6,99 €
Hochspannung, die sich permanent steigert, Liebe, subtiler Humor und auch sonst eine Menge Britisches, auch stilistisch … Intensive Atmosphäre, überraschende Wendungen und jede Menge Suspense prägen diesen, obwohl aus deutscher Feder durch und durch britischen Thriller, der vor der atemberaubenden Kulisse Nordenglands und eingebettet in die faszinierende Welt der Eisenbahn rasch seinen ganz eigenen Sog entwickelt und sowohl um ein schauriges Geheimnis kreist, als auch ein Tempo entwickelt, welches den Leser, wie ein Zug erst langsam, dann schneller, auf ein furioses, überraschendes und emotionsreiches Finale zusteuert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2015
Felix Rudolf Durm
Die Zugbegleiterin Felix Rudolf Durm Lichtschwert-Verlag e. K. Schmiedgasse 12 67227 Frankenthal published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Copyright: © 2015 Felix Rudolf Durm ISBN 978-3-7375-5573-9 Konvertierung: Sabine Abels / www.e-book-erstellung.de Covergestaltung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Titelfoto: © Railpix, fotolia.com
Moor, Nebel, Kälte, Dunkelheit – all das schoss an ihr vorüber, dort draußen, hinter dem, fahles schmutzig-weißes Neonlicht spiegelnden, Sicherheitsglas des alten, muffigen Zugabteiles, das kalt an ihre Nase rührte, als sie ihr Gesicht wieder einmal neugierig viel zu nahe brachte.
„Ah, verdammt!“
Jasmina wusste wohl, dass sie nicht zu Pickeln neigte, aber sie wusste auch, dass es sich dennoch empfahl, zu den großen, schwarz verstaubten Fenstern des Zuges einen gewissen Sicherheitsabstand zu wahren, denn diese waren gerade jetzt im Frühherbst und bei entsprechend belastetem Passagieraufkommen die reinsten Bazillenfänger.
Jasmina Titania Duncan, vierundzwanzig wunderbare Jahre jung und, gemäß der Meinung ihres in Würde ergrauten Großvaters, trotz ihrer Größe von einem Meter und neunundsiebzig ein rechter kleiner schottischer Wildfang, war mit Abstand das Hübscheste, Delikateste und Aufregendste, was die British Railway Company im vorletzten Jahrzehnt des Zwanzigsten Jahrhunderts an Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte.
In ihrer Anwesenheit waren dem aufmerksamen Reisenden, ungeachtet seines jeweiligen Geschlechts, selbst bei Sonnenschein die herrlichsten grünen Weiden, die erhabensten Hügel, die malerischsten und romantischsten Heide- und Moorlandschaften, nur noch eine brillante Kulisse, für ihre ganz speziellen, äußerst weiblichen und geschmackvoll akzentuierten Reize.
Jasmina wusste auch dies, und sie genoss die, sich beinahe unweigerlich daraus ergebenden Konsequenzen, wo und wann immer sich ihr eine geeignete Gelegenheit dafür bot.
Sie achtete geflissentlich und mit Stil auf ihr Äußeres, und kaum ein irgendwie pikanter Modetrick existierte, den sie nicht, zumindest privat, auch schon einmal ausprobiert hätte.
Dennoch war Jasmina alles andere als ein naives Püppchen. Auf der High-School war sie einst Klassenbeste und nebenbei auch noch Captain der lokalen Cheerleader-Truppe gewesen. In ihrem jetzigen Job war sie tougher, als die meisten ihrer männlichen Kollegen und konnte, sowohl bei gewissen technischen Problemen, als auch bei solchen, die schiere Kraft erforderten, so richtig zupacken.
Jasminas Job war ein ständiges Abenteuer.
Jasmina war Zugbegleiterin.
Seit drei Jahren. Sie war ein Profi und bereits vertraut mit mehreren der wichtigsten Routen auf dem Hauptland und den britischen Inseln, wie zum Beispiel Dundee – Glasgow und London – Salisbury. Aber nun hatte man ihr „von oben“ eine Strecke zugewiesen, die neu für sie war. Neu und spannend und abgelegen.
Wer immer, oben in den Chefetagen der Verwaltung, die Entscheidung für sie gefällt hatte, musste wohl dabei im Kopf gehabt haben, damit das etwas zweifelhafte Aufsehen zu mindern, welches sie, bedingt durch ihr zuweilen ziemlich lockeres, ja freizügig zu nennendes Auftreten, wohl auf Dauer unweigerlich erregt haben würde, wäre sie noch länger auf einer der viel befahrenen Routen zum „Einsatz“ gekommen.
Ungeachtet dessen: Für Jasmina bedeutete die neue Strecke in erster Linie die Erfüllung ihrer jugendlichen Wünsche nach Abwechslung und Erlebnis. Das genügte ihr, um mit den neuen Gegebenheiten soweit erst einmal vollends zufrieden zu sein. Ihre großen, grün-grauen Augen blitzten, wenn sie daran dachte, wieviele morbide und schreckliche Schauergeschichten aus viktorianischer Epoche sich um die wilden Gegenden rankten, welche der Zug über zahllose lange Stunden hinweg nun jeden Tag mit ihr durchfuhr.
Die holprige Fahrt ging fast ohne erkennbaren Halt die düsteren und zerklüfteten Bergregionen des „Cumbrian Stretch“, von Keighley im südlichen „Mittelwesten“, bis hinauf nach Carlisle im Norden und manchmal weiter noch, nach Schottland hinein, bis Dumfries.
Jasmina liebte Schauergeschichten und fragte sich, wohlig schaudernd, warum solche Geschichten immer nur in ferner Vergangenheit spielten und nie in relativer Nähe zur Gegenwart zu geschehen schienen, was doch selbstverständlich noch viel spannender und grusliger wäre, da es ja schließlich, zumindest theoretisch, im grausig-gewagten Gedankenspiel, auch einen selbst einmal „erwischen“ konnte.
Sie seufzte tief, schob seitlich ihren Faltenrock einige Zentimeter nach oben und zupfte irgendwie sinnig am Spitzensaum ihrer schwarzen, halterlosen Nylons („opaque“, blickdicht mit „satin touch“ ) der Nobelmarke „Wolford“, dem Modell, das sie bevorzugt wählte, um ihrer ohnehin adretten, dunkelblauen Dienstuniform noch etwas zusätzlichen Schick beizusteuern.
Ein graumelierter, älterer Herr, drei Bänke weiter und in dem winzigen Sonderabteil für Bahnbedienstete ihr schräg gegenüber sitzend, bedankte sich für diese, doch kaum für ihn bestimmte, galante Geste mit einem verträumten Lächeln.
Jasmina sah auf, schüttelte einen Teil der Flut ihrer rötlich-kastanienbraunen Naturlocken aus ihrem Gesicht und lächelte charmant zurück. Sie war perfekt proportioniert, schlank und sportlich, und sicherlich gut einen halben Kopf größer, als der alte Mann dort in seiner Ecke.
