Lockendes Geheimnis 1 - Felix Rudolf Durm - E-Book

Lockendes Geheimnis 1 E-Book

Felix Rudolf Durm

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Beschreibung

Meisterhafte Horror-, Grusel-, Schauergeschichten voll eindringlicher Atmosphäre und frischem Einfallsreichtum in perfekter Verbindung klassischer wie auch moderner Elemente und Qualitäten, stilistisch anspruchsvoll, aber nicht antiquiert, hypnotisch mitreißend und alle inneren wie äußeren Geister erhebend. Gänsehautgarantie und geweissagter Kultstatus! Für Freunde des Unheimlichen eine neue Stimme und ein neuer Stern am Himmel!

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Seitenzahl: 319

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Felix Rudolf Durm

Lockendes Geheimnis

1

Imprint

Lockendes Geheimnis 1 Felix Rudolf Durm Lichtschwert-Verlag e. K. Schmiedgasse 12 67227 Frankenthal published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Copyright: © 2015 Felix Rudolf Durm ISBN 978-3-7375-5573-9 Konvertierung: Sabine Abels / www.e-book-erstellung.de Covergestaltung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Titelfoto: © fotofrank, fotolia.com

Lektüre

Ich beginne zu lesen. In einem Buch über eine nicht mehr ganz junge(?) Frau, die ein Buch liest, das von jemandem handelt, der gerade ein Buch liest ... Das Buch ist spannend gleich vom ersten Moment an und irgendwie ziemlich seltsam.

Heute ist mein Leseabend. Eigentlich fast schon den ganzen so feucht-trüben Tag lang. Und wer weiß, wie lange noch in die Nacht hinein.

– Wie spät ist es? Ich weiß es nicht genau. Wie lange geht das schon so? Dass ich die Zeit vergesse: Egal. Heute ist mein Leseabend, und ich will ihn genießen. So wie die Frau in dem Schmöker hier, oder – warten wir’s ab – vielleicht besser nicht ganz genau so ...?

Sich irgendwo hin gemütlich mit einem guten Buch zu lümmeln und dann in der Geschichte wohlig ganz und gar abzutauchen, das ist etwas wirklich Herrliches, und es ist das, was ich hier und jetzt will! Genauso ergeht es der da in dem Buch. Sie und ich, wir könnten in dieser Hinsicht Schwestern sein oder Seelenverwandte. Mindestens.

Die in dem Buch hat sich heißen Kakao mit Minzlikör gemacht, eine Menge davon, und das Getränk in einem Krug neben sich hin gestellt. Sollte ich etwas Ähnliches wünschen, so ist exakt jetzt der am besten geeignete Zeitpunkt mir die Sache zu holen, ehe ich mich so richtig und weiter in den Text vertiefe. Aber Vorsicht! – Nicht vergessen: Gas, Herd, Mikrowelle etc., alles danach wieder ausschalten!

Was denn? Wieder da? Noch nicht aufgestanden? Keine Lust? Ich habe gar keinen Durst, aber es ist wie ein Spiel. Darum mache ich mit. Also: ... “Wieder da?“

„... Manchmal – wie eben gerade – habe ich dieses blöde Gefühl, dass mir ohne Grund heiß ist oder kalt.“, so denkt die in dem Buch.

„Das vergeht. – Spinneritis!“ denke ich. Meine Hand tastet nach einem störend juckenden Fleck. Die Stirn fühlt sich kühl an. Schweiß? – „Ach, Sch....!“

Ich und die in dem Buch atmen durch, suchen erneut die Konzentration auf die Zeilen. Der, die da liest, täte eine ordentliche Augenhilfe gut. Ich selbst drücke mich gerne vor dem Augenarzt und vor eventuellen Ausgaben im Gefolge. – Zum Buch: Von einer seltsamen inneren Unruhe ist da die Rede, von verborgenen Ängsten und vom Alleinsein. Man sollte keine Horrorgeschichten lesen, wenn man dafür nicht die Nerven hat.

„... Dieser Ort ist mir Heim und doch oder gerade deswegen auch unheimlich. Erinnerungen sind nicht notwendigerweise immer gut. Manche Geräusche sind überflüssig. Manche Gerüche nicht real.

Irgendwo knackt es, tropft es, flüstert es ...“ – Ich liebe Gruselgeschichten, aber das da – ich weiß nicht! Dass ich friere kann nur an der blöden Heizung liegen. Die hat Luft im Bauch wie ein toter Fisch oder wie ich, wenn ich wieder mal zu hastig und noch dazu das Falsche gegessen hab.

