Die zerrissenen Staaten von Amerika - Arthur Landwehr - E-Book

Die zerrissenen Staaten von Amerika E-Book

Arthur Landwehr

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Beschreibung

Das brandaktuelle politische Sachbuch zum Präsidentschaftswahlkampf in den USA – der mit den Vorwahlen im Februar 2024 beginnt. »Eine unverzichtbare Lektüre für alle, die aus erster Hand erfahren möchten, wie es um die USA und deren politische Zukunft bestellt ist.« – Buch Magazin US-Wahlkampf als Kulturkampf Mit Spannung blickt die Welt auf den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Herbst 2024. Schaffen es die Demokraten in der Tradition von Bill Clinton, Barack Obama und Joe Biden ein weiteres Mal, ihre Ideen von Freiheit und Verantwortung gegen den Populismus der Republikaner à la Donald Trump zu verteidigen? Der USA-Experte und langjährigeARD-Hörfunk-Korrespondent in WashingtonArthur Landwehr spürt den Stimmungen und Erwartungen der US-Wähler zu Beginn der Vorwahlen nach. Er beschreibt den Wahlkampf als Kulturkampf, der die USA zu zerreißen droht. Im Mittelpunkt: die Abstiegsangst der Weißen und das zunehmende Selbstbewusstsein von Schwarzen und Hispanics, der Mythos vom Cowboy und der Einfluss der woken Intellektuellen (Stichwort Cancel Culture), das ausgrenzende Stammesverhalten und das "America first" im Landesinnern und die Verheißungen kultureller Offenheit in den liberalen Küstenstaaten. Und über allem die Frage: Was hat das mit uns Deutschen und mit den transatlantischen Beziehungen zu tun? Arthur Landwehr gewährt Einblicke aus erster Hand »Der frühere ARD-Hörfunkkorrespondent Arthur Landwehr reist nach Texas, Florida oder Ohio und hört den Menschen genau zu, wenn sie über ihre Abstiegsängste, über ihre Träume von Unabhängigkeit oder die die emotionale Bindung zu Waffen sprechen. Die Kernthese seines lesenswerten Buches: Im US-Wahlkampf zeigt sich, wie sehr der Kulturkampf inzwischen mehr als alle Inhalte und politischen Ziele die Auseinandersetzung zwischen Anhängern der Republikaner und der Demokraten beherrscht.« – Stuttgarter Nachrichten Innenpolitik, Außenpolitik und vor allem die politische Kultur der USA stehen im Fokus dieses Sachbuches. Es lebt von den Erfahrungen und Einsichten des Journalisten Arthur Landwehr – er arbeitete jahrelang als Hörfunk-Korrespondent in Washington – in den Alltag der USA und ihren Bürgern. "Die zerrissenen Staaten von Amerika" ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die aus erster Hand erfahren möchten, wie es um die USA und deren politische Zukunft bestellt ist.

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Arthur Landwehr

Die zerrissenen Staaten von Amerika

Alte Mythen und neue Werte – ein Land kämpft um seine Identität

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Mit Spannung blickt die Welt auf den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen im Herbst 2024. Schaffen es die Demokraten ein weiteres Mal, ihre Ideen von Verantwortung und sozialer Gerechtigkeit gegen den republikanischen Populismus à la Trump zu verteidigen? Der USA-Experte Arthur Landwehr spürt den Stimmungen der Wähler zu Beginn der Vorwahlen nach und beschreibt den Wahlkampf als Kulturkampf und Sorge um die eigene Identität als Amerikaner. Im Mittelpunkt: die Abstiegsangst der weißen Mittelschicht und das zunehmende Selbstbewusstsein von Schwarzen und Hispanics, der Mythos vom Cowboy und der Einfluss der „woken“ Intellektuellen in den liberalen Küstenstädten. Und über allem die Frage: Was hat das mit uns Deutschen zu tun?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Einleitung

Ein tiefer Riss geht durch die Nation

Wenn der »Amerikanische Traum« zum Albtraum wird

»White Anxiety«

Wokeness und »Black Lives Matter«

Amerikanischer Tribalismus

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Mythos Cowboy

»Waffen sind Freiheit«

Mobilität

Identität als treibende politische Kraft

Dank

Meinen verstorbenen Eltern

 

Ihnen verdanke ich ein Leben, das einem amerikanischen Mythos entlehnt sein könnte – aus einfachen Verhältnissen den Weg in einen faszinierenden Beruf gehen zu können.

Sie haben Bildung ermöglicht, ihnen fremde und manchmal suspekte Gedanken zugelassen und Mut gemacht, wenn es mal nicht so gut lief. Danke!

Einleitung

Schweiß läuft ihnen von der Stirn, sie versuchen sich, mit kleinen Fächern in den Händen, ein wenig Kühlung zuzuwedeln. Es ist einer dieser schwülheißen Sommertage in Washington; die fast einhundert Menschen unterschiedlichster Herkunft haben sich herausgeputzt, tragen festliche Kleider, Anzüge, ein paar auch Trachten ihrer Heimat, hier der Turban eines indischen Sikh, dort Frauen aus Südamerika mit ihren bunten Kleidern. Man hat ihnen Klappstühle auf den Rasen gestellt, Schatten gibt es nur auf der Bühne vor ihnen, wo eine Beamtin des amerikanischen Heimatschutzministeriums neben einem Martha-Washington-Double alles daransetzt, fröhliche Festtagsstimmung zu verbreiten.

Der Ort ist symbolträchtig für den Anlass, eine Einbürgerungszeremonie. Die Plantage »Mount Vernon« südlich der amerikanischen Hauptstadt ist George Washingtons Zuhause, von hier stammte der erste Präsident der Vereinigten Staaten. Die Menschen auf den Stühlen werden in wenigen Minuten die neuesten Bürger der USA sein, sobald sie den Treueschwur auf die Verfassung abgelegt und versprochen haben, ihr neues Heimatland auf jede Art zu verteidigen, sollte das notwendig werden. Symbole spielen im amerikanischen Umgang mit der Nation seit jeher eine große Rolle, so wie die Anwesenheit einer Gruppe Frauen mit traditionellen amerikanischen Kleidern, die die Einbürgerungsurkunden in der Hand tragen. Sie nennen sich »Daughters of the Revolution«, Töchter der Revolution, bei denen nur Mitglied werden kann, wer Vorfahren nachweist, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft haben. Die Nachfahren der ersten unabhängigen Amerikaner begrüßen die neuesten Bürger des »Land of the Free, Home of the Brave«, des Landes der Freien und Mutigen, wie es in der Nationalhymne heißt.

Die neuen Amerikaner stehen auf, heben die Hand mit drei Fingern Richtung Himmel und sprechen den Treueeid, der damit beginnt, alten Loyalitäten abzuschwören, bevor man die neue übernimmt: »Hiermit schwöre ich, dass ich absolut und vollständig jede Loyalität und Treue ablege, die ich gegenüber jeglichem ausländischen Herrscher, Staat oder jeglicher Hoheit habe, dessen Staatsangehöriger oder Bürger ich war.« Am Ende jubeln sie, haben Tränen in den Augen und liegen sich in den Armen, während die Verwandten und Freunde am Rand so viele Fotos wie möglich schießen.