Ein kurzer, prüfender Blick noch, in ihre Konduktoren-Tasche und auf diverse Arbeitsutensilien – dann machte sie sich auf, zu ihrem üblichen Kontrollgang.
In der Miene des Alten war dabei etwas von Verlust zu lesen.
Zwischenspiel: März 1984 – ein halbes Jahr zuvor ...
Es war schon leidlich spät, das Gebäude fast verlassen.
Der Flur war lang, schmal, trist und roch muffig und irgendwie stechend, erinnernd an die Atmosphäre in gewissen, verarmten Krankenhäusern. Das schmutzige Schild vor der Tür – der Tür, die ihn anstarrte wie ein drogensüchtiger Richter – trug die Aufschrift: „Personalbüro“.
Das Schild dahinter, das unsichtbare, welches man auch dann nicht sehen konnte, wenn man den Raum zu dem es gehörte bereits betreten hatte, so wie er es jetzt tat, trug eine andere Aufschrift.
Versteckt und bösartig stand dort in kalter Flammenschrift: Entlassungsstelle – freundliche Anmeldung zur Abdeckerei für nicht-mehr-benötigte, treue Mitarbeiter!
„Mister McArthur? – Da sind Sie also endlich!“, grüßlte ihn der neue Büroangestellte, ein junger Mann mit Nickelbrille und Platin-Ohrring, ohne dabei sein Gegenüber länger als eine flüchtige Sekunde richtig anzusehen. „Ich habe auch schon alles vorbereitet für Sie. Sie brauchen dann nur noch zweimal zu unterschreiben und ab dem nächsten Ersten, bekommen sie dann schon ihre Rente plus Bonus!“
Der Beamte grinste tatsächlich, so als handelte es sich um ein vertrauliches Gespräch bezüglich eines Lottogewinnes.
In Jacob McArthurs Herz gefror Feuer zu Eis und verwandelte sich dann weiter zu etwas wie dunklem, heißem Rauch, auf symbolischer Ebene solchem ähnlich, wie ihn die schweren Lokomotiven von einst zeitweilig ausstießen.
Er hatte sie noch erlebt, die letzten, großartigen, matt glänzenden, alten Ungeheuer der Schiene, betrieben mit Kohle und Wasserdampf – damals vor fünfunddreißig Jahren, als er stolz, in leuchtender Uniform und mit konstruktiver Begeisterung, seinen Dienst bei der Bahn begonnen hatte, so wie von ihm schon von Kindheit an erträumt.
Für Jacob McArthur war die Bahn nicht nur Beruf gewesen, sondern vielmehr eine höhere Berufung. Seine Mutter hatte ihn gar in der Eisenbahn zur Welt gebracht und auch seine selige Frau Lizzy, die, über ihren frühen Tod hinaus, bis zum jetzigen Moment, die große Liebe seines Lebens gewesen war, hatte er dort während deren regelmäßiger Fahrten, kennen gelernt.
Nun, wo seine Zukunft nichts mehr war, ohne seine Vergangenheit, war ihm die Bahn Fundament seines ganzen Lebens, seine einzige Heimat. Und nach all dem, heute schließlich diese Teufelei, dieser Schlag ins Gesicht, dieses Ende?
Nein! Nein! Das war nicht fair. Nein, das war nicht gerecht! Er wusste, er konnte sich nicht wehren. Jedenfalls nicht auf normalem Wege. Er hatte schon alles versucht, um sich der erbarmungslosen Bürokratie des Apparates und dem kapitalistisch-engstirnigen Management entgegenzustellen. Nichts hatte geholfen. Gar nichts.
Doch was da geschah, das verlangte nach einer Reaktion, einer gewaltigen, irrsinnigen, seine so gut begründeten Hassgefühle genüsslich befriedigenden Reaktion!
In seinem Kopf machte es „kling“ und das Licht in seinen Augen wechselte die Farbe. Es wurde rot und dann überflutete es den ganzen Raum mit allem, was darinnen war.
Den Polizisten, die den Tatort als erste inspizierten, drehte es buchstäblich den Magen um. Einer der beiden konnte nicht anders, als gleich den vorhandenen Papierkorb zu benutzen, um sich seines, zuvor in Eile verzehrten und ziemlich üppigen, Fast-Food-Frühstücks wieder zu entledigen.
Dennoch, überdeckte den Geruch der ausgestoßenen Magensäure noch immer der süßliche Blutgestank des regelrecht dahin geschlachteten männlichen Opfers. In dessen offener Kehle steckte eine große Büroschere – aufgewinkelt.
Die zwei Augen des erbarmungswürdigen Mannes, dessen verkrümmter Körper größtenteils noch immer den ehemals grauen Sessel hinter seinem Büroschreibtisch einnahm, blickten gebrochen und starr – das eine vom Fußboden, das andere aus dem unbenutzten Aschenbecher.
Die Spurensicherung war eine Quälerei.
Die Brille des Toten lag zerbrochen auf einem Stapel glitschig gewordener Entlassungsdokumente, ausgestellt auf einen gewissen Jacob McArthur, wohnhaft in Lambeth, London. Offenbar, so bemerkte man, hatte der Tote zu Lebzeiten auch einen Ohrring getragen, der jedoch abgerissen worden und jetzt nirgends mehr zu finden war.
Natürlich erschien das völlig unwichtig, angesichts dessen, dass man den Täter ja höchstwahrscheinlich kannte, hatte er es doch nicht einmal für nötig gehalten, seine „Visitenkarte“, in Form der auf seinen Namen lautenden Papiere, zu beseitigen.
So dauerte es denn keine Viertelstunde mehr, bis mehrere Streifenwagen vor dem verkommenen, überall Putz lassenden Mietshaus, in welchem McArthur seine offizielle Adresse hatte, vorgefahren waren.
Man brach in McArthurs Wohnung ein, stellte fest, dass sie verlassen war und begann mit der Durchsuchung. Ergebnislos.
Zu dumm für Scottland Yard, dass man den Mord erst am dritten Tag nach der Tat entdeckt hatte. Es war dies eine Folge von widrigen, doch zweifellos zufälligen Umständen.
Wie sich herausstellte, war das Opfer allein lebend und wurde von keiner und keinem vermisst. Erst jemand vom Reinigungspersonal der frühen Montagmorgen-Schicht entdeckte die Schweinerei, da sich ganz offenbar seit dem frühen Freitagnachmittag niemand mehr die Mühe gemacht hatte, in das Büro des Mannes einen kontrollierenden Blick zu werfen, die Tür jenes Büros zudem den Blick hinein verwehrte und es auch niemanden gab, der etwa von draußen irgendetwas Verdächtiges gehört hätte.
Klar war, gerade wohl auch durch diese Umstände, die belastende Bedeutung der gefundenen Personalpapiere.
Die Identität des Mörders stand bereits so gut wie fest.
