen Seite zu überbrücken. An dieser Stelle möchte ich Pfr. Dr. theol. Hansjörg Bräumer dafür danken, dass er es gewagt hat, sich auf dieses Unterfangen einzulassen; dass er sich so intensiv in die Thematik eingearbeitet hat und dass er aus der Sicht der Theologie ganz neue und andere Aspekte für die Begleitung fruchtbar gemacht hat.

Auch wenn die Fachliteratur möglichst breit berücksichtigt wird, haben wir in erster Linie von den Menschen gelernt, die uns begegnet sind. An erster Stelle möchte ich den Patientinnen und Patienten danken, die uns an ihrem Erleben teilhaben ließen. In den Beispielen kommt etwas von ihrem direkten Erleben zum Ausdruck, auch wenn es nötig war, die Geschichten so zu verfremden, dass ein Wiedererkennen nicht möglich ist. Danken möchte ich auch Frau B.B. für die Genehmigung zum Abdruck ihrer Gedichte in Kapitel 3, die so eindringlich wiedergeben, wie sich Menschen in ihren Krisen erleben können.

Ein Problem beim Schreiben eines solchen Buches soll nicht verheimlicht werden: Wie kann man Frauen und Männer ansprechen, Therapeutinnen und Therapeuten, Seelsorgerinnen und Seelsorger, Patientinnen und Patienten, ohne jeweils in komplizierte Wortwiederholungen zu verfallen, die den Sprachfluss hemmen? Wir haben uns die Freiheit genommen, die Formen abzuwechseln, ohne uns jedes Mal zu rechtfertigen. Die sprachlich sensibilisierten und politisch korrekten Leserinnen und Leser möchte ich bitten, sich sowohl von den männlichen als auch von den weiblichen Sprachformen ansprechen zu lassen.

Meine Arbeit an diesem Buch wäre unvollständig gewesen ohne die wesentlichen Impulse, die mir meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Klinik Sonnenhalde in Riehen gegeben haben.

Der therapeutische Alltag und die existenzielle Erfahrung in der Begleitung emotional instabiler Menschen haben uns als Team nachhaltig geprägt.

Zum ersten Mal kam dieses Buch im Jahre 1996 auf den Markt. Seither wurde es immer wieder neu aufgelegt. Wir werten dies als indirektes Zeichen für die anhaltende Aktualität der Thematik. Diese spiegelt sich auch in der aktuellen Literatur wider. »Die Borderline- Störung ist erwachsen geworden«, titelte ein Kommentar im renommierten American Journal of Psychiatry2.

Wir hoffen, dass dieses Buch nicht nur als Quelle für dramatische Fallbeispiele, psychopathologische Überlegungen und theologische Betrachtungen dient, sondern dass es zu einer echten Hilfe für Seelsorgerinnen und Seelsorger wird, die in der Einzelberatung und in therapeutischen Einrichtungen mit der Vielgestaltigkeit instabiler Menschen konfrontiert werden. Möge das Buch mithelfen, den Weg mit belasteten und verletzten Menschen zu gehen, der sich oft erst dann auftut, wenn wir den nächsten Schritt tun.

Riehen, im Frühjahr 2010

Dr. med. Samuel Pfeifer

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Borderline-Störungen – eine Herausforderung an die Seelsorge

Samuel Pfeifer

Borderline – von diesem Wort geht eine eigene Faszination aus. Borderline, das bedeutet eigentlich Grenzlinie. Doch um welche Grenzen handelt es sich, wenn wir von Borderline-Störungen und von Borderline-Patienten sprechen? Dieses Buch beschäftigt sich mit diesen Grenzgängern besonderer Art. Verschiedene Autoren haben versucht, das Wesen von Borderline-Störungen in Metaphern zu fassen, etwa »Ich hasse dich, verlass mich nicht!«3 oder »Wenn Hass und Liebe sich umarmen«4. In Kommentaren und Essays wird die Borderline-Störung als typische Störung unserer Zeit beschrieben. Und in der Tat spiegelt sich in ihrer Zerrissenheit und Unbeständigkeit, in ihrer Zerrissenheit und Traumatisierung, in ihrer Vielgestaltigkeit und Unberechenbarkeit die Befindlichkeit des modernen Menschen wider. Bei Menschen mit einer Borderline-Störung begegnen uns höchst widersprüchliche Gefühle zwischen Anlehnungsbedürftigkeit und schroffer Zurückweisung, zwischen Eigensucht und Selbsthass, zwischen Verletzlichkeit und Selbstverletzung, Rückzug und Sehnsucht nach Gemeinschaft, Lebenshunger und Todeswunsch.