»Ich möchte gern wissen, für wie viele von denen das der erste Meineid als Amerikaner ist«, hört man immer wieder von Kritikern einer liberalen Einwanderungspolitik. »Wir achten viel zu wenig darauf, ob die Einwanderer nicht eigentlich weiter das bleiben, was sie schon immer waren. Sie wollen doch nur die Staatsbürgerschaft, damit sie ihre Familie nachholen können.« Dann verweisen sie darauf, dass ein großer Teil ja eine doppelte Staatsbürgerschaft behalte und sich nur wenig darum kümmere, was es wirklich heißt, Amerikanerin oder Amerikaner zu sein. Das Land sei immer so stolz darauf gewesen, dass fast alle von sich sagen: »Ich bin Amerikaner!«, und dann hinzufügen, dass sie italienischer, iranischer, pakistanischer oder anderer Herkunft sind. Heute sagten immer mehr häufiger als Erstes, dass sie zum Beispiel Eritreer seien und einen amerikanischen Pass hätten.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind im Frühjahr 2024 ein Land der leeren Sockel. Hunderte Statuen, die als Helden für die Geschichte dieses Landes von der Besiedlung über die Unabhängigkeit bis zum Bürgerkrieg stehen, sind verschwunden, manchmal beschmiert und von ihren aus Stein gemauerten Podesten gestürzt, manchmal mit Gemeinderatsbeschluss abgeräumt und verschämt in Museen untergebracht, mit entschuldigenden Texttafeln versehen.1 Generäle der Südstaaten, die im Bürgerkrieg für den Erhalt der Sklaverei kämpften, sind darunter, aber auch die eigentlich Unantastbaren. Entdecker Christoph Kolumbus stürzt während der Unruhen 2020 unter dem Jubel von Demonstranten ins Wasser, Gründungsväter und Autoren der Verfassung, ehemalige Präsidenten wie Thomas Jefferson und sogar George Washington werden nicht mehr wegen ihrer politischen Leistung, sondern als »Sklavenhalter« wahrgenommen und sind wohl deshalb nicht mehr tragbar. Das gilt auch für Francis Scott Key, den Dichter der amerikanischen Nationalhymne. Theodore Roosevelt darf in New York nicht mehr auf einem Pferd neben einem amerikanischen Ureinwohner gezeigt werden, in San Francisco und anderen kalifornischen Städten müssen Denkmäler für franziskanische Missionare weichen, Statuen von Gouverneuren oder Helden der Eroberung des amerikanischen Westens wie Kit Carson. In Washington entzündet sich eine Debatte um ein »Emancipation«-Denkmal, das Abraham Lincoln zeigt, der einem vor ihm knienden Afroamerikaner die Freiheit gibt. Die Polizei schützt es mit hohen Zäunen gegen Demonstranten, die es abbauen wollen. Die Nation kann sich nicht mehr auf eine gemeinsame Geschichte einigen, die Menschen finden keine gemeinsamen neuen Helden, mit denen sie die leeren Sockel füllen könnten, die eine Brücke bauen, die man gemeinsam feiert und als Vorbilder ehrt.

Stattdessen ist die Nation zerrissen. Stadt gegen Land, Schwarz gegen Weiß, Frau gegen Mann. Ein Land voller Gretchenfragen, deren Antworten jeden einer Gruppe zuordnet, als gut oder böse, für mich oder gegen mich bestimmt: Wie hältst du es mit der Religion, dem Recht auf Abtreibung, dem Recht auf Waffenbesitz, der Freiheit sexueller Orientierung? Glaubst du an systemischen Rassismus, an Quoten für Minderheiten, an den Vorrang jeder individuellen Identität gegenüber einem gemeinsamen Wertekanon? Nicht mehr unterschiedliche Interessen und Lebensentwürfe, verschiedene Meinungen und Ideen stehen zur Diskussion und werden im politischen Diskurs entschieden. Es gibt keine Kompromisse, weil es darum nicht mehr geht, denn der Streit trifft den Kern, die Identität jedes Einzelnen, die sich in der Identität als Gruppe und im Kampf um die Identität als Land und Nation spiegelt.

Wann hat das eigentlich angefangen, wann haben die Menschen Amerikas aufgehört, miteinander zu sprechen, und begonnen, sich stattdessen anzuschreien, sich gegenseitig Verrat vorzuwerfen, Verrat an Gerechtigkeit, Verrat an Freiheit, Verrat an der Demokratie, Verrat am Patriotismus?

Ich möchte im Folgenden zeigen, dass diese Gegensätze hochaktuell sind und gleichzeitig zur DNA des amerikanischen Selbstverständnisses und ihres Werdens gehören. Bereits 1992 zog der Republikaner George H. W. Bush gegen Bill Clinton mit der Drohung in den Wahlkampf, der werde die Nation ihrer Identität berauben. »In dieser Wahl geht es um viel mehr, als wer was bekommt. Es geht darum, wer wir sind. Es geht darum, woran wir glauben. Es geht darum, wofür wir als Amerikaner stehen. Dies ist ein Kulturkrieg, genauso entscheidend für die Nation, die wir eines Tages sein werden, wie es der Kalte Krieg war«, rief der rechtskonservative Pat Buchanan damals den Delegierten des Wahlparteitages zu und bekam Standing Ovations. Dieser Satz erlebt eine mächtige Renaissance, der Begriff des »Kulturkrieges« prägt die politische Auseinandersetzung mehr als Inhalte und politische Ziele. Alles deutet darauf hin, dass er das ungeschriebene Motto beim Wahlparteitag 2024 in Milwaukee sein wird, wenn die Republikaner ihre Kandidatin oder ihren Kandidaten für den Kampf gegen Amtsinhaber Joe Biden küren.

Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ist durchzogen von Wendepunkten, die man im Rückblick erkennt, die aber in der Situation als unüberwindbare Gegensätze und beginnendes Auseinanderbrechen erlebt werden. Jede Generation kennt solche Zeiten, empfindet die tiefe Verunsicherung des eigenen Daseins und der eigenen Position in der amerikanischen Gesellschaft, bis sich das Land wieder auf Zeit für einen gemeinsamen Weg verständigt.

Sich als Kolonie von England loszusagen und eine Revolution zu wagen, ist im 18. Jahrhundert alles andere als Konsens. Einwanderung durchzieht die gesamte amerikanische Geschichte als Konflikt, immer grenzen sich die im Land gegen die von außen ab. Die protestantischen Englandstämmigen gegen die katholischen Iren. Chinesische Bauarbeiter holte man für die Eisenbahn, wollte aber keine asiatische Einwanderung. Osteuropäer, Juden, Muslime, Latinos aus Südamerika – viele gerieten irgendwann in den Fokus. Der Konflikt des sich industrialisierenden Nordens gegen den agrarischen Süden wurde über die Frage der Sklaverei ausgetragen und fand seinen Höhepunkt im Bürgerkrieg, der das Land beinahe tatsächlich in zwei Teile zerriss. Das Engagement in Kriegen auf der ganzen Welt spaltete die Gesellschaft nahezu unversöhnlich, die beiden Weltkriege ebenso wie Vietnam und später der Irak und Afghanistan. Nicht zuletzt trafen Glaubensfragen und gesellschaftliche Traditionen auf säkulare Bewegungen, auf ein neues Selbstbewusstsein marginalisierter Gruppen. Heute bestimmen die Themen des Kulturkampfes von Waffenbesitz über Abtreibung bis gleichgeschlechtliche Ehe den politischen Diskurs. Politisch bringen sich die roten, also republikanisch wählenden Bundesstaaten gegen die blauen demokratischen in Stellung.

Die Amtszeit des Präsidenten Donald Trump war insofern außergewöhnlich, als er den Antagonismus der unterschiedlichen Gruppen durch unverhüllten Populismus förderte und zum Werkzeug für seine politischen Ziele machte. Er traf damit auf ein tiefes Bedürfnis verunsicherter Gruppen, die sich endlich verstanden, geschützt und wieder respektiert fühlten. Deshalb konnte Trump auch als Wahlverlierer seine Partei im Griff halten, obwohl er durch Skandale, Ermittlungsverfahren und seine Rolle beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 bis heute angeschlagen ist und das Establishment seiner Partei ihn an die Seite zu drängen versucht. Sein Rückhalt bei der republikanischen Kernwählerschaft, bei der arbeitenden Weißen Mittelschicht außerhalb der Großstädte ist so stark, dass er trotz des sehr unterschiedlichen Bewerberfelds den Wahlkampf 2024 in Stil und Inhalt prägt. Selbst wenn er am Ende nicht als Kandidat der Republikaner ins Rennen gehen sollte, wird diese republikanische Basis jeden Kandidaten und jede Kandidatin an ihm messen. Das wird mit dazu beitragen, dass die zerrissenen Staaten von Amerika vorerst genau das bleiben.

Joe Biden war als Präsident angetreten, um das politisch gespaltene amerikanische Volk und die nahezu handlungsunfähig gewordenen politischen Institutionen zu versöhnen und wieder auf gemeinsame Ziele einzuschwören. Der Kampf gegen die Covid-19-Pandemie zu Beginn seiner Amtszeit hätte so ein Zusammenrücken gegen einen äußeren Feind sein können. Später wäre die Verteidigung der demokratischen Ordnung des Westens in der Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine ebenfalls dafür geeignet gewesen. Gelungen ist ihm beides nicht. Im Gegenteil, die von Donald Trump ausgelegte Saat eines Kulturkampfes ist weiter aufgegangen und hat sich noch stärker als politisches Werkzeug nützlich gemacht, um eigenes konservatives Profil zu schärfen und damit das eigene Wählerpotenzial optimal zu mobilisieren. Das gilt nicht nur für Donald Trump, sondern auch für die meisten derjenigen, die im innerparteilichen Vorwahlkampf gegen ihn antreten.