Dass Jacob McArthur, trotz dann folgender, langwieriger, intensiver und landesweiter Suchaktionen ganz und gar unauffindbar blieb, bestätigte noch die Annahme seiner Täterschaft.
Doch nichts, auch nichts von dem, was die ermittelnden Beamten in dessen kleiner Wohnung fanden, gab jenen einen praktisch-verwertbaren Hinweis auf seinen Verbleib.
Monate vergingen. Jacob McArthur war und blieb verschwunden. Für lange, lange Zeit ...
Inspector Howard Spencer, dunkel, hoch gewachsen, schlank und von bestechend imitierter aristokratischer Erscheinung, stand aufrecht und gerade am weit geöffneten Fenster seines Arbeitszimmers bei New Scottland Yard in London und betrachtete mit dem Blick eines hungrigen Sperbers die belebte Straße, sieben Stockwerke unter sich.
Die strahlende, herbstlich-milde Mittagssonne besaß noch immer die magische Kraft zu wärmen, innerlich wie äußerlich. Der Wind wehte buntes Laub ganz bis nach oben, gelb, orange und feuerrot, und ließ es tanzen, Kapriolen schlagen und bunte Kreise ziehen, vor einem fast wolkenlosen Himmel, tiefblau wie die Augen einer Fee.
Als Spencer noch zur Schule ging, hatte er eine Zeit lang den Wunsch gehabt zu schreiben, Schriftsteller zu werden und dann noch zur See zu fahren. Naja, jetzt war er hier, um Verbrechen nachzuspüren. Auch das tat er hauptsächlich mit dem Kopf, mit Leidenschaft und Phantasie.
Sein Kollege Clifton Webb, ebenfalls Inspektor und normalerweise in dem Zimmer seinem gegenüber zu erreichen, lümmelte sich hinter ihm, heftig kauend, mit einem riesenhaften, Buttertriefenden Schinkensandwich, in den einzigen von vier Lederstühlen, der nicht von voluminösen Stößen alter oder aktueller Akten zugedeckt wurde.
Webb, mit seinen vierzig Jahren, zählte fünf Lenze mehr als Spencer, trug aber doppelt so viel Haare auf dem Kopf, was ihn, sehr zu Spencers gut verstecktem Missvergnügen, des Öfteren mit Stolz zu erfüllen schien. Zum Ausgleich war das aristokratische Element in Webbs gesamter Erscheinung bestechend limitiert. Die kleinen Kulleraugen in seinem breiten Gesicht wollten kaum zu seiner ausgeprägten Nase passen, eher schon zu dem gedrungenen Körper, dem etwas mehr Sport wohl gut getan hätte.
Abgesehen aber von allen Äußerlichkeiten, waren Spencer und Webb nicht nur Kollegen, sondern lange schon beste Freunde.
Hauptsächlich aufgrund ihres meist ziemlich gefährlichen Berufes, waren beide noch ledig, was bedeutete, dass sie auch privat vieles gemeinsam unternommen hatten und eine Art Schicksal teilten. Erst kürzlich hatte sich das etwas geändert, seit Webb, bei einem Einzelauftrag außerhalb Londons, drüben in Oxford, eine neue Frau kennen gelernt hatte. Sie war Professorin und er, vom ersten Moment an, ganz hin und weg von ihr.
Spencer seufzte. Die Luft hier oben tat wirklich gut.
Er wandte sich um und legte sorgfältig – lauernd und unentschlossen zugleich – jene Akte auf den Tisch, von welcher er eben noch hinterrücks versucht hatte, den nichtvorhandenen Hals umzudrehen.
So ähnlich jedenfalls hatte es ausgesehen.
Diese Akte, genauer gesagt ihr Inhalt, machte ihn schon seit fast einem halben Jahr beinahe wahnsinnig. Es war die Akte Jacob McArthur, und sie hatte in den zuletzt vergangenen Wochen, auf Spencers persönliche Veranlassung hin, an Umfang zugenommen.
„Clifton sag etwas! – Was hältst du von meiner Theorie?
Glaubst du auch an einen Zusammenhang?“
Webb schluckte, ehe er antwortete. „Du meinst die fünf verschwundenen Bahnpassagiere oben in Lancashire? – Nein. Aber ich hab ja auch nicht den sechsten Sinn, so wie du. Also, wenn du was vorhast, bin ich dabei. Immer vorausgesetzt natürlich, man lässt uns wieder einmal freie Hand. Hmm. – Entschuldige, aber ich muss noch mal beißen!“
„Wie wär’s denn mit ’nem Schluck Weihwasser?“, blaffte Spencer scherzhaft.
„Gute Idee!“, meinte Webb und kramte in den geheimnisvollen Abgründen seines Jacketts nach seinem „Flachmann“.
„Du bist also wieder dabei“, stellte Spencer noch einmal fest, protokollarisch, wie es seine Art war. „Sehr gut. Dann rufe ich jetzt gleich den Chef an und lasse uns zweien die nötigen Gelder und Papierchen freigeben. – Hoffentlich! Denn wenn ich Recht habe und dieser McArthur steckt dahinter, dann will ich ihn kriegen!“
Webb grinste. „So langsam, machst du auch mich neugierig!“
Zwei Stunden nach diesem Gespräch hatten Spencer und sein Kollege Webb den erhofften offiziellen Auftrag ihres Superintendenten in der Tasche. Er lautete knapp und vage genug, um dem ebenso bewährten wie berüchtigten Zwei-Mann-Team ein Maximum an Vorgehensfreiheit zuzugestehen: Suchen und verhaften Sie Jacob McArthur! Nutzen Sie als Ausgangsbasis ihrer Ermittlungen etwaige Zusammenhänge zu den Vorfällen im Distrikt Lancashire! VielGlück!
Energischen Schrittes, mit der Begeisterung zweier Jäger, mit leuchtenden Augen und im frischen Wind wehenden Schlipsfahnen, betraten sie das von tausend Stimmen und Geräuschen lärmende, von unzähligen, ominösen Gerüchen schwangere und von abenteuerlicher Atmosphäre gleichsam vibrierende Gelände von Londons legendärer Bahnhofsstation King’s Cross, um dort den Mann zu treffen, der ihnen die erste und beste Hilfestellung leisten würde, den jungen Bahnkommissar John Fairfield.
Die jetzt sich allmählich neigende Sonne ließ helles, glänzendes Metall und Glas an den bunten Zügen und der gewaltigen stählernen Dachkonstruktion des Gebäudes gleißen. Groß war das Gefühl von Aufbruch, groß das Selbstvertrauen der beiden Polizisten.
Jacob McArthur hatte alles verloren, was er je besessen hatte, seine Familie, seinen Besitz, sogar seine Identität, dafür aber hatte er alles gewonnen, was man niemals besitzen konnte, Freiheit, Würde, innere Kraft, die innige Verbindung zu der Natur des Landes in dem er lebte. Er war zurückgekehrt in ein Dasein aus fernen, wilden Tagen, in welchen ein Mann sich noch selbst genügte und in welchen das Schwert noch eine deutliche Sprache schrieb.