Borderline-Patienten sind eine besondere Herausforderung an die Seelsorge. Das folgende Beispiel, das bewusst verfremdet wurde, schildert etwas von den Spannungen, die in der Begleitung entstehen können.

Sie ist eine attraktive blonde Frau, zweimal geschieden, künstlerisch begabt und aktiv in einem kreativen Beruf. Seit Jahren ist sie bei verschiedenen Therapeuten in Behandlung gewesen. Hinter ihren Problemen steht eine fürchterliche Kindheit. Mehrfach wurde sie vom Freund ihrer Mutter sexuell missbraucht. Vor zwei Jahren hat sie sich dem Glauben zugewandt und geht jetzt in Therapie zu einem christlichen Arzt, daneben auch zu einer therapeutischen Seelsorgerin. Im Vordergrund ihrer Beschwerden steht das Gefühl der Leere, der Sinnlosigkeit, der erdrückenden Depressivität. Sie hat unsägliche Angst davor, nicht mehr kreativ zu sein, und erlebt oft intensive Spannungen, bevor sie einem Kunden ihre neuesten Entwürfe vorstellt. Dennoch gelingt es dem Arzt und der Seelsorgerin, sie zu begleiten und ihr zu helfen, ihr Leben zu meistern. Manchmal entstehen aber auch Situationen, die etwas davon illustrieren, was ihre Begleitung so schwierig macht.

An einem Donnerstag erzählte sie ihrer Seelsorgerin, sie habe vor einer Woche einen sehr netten Mann kennengelernt. Sie hätten ein gemeinsames Wochenende vor, und sie fühle sich sehr zu ihm hingezogen. »Bitte geben Sie mir einen Rat. Ich bin ja jetzt gläubig und möchte auch so leben. Aber meine Gefühle sind so stark, dass ich gerne mit ihm schlafen möchte. Was meinen Sie dazu?« – In einem längeren Gespräch vermittelte die Seelsorgerin ihr, dass sie eher davon abraten würde. Die Patientin war offensichtlich unglücklich und ging schmollend heim. Am Freitagabend um 9 Uhr rief ein Mann bei der Seelsorgerin privat an und stellte sich als der neue Freund von Frau S. vor: »Meine Freundin hat mich gebeten, Sie anzurufen. Sie hat sich eben die Handgelenke aufgeschnitten. Sie sagt, Sie seien schuld, dass es ihr so schlecht geht. Unser gemeinsames Wochenende ist im Eimer! Was soll ich jetzt machen?« Nach kurzem Hin und Her tat die Seelsorgerin das einzig Richtige und riet dem Mann: »Bringen Sie sie in die Notfallstation, damit die Wunden genäht werden können!« – Am nächsten Montag kam die Patientin strahlend in die Sprechstunde des Arztes, mit einem kleinen Verband am linken Handgelenk. Als er sie nach dem Grund ihrer Freude fragte, antwortete sie: »Ich hatte ein wunderbares Wochenende mit meinem neuen Freund! Er hat sich so lieb um mich gekümmert …«

Noch eine zweite Situation: Nur einen Tag nach der letzten Konsultation schreibt Frau S. ihrem Arzt eine Karte, die ganz als ein appellativer Abschiedsbrief aufzufassen ist. Da finden sich Sätze wie: »Mein Leben hat keinen Sinn mehr. Ich brauche Hilfe, aber Sie wollen doch nur Ihr ruhiges Wochenende mit Ihrer Familie! … Ich bin für alle nur eine Belastung, auch für Sie.« Der Arzt ist im Dilemma: Jetzt hatte er sie erst am Mittwoch gesehen und ihr am Montag wieder einen Termin angeboten. Er fragt sich: »Soll ich einen Notfalleinsatz machen? Bin ich schuld, wenn sie sich das Leben nimmt?« Immer wieder liest er den Text durch, der in seiner schreienden Not eigentümlich mit dem Bild auf der Vorderseite kontrastiert: Die von der Patientin selbst gemalte Karte zeigt eine sanfte, saftig grüne hügelige Landschaft. Schließlich wird er durch die friedliche Botschaft dieses Bildes etwas ruhiger und wartet ab, wenn auch mit unterschwelligen Schuldgefühlen.