Bei diesem seit mehreren Jahren schwelenden und politisch genährten Kulturkampf geht es um nicht weniger als die Frage, was es eigentlich heißt, Amerikaner zu sein. Wofür steht dieses Land, welche Werte prägen heute den Alltag und welche sollen das in Zukunft sein? Vor allem konzentriert sich der ideologische Streit darauf, wer das eigentlich definiert. Dabei ist längst infrage gestellt, ob es überhaupt noch eine übergreifende und gemeinsam geglaubte amerikanische Identität geben kann und soll. Zusammengehalten wird das Land scheinbar noch immer durch starke und gleichzeitig leicht greifbare Symbole: Flagge, Hymne, patriotische Feiertage oder mit Inbrunst gesungene sentimentale Lieder wie »America the Beautiful« oder »This Land is Your Land«. Bei jedem Footballspiel gehört das weiterhin zum bejubelten Ritual, aber bei der Frage, für welche Werte und welches Weltbild diese Symbole eigentlich stehen, kommt es zur politischen Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit.

Trifft man Menschen im konservativen Lager, bekommt man eine Beschreibung dieser Werte, die sich über die Zeit nur wenig verändert hat. Es seien die Dinge, die Amerika groß gemacht hätten, allen voran die Freiheit des Individuums, das in diesem Land zum ersten Mal in der Geschichte die Möglichkeit bekommen habe, sein Glück selbst in die Hand zu nehmen. Was das Land ausmache, sei, Verantwortung für sich selbst zu tragen, hart zu arbeiten, die Familie, die Religion und sich selbst schützen zu können, auch gegenüber dem Staat. Stolz zu sein auf die eigene Geschichte, darauf, eine Nation mit all ihren Institutionen geschaffen zu haben, die es den Menschen ermöglicht, ihr Glück selbst zu definieren und für den eigenen Wohlstand zu sorgen.

Die gleiche Frage in anderen Bevölkerungsgruppen gestellt, liefert ganz andere Antworten und Vorstellungen davon, was Freiheit in Amerika ausmacht, um eigene Lebensentwürfe zu ermöglichen. Das oben beschriebene Amerika sei nichts als ein überkommenes Gesellschaftsideal, das mit aller Macht alte Privilegien zementieren wolle, über Jahrhunderte von weißen, europäischen, meist protestantischen Männern systematisch angehäuft und in den Institutionen verankert. »Gleiche Rechte für alle« sei in diesem Sinne die Anpassung an dieses System, indem man die eigene Identität aufgibt und sich damit zufriedengibt, geduldetes Mitglied dieser traditionellen Gesellschaft zu sein. Aus dieser Analyse ist die Forderung entstanden, das bestehende Modell der amerikanischen Gesellschaft aufzulösen und die Vorstellung von Integration unterschiedlicher Identitäten in einer gemeinsamen Definition der amerikanischen Nation und ihrer Werte zu den Akten zu legen.

Die Demokraten und ihr Kandidat Joe Biden stehen im Wahlkampf 2024 vor der Aufgabe, ihre gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Programme und Erfolge in den Mittelpunkt zu rücken und zu wahlentscheidenden Kriterien zu machen. Billionen an Dollar, die die Folgen der Corona-Pandemie abfedern, gehören ebenso dazu wie die gewaltigen Summen, mit denen die marode Infrastruktur des Landes saniert wird. Ein paar Erleichterungen bei den Kosten für die Gesundheit hat Biden auf der Habenseite, das »Anti-Inflations-Gesetz«, das Forschung und Wirtschaft auf einen Kurs zum Klimaschutz bringt, ebenso wie eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit und steigende Löhne für die arbeitende Mittelschicht. Die Inflation, die Lohnzuwächse und mühsam Erspartes an der Supermarktkasse und der Zapfsäule wegschmelzen lässt, muss er sich vorhalten lassen. Im Sommer 2023 kühlte die Teuerung in den USA merklich ab, die Gefahr einer Rezession scheint gebannt, und Biden kann nur hoffen, dass die Interventionen der Zentralbank »Federal Reserve« nachhaltig bis zur Wahl im November wirken. Vorwerfen wird man ihm auch den chaotischen Abzug aus Afghanistan, und an den Milliarden für die Waffen, mit denen die USA die Ukraine unterstützen, setzt der rechtskonservative Flügel der Republikaner mit seiner Kritik an.

Wie auch immer die Wahl ausgeht und wer auch immer das Land in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts führen wird, am fundamental zerrissenen Zustand der Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika wird dies zunächst nichts ändern. Es reicht über den Tag hinaus, wenn man diese Zerrissenheit in ihren tiefen Wurzeln zu verstehen versucht, um eine Vorstellung davon zu bekommen, warum die amerikanische Nation handelt, wie sie handelt, warum das noch immer mächtigste Land der Erde im Inneren von der mobilsten Gesellschaft zum Stillstand mutiert ist.

Europäern fällt es leicht, über die inneren Konflikte Amerikas zu urteilen und dabei die Maßstäbe der eigenen Traditionen und Gewohnheiten anzulegen. Ohne einen Perspektivenwechsel, ohne sich in die Schuhe amerikanischer gesellschaftlicher Realität und Geschichte zu stellen, gehen die Urteile allerdings häufig an der wahren Bedeutung der Konflikte vorbei.

Die USA stehen an einem Scheideweg, können durchaus den Weg zurückfinden zu einer gemeinsamen Vision ihrer demokratischen Gesellschaft. Sie können zurückfinden zu Konsens und Respekt für staatliche Institutionen und demokratische Regeln wie die Anerkennung von Wahlergebnissen. So schmerzhaft es war, aber in der Vergangenheit ist ihnen das selbst nach schwersten Konflikten immer wieder gelungen. Beispiele dafür sind der Bürgerkrieg oder die Befriedung nach den 1968er-Protesten gegen die traditionelle bürgerliche Ordnung, dem gewalttätigen Kampf um die Bürgerrechte und der Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg. Sicher ist das nicht, denn Gewalt hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend als politisches Mittel etabliert, mit einem Höhepunkt am 6. Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol.

Ich halte es für sehr wichtig, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aus der amerikanischen Perspektive und Geschichte zu verstehen, den Adrienne LaFrance, Chefredakteurin von The Atlantic, De-Zivilisierung nennt: »In Zeiten der De-Zivilisierung finden ganz normale Menschen keinen gemeinsamen Boden mehr und verlieren das Vertrauen in Institutionen und ihre gewählten Führungspersonen. Gemeinsames Wissen bröckelt, und Bindungen quer durch die Gesellschaft zerfasern.«1 Auch wenn es solche Prozesse überall auf der Welt gibt, sind die Abläufe nicht übertragbar. Dieses Buch will einen Beitrag leisten, das spezifisch Amerikanische in dieser Entwicklung zu erklären und verständlich zu machen.

Es unternimmt eine Reise in die Tiefe amerikanischen Lebens in vielen Teilen des Landes. Weit mehr als ein Jahrzehnt sind die USA mein Zuhause gewesen, beginnend mit einem Studium im Norden Floridas bis hin zu zwei mehrjährigen Aufenthalten als Auslandskorrespondent für den ARD-Hörfunk. Zahllose Begegnungen bilden die Grundlage: Gespräche mit konservativen und progressiven Menschen, mit Enttäuschten, mit Menschen, die um ein einigermaßen auskömmliches Leben ringen, mit optimistischen und visionären Amerikanern im ganzen Land. Die Alltags- und Reiseerlebnisse beschreiben ein Amerika, das verzweifelt um seinen Weg in die Zukunft ringt und sich gleichzeitig immer mehr über unterschiedliche Gruppen definiert, die sich wie verfeindete Stämme gegenüberstehen.

Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Zum Teil stecken ihre Wurzeln in jahrzehnte- und jahrhundertealten Schichten. Zum Teil haben sie aktuelle Bezüge und passen nicht zu den gewachsenen Werten und Ansichten.

Themen dieses Buches verknüpfen all diese so unterschiedlichen Gründe mit der Lebenswirklichkeit heute.

Mir ist es immer wichtig, zuzuhören und meine eigene deutsch-europäische Sozialisation dabei so gut wie möglich in den Hintergrund zu stellen. Wir glauben schnell, Amerikaner zu verstehen, weil sie uns scheinbar ähnlich sind. Fast jeder hat persönliche Erfahrungen, bei Urlaubsreisen, Begegnungen mit Soldaten oder auch nur, weil man mit amerikanischer Musik und Kultur aufwächst. Selbst wenn es keine persönlichen Erfahrungen sind, so ist unsere Gesellschaft, unsere Politik, sind eigene Ängste und Empörung immer mit den USA verwoben.