Er war unglaublich stark mit seinen fünfundfünfzig Jahren und sehr schlau, viel schlauer als ein Fuchs, wie es seine letzte Mahlzeit und der rote Schweif an seinem Eisenbahnerrucksack bewiesen. Auch seine Schnelligkeit hatte im Verlauf der letzten drei Monate wieder erheblich zugenommen. Er fühlte sich wieder jung. Er hatte einen Weg gefunden es allen zu beweisen. Das Schicksal würde ihn nicht brechen können. Denn nun war er selbst das Schicksal geworden. Er kam über seine Opfer, gleich der Macht der Natur, wie der Schlag des Blitzes, unerwartet und willkürlich und unaufhaltsam. Er lachte bitter und grausam. Ausrangieren wollte man ihn, als ausgedient hatte man ihn angesehen. Ja doch, in einem hatten die Anderen Recht gehabt: Mit dem Dienen war es für ihn endgültig vorbei!
Durch den düster darniederströmenden Regen ging er auf die verfallene kleine Holzhütte zu. Dort angelangt, sah er noch einmal hinein auf die sechs schmutzigen Leiber, die sich dort stapelten. Zwei Frauen und drei Männer waren es gewesen und ein alter, räudiger Köter, der es versucht hatte ihn zu beißen. Die Lache um die Verwesenden stank so, wie es sich für anständigen Sprit gehörte. Jacob nahm ein Streichholz, entzündete es mit gelassener Sorgfalt und warf es ins Innere. Sofort loderte das Feuer auf, mit dem Geräusch eines schweren, fallenden Vorhangs. Dann begann es zu fauchen und mit dem draußen fallenden Regen um die Wette zu prasseln, stechenden, rabenschwarzen Qualm verursachend.
Jacob McArthur machte langsam kehrt und begann festen Schrittes seinen Marsch, der ihn nach Norden führen sollte.
Bei sich trug er etwas Proviant und, als einziges Relikt, im Rucksack noch immer wohl gehütet, seine alte Eisenbahner-Uniform, seine letzte, die eines Zugbegleiters.
Dass er auch einmal als Maschinist und ein andermal im Stellwerk gearbeitet hatte, waren Episoden gewesen, an die vermutlich nur noch er selbst sich würde erinnern können. Bei diesen Tätigkeiten hatte es auch gar keine so schmucken und repräsentativen Uniformen gegeben, lediglich einfache Arbeitsanzüge, ähnlich dem, den er jetzt gerade anhatte, zusammen mit den schweren Stiefeln.
Während er ging, ließ, von finalem Donnergrollen begleitet, der kalte Regen zögernd nach. Linkerhand lag das Meer. Von rechts her konnte er deutlich den kurzen, unheimlichen Klang einer Warnsirene ausmachen. Er hielt sich zumeist konsequent parallel zur nächstgelegenen Bahnlinie. Er kannte seinen Weg. Ein Ziel? Er dachte nach.
Jasmina Duncan tat ihre Arbeit mit zwanglos freundlicher, ja zuweilen durchaus herzlicher Routine. Das war so ihre Art und hatte nichts zu tun mit erlerntem Pflichtgefühl oder gar der entliehenen Praxis modernen, amerikanischen Managements.
Ihr Job verlangte vor allem Präsenz im Bedarfsfall, wenn ein Gast ein Anliegen hatte, ihm oder ihr zum Beispiel schlecht zu werden drohte, ein Glas Wasser gewünscht wurde, eine Auskunft gefragt war und so weiter. Dies und das Kontrollieren der Fahrkarten, sowie ein allgemeines Nach dem Rechten sehen im Bereich der Personenwaggons.
Jasmina ließ sich viel Zeit bei ihren Durchgängen durch die vielen Abteile. Zeit, die sie vorwiegend dazu verwandte, mit den Leuten zu reden und mit einigen besonderen unter ihnen, meist solchen, die häufiger, quasi zusammen mit ihr, auf der gleichen Strecke fuhren, auch so etwas wie einen persönlichen Kontakt herzustellen.
Nur wo sie spürte, dass man dies so von ihr erwartete, tat sie es mit ausgeprägter Dezenz. Sonst gab sie sich vertraulich und zutraulich, bis ins Private hinein. Viele mochten sie dafür. Manche liebten sie insgeheim. Manche taten es ganz offen.
Manchmal erwiderte sie solche Gefühle. Die Menschen, ihre Leben, Ziele und unterschiedlichen Denkweisen interessierten sie, weit mehr, als das gemeinhin üblich war.
Sie schien in sich zu ruhen und doch dabei, auf merkwürdige, spielerisch-charmante Weise, ständig etwas zu suchen, das möglicherweise nichts anderes war, als das Leben selbst.
Sie war eine Botin ihres eigenen Lichtes. Weiß und schwarz waren ihre Farben. Dennoch war sie bunt und flüchtig, wie ein Regenbogen.
Die Strecke von Keighley nach Carlisle umfasste circa dreihundert, teils kurvenreiche Reisekilometer, welche der, von einer schweren Diesel-Lok alten Modelles angetriebene, Zug für gewöhnlich in knapp vier Stunden zu bewältigen vermochte.
Jasmina durchging die elf Vierzehn-Meter-Personen-Waggons, für die sie hier eingeteilt und zuständig war, in jener Zeitspanne insgesamt dreimal, vor und wieder zurück, beginnend mit Wagen vier in mittelbarer Loknähe und endend mit der Nummer fünfzehn, an welchen sich nur mehr diejenigen Waggons anschlossen, die für den Transport von Gepäck, Postgütern und anderem, für gewöhnlich leblosen, Frachtmaterial bestimmt waren. Unterstützung erhielt sie im Bedarfsfall durch ihre, um einige Jahre ältere, darum aber nicht minder hübsche, blonde Kollegin Cynthia Newton, zu deren Aufgabe allerdings auch die Verwaltung der winzigen Bordküche, und die gelegentliche, den Lokführer in gewissen Momenten entlastende, Verbindung zur aktuellen Leitstelle gehörten.
Einen Wagen mit der Nummer dreizehn gab es nicht. Ebenso wenig, wie einen ordentlichen Speisewagen.
Letzteres war auf „ererbte“ organisatorische Mängel in der Hauptverwaltung von „British Midland“ zurückzuführen.
„Solide Umstrukturierungsmaßnahmen“ waren ständig auf dem Weg, wo sie bislang schließlich auch blieben und so verschiedenen Orts zu gravierenden Versorgungsengpässen führten.