„... Alt, reich und nicht mehr ganz gesund zu sein, das ist ein Zustand, den man nicht gerne öffentlich bekannt wissen möchte. Es gibt Diebe ...“

Einbrecher sind Diebe, die wissen, wie sie zu reagieren haben, wenn es darauf ankommt. Diese Leute planen, sind lautlos, schnell und brutal – nicht selten sadistisch. Türen, die nicht richtig abgeschlossen sind, amüsieren sie köstlich und boshaft.

Etwas in mir ahnt vage, worauf all das hier hinausläuft. Jenes leidliche Schmunzeln drängt sich mir jedoch nur schwach auf. Ich bin fast ungewollt beeindruckt.

„... Da war damals die Sache, die ich nie, nein um gar keinen Preis, hätte tun sollen, und da ist die andere, die gänzlich andere, die ich versäumt habe – heute erst. Vorhin erst. ...“

Eine scheinbar belanglose, ereignisarme Handlung spinnt sich fort. Dennoch gerate ich gleitend in eine Art faszinierten Sog. Mehr und mehr bin ich ich selbst und die, die das Buch liest, und auch die Person in dem Buch, welches sie liest. Mein oberflächlich agierender Verstand errichtet inzwischen, geschäftig, notdürftig und ziemlich unwillkürlich, Barrieren zerbrechlichen Wissens, um mich vor meiner eigenen lebhaften Phantasie zu schützen. Etwas in mir erkennt bereits die feinen Risse in den Dämmen meines Bewusstseins.

Draußen im Freien raschelt gedämpft irgendwelches Laub. Es klingt wie kränkliches Flüstern. Wind geht! – Fällt Regen? Dämmerung? Fordernde Nacht! – Unsichtbares Wasser füllt die Luft bis in meine Ohren. Ein Radio spielt Musik, aber wo?

Unten geht leise eine Tür. Nein, stimmt nicht. Ich phantasiere. Ein schlechter Scherz, den ich mir selbst mache, damit es für mich einScherz bleibt. Ich erwarte niemanden. Es gibt niemanden zu erwarten.

„... Außer dem Sensenmann.“ Sehr witzig! Dieselbe Kategorie von geistigem Schabernack wie zuvor. Böser noch allerdings.

Dinge wie diese unwillkommenen Gedankenblitze habe ich dem früheren Genuss von etlichen Werken diverser gefeierter Literaten wie Stephen K. zu verdanken.

Mich schaudert. Ich weiß, dass wenn mich nun irgendjemand am Telefon anriefe, ich mich nicht bloß freuen würde – mehr noch, würde ich mich um ein geheimes Maß ganz unaufrichtig erleichtert fühlen. Vielleicht sollte ja ich jemanden anrufen. Aber wen denn, und unter welchem Vorwand?

Aber nein, es ist gar kein Vorwand, der mir fehlt. Was mir fehlt ist mein geeigneter Jemand! Und das kleine Quäntchen Mut, um mir vor mir selbst einzugestehen, dass ich gewisse Probleme habe, die zum Beispiel von einem jüngeren Gesprächspartner auf für mich sehr peinliche Weise belächelt werden könnten.

„... Ließ weiter, du Feigling!“ – Das könnten ganz einfach meine Gedanken sein, doch es sind auch die der lesenden Frau in dem Buch. Es ist wirklich verrückt. „... Es ist wirklich verrückt!“ – Da steht es geschrieben!

Ich wünschte, die Schleier von Nebel da draußen wären dicker als der in meinem Gehirn, aber im Moment sieht die Sache anders aus. Schritte – leises Tappen im Haus – irgendwo und nirgends. Die Frau in dem Buch wird unruhiger. Sie schwankt zwischen Faszination und Ablehnung des Textes. Sie erkennt sich wieder – zumindest größten Teiles – im Protagonisten der Geschichte, die sie liest – soweit es denn eine ist und so diesen Namen verdient –, und sie findet Gefallen und hofft dabei, dass nicht etwas sie dabei findet ... Dort haben und bergen die Wolken unschöne Gesichter! Auf einem hohen Baum sitzt verharrend ein namenloser Raubvogel. Seine Silhouette zeigt sich als schwarzer Scherenschnitt. – Ein spähender Blick zum Fenster hinaus, und ein gewisser Abgleich wäre auch ihr möglich. Doch dazu müsste sie womöglich aufstehen. Ich jedenfalls hätte keine Lust dazu. Nicht jetzt. Sie auch nicht. Offenbar. Sie liegt, sitzt, liest weiter.