Die Wahrheit ist, dass wir unterschiedlicher sind, als wir glauben; gut Englisch sprechen zu können, heißt alles andere als zu verstehen, was das Gegenüber meint. Zuhören heißt deshalb für mich, auch die eigenen Überzeugungen und Haltungen zurückzunehmen, denn sie spielen keine Rolle, wenn es darum geht, etwas kennenzulernen und zu durchdringen. Im Gegenteil: Ich versuche, mich bei meinen Begegnungen und Reisen in die Schuhe meiner Gesprächspartner zu stellen und die Dinge aus ihrer Sicht zu sehen. Dabei lerne ich, warum zum Beispiel Anhänger des früheren Präsidenten Trump ihn bis heute lieben, ihm alles verzeihen und sie notfalls zur Waffe greifen würden, um ihn zu verteidigen. Ich lerne, warum vielen Afroamerikanern Martin Luther King kein Vorbild mehr ist, sie seine Vision eines gemeinsamen Tischs für alle Amerikaner in einer gerechten Gesellschaft nicht mehr teilen. Ich lerne, dass für sie der Sturz einer Statue von Thomas Jefferson weitaus mehr bedeutet als Wut und Aggression in einer aufgeheizten Situation. Ich lerne, warum Menschen in wohlhabenden Wohngegenden alles daransetzen, dass ihre Schulen besser bleiben als die in ärmeren Stadtteilen. Zu den Erkenntnissen gehört auch, warum vielen in den Vereinigten Staaten so wichtig ist, eine Waffe zu besitzen.

Vieles, was ich erlebe und erfahre, teile ich persönlich nicht, aber ich will und kann es aus der jeweiligen Sicht nachvollziehen. Ich erlebe immer wieder, dass das hier in Deutschland auf Widerspruch stößt, mir die Frage gestellt wird, wie ich das zulassen kann, keine Widerrede führe. Das aber sehe ich nicht als meine Rolle. Dieses Buch beschreibt und erklärt viele Lebensentwürfe, Sichtweisen und Überzeugungen. Manche, mal in die eine, mal in die andere Richtung, sind vielleicht schwer erträglich und erschüttern das eigene Bild von Amerika. Ich halte die Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Perspektiven aber für notwendig, um zu verstehen, warum die Vereinigten Staaten von Amerika heute ein zerrissenes Land sind. Angst ist derzeit ein prägendes Gefühl in den USA, die Angst vor gesellschaftlichem Bedeutungsverlust ebenso wie die Angst, den ökonomischen Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein, die Angst der Mittelschicht, dass dem eigenen mühsam errungenen Aufstieg der Abstieg folgt, wenn nicht der eigene, so doch der der Kinder. Da ist bei den Minderheiten die Sorge, niemals den Status der Zweitklassigkeit ablegen zu können, niemals dieses Land als das eigene Land erleben zu dürfen. Alltagssorgen prägen das Leben der Durchschnittsamerikaner, die für die meisten Europäer keine Rolle spielen. Dass eine einzige Erkrankung zu Armut führen könnte, weil die Krankenkasse nicht für die Behandlungskosten aufkommt, oder dass die eigenen Kinder weniger Chancen auf einen guten Beruf haben könnten, weil man die Universität nicht bezahlen kann, dass man im Alter bis zur Erschöpfung arbeiten muss, weil ein Aktiencrash oder schlechte Beratung die Altersversorgung vernichten könnte, oder dass man wegen seiner Hautfarbe Gewalt erfährt. All dies hat Auswirkungen darauf, wie man zu seinem Land und zur Politik steht.

Weder diese Ängste noch die unversöhnlich scheinenden Gegensätze bei Meinungen, Werten, Lebensweisen und Zukunftsbildern sind aus sich heraus entstanden oder ein vorübergehender Zustand. Sie gründen in jenen Mythen, die davon erzählen, was Amerika war, ist und ausmacht. Amerikaner und diejenigen, die von außen auf die USA schauen, leben und urteilen mit einer unübersehbaren Vielzahl dieser Mythen und Glaubenssätze vom »amerikanisch sein«. Mythen aber charakterisiert, dass sie meist den Kern einer früheren Wahrheit beinhalten, mit der die Gegenwart erklärt wird. Da alte Wahrheiten und die Lebenswirklichkeit der Gegenwart auseinanderfallen, führt das zwangsläufig zu sehr unterschiedlichen Narrativen über das, was gut oder böse, richtig oder falsch ist.

Da ist weiterhin der Gründungsmythos des Wilden Westens lebendig. Getragen von der Ehre der Cowboys und von ihrer Unabhängigkeit, beschreibt er das Aufeinanderprallen von Wildnis und Zivilisation, das Zähmen der Natur, die man sich im biblischen Sinne untertan macht. Die emotionale Beziehung vieler Amerikaner zu ihren Waffen gründet in realen und mythischen Bedürfnissen aus jener Zeit, in der das Land zu seiner heutigen Gestalt gefunden hat. Da ist die sprichwörtliche Mobilität der Amerikaner, sei es in den Wagentrecks nach Westen, der Liebe zum Auto, der ständigen Bereitschaft, sein Zuhause zu verlassen, um etwas Besseres zu suchen. Mobilität ist auch die Mobilität durch die sozialen Schichten, dieser Mythos vom Tellerwäscher, der es zum Millionär schafft. Auch hier klaffen Mythos und Realität immer stärker und immer spürbarer auseinander. Das schafft Enttäuschung und Verbitterung, das verunsichert und bedroht die Menschen in ihrer Identität.

Vieles von dem, was in diesem Buch erzählt, beschrieben und analysiert wird, ist nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Auch in Europa zerbröckeln die Glaubenssätze und lösen sich sicher geglaubte Wahrheiten auf. Liberalismus ist manchen zum Schimpfwort geworden, weil er nicht mehr als Freiheit, sondern als Bürde und Hindernis erlebt wird. Die Wirkung sozialer Netzwerke und anderer Echokammern lassen den Diskurs über »Normalität« aggressiver werden. So wie in den USA fühlen sich Menschen in den westlichen Industriegesellschaften immer weniger von der etablierten Politik verstanden und repräsentiert, kritisieren das Verhalten selbst ernannter Eliten, die sich schadlos halten und sich um Minderheiteninteressen mehr sorgen als um den Alltag der arbeitenden Menschen. Auch in Europa verlieren Medien, Wirtschaft und Politik die Loyalität der Bürgerlichen, die Hilfe bei extremen Parteien suchen. Dieser Bogen von den zerrissenen Staaten von Amerika zu den auseinanderdriftenden Gesellschaften Europas schließt das Buch ab.

Ein tiefer Riss geht durch die Nation

Politischer Kulturkampf und der Angriff auf die offene Gesellschaft

Sonntagmorgen in der First Baptist Church von DeFuniak Springs im sogenannten Florida Panhandle, direkt an der Grenze zu Alabama. Große Militärbasen, Tourismus entlang der Küste des Golfs von Mexiko und Landwirtschaft prägen diesen Landstrich des amerikanischen Südens. Das 6000 Einwohner zählende Städtchen gehört zum »Bible Belt«, die meisten hier sind fromme und regelmäßige Kirchgänger, die Religion gibt den Takt für das tägliche Leben vor. Zehn Gemeinden der konservativen »Southern Baptists« konkurrieren um die Seelen der Bürger, Katholiken und andere protestantische Konfessionen kommen zusammen gerade einmal auf die Hälfte. 84 Prozent der Bevölkerung im Landkreis sind Weiß, man wählte schon immer konservativ, und für Donald Trump stimmten 2020 im Landkreis 75 Prozent der Wähler. Als er nach der Zwischenwahl seine Kandidatur für 2024 bekannt gibt, löst das Freude aus. Denn man traut hier niemandem zu, Trumps Politik fortzusetzen. Das gilt auch für dessen Gegenkandidaten im Rennen um die Präsidentschaft Ron DeSantis, den man zwar für einen guten Gouverneur hält, der aber Trump als ihren Helden nicht ersetzen kann.

Die Türen des roten Backsteinbaus mit spitzem weißem Kirchturm und mit Säulen verziertem Treppenaufgang öffnen sich früh am Morgen. In der First Baptist Church gibt es nämlich Kaffee und Kuchen für diejenigen, die schon eine Stunde vor dem Gottesdienst zur sonntäglichen Bibelschule kommen. Donny Richardson ist der größte Erdnussfarmer der Gegend, seine riesigen Felder erstrecken sich über 30000 Hektar und reichen weit nach Alabama hinein. Die Sonntagsschule ist sein Dienst für die Gemeinde. Sein Job ist es, jeden Sonntag einen Bibelvers zu interpretieren und auf das reale Leben zu übertragen. An diesem Sonntag ringt er mit dem Buch Josua, um den Konflikt im Nahen Osten zu erklären.