Die Erste Klasse des Zuges, beschränkte sich auf lediglich zwei der vorderen Waggons. Jasmina, auf ihrem Weg entgegen der Fahrtrichtung zum Zug-Ende hin, hatte diese bereits durchlaufen und innerlich abgehakt. Dort saß gerade niemand, der sie sonderlich zu reizen vermochte. Lediglich die vergreiste Lady Arlincton, eine, aus ihrer kanadischen Wahlheimat erst kürzlich wieder zurückgekehrte Politikerwitwe, inzwischen ein neuer Dauergast auf der bewussten Strecke, erregte ihre Aufmerksamkeit, durch ihr permanentes Nörgeln über Gott und die Welt und den restlichen britischen Adel. Sie war eine leidenschaftliche Nervensäge und nur als solche amüsant.
Gähnende Leere in Wagen sechs. – Warum auch immer. Eine Handvoll stockbesoffener, billigen Fusel ausdünstender „Pappkameraden“ und ein dazu passender Hund in dem Großraumabteil von Nummer sieben. In Wagen acht, lauter brave, biedere Ehepaare. Weiter!
Es war Jasminas erste Tour bei dieser Fahrt und noch fehlte ihr der gewisse Kick. Zusätzlich war sie heute, ganz entgegen ihrer sonstigen Art, aus irgendeinem unbekannten Grunde ziemlich nervös. Sie konnte es sich selbst nicht recht erklären, überzeugt, etwaige physische Ursachen bei dieser Gelegenheit ausschließen zu dürfen.
Die Zahl der Reisenden auf der abgelegenen und generell schon nur gering befahrenen Route war an diesem Tag kleiner denn je und die wenigsten darunter erschienen Jasmina vertraut oder gaben sich einladend.
Immerhin, ganz allein in einem Abteil von Wagen neun dann – Jasmina hatte größere Hoffnungen schon fast aufgegeben – endlich ein Mensch, den sie kannte und mochte: die kleine Jenny Sweetwater.
„Hallo Jenny, schön dich zu sehen!“
Die Kleine lächelte wie ein Sonnenaufgang. „Schön Dich zu hören, Jasmina! – Und köstlich, wie du duftest!“
„Danke. Das sind Pfirsich und Moschus in heimlicher Liaison!“, klärte Jasmina sie lachend bezüglich ihres neuen Parfüms auf.
Jenny war ein fünfzehnjähriger Teenager, klein und zart wie eine Blume, bezaubernd hübsch und zurechtgemacht auf angenehm altmodische Weise, mit honigblonden Gretel-Zöpfen und rundglasiger Sonnenbrille, intelligent, aufgeweckt und humorvoll. Trotz ihrer Behinderungen, gab sie sich ganz und gar natürlich und wirkte nach außen hin so unbeschwert, als sei sie Gottes milden Segens bis in alle Ewigkeit gewiss.
Seit einem schrecklichen Autounfall vor ein paar Jahren, war das Mädchen schockblind und einseitig gehbehindert.
Jenny trug ihr Los unglaublich tapfer, obwohl sie sich keinesfalls damit abfand, denn sie glaubte stur an Heilung an ein Wunder – irgendwann, irgendwie.
Gleich bei ihrer allerersten gemeinsamen Begegnung, hatte Jasmina für Jenny tiefste Zuneigung und Mitgefühl empfunden. Wenn die beiden aufeinander trafen, so war dies ein ehrlicher Anlass zu Freude und locker-zärtlichem Scherzen, ohne jegliches Mitleidsgedusel. Und so auch diesmal.
Beinahe zehn Minuten lang unterhielt sich Jasmina mit Jenny über deren neueste Gedichte – Jennys Gedichte waren wirklich gut und sehr romantisch! – und die jüngsten Ereignisse auf dem Markt der internationalen Pop-Musik, wo sich gerade das Idol australischer Soap-Operas, Kylie Minogue, als neuer, weithin strahlender Stern am Himmel erhob.
Nach einer kurzen, in ihrer Lautstärke zwar gedämpften, aber sonst recht heftigen Karaoke-Version deren Hits „Locomotion“, die, was Jasminas Part anbelangte, bühnenreif gewesen wäre und Jenny prompt zu heftigem Applaus veranlasste, machte sich die Zugbegleiterin wieder auf und an ihre Arbeit. Ehe sie ging, versprach sie Jenny, später noch einmal in deren Abteil zu kommen. „Dank dir!“, sagte die darauf leise und glücklich. Jasmina schloss für eine Sekunde die Augen.
Ein gravierender Unterschied, zwischen einem jungen Bahnkommissar von British Rail und einem typischen Yard-Beamten in höherer Dienstposition, wurde den Inspektoren Webb und Spencer bei ihrem Empfang durch John Fairfield verdeutlicht. Das Büro des Letztgenannten umfasste wohl etwa die dreifachen Raummaße dessen, was die beiden anderen im eigenen Umfeld gewohnt waren. Es war laut und licht und roch, trotz guter Lüftung, intensiv nach Pfeifenqualm, an dem sich gefälligst keiner zu stören hatte, außer dem Chef vor Ort, und jener war John Fairfield höchstpersönlich.
Der schlanke, junge Dreißigjährige mit den kurzen irischroten Locken, der lauten, sonoren Stimme und den lustig bewegten blauen Augen, war in seiner Dienstelle der alleinige Souverän und machte dies auch in der eloquenten aber bestimmten Weise seines Auftretens deutlich. Das forderte ganz besonders Webb bei diesem Kennenlernen heraus. Das gegenseitige Schütteln der Hände entartete so prompt zu einer Art zeremoniellem Wettkampf, den keiner gewann. Spencer grinste wissend.
Einst, am College, war Webb berüchtigt gewesen für seinen bärenstarken Händedruck. Den „Dinosaurier“ hatten sie ihn genannt. In dem körperlich täuschend schlaksig wirkenden Fairfield, fand er endlich einmal wieder jemanden, der es in dieser Disziplin gut mit ihm aufnehmen konnte. Dem so stiledlen Spencer gefiel Fairfields frische, zupackende Vorstellung ebenfalls. Dieser selbst zeigte sich unerschütterlich freundlich.
Kurzum: die drei Herren waren sich auf Anhieb äußerst sympathisch!
Was jetzt noch schiefgehen konnte, das waren Sachfragen. Die ließen erst einmal auf sich warten.
„Ein tolles Kraut, das Sie da rauchen, Mr. Fairfield! Darf ich erfahren, um was für eine Mischung es sich dabei handelt?“ Es war Spencer, der diese Frage stellte und zwar aus echtem Interesse heraus.
Fairfield hob eine überraschte Braue. „Das ist Brandy mit Kirsch und argentinischer Tabak! – Sie rauchen auch?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich mag nur den Geruch. – Manchmal!“
Spencer hatte schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, das Rauchen von Pfeifen, welches ihm überaus elegant erschien, zu beginnen, hatte es dann aber, aus gesundheitlichen Erwägungen heraus, immer wieder verworfen. Es schadete eindeutig der Kondition, wie er meinte.