Am Freitagnachmittag, kurz vor Arbeitsschluss und einem freien Wochenende mit der Familie, erfolgt ein Anruf. Frau S. meldet sich mit schleppend-monotoner Stimme: »Heute ist ein schrecklicher Tag. Am Morgen wollte ich noch sterben. Dann ging ich doch arbeiten. Im Moment geht es mir grade gut. Aber vor dem Wochenende habe ich Horror: Jetzt weiß ich wieder nicht mehr, was tun: durch die Straßen irren oder vielleicht schlafen gehen. Ich weiß noch nicht, ob ich Sie am Montag wiedersehen werde.« Der Arzt wird erneut in Alarm versetzt. Soll er sie sofort aufsuchen? Sie zwangsweise in die psychiatrische Klinik einweisen? Doch dann würde sie ihm ewig Vorwürfe machen. Mehr noch: sie würde dort (wie schon früher) alles verharmlosen und sich so darstellen, als ob sie nur eine kleine Krise hatte. Und er wäre der trottelige Arzt, der die Spannung nicht ausgehalten hat. Wie oft hatte sie ihm schon vorgeworfen: »Statt mir ein Gespräch anzubieten, wollen Sie mich einfach in der Psychiatrie versenken!«

Schließlich ringt er sich nach längerem inneren Kampf dazu durch, keine Aktion zu unternehmen. Er versucht, sie bewusst bei Gott abzulegen, nicht als billiges Abschieben der Verantwortung, sondern als tiefe Gewissheit, dass er seine Hand auch in dieser Krise über ihr halten werde. »Gott befohlen!«, diesen Satz sagt er sich immer wieder, und doch: Es bleibt eine innere Spannung, ja auch Wut auf die Patientin: »Sie bringt es fertig, dass ich mich täglich mit ihr beschäftigen muss. Sie stört mein freies Wochenende, mein Familienleben. Wie kann ich damit umgehen?«

Nicht immer verläuft die Begleitung von Borderline-Patienten so dramatisch, und doch kennen alle, die in Seelsorge und Therapie stehen, Menschen, die solche Verhaltens- und Erlebensmuster zeigen. Sie sind in der Regel nicht so krank, dass man sie in eine Klinik einweisen müsste, und doch lösen sie enorme Spannungen aus, die den Umgang mit ihnen sehr erschweren.

Borderline-Persönlichkeiten kommen nicht nur selbst an ihre Grenzen, sie führen auch Seelsorger, Therapeuten, Betreuer und Angehörige an deren Grenzen. Sie befinden sich nicht nur selbst auf einer Achterbahn der Gefühle, sondern sie lösen auch beim Therapeuten eine breite Palette von Gefühlen aus:

• abgrundtiefe Erschütterung über schwere Lebensschicksale und kaum zu verhehlende Wut über ständige »Störaktionen«

• warmes Mitgefühl und Angst vor der immer stärker werdenden Anklammerung

• Beschützerinstinkte und Angst, ausgelaugt zu werden

• eine erotische Faszination und Abwehr gegen allzu große Nähe

• Bereitschaft zum Engagement und wiederholte Enttäuschung durch maßlose Forderungen

• Erfolgserlebnisse durch plötzliche Besserungen und hilflose Erschöpfung bei einem erneuten Rückfall

Erfahrene therapeutische Teams in Kliniken und Wohngemeinschaften sind sich bewusst, dass diese Muster der emotionalen Instabilität von Borderline-Persönlichkeiten die Atmosphäre in einer Abteilung oder einer Wohngruppe stark anspannen können. Oft erträgt man nicht mehr als drei solcher Personen auf eine Gruppe von zwölf, und auch dann nur, wenn ein tragfähiges Therapeutenteam vorhanden ist.