»Wir haben die Globalisierung verehrt wie eine Religion«, sagt er anschließend im Gespräch. »Schau, was das aus Amerika gemacht hat. Wir haben unsere moralische Basis verloren, und nur wenn wir zur Moral zurückfinden, überwinden wir die Spaltung unserer Gesellschaft.« Die Gesellschaft müsse endlich anerkennen, dass die amerikanische Nation ihre Wurzeln in der Religion habe, dass sie auf Religion gebaut sei. Liberalismus habe jede Sicherheit und Werteordnung zerstört.

Wenn er und die anderen Gemeindemitglieder hier »Liberalismus« sagen, meinen sie damit mehrere Dinge gleichzeitig. Zunächst sind alle Linken »Liberals«, dazu zählen die meisten Demokraten, insbesondere der Flügel, der für mehr Staat, mehr Sozialleistungen, mehr Klimaschutz, mehr Gesetze gegen Waffen, mehr Regeln eintritt. Sie meinen aber auch, dass Liberalismus als philosophische Basis für Freiheit pervertiert worden sei. Aus der Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen sei eine Beliebigkeit geworden, die jede Werteordnung zerstört. Alles müsse dafür getan werden, das Land wieder auf den Weg zurückzubringen, für den es gegründet wurde.

Die Regierung Biden gehe in die entgegengesetzte Richtung, habe sich von den Linken in der Partei in Geiselhaft nehmen lassen, sagt Donny, schütze nicht mehr die Grundlagen der Gesellschaft, schütze nicht mehr die Familie, das ungeborene Leben, die von Gott gegebene Ordnung. Außerdem kümmere sie sich nicht um das, was sie als Bürger verdienten, bringe keine Jobs zurück, die durch Globalisierung exportiert worden seien. Donald Trump habe Amerika wieder den Vorrang eingeräumt und dem internationalen Wirtschaftsliberalismus klare Kante gezeigt. China Grenzen zu setzen, statt um des lieben Friedens willen zu buckeln, das sei dessen Verdienst. Dass er dabei Farmern wie ihm mit Subventionen den Verlust ausgeglichen habe, zeige, wofür sein Herz schlägt.

Vor allem schützten die linken Demokraten das Land nicht davor, sich selbst zu verlieren. Die so glorreiche amerikanische Geschichte sei unter Beschuss, man wolle den Mut und die Entbehrungen ihrer Vorfahren entwerten. »1776« stehe nicht nur für die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von einem unterdrückerischen kolonialen Herrscher in England, sondern vor allem für individuelle Freiheit. Dass jeder alles werden könne, dafür stehe die Nation, dafür, dass der Einzelne wichtiger sei als der Staat. Das alles solle künftig nichts mehr gelten, weil die amerikanische Geschichte nur noch als eine von Sklaverei, Diskriminierung und Unterdrückung verstanden werde, die 1619 mit dem Verkauf der ersten Sklaven begonnen habe. Ohne Frage, amerikanische Geschichte habe auch ihre dunklen Seiten, Sklaverei und Rassendiskriminierung seien schlimm gewesen, und daran müsse erinnert werden. Aber er wolle, dass in der Schule die Geschichte Amerikas von 1776 gelehrt werde, nicht die von 1619.

Rebecca, eine Mittvierzigerin mit modischer Brille und bescheidenem Kirchgangschic, kommt dazu. »Die nennen es liberal«, sagt sie und nimmt Donny Richardsons Begriff auf, »meinen aber nur, dass alles egal ist und jeder tun kann, was er will.« Die Verfassung sei doch die entscheidende Leitplanke, die die Gründer der Nation gegeben hätten, und die setze Gottes Willen an die Spitze. Ihr Mann hakt ein und empört sich, dass die Linke versuche, die Verfassung neu zu interpretieren, er nennt es »manipulieren«. Die Verfassung gelte so, wie die Autoren sie geschrieben hätten, und man müsse ergründen, was diese für Amerika gewollt hätten. Freiheit brauche Ordnung und klare Gesetze, derzeit aber drohe das Land ins Chaos zu stürzen.

Sherill stimmt dem zu, unterstreicht, dass Amerika doch auf bürgerliche und persönliche Freiheit (Liberty and Freedom) aufbaue, die in der Revolution erkämpft worden seien. Die dürfe man den Menschen nicht nehmen, ihnen nicht den Mund verbieten, sie als Rassisten und Unterdrücker abstempeln, nur weil sie für ein authentisches Amerika eintreten. Auch sie kommt auf Liberalismus zu sprechen. Was unter diesem Deckmantel daherkomme, sei in Wahrheit purer Egoismus, habe nur das Ziel, die traditionellen und richtigen Werte zu zerstören. Abtreibung, kein Respekt mehr vor der Familie aus Mann und Frau, für sich selbst verantwortlich zu sein und denen zu helfen, die Hilfe benötigen – das alles sei bedroht, und zudem wolle sich der Staat überall einmischen. »Die in den großen Städten an der Küste mögen ja so denken, wir tun das nicht. In den Nachrichten sagen sie immer, wir seien eine kleine Minderheit, aber wir sind die Mehrheit in Amerika!«

Ihre Freundin Mary wird deutlich: »Wir leben doch den amerikanischen Traum, niemand kann dich daran hindern, dass du erfolgreich im Leben bist. Die andern wollen, dass der Staat für sie sorgt, wir wollen das nicht.« Die andere Partei, und damit meint sie die Demokraten, insbesondere den linken Flügel mit den großen Sozialprogrammen, die auch Biden verspricht, handele nach dem Motto »Wir nehmen es von dir und geben es den anderen«. Jeder könne hier leben, aber wer das wolle, müsse arbeiten wie sie auch. Trump habe das verstanden und zur Politik gemacht, Bidens Liberalismus zerstöre alles, bringe Millionen illegale Einwanderer ins Land, lege die hart arbeitenden Amerikaner in immer neue Fesseln.

Dies sind einzelne Stimmen aus dem konservativen Kernland der USA, die aber typisch für das Denken dieser überwiegend Weißen Mittelschicht sind, die sich nach einer Rückkehr des Trumpismus 2024 sehnt. »Liberalismus« ist dabei zunehmend zum Kernbegriff und einem Schimpfwort geworden, zur Ursache für den empfundenen Zerfall der Gesellschaft. Das macht populistisch auftretende Autokraten attraktiv, sieht sie als Retter ihrer Welt. »Die aktuellen Bedrohungen für die Demokratie und der Aufstieg autoritärer Stimmungen, die viele Wähler zumindest hinnehmen, haben mehrere Ursachen«, schreibt Pulitzer-Preisträger David Leonhardt in der New York Times.2 »Sie spiegeln die Frustration darüber, dass der Lebensstandard der amerikanischen Arbeiterklasse und Mittelschicht fast ein halbes Jahrhundert kaum gewachsen ist. Sie spiegeln auch die kulturellen Ängste, dass die USA in ein anderes Land verändert werden könnten. Ökonomische Frustration und kulturelle Ängste haben zusammen einen tiefen Graben durch das amerikanische politische Leben gezogen. Er verläuft zwischen wohlhabenden, diversen und führenden Metropolregionen auf der einen und eher traditionellen, religiös und ökonomisch ums Überleben kämpfenden kleinen Städten und ländlichen Gebieten auf der anderen. Die erste Gruppe wird immer liberaler und neigt den Demokraten zu, die andere wird konservativer und tendiert zu den Republikanern.«

Das überträgt sich unmittelbar auf das politische System, von dem zumindest der Mythos sagt, dass es früher besser in der Lage war, die Aufgaben zu lösen. Nach den Wahlen seien in der Vergangenheit Vernunft und Pragmatismus zurückgekehrt, jetzt gehe es einzig darum, das politische Gegenüber zu blockieren. Alle stehen gegeneinander, nicht nur Demokraten und Republikaner. Die Regierung habe mit dem Kongress nur noch einen unerbittlichen Gegner, nicht mehr einen Konkurrenten im kreativen politischen Wettstreit. Die Bundesstaaten positionieren sich gegen die Bundesregierung, und selbst der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof, urteile auf der Basis politischer Interessen. Politik wird vor allem von der arbeitenden Mittelschicht zunehmend als unfähig betrachtet, die anstehenden Probleme zu lösen, während sie gleichzeitig die individuellen Freiheiten einschränkt.