Während alle im Raum noch immer standen, kramte der Bahnkommissar, wie beiläufig, in einem Stapel gelber Mappen und entspann dabei ein kurzes philosophisches Gespräch über den Geruchssinn, veranlasst offenbar durch Spencers Bemerkung zuvor. Den interessierte das Thema ebenfalls, und Webb stöhnte innerlich.
Er wunderte sich bereits zusehends über die Dauer der privaten Konversation, als Fairfield sich schließlich sehr schwungvoll und abrupt an seinen Schreibtisch begab und seine Besucher mit einer geübten, den Stühlen zugewandten Geste bat, doch bitte Platz zu nehmen, ehe er, vermittels eines langen Monologs, auf den Punkt kam, dessentwegen man hier war.
„Sie, meine Herren, sind hier, um von mir etwas über zwei Fälle zu erfahren, die beide auch meine Zuständigkeit betreffen. Da wäre zum einen die Sache Jacob McArthur. In deren Zusammenhang: ein blutiger Mord, ein Verbrechen von unvorstellbarer Grausamkeit. Der Täter: trotz Kenntnis seiner Person, unauffindbar. Das Motiv, welches wir annehmen dürfen: höchstwahrscheinlich Rache für dessen, als unfair empfundene, Entlassung aus dem Dienst.
Scheinbar wurde die Tat begangen in einer Verbindung von Affekt und geistiger Verwirrung. Dieser Schein mag teilweise trügen.
Tatsächlich habe ich McArthur einmal kennen gelernt und ich muss sagen, dass ich selten einen Mann getroffen habe, der so diszipliniert, so geistig rege und für seinen Beruf so überqualifiziert gewesen ist wie er. – Trotzdem, so weiß man, neigen gerade intelligente Menschen zu Handlungen des Wahnsinns, vorausgesetzt, etwas treibt sie dazu. Genau das war hier wohl der Fall...“
Webb und Spencer hörten gespannt und aufmerksam zu und blickten, stumm zum fortfahren auffordernd, Fairfield an.
„Als zweites, haben wir es zu tun mit dem mysteriösen Verschwinden mehrerer Personen im Bereich des westlichen Streckennetzes in der Region Lancashire, was auf den ersten Blick zu McArthur keinerlei Verbindung erkennen lässt. Eine solche lässt sich nur mit Phantasie erahnen. Immerhin hatten Sie, Mr. Spencer, so wie gewissermaßen parallel auch ich, die Idee, dass es so eine Verbindung geben könne. Ich vermute, bei Ihnen beruht diese auf Ihrem brillanten Instinkt ...“
Pause. – Spencer widersprach dem nicht, und auch Webb hielt sich höflich lächelnd bedeckt. Fairfield konnte in seinen Erläuterungen also sofort weitergehen.
„Bei mir hingegen, beruht sie auf der Kenntnis folgender, teils vage belegter Fakten und Überlegungen:
Erstens: Jacob McArthur ist von Jugend an vertraut mit den Küstenregionen im Westen, vom südlichen Dartmoor, bis ins nördliche Schottland und mit den Bahnlinien dort.
Da diese ziemlich weit entfernt liegen, vom Ort seiner bekannten Greueltat, von seiner Londoner Adresse und seinem letztmaligen Dienstgebiet, bieten sie für ihn so etwas wie einen Sicherheitsabstand gegenüber uns, seinen Verfolgern und all denen, die ihn hier kannten und also im Stande wären, ihn zu identifizieren, womöglich sogar in irgendeiner Verkleidung.
Zweitens: Die unerklärlichen Umstände des Verschwindens von Passagieren drüben in Lancashire, jeweils während einer Fahrt, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Größere Mengen dort gefundenen Blutes, die anschließende völlige Unauffindbarkeit der Opfer – denn Opfer sind es wohl! –, all das, deutet eindeutig auf Morde hin, die geschickt ausgeführt wurden und zu deren Verübung ein jegliches Vernunftmotiv zu fehlen scheint!
Ein Vorgehen also, welches zum Profil McArthurs, wie es mir vorschwebt, durchaus passen würde.
Und ein Letztes noch: McArthur hat, soweit wir wissen, keinerlei Angehörige mehr. Er hat nichts zu verlieren.
Nichts, außer der Verbindung zur Liebe seines Lebens, der Eisenbahn!“
Webb verzog bei diesen Worten amüsiert das Gesicht. „Jetzt übertreiben Sie wohl ein bisschen, von wegen große Liebe und so.“ Doch Fairfield blieb ernst. „Keineswegs, nein!“
„Was unser Kollege meint, ist, dass die Welt der Eisenbahn für diesen Burschen McArthur quasi den Ersatz bildet für Heim und Familie“, versuchte Spencer, spitzbübisch lächelnd an Webb gewandt, zu vermitteln.
„Exakt. Jedenfalls, seit dem Tode seiner Frau“, stimmte dem Fairfield zu, und Webb war es zufrieden. „Was also nun? – Was tun wir?“, bemühte der sich, um rasche Konstruktivität und entfachte, ganz wie von ihm geplant, mit solchen Worten im Kollegen Spencer dessen vertrautes Feuer.
„Freunde! Ich mache folgenden Vorschlag:“, erklärte dieser, mit lauter, fester, feierlicher Stimme, erhob sich schwungvoll aus seinem Stuhl und nahm dabei den Ball von Webbs Ungeduld mit sprunghafter Vehemenz auf.
„Wir arbeiten von jetzt an zusammen, recherchieren erst getrennt und schlagen dann gemeinsam zu, sobald einer von uns die Spur des Täters entdecken sollte! Unser Einsatzgebiet: Züge und Umgebung der British Rail, und zwar überall dort, wo Jacob McArthur bislang noch nicht aufgetreten ist, wo ihn sein blutiger Weg von Cornwall aus aber anschließend hinführen mochte!
Gentlemen?“
In gespannter Erwartung einer Antwort seiner Mitstreiter, ging Spencers Blick fragend in die Runde. Seine dunklen Augen blitzten.
Für einen Moment herrschte erheiterte Stille.
Fairfields Brauen wanderten steil nach oben. Er sagte nichts. Er nickte nur. Dann grinste er. Ebenso Webb.
Spencer strahlte. „Dem Plan steht also nichts mehr im Wege?“
„Wann brechen wir auf?“, fragte Webb.
„Gleich morgen früh!“, beschloss Fairfield;
„Acht Uhr?“
Damit waren alle einverstanden. Die Inspektoren Webb und Spencer rüsteten sich allmählich zum Aufbruch.
Durch das Panoramafenster von Fairfields Luxusbüro sah man die Sonne sich senken. Ein- und ausfahrende Züge, im Bahnhof unter ihnen, grüßlten sie mit ihren traurig-fröhlichen Signalen.
In dieser Minute schien es Spencer, als verstünde er diesen, von ihnen gesuchten McArthur schon etwas besser und als wäre die Bahn tatsächlich eine Welt, die man irgendwie lieben könnte.