Wie schwer ist es dann erst für Ehepartner, Eltern und Kinder, die mit einem Menschen leben, der an Borderline-Zügen leidet! Sie können sich nicht nach acht Stunden therapeutischer Betreuung in ein Privatleben zurückziehen und, wie professionelle Betreuer, ihre freien Tage nehmen. Nicht selten kommt der therapeutische Seelsorger oder der Pfarrer in die Situation, Angehörige zu beraten, die nicht mehr weiterwissen. Auch das System »Gemeinde«5 kann in der Betreuung solcher Personen an seine Grenzen kommen. Wie kann man Menschen mit Borderline-Zügen ernst nehmen, ohne dass sie zum Zentrum der ganzen Aufmerksamkeit werden? Wie kann man ihnen Grenzen setzen, ohne sie auszugrenzen? Wie kann man sie auch vor dem Hintergrund des Glaubens ernst nehmen, ihre Instabilität verstehen, ohne sie zu verurteilen und abzustempeln? Oft tragen die Betroffenen selbst die Not an christliche Betreuer heran, dass sie anders sein wollen, aber dann doch keine Kraft haben, sich reif und stabil in Beziehungen einzubringen. Wovon werden sie denn bestimmt? Von ihrer Vergangenheit; von ihren seelischen Verletzungen; von ihren »Wünschen und Begierden« oder gar von destruktiven Kräften außerhalb ihres Einflusses? Wie soll man sie beraten, wie ihre Störungen erklären?

Es ist das Ziel dieses Buches, den Leserinnen und Lesern zu helfen, das Erleben und Funktionieren von Borderline-Persönlichkeiten besser zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um das äußerlich schwierige Verhalten und Agieren, sondern auch um eine Erhellung der Hintergründe dieses Verhaltens, um ein Mitleiden (nicht Mitleid) mit den Betroffenen, um Einfühlung ohne Verschlungenwerden, um Verständnis ohne konturlose und desillusionierte Beratung. Das Buch soll helfen, die Schwachheiten der Betroffenen zu tragen, ohne die Destruktivität ihres Verhaltens widerspruchslos hinzunehmen. Und es soll Hoffnung geben, auch in den Zeiten, wo die Begleitung schwierig erscheint.

[Zum Inhaltsverzeichnis]

Kapitel 2

Borderline-Störungen– eine Begriffsbestimmung

Samuel Pfeifer

Borderline-Störungen sind nicht neu. Die Psychotherapeuten unserer Zeit haben lediglich einen neuen Namen für die massive seelische Instabilität eines Menschen geschaffen. Dramatische »Borderliner« hat es in der Geschichte wohl immer gegeben:

•Opern-Divas und launische Prinzessinnen

•Flagellanten und Stigmatisierte6

•sogenannte »Hexen«, Seherinnen und »Besessene«

•Hysterikerinnen und Hypnotisierte im Paris der Jahrhundertwende

Es wäre ein Irrtum zu meinen, diese Frauen und Männer hätten nur versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während launische Prinzessinnen ein verwöhntes Leben im Prunk führten, waren sie eben doch nur Puppen im großen Theater eines Königshofs, in dem es keine persönliche Freiheit gab. Andere flüchteten vor den unsäglichen Verletzungen und Konflikten ihrer Kindheit in die Einsamkeit oder in die Askese, die weit hinausging über den Wunsch, Gott zu dienen. Wer durch die Pest alles verloren hatte, wer beinahe irrwitzig wurde am Grabe seiner Lieben, dem gab die öffentliche Zurschaustellung seiner Schmerzen durch blutende Geißelstriemen vielleicht noch eine letzte Lebensaufgabe. Manche dieser emotional so sensiblen und instabilen Menschen haben ihren »sechsten Sinn« in einer manipulativen und geschäftsorientierten Weise eingesetzt, der sie zu Wahrsagerinnen werden ließ. Diese Phänomene an der Grenzlinie zum Okkulten sollen in einem späteren Kapitel noch besprochen werden. Im 19. Jahrhundert erweckten hysterische Frauen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und wurden zu vielbeachteten Demonstrationsobjekten von Ärzten und Hypnotiseuren. Eines war all diesen Menschen gemeinsam: Sie waren in ihrem auffälligen Verhalten immer auch Leidende, zutiefst unerfüllte, deprimierte und oft auch von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen, die mit dem Leben nicht mehr zurechtkamen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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