»Die Vereinigten Staaten sind keine Demokratie, sie sind eine Republik«, twitterte der republikanische Senator Mike Lee aus Utah mitten im letzten Präsidentschaftswahlkampf und meinte das nicht als kritische Zustandsbeschreibung, sondern als Kern seiner politischen Haltung. Er trat damit eine Debatte los, die auch das jetzt anstehende Rennen um das Weiße Haus befeuern wird. Mit seiner These reagierte er auf Vorwürfe des damaligen demokratischen Kandidaten Joe Biden, Donald Trump spalte die amerikanische Gesellschaft und gefährde die Demokratie. Lee legte mit einem ausführlichen Text3 nach und nannte mediale Kritik an dieser These »konfus und überzogen«, die geradegerückt werden müsse. Sein Argument: Demokratie werde von vielen als Herrschaft der Mehrheit verstanden, und genau das hätten die Gründungsväter nicht im Sinn gehabt. Keinesfalls habe eine Regierung das Recht oder die Aufgabe, den Willen der Mehrheit reflexartig umzusetzen. Im Gegenteil, politisches Durchsetzungsvermögen finde sich in den USA einzig in sorgfältig ausbalancierter Verteilung von Einfluss und Macht. Der Präsident, beide Kammern des Kongresses und am Ende der Supreme Court müssten im Ringen um den richtigen Weg den Willen des Volkes ermitteln. »Demokratie selbst ist nicht das Ziel. Das Ziel ist Freiheit, Wohlstand und das Gedeihen der Menschheit. Demokratische Prinzipien haben sich als wichtig für diese Ziele bewährt, sind aber nur ein Teil eines Systems von Checks and Balances (Überprüfung und Ausgleich) zwischen den Zweigen der Exekutive, Legislative und Jurisdiktion innerhalb der Bundesregierung ebenso wie zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten.«

Liberale Demokraten, so Lee, forderten »Egalitarismus«, unamerikanische Gleichmacherei. »Nur in einer konstitutionellen Republik werden individuelle Rechte und kulturelle Diversität von Amerikanern über die politische Ordnung gestellt, auch über den Willen der Mehrheit. Sogar über die Tweets eines empörten Social-Media-Mobs.«

Senator Lee warf sich damit mitten in den schwelenden Kulturkampf um die Frage, was Amerika ausmacht und wer das definieren darf. Er positionierte sich gegen »woken« Liberalismus, wie er von den Rechtskonservativen in seiner Partei gebrandmarkt wird. Forderungen nach einer linken Sozialpolitik erteilte er eine Absage, trat ein für stärkeren Grenzschutz gegen illegale Einwanderung, für ein traditionelles Familienverständnis, gegen ein liberales Abtreibungsrecht und für das Recht auf Waffenbesitz. Der Vorwurf gegen die liberalen Demokraten lautete, den Kern amerikanischer Werte zu untergraben, die auf Individualität, Wahlfreiheit und Eigenverantwortung aufbauten. An ihre Stelle setzten sie ein System staatlicher Regeln und ungeschriebener Gesetze politischer Korrektheit, die die Menschen unfrei machten. Mike Lee wurde 2022 mit großer Mehrheit wiedergewählt.

Die Sorge um die Zukunft der Demokratie mobilisierte dann doch stärker als erwartet aufseiten der Demokraten, die weitaus besser abschnitten, als man es ihnen angesichts schlechter Umfragewerte und galoppierender Inflation zutraute. Mike Lees Tweet über Demokratie versus Republik wurde in den Zwischenwahlen aber tatsächlich zu einem Schlachtruf mehrerer konservativer Kandidatinnen und Kandidaten, insbesondere derer, die mit Unterstützung von Donald Trump ins Rennen gingen. Die Mehrheit von ihnen verbreitete zu dem Zeitpunkt weiter die Unterstellung von der gestohlenen Wahl und machte klar, dass sie zukünftig mit den Optionen des Wahlrechts und gezielter Wahlanfechtung Wahlen gewinnen wollten. Das wurde für die Republikaner zum politischen Rohrkrepierer, aber die Auseinandersetzung über das Selbstverständnis der USA und der Interpretation der Verfassung war und ist nicht beendet.

Der republikanische Senator Mike Lee ist nicht der Erfinder von »Demokratie oder Republik«. Diese Frage beschäftigte schon die Autoren der Verfassung, die auf keine Erfahrung zurückgreifen konnten, als sie darüber stritten, wie man die Nation am besten regierbar macht und die gerade errungene Unabhängigkeit mit ihren individuellen Freiheiten sichert. In die aktuelle politische Diskussion aber trug es der konservative Thinktank »Heritage Foundation« in Washington. Diese politische Stiftung veröffentlichte eine Studie des amerikanischen Politologen Bernhard Dobsky mit dieser These4 und prägte damit die politische Strategie des rechten Flügels der Republikaner. »Die aktuellen Bestrebungen, unsere republikanischen Traditionen und Institutionen im Namen größerer Gleichheit zu schwächen, läuft dem Anliegen unserer Gründer zuwider, unser Land vor möglichen Exzessen demokratischer Mehrheiten zu schützen.« Damit positionierte Dobsky konservative Politik im Kulturkampf gegen jede Form der Identitätspolitik. Er legitimierte die rechtskonservative Strategie, kulturelle Ängste insbesondere der Weißen Bevölkerung zu instrumentalisieren. Sie baut auf die Sorge, in einem sich verändernden Land zu leben, in dem der eigene Status bedroht ist, das ethnisch diverser wird, in dem die eigene Hautfarbe keinen Statusvorteil mehr bietet, das immer weniger religiös ist und in dem sich die Haltung gegenüber unterschiedlichen sexuellen Identitäten verschiebt, sogar der Sprachgebrauch neu gelernt werden muss. Was für Demokraten politischer Kampf um mehr Gerechtigkeit und gleiche Chancen darstellt, ist für rechte Populisten unangemessene Gleichmacherei, die den Kern der amerikanischen Werteordnung bedroht: »Die sorgfältige Balance, die unsere gemischte Republik gepflegt hat, wird durch Egalitarismus bedroht. Dieser untergräbt die sozialen, familiären, religiösen und ökonomischen Unterscheidungen und Ungleichheit, die unserer politischen Freiheit eine Basis geben«, so Dobsky.

»Demokratie oder Republik« ist nur ein Puzzlestück des Kulturkampfes. Konservative werfen Organisationen wie »Black Lives Matter« oder Bewegungen für die Gleichstellung von Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Identitäten vor, eine intolerante und moralisierende Ideologie durchsetzen zu wollen. Nicht zufällig nutzt der republikanische Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis, bei den Zwischenwahlen erfolgreicher Gouverneur von Florida, den zum Schimpfwort gewordenen Begriff »woke«, um die zu brandmarken, die nach seiner Auffassung mit linker Gleichmacherei das Land umgestalten und seiner gewachsenen Ordnung berauben wollen. Er kämpft gegen »woken Kapitalismus« und meint damit vor allem den Disney-Konzern, der sich gegen DeSantis’ restriktive Haltung beim Umgang mit dem Thema Homosexualität in Schulbüchern und Unterricht stellt. Oder attackiert »woke Hochschulen« und geißelt damit unter anderem die University of Florida für ihre Regeln zur Gleichstellung von Menschen unterschiedlicher sexueller Identität. In der Siegesrede seiner überragenden Wiederwahl zum Gouverneur von Florida ruft er denn auch Florida zum Staat aus, »wo ›woke‹ sterben wird«.

Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama sieht als ein zentrales Merkmal der um sich greifenden Frustration über das politische System eine massive Krise des Liberalismus. Liberalismus im Sinne einer liberalen Demokratie werde nicht mehr als Errungenschaft erlebt, sondern als Bedrohung: »Die Unzufriedenheit mit der Entwicklung des Liberalismus in den letzten Jahrzehnten führt zu Forderungen sowohl von der Rechten als auch von der Linken, dass die liberale Doktrin mit Stumpf und Stiel ausgerottet und durch ein anderes System ersetzt werden müsse. Von der Linken kommen Forderungen nach einer massiven Umverteilung von Wohlstand und Macht. Anstelle des Individuums verlangen sie die Anerkennung von Gruppen auf der Grundlage unveränderlicher Eigenschaften dieser Gruppen, beispielsweise ethnischer Herkunft oder Geschlecht; ferner werden politische Maßnahmen gefordert, um die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen auszugleichen.«5 Sie betrachteten die gelebten Erfahrungen verschiedener Identitätsgruppen als fundamental unvereinbar und bestreiten, dass es universal gültige Arten der Erkenntnis geben könne.