Ein unheimliches Knurren schreckte ihn aus seiner kleinen Träumerei.
„Wir sollten jetzt endlich etwas essen gehen, Howard!“, meinte Clifton Webb mit ertappter Miene.
Um auf seinen langen, einsamen Fußmärschen durch die karge Natur entlang des Schienenstranges, doch abseits der von Gleisen durchschnittenen Ortschaften, bei Kräften zu bleiben, jagte Jacob McArthur sich seine Nahrung.
Er tat es mit dem Beil, dem Messer, mit kleinen Fallschlingen aus Draht und mit der Schleuder. Sämtlich Methoden, die ihn sein Vater einst gelehrt hatte, kurz bevor er dann viel zu früh verstarb. – In jenem letzten großen Krieg. In Afrika. So unsinnig fern von seiner geliebten schottischen Heimat, dem Land, für das zu kämpfen ihm einzig einen Sinn gemacht hätte.
Dem Befehl, der ihn nach Übersee sandte, hatte er unbedingten Gehorsam zu leisten gehabt. Eine Wahl hatte es nie gegeben, nicht für ihn und nicht für andere.
Er hatte vorhergesehen was dort geschehen würde, dass er als Held zurückkehren würde, so echt, wie nur jene es waren, die auf dem „Feld der Ehre“ fielen.
Jacob hatte es damals gewusst, noch bevor sein Vater in Plymouth auf das Schiff ging. Der hatte es ihm gesagt, hatte es längst geahnt, hatte ihm, dem einzigen Sohn, mit ernsten Worten, die Verantwortung für die Mutter übertragen und ihm, so lange dafür noch Zeit gewesen war – ganze fünf Wochen –, alles beigebracht, von dem er geglaubt hatte, dass es ihm, dem Sohn, eines Tages wertvoll und nützlich sein könne.
Und was immer dazu gehört hatte, das hatte Jacob noch Jahrzehnte danach, nicht nur für sich behalten, sonders es auch immer wieder einmal geübt, wenn eine Gelegenheit dafür da war. Wie er es heute verstand, geradeso, als sei auch ihm hier die Gabe der Ahnung gewesen. So ähnlich jedenfalls.
Wieder frischte der Wind auf und der Himmel klärte sich. Blau- und Brombeeren, Hasenglöckchen und Stechginster, die gerade zahlreich den Weg säumten, tranken das blaue Licht. Der Geruch der klaren Luft über dem, von winzigen Heidemooren und üppigen Grasinseln durchzogenen Land war so würzig wie ein gutes Essen in Freiheit. Wie das zum Beispiel, das er vorgestern genossen hatte, als es ihm schon am frühen Morgen gelungen war, aus einem kleinen, langsam fließenden Bach mehrere Kammmolche und eine Schleie zu fischen.
Viel Zeit hatte Jacob jetzt, um sich in Gedanken mit dem zu befassen was gewesen war. Selbst seine Zukunftspläne, wurden Verwebnisse mit seiner Vergangenheit. Er wollte nach Norden, an einen Ort, den er kannte. Dorthin wollte er sich zurückziehen, wie in eine Burg. Und diese Burg würde Teil seiner Welt sein und im Buch seines Lebens ein rundes Bild ergeben, seinen doppelten Wunsch befriedigen, der Eisenbahn und damit sich selbst die Treue zu halten und gleichermaßen seine felsenfest beschlossene und geplante Rache an ihr nicht aufzugeben, sondern zu vollenden. Und vielleicht, ja vielleicht, würde auch er dort ein Ende finden – ein würdiges Ende –, nicht das, das dem nutzlosen Siechtum folgte, welchem andere Abgeschobene sich kläglich unterwarfen.
So dachte er und seine Augen wurden schmal und starr.
Er wollte weinen, doch er konnte nicht. Als „es“ damals geschah, da hatte der Teufel ihn dieser Fähigkeit beraubt.
Vor ihm der Horizont war weit und grün. Bizarre, tiefschwarze Steinformationen aus Windverschliffenem Granit, seitlich von Moos bewachsen, glänzten matt im flachen, warmen Schein der Sonne. Ein ungewöhnlich großer Wespenbussard zog majestätisch über ihn hinweg, mit kehligspitzem Schrei. Jacobs kalter, bitterer Grimm passte nicht zu der kühlen Schönheit der Landschaft, welche ihn auf Schritt und Tritt begleitete. Er wusste das. Es änderte nichts.
Als der Abend kam, an diesem Tag, dessen Datum und Name für ihn nur noch von geringster Bedeutung waren, zogen aus feuchten Kluften und Wiesen weiße fasrige Nebel auf und durchschwammen träge und gespenstisch das grau-rote Dämmer, dem unaufhaltsam die tiefe Dunkelheit der Nacht folgte.
Mancher mochte sich verirren unter solchen Bedingungen. Nicht Jacob McArthur. Der befand sich jetzt ganz dicht in Nähe der Geleise. Sie führten ihn. Zuverlässig, wie eh und je.
Hin und wieder, rauschte mit brausendem, ratternden Getöse irgendein Güterzug an ihm vorbei. Mit dreißig bis vierzig Wagons und mehr. Ladung und Aufschrift konnte er entnehmen, dass er sich noch immer nördlich und damit also in die richtige Richtung bewegte. Er sprang nicht auf, um sich mittragen zu lassen. Er war im Stande dazu. Doch das war nicht die Art Zug die er befuhr. Auch hatte er es noch nicht eilig. Mit seinem langsamen Fortkommen war er momentan ganz zufrieden. Langsam gelangte man sicherer an sein Ziel. Es war viel dran an dieser alten Traditions-Regel des Volksmunds.
An Ausrüstung besaß er alles, was er brauchte. Handlich, gepflegt und sorgsam ausgewählt. Dafür hatte er längst schon gesorgt gehabt. Immer bereit zu sein, so als gelte es sich entgegen einer nahenden Endzeit zu wappnen, gehörte zu den gewohnten Eigenarten seiner Person, die von seinen wenigen früheren Bekannten oft als exzentrisch und skurril belächelt wurden. Er fragte sich, wer von denen eigentlich noch lebte. Egal. Seine Füße trugen ihn weiter und wenn er müde wurde, machte er halt und schlug irgendwo sein kleines Zelt auf. Inzwischen konnte sein Bart weiter wachsen, als Zugeständnis an seinen Status als polizeilich Gesuchter, obwohl er, zu Recht, zu wissen meinte, dass sein Fahndungsphoto die Grenzen Londons und diverser amtlicher Stellen noch nicht verlassen hätte. Das würde erst später irgendwann geschehen, wenn auch seine jüngsten Aktivitäten entdeckt und mit ihm in Verbindung gebracht worden wären. Bis dahin hatte er noch vieles zu tun.