Ich höre ein Atmen „... hoffend, dass es das meine ist.“ Ja, ich bin fast sicher, das ist es.

Fast? „... Fast?“

Ich grinse gequält, und die Frau in meinem Buch, sie tut es, gespiegelt in dem Buch, welches sie liest. Was da nirgends steht und was ich nicht weiß, ist die Antwort auf die zu stellende Frage nach der eigentlichen Rechtfertigung solcher Gequältheit.

„...Etwas lauert. Etwas Böses. Menschlich oder nicht. Und du fragst dich: Was ist beängstigender, die geistreich perverse Idee selbst nur erdacht, eine Illusion zu sein, oder die naiv düstere Vorstellung, dass das, was der noch immer zu lesende Teil dieser Geschichte bereit halten mag, dann auf einmal deine Realität sein könnte?

Wähle! – „Wähle!“ – Wähle!

„... Ich weiß jetzt, dass da noch jemand ist.“

Ich spüre es. Ein Sich nähern. Ein gestaltlos, substanzlos tastendes Heranschleichen. Eine fremde, sehr fremde Person. Draußen, doch drinnen draußen, hinter der Tür dort. Nicht weit genug – lange nicht mehr. Näher. Näher!

Der Windhauch ... Ich spüre den Windhauch, den widernatürlichen Atem einer… ja, „falschen Natur“…

… Gierig hohle Präsenz. Das dunkle Licht ...!

„... des schleichenden, … wie zärtlich grausamen Wahnsinns…“

Dämonisch

Wenn’s finster ist

Und Schatten tanzen

Unterm Herrscherbann der Nacht,

Und Du mit blassem Mut allein … –

Und Uhrenzeiger zitternd frisst

Schleppend sich zum Stundenganzen;

Dann schau in keinen Spiegel rein –

Länger nicht und tiefer –

Tu ’s nicht – nein!

Halloween am Nebelmoor

Jugend liebt große Worte. Ich weiß es aus meiner eigenen. Wir, ich Matthew Caldwell, Steve Williams, mein bester Freund, meine zwei anderen Freunde, Jeff Chandler und Don Krakovski, genannt Krake, sowie Sweetheart Anna Polaski, unser aller Möchtegernliebchen und stolzes Mitglied unserer kleinen Gruppe, wir liebten große Worte! Besonders solche, die einem wattig den Kopf schwellen lassen und manchmal die Eier. Wir liebten übrigens auch Halloween. Und ein bisschen hing es wohl mit unserer Vorliebe für eben jenes traditionell fröhliche Fest der Gespenster, Hexen und Kürbisse zusammen, dass wir die ausschweifend öde und zugleich so herrlich geheimnisvolle und ja auch ziemlich unheimliche Umgegend, am Rande derer wir alle zusammen in einem übergroßen, uralten und reichlich verkommenen Hauskomplex wohnten, und welche eigentlich recht banal „Stevensons Moorlands“ hieß, für uns Fünfe das Nebelmoor getauft hatten.

Wie kann ich euch meine folgende Geschichte jetzt schon mal schmackhaft machen, ohne zuviel zu verraten? Ganz einfach: wie beim Kochen: mit delikater Würze und der schnellen Gelegenheit zu einem berechnet dosierten Vorkosten.

Also…, die spezielle Art, wie wir wohnten, und den Ort, wo wir wohnten, die müsst ihr euch richtig vorstellen, mit all der seltsamen Macht eurer Träume und Phantasie, mit Hören und Sehen, Riechen und Schmecken, Fühlen und andersFühlen! … Ja, ich glaube, ihr versteht mich.

Da ist also diese unwirkliche, karge und düstere Landschaft, sich endlos breitend in alle Richtungen, ständig getaucht in mehr oder weniger Feuchtigkeit, von der Natur gemalt, wie von einem besessenen Künstler, dem der Wahnsinn aus jeder Pore trieft, in tief dunklen, verwischten Farben, von Braun und grauem Grün bis hin zu einem spürbar lebendigen, vielleicht eben weil toten, Schwarz.