Für Konservative, so Fukuyama, zeigt sich die Bedrohung durch den Liberalismus darin, dass er die Vorstellung von persönlicher Autonomie und Selbstbestimmung immer weiter ausdehnt und zu einem Wert an sich mache. Darin steckt ein anderer Freiheitsbegriff, der sich fundamental von »Freedom and Liberty« unterscheidet. Letztere geben dem Individuum Unabhängigkeit vom Staat und dessen Institutionen, bewegen sich aber innerhalb der gültigen Werteordnung. Was aber erlebt wird, ist, dass Identitätspolitik diese Werteordnung auflöst. Sie verdränge in der Folge andere Visionen eines guten Lebens, darunter auch die traditioneller Kultur und religiöser Traditionen. »Die Konservativen sehen darin eine Bedrohung ihrer grundlegendsten Überzeugungen und glauben, dass sie von der Mainstreamgesellschaft aktiv diskriminiert würden. Sie meinen, dass die Eliten mit undemokratischen Mitteln versuchten, ihre Agenda durchzusetzen, etwa durch die Kontrolle der Mainstreammedien, der Universitäten, der Gerichte und der Exekutivgewalt.«

Es ist derselbe Francis Fukuyama, der beim Zerfall des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges mit einem Essay und anschließenden Buch »Das Ende der Geschichte«6 weltweit für Aufsehen sorgte. Der Liberalismus, so schrieb er damals, ersetze die beiden wichtigsten politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, nämlich Faschismus und Sozialismus. Beide seien durch den Freiheitswillen der Völker überwunden und stellten keine Konkurrenz mehr für die beiden zentralen Formen des Liberalismus dar: die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft. »Der Triumph des Westens und der westlichen Ideen wird vor allem darin sichtbar, dass es keine ernst zu nehmenden Alternativen zu westlichem Liberalismus mehr gibt.«7 Sowohl in Russland als auch in China hätten Reformprozesse begonnen, die das intellektuelle Klima dort veränderten. »Aber dieses Phänomen reicht über die große Politik hinaus und kann als unvermeidliche Verbreitung der westlichen Konsumkultur gesehen werden. Diese zeigt sich in so diversen Kontexten wie Bauernmärkten und omnipräsenten Farbfernsehgeräten in China, Restaurants und Bekleidungsgeschäften, die letztes Jahr in Moskau eröffnet haben, sowie der Rockmusik, die gleichermaßen in Prag, Rangoon und Teheran gehört wird.«

Die Geschichte ist anders verlaufen. Gesellschaften, die sich scheinbar auf den Weg zu liberalen Demokratien und Volkswirtschaften gemacht hatten, werden wieder autoritär geführt, sind, wie Russland unter der Führung Wladimir Putins, sogar wieder zu Krieg als Mittel für Machterhalt und Machtausdehnung zurückgekehrt. Damals aber glaubte Fukuyama, und mit ihm eine große Zahl politischer Denker, dass sich der Liberalismus als überlegene Ideologie erwiesen hat und jede Form von Konflikt auf dieser Basis gelöst werden kann. Auch wenn noch nicht in jeder Gesellschaft liberale Demokratie und Marktwirtschaft verwirklicht worden sei, sorge der Drang nach Wohlstand und Freiheit Zug um Zug für die Realisierung.

Kritik an diesem Konzept gab es schon bald, dem Autor wurde Naivität vorgeworfen. Aber Fukuyamas Thesen verfehlten auch nicht ihre Wirkung und schürten großen Optimismus, dass mit dem Fall des »Eisernen Vorhangs« ein Zeitalter der Freiheit beginne. Der amerikanische Präsident George W. Bush stellte seine zweite Inaugurationsrede unter das Motto »Verbreitung von Freiheit«, versprach, dass der Angriff auf die größte westliche Demokratie am 11. September 2001 die USA noch mehr anspornen werde, westliche Werte in der Welt zu verbreiten: »Weil wir in der großen Befreiungstradition dieser Nation gehandelt haben, erlangten zig Millionen ihre Freiheit. So wie Hoffnung für Hoffnung sorgt, werden weitere Millionen sie finden. Mit unseren Anstrengungen haben wir ein Feuer entzündet – ein Feuer in den Köpfen der Menschen. Es wärmt diejenigen, die seine Kraft spüren, es verbrennt diejenigen, die seinen Fortschritt aufhalten wollen. Eines Tages wird das ungezähmte Feuer der Freiheit die dunkelsten Winkel dieser Welt erreichen.«8

Fukuyama unterstreicht mittlerweile, dass wesentlich zur heutigen Krise des Liberalismus beigetragen habe, dass er von der arbeitenden Mittelschicht in erster Linie als Neoliberalismus erlebt werde, als entfesselte, aus den Fugen geratene Marktwirtschaft. »Der Neoliberalismus verstärkte die ökonomische Ungleichheit auf dramatische Weise und brachte verheerende Finanzkrisen hervor, die in vielen Ländern der Welt den einfachen Menschen viel mehr schadeten als den vermögenden Eliten. Es ist diese Ungleichheit, die den Kern des progressiven Arguments gegen den Liberalismus und des mit ihm zusammenhängenden kapitalistischen Systems ausmacht.«9

Die Mittelschicht sieht sich als größtes Opfer der Globalisierung. Gerade die Arbeitsplätze, die die Basis des bescheidenen Wohlstands der Mittelschicht ausmachen, exportieren amerikanische Unternehmen Zug um Zug in Länder mit niedrigen Lohnkosten. Einen symbolhaften Höhepunkt erlebte dieser Trend im Januar 2004, als die letzte amerikanische Levi’s-Jeans-Fabrik im texanischen San Antonio schloss und amerikanische Geschäfte die legendären Denim-Hosen künftig importieren mussten. 2008 schließlich riss die Immobilienkrise die USA in eine tiefe Rezession. Genau diese Mittelschicht verlor ihre Jobs und oft genug das Zuhause, weil das eigene Haus durch den Wertverlust überschuldet war. Während sich in den Folgejahren Einkommen und Lebensstandard der Besserverdienenden mit Hochschulabschluss wieder erholten, blieben die Handwerker, Bauarbeiter, Servicekräfte, das Verkaufspersonal und andere Berufsgruppen zurück. Der Traum vom ökonomischen Aufstieg ist damals nicht nur zerplatzt, sondern wurde in sein Gegenteil verkehrt. Erst nach der Pandemie, als dramatischer Arbeitskräftemangel in allen Bereichen herrschte, stiegen erstmals wieder die Löhne für einfache Arbeiter und Angestellte. Zwischenzeitlich fraß die begleitende Inflation den Zugewinn sofort wieder auf und hat das Trauma der Angst vor einem neuen Abstieg reaktiviert. Gleichzeitig erleben die Angehörigen der Mittelschicht, dass in der Oberschicht immer mehr verdient wird, man mit ausreichend Kapital an der Börse hohe Gewinne einstreicht und sich der Abstand nach oben immer mehr vergrößert.

Die neoliberal agierende Wirtschaft entwickelte sich zu einem politischen Problem, das dem Aufstieg des rechtskonservativen Populismus den Weg öffnete. Fukuyama stellt das so dar: »Nur wenige Wählerinnen und Wähler denken in Begriffen des global aggregierten Wohlstands. Sie sagen sich nicht: ›Na gut, ich habe zwar meinen Job verloren, aber wenigstens ist jetzt jemand anders in China oder Vietnam oder ein Einwanderer in meinem eigenen Land entsprechend besser dran.‹ Und sicherlich ist es für sie auch nicht sonderlich befriedigend, sehen zu müssen, dass sich die Eigentümer der Unternehmen, von denen sie gerade gefeuert worden waren, über steigende Aktienkurse und enorme Bonuszahlungen freuen dürfen, oder dass sie mit ihrer Arbeitslosenunterstützung nun Waren ›Made in China‹ im lokalen Supermarkt billiger einkaufen können.«10 Sie fühlen sich von den »Eliten« betrogen und wählen, wer sich, wie Donald Trump, gegen diese Eliten positioniert.

Die desillusionierte Mittelschicht gibt Politikern wie ihm eine Chance, eine andere und bessere Politik zu machen, vertraut denen, die versprechen, der Globalisierung und Marktliberalität wieder Grenzen zu setzen. »America first« lautet eine Parole, die das Ende des liberalen Experiments einläuten soll. Dieser Ansatz aber ist einer, der keine neue Vision einer besseren Gesellschaft entwickelt, sondern verklärend in die Vergangenheit blickt. Denn die erscheint als bessere Alternative zur Gegenwart.