Was wollte er eigentlich? Manchmal fragte er sich das selbst. Aber natürlich wusste er es. Auf eine seltsame, nicht jedem verständliche Art, wollte er das Gegenteil von dem erreichen, was man ihm zugedacht hatte, das Gegenteil von Bedeutungslosigkeit und das Gegenteil von altersbedingtem Vergehen. In seinen lebhaften Wachträumen identifizierte er sich großzügig und unlogisch mit den dunklen Helden alter schottischer Sagen und düsterer Romanerzählungen, wie sie zum Beispiel in der mythischen Legende von „Cuchulain“, in Leroux’ ’Phantom der Oper’, in Stevensons ’Markheim’ und Wildes „Dorian Gray“ beschrieben wurden. Wenn er jedoch schlief, so waren es andere Träume, welche ihn überfielen. Bestialische Träume. Erinnerungen und Visionen. Dann stöhnte er, wälzte sich auf seiner Matte hin und her und hätte so gerne geweint.
Die Zeichen des Fortschritts in jener Region des Landes, die McArthur dabei ist zu durchqueren, sind alt. Moderne Industrien und größere Investoren haben das Gebiet auf weitem Raum noch fast unberührt belassen. Was da ist, entstammt einer späten Phase des Maschinenzeitalters vor der zweiten industriellen Revolution. Stillgelegte Fabriken und Gruben säumen die Strecke. Bizarre, Rost zerfressene Giganten aus Eisen und tiefe, schlammige Wunden im Erdreich. Hie und da grasen wilde Schafe am kärglichen Boden. McArthur sind sie willkommen.
Manchmal ist da eine nicht mehr genutzte Tankstation oder ein Wärterhäuschen das leer steht. Sogar verlassene Bahnhöfe gibt es vereinzelt. Schlafplätze für Schatten.
Als McArthur wieder einmal vom Wetter geweckt wurde, spürte er, dass er sich schrecklich erkältet hatte. Er hustete und fluchte und das eine war so laut, wie das andere. Es war bitterkalt und es goss in Strömen vom eisgrauen Morgenhimmel hernieder.
Vor Kontrolle der Abteile von Wagen zehn, auf ihrem rückwärtsgerichteten Weg durch den Zug, stand Jasmina Duncan kurz still, frischte rasch und dezent, unter Zuhilfenahme eines winzigen Handspiegels ihren blauen Lidschatten auf und rückte ihre Dienstmütze in eine kecker erscheinende Schrägstellung. Zufrieden mit sich ging sie weiter.
Eigentlich war sie gar nicht so fürchterlich eitel. Vielmehr erledigte sie solche kleinen kosmetischen Zeremonien aus einer Art nervöser Gewohnheit heraus, so etwa, wie andere Frauen zur Zigarette griffen. Jasmina selbst fand Rauchen irgendwie schick, aber sie hasste den Qualm, der ihr in den Augen brannte und den Geruch kalten, abgestandenen Rauches. Die Raucherbereiche des Zuges versuchte sie deshalb auf ihren Routinegängen auch immer besonders rasch hinter sich zu bringen. Wagen zehn war ein solcher Bereich. Also Augen zu und durch gewissermaßen – und dabei möglichst gut aussehen, quasi als Ausgleich für die geringere Zeit, die sie den rauchenden Gästen zu opfern bereit war? So ähnlich mochte es sich ihr Unterbewusstsein zuweilen vornehmen. Meist dachte sie so nicht.
Der Nachteil ihres verführerischen Äußeren, welchen sie immer wieder bewusst zu verdrängen suchte, waren jene geilen Macho-Typen, die sich gleich grundlos angemacht fühlten und sich Freiheiten einbildeten, zu denen Jasmina keinerlei Anlass gegeben hatte. So einer saß auch in Wagen Zehn. Sie kannte ihn – leider. Er hieß Alec Baldwin, war mittleren Alters und Vertreter für Damenunterwäsche.
Man musste sich das einmal vorstellen! Da gingen Hobby und Beruf Hand in Hand.
Grundsätzlich hatte Jasmina natürlich nichts gegen solche Leute. Nur dieser Baldwin, der war ihr absolut zuwider, mit seiner aufdringlichen, schleimigen Art. Ein häufiger Gast auf der Strecke, auf den sie nur all zu gerne verzichten würde.
Er saß allein in seinem Abteil. Sie hatte nichts anderes erwartet.
Da sie wusste, dass er Besitzer einer Dauerfahrkarte war, hoffte sie ihn im Vorübergehen mit einem erzwungen freundlichen Lächeln und einem Kopfnicken abtun zu können. Er aber bestand darauf, dass sie zu ihm käme und seine Fahrkarte ordnungsgemäß und genau kontrollieren solle. Dabei grinste er wie ein Honigkuchenpferd aus seinem billigen Anzug.
Jasmina bemühte sich um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und dem Kerl. „Ach, schönes Fräulein“, sagte der, „Bringen Sie mir doch später noch eine Cola mit Gin, aus ihrem kleinen Imbisswagen – Sie wissen schon, ja?“
Oh Gott, was für ein Molch! – Jasmina schauderte.
„Wie Sie wünschen, Mister. Aber das macht dann meine Kollegin später für Sie!“ Baldwin tat gequält. „Oh, das bedaure ich aber...“ Jasmina war erleichtert, als sie endlich weiterkonnte. Nur zu gut erinnerte sie sich an das eine peinliche Mal vor ein paar Wochen, als sie hier angefangen und sie ihm die Cola gebracht hatte. Damals hatte sie etwas davon verschüttet. Auf seine Anzugshose. Und er hatte darauf bemerkt: „Hoppla Kleine, du machst mich ja ganz nass.“ Und dann: „Aber das macht nichts, der ist ja sowieso nur von der Stange! – Haha! – Stange, verstehen Sie?“
Sein Lachen war ekelhaft gewesen und Jasmina bedauerte zutiefst, dass in der Flasche Cola und kein heiß gekochter Kaffee gewesen war. Sollte er jemals welchen bestellen, so wüsste sie, was sie dann tun würde.
Im herrschenden Moment allerdings, ging es zunächst zu den restlichen Abteilen und weiter zu Wagen elf. „Grund zum Feiern!“, dachte Jasmina scherzhaft für sich.
Dutzende leerer Plätze, ein mürrisch zankendes Ehepaar, zwei männliche Zwillinge im Kindesalter, drei junge Katzen und einen schlafenden alten Mann weiter, erkannte Jasmina, dass ihr Glück sie nicht verlassen hatte. Ganz hinten nämlich, in Wagen fünfzehn, saß, als letzter Fahrgast, eine elegante, hübsche, junge Frau mit halblangem, rotgoldenem Haar und stilvoller Dreißigerjahre-Frisur, mit der sie kürzlich erst inniglich Freundschaft geschlossen hatte: Saskia Sitnikova. – Auf ihrem Zug und ihrer Strecke, in unregelmäßigen Abständen, zwei- bis dreimal wöchentlicher Dauergast.