Das Haus, wenn man es überhaupt so nennen darf – es mutete doch an wie eine Festung, in seiner langkastenartigen Form, mit seinen fünf Stockwerken und der jeweils dazu gehörigen, gleichmäßigen Totenreihe von halbblinden Fenstern und brüchig und lauernd wirkenden Balkonen – es war gänzlich aus schwerem Holz errichtet, als hätte es eine Arche werden sollen und kein Gebäude, und es besaß dieselbe schaurige Färbung wie das Moor selbst, dort wo es am tiefsten und manchmal tödlichsten war: Schwarz!

Jawohl, das Gebäude war schwarz, und nur ein paar vereinzelte Blumenkörbe, ausgehängte Wäschestücke und halbwegs bunte, doch teilweise ausgebleichte und arg eingerissene Kinderlampions von uns Jüngeren brachten verschwindend Lockerung in den zu fast allen Zeiten des Tages und der Nacht abweisenden ersten und meist stabilen Eindruck.

Die Erwachsenen, unsere Eltern und all die anderen hier, waren sämtlich in greifbarer Armut, selten zuhause und dank des Teufels namens Alkohol, dem Fluch der Trägheit vor dem inneren Feind und jenem subtileren des Frühstücks- und Abendfernsehens noch seltener überhaupt bloß ansprechbar.

Nicht, dass ihr mich da falsch versteht: Die meisten von uns liebten ihre Eltern. Es war nur so, dass sie für unser Leben erst einmal keine Rolle spielten, teils weil sie es nicht wollten, teils weil wir es nicht wollten. Nein, keiner von uns hat sich je dabei erwischen lassen, auch nur eine Träne darüber zu vergießen. Damals nicht. – Und heute? Vielleicht. Ja, vielleicht. – Aber egal, oder? Wenn nichts sonst, so denke ich, würden doch unsere Erlebnisse von damals uns immer voneinander scheiden. Wir können füreinander da sein nur im Jetzt…

Damals als wir Kinder waren… Eigentlich waren wir das nicht mehr so richtig, aber doch quasi auf dem Papier. Ich, Steve und Schnuckelchen Anna zählten in jenem Jahr fünfzehn, Jeff und Don offiziell vierzehn düstere Sommer. Wobei ich mir bei dem kleinen Don nicht ganz sicher bin, ob er uns nicht etwa immer beschwindelt hat und in Wirklichkeit erst dreizehn gewesen ist. Und Jeff, der Riese unter uns, obwohl jünger als drei andere, hätte von seiner Statur her auch gut als sechzehn durchgehen mögen.

Wo ich eh schon mal dabei bin, will ich die Mitglieder unserer Gruppe weiter kurz beschreiben. Ihr habt so wahrscheinlich ein klareres Bild vor Augen.

Zu Don und Jeff möchte ich lediglich ergänzend bemerken, dass sie beide blonde, nordische Typen waren und das Ersterer eigentlich immer eindeutig der vernünftigere von beiden war, was sich nicht zuletzt in seinen Zügen ausdrückte und wiederspiegelte. Ansonsten waren beide im Großen und Ganzen so richtige Normalos – abgesehen von einem manchmal nervenden Hang zum Morbiden, versteht sich.

Steve war schlaksig, aber viel kräftiger als er erschien, besaß lockiges braunes Haar und eine spitze Nase. Er hatte ein bisschen etwas von einem Grübler mit Hang zur Wehleidigkeit, war zugleich aber auch nicht selten zu reichlich frechen Streichen und Scherzen aufgelegt.

Ich für meinen Teil sehe mich selbst ganz realistisch als einen Idealisten und Träumer. Ob mein Äußeres dazu passt, mag als bestreitbar gelten – ich sah damals ungefähr so aus, wie man sich Bob Marley in jung vorstellen könnte. Zumindest meine Mutter war von karibisch- afrikanischer Abstammung. Dabei erinnerte sie irgendwie auch noch sonst an eine Voodoo-Priesterin. Und ich war unverkennbar ihr Sohnemann.

Anna – Himmel, Anna, unser Prachtstück – stellt sie euch ganz vor als eine irische Bilderbuchelfe, eine mit Babyspeck und Kurven wohlgemerkt, und das bei aller Zierlichkeit und der auffälligen Kleinheit von gerade einem Meter und achtundvierzig. Sie war ein liebes und gutmütiges Mädchen, hexchenhaft auch, ohne Zweifel, aber normalerweise nie bösartig. Sie besaß atemberaubendes, hüftlanges, naturgewelltes, rotblondes Haar, hatte ein herzförmiges Gesichtchen, einen kleinen supersüßen Schmollmund bei niedlichem, leichtem Überbiss, eine Stupsnase und große, richtig schockgrüne Katzenaugen.