»Ein wichtiger Motor für die Abkehr vom Liberalismus ist das Verschwinden der Zukunft«, sagt der bulgarische Politologe Ivan Krastev, der in Wien über die Zukunft der Demokratie forscht. »Liberalismus war immer Teil einer progressiven Weltsicht: In ein paar Jahren werden wir unsere Probleme beseitigt haben. Diese Hoffnung ist vielen verloren gegangen – auf der Rechten und auf der Linken.«11 Dies habe nicht nur zum Aufstieg Donald Trumps, sondern mehrerer nationalistisch-populistischer Bewegungen in europäischen Ländern geführt, allen voran Ungarn mit Viktor Orbán. Angst vor der Zukunft verunsichere und gebe denen Auftrieb, die scheinbare Sicherheit anbieten, auch wenn die in der Vergangenheit verankert ist.

Beide Erscheinungsformen des Liberalismus und ihrer Vertreter tragen zur Krise des Liberalismus selbst bei, so Francis Fukuyama: Auf der einen Seite der Neoliberalismus, der die liberale Demokratie bedroht, indem er übermäßige Ungleichheit und finanzielle Instabilität verursacht. Auf der anderen Seite ein linker Liberalismus, der sich zu einer modernen Identitätspolitik verwandelt, die in manchen Ausprägungen so kompromisslos und autoritär daherkommt, dass sie die freiheitlichen und selbstbestimmten Prämissen des Liberalismus selbst unterminiert.

Für den russischen Soziologen, politischen Kommentator und angeblichen Kreml-Berater Alexander Dugin ist dies die Ursache der Spaltung in den westlichen Nationen. Gleichzeitig wirft er der amerikanischen Regierung unter Joe Biden vor, Liberalismus als Waffe zu nutzen, um hegemoniale Ansprüche durchzusetzen und Osteuropa unter amerikanische Herrschaft zu bringen. Sein 2021 erschienenes Buch »Das große Erwachen gegen den Great Reset«12 richtet sich ausdrücklich gegen die vom Weltwirtschaftsforum Davos gestartete Initiative für einen weltweiten volkswirtschaftlichen Neustart nach dem Ende der Covid-19-Pandemie. Der Entwurf dazu stammt von WEF-Direktor Klaus Schwab und hat eine gerechtere, nachhaltige und integrativere Weltwirtschaft zum Ziel.13 Kritiker dieses Konzepts, und zu denen gehört Dugin, sehen darin ein Instrument zur Erringung der Weltherrschaft durch eine politische und wirtschaftliche Elite. Zusammen mit einem Austausch der Bevölkerung durch Migration (»Great Replacement«) werde eine neue Weltordnung vorbereitet. Mithilfe des Liberalismus würde die Identität von Individuen und Nationen aufgelöst und damit die Institutionen des Zusammenhalts zerstört. Zu denen gehöre die Familie, der durch Genderpolitik die Basis entzogen werde, kulturelle Eigenheiten einzelner Regionen und Nationen würden gezielt durch Globalisierung angegriffen und infrage gestellt, um Widerstand gegen westliches Hegemoniestreben zu unterwandern. Russland ist für Dugin das Gegenmodell, Putins Politik und der Krieg gegen die Ukraine der Schutz dieser kulturellen Identität. Er ist davon überzeugt, dass sich im Westen immer mehr Menschen dem Widerstand gegen den »Great Reset« anschließen und Putins Kampf für individuelle und nationale kulturelle Eigenständigkeit unterstützen werden. Was wie eine von vielen Verschwörungstheorien daherkommt, hat in der Person Dugin allerdings großen Einfluss auf rechte Strömungen in vielen Ländern des Westens, auch in den USA.

Alexander Dugin wurde 2022 von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, als seine Tochter Darja Dugina bei einem Autobombenanschlag ums Leben kam, der möglicherweise ihm galt. Seine nationalistischen Thesen und seine Ideologie für den Erhalt kultureller Identität und die Überwindung der Globalisierung verbreitet er allerdings schon seit den 1990er-Jahren. In den USA trägt er den Spitznamen »Putins Rasputin«, der in Beiträgen über ihn gern genutzt wird, um seinen Einfluss auf die russische Politik zu unterstreichen.14 Nach der russischen Annexion der Krim nannte die Zeitschrift Foreign Affairs ihn »Putin’s Brain«, Putins Gehirn.15

In den USA sind es vor allem rechte Gruppen und politische Strategen, die sich an Dugin orientieren.16

Am bekanntesten von ihnen ist Steve Bannon, der ehemalige Berater und lange Zeit wichtigste Ideologe für Donald Trump.17 Darüber hinaus sind es Vertreter der »Alternative Right«-Bewegung, die Dugin in den USA propagieren. Die »Alternative Rechte« steht für eine Bewegung aus radikalen Trump-Anhängern, Einwanderungsgegnern, Neonazis und Rassisten. Ihre Anhänger stehen für einen Weißen Nationalismus und vertreten die rassistische Position einer Weißen Überlegenheit, »white supremacy«. Alt-Right unterstützte Donald Trump bei seinem ersten Wahlkampf und bekam zeitweise große Aufmerksamkeit nach dessen Einzug ins Weiße Haus.

Der White-Supremacy-Aktivist und Gründer der Alt-Right-Bewegung, Richard B. Spencer, gehört zu Dugins Fans. Er stellt auf seiner Internetplattform, die zum Lesestoff von »Alt-Right«-Anhängern gehört, immer wieder Dugins Ideen vor,18 und seine Frau übersetzt Bücher Dugins ins Englische.19 Der Begriff »Alt-Right« stammt vom Politologen Paul Gottfried, einem Unterstützer Spencers, mit dem er 2015 gemeinsam ein Buch über die Geschichte konservativer Strategien in den USA veröffentlichte.20 Gottfried schrieb zur gleichen Zeit das Vorwort für ein Buch von Alexander Dugin über Martin Heidegger, das im selben amerikanischen Verlag, »Washington Summit Publishers«, erschien, einem der Alt-Right-Bewegung nahestehenden Unternehmen in Whitefish, Montana.21

2015 verweigerten die amerikanischen Behörden Dugin die Einreise für einen Vortrag an der Texas A&M University, organisiert von einem Anhänger der Alt-Right-Bewegung. Titel: »American Liberalism Must Be Destroyed«, der amerikanische Liberalismus muss zerstört werden. Der Vortrag wurde als Aufzeichnung eingespielt.22 Der populäre Radio-Talkshow-Host und Verschwörungstheoretiker Alex Jones holte Dugin 2017 in seine Show,23 Jones’ Webseite »InfoWars« soll zu der Zeit zehn Millionen monatliche Abrufe gehabt haben. Jones trat auch zusammen mit Dugin im russischen Sender Tsargrad TV auf und interviewte ihn zu dessen Einschätzung der Politik Donald Trumps.24

Alexander Dugins Thinktank »Katehon«, finanziert vom russischen Oligarchen Konstantin Malofejew, verbreitet Ausgaben des rechten amerikanischen Newskanals »Real America’s Voice«, in denen unter anderem Steve Bannon25, der frühere Fox-News-Korrespondent im Weißen Haus, Ed Henry, und Gina Loudon moderierten. Letztere gehörte 2020 zu Donald Trumps Medienberatern und ist stellvertretende Vorsitzende von »Women for Trump«.

Für rechtsnationale und »White Supremacy«-Gruppen stellt Dugin einen Helden dar, der die Verbindung von rechten Parteien in Europa und den USA herstellen kann. Dugin hat die nötigen Verbindungen, sein Einfluss ist international. Nationalistische Organisationen und Medien von China über Kanada bis zu religiösen Kreisen in Europa geben ihm weltweit Foren, auf denen seine Ideen diskutiert werden, Dugin tritt in Ungarn, Polen und vielen anderen Ländern auf. Vom ehemaligen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland ist zum Beispiel bekannt, dass er sich 2015 mit Dugin in St. Petersburg getroffen hat.26 In Wladimir Putins Reden finden sich immer wieder Zitate, die von Dugin stammen.27

Für Alexander Dugin ist Donald Trumps Sieg 2016 ein Indiz und wichtiger Etappensieg für den wachsenden Widerstand gegen eine monopolare Welt, in der Globalismus und Liberalismus dazu dienen, die Menschheit zu unterdrücken. Es gebe weltweit ein »großes Erwachen« gegen den Versuch, das öffentliche Bewusstsein zu kontrollieren, den Menschen ihre Identität zu nehmen und die Tatsache unterschiedlicher Kulturen zu negieren. »Wir werden dieses Land und seine Menschen nicht länger dem falschen Lied des Globalismus ausliefern«, sagte Trump im Wahlkampf gegen Hillary Clinton, den er gewann. »Wir betrachten Trump als den amerikanischen Putin«,28 sagte Dugin nach dem Wahlsieg, und an anderer Stelle: »Amerika befreit sich selbst.«29

Auch Trumps Niederlage bei der Präsidentschaftswahl