Sie war ne „Kokette“ und kleidete sich feminin, hatte wie wir alle zwar nicht viele Klamotten und weniger noch Geld oder auch nur Gelegenheit, sich welche zu kaufen, aber dafür dieses gewisse, praktische Talent, aus einigem Wenigen, das da war, irgendwie, mit einfachsten Eingriffen in die Substanz, so was wie einen persönlichen Schick herauszuholen, der beeindruckend war.

Ja, wir liebten sie. Wen will das wundern? – Und auch das spielte natürlich eine nicht unerhebliche, nein vielmehr sogar eine entscheidende Rolle bei allem, was sich damals zutrug – im Haus und dann auch vor allem dort draußen ... im Nebelmoor.

Das Moor – wenn die seltenen Stunden stattfanden, meist gegen frühen Abend zu, an denen es sich nicht vollends in den sonst obligatorischen Nebel hüllte, wie in ein waberndes Leichentuch, manchmal dann, wenn es am Tage sowohl viel Sonne als auch Wind gegeben hatte, dann konnte man von den oberen Balkonen an unserem Haus aus bald wohl zehn Meilen weit darüber hin sehen. Und das Moor dehnte sich bei dieser Gelegenheit, dem Betrachter echt und instinktiv vorstellbar, nahezu endlos, bis zum seltsam verschwommen bewegten, von vereinsamten, untoten Baumgerippen malerisch gesäumten Horizont…

Am Vorabend des Tages, an dem es geschehen sollte, dem Abend vor dem Halloweenfest also, war es wieder einmal so gewesen.

Es gab da eine absolut ungewöhnliche Wärme für diese Zeit des Jahres. Wir, die ganze Gruppe von Fünfen, hatten uns in gewohnter Enge zusammengedrängt auf dem hoch am vierten Stock gelegenen Balkonraum eingefunden, der zur Wohnung von Anna und deren Eltern gehörte. Die wiederum waren abwesend, weil sie sich von Dons Eltern zu einem netten Abend mit VHS-Videos, billigem Fusel und Popcorn in deren Wohnstatt ein Stockwerk tiefer und drei Apartments weiter, hatten animieren lassen.

Anna besaß nun am Ort unseres Treffens alle töchterlichen Vorrechte, aber wir anderen gewährten ihr solche meistens und leidenschaftlich gerne, und nicht nur deshalb, weil unser Mädchen quasi gerade die Hausherrin gab. Sie belagerte ihren Lieblingsplatz, einen alten Schaukelstuhl aus stabilem Rattanflechtwerk, positioniert am südlichen Balkon-Ende, mit der sinnlichen Eleganz einer jungen Maharani, die sich zu einer Audienz in intimem Kreise herab lässt.

Wir Jungs saßen entweder auf übergroßen Kissen oder auf wackeligen, kargen Stühlen, seitlich von ihr, über die übrige schmale Fläche verteilt. Normalerweise schauten wir dabei einzig alle zu ihr hin. Nur für ein, zwei Minuten machten wir davon eine Ausnahme, als das Panorama vor uns zur einzigartigen Faszination gerann, als urplötzlich und wohlweislich unbeständig die zweifelhafte, morbid-düstere Schönheit des frühabendlichen Moores von einer Explosion orangenen Sonnenlichtes, welche einen Streifen Freiheit zwischen dampfenden Böden und sich trübendem Firmament gefunden hatte, mit etwas wie sichtbarer Hoffnung verklärt wurde. – Das schmutzig weiße Wollgras, dessen Ableger fast überall zu finden waren, erinnerte dabei an Schaumkronen in einem Ozean. Ein paar Mooraugen leuchteten kurz auf wie Ölpfützen. Das Schilf glühte. Sonnentau und Wasser glitzerte. Libellen waren zu erahnen, und ein paar Bekasinnen flogen auf, weil irgendetwas sie erschreckte...

Wir alle hielten den Atem an. Die Welt tat dies ebenfalls… Nein – nein, doch nicht, oder eben solange nur, dass man sofort an eine Illusion denken musste...

Wie immer war es Anna, die am Ende auf ihre besondere Art die Situation rettete, als unser Empfinden in dasjenige von schmerzlichem Verlust zu kippen drohte. Das Sonnenspektakel dauerte nur einen Moment, aber Anna, sie war da, präsent, lebendig und wunderschön und verteufelt sexy in ihrem kurzen, aus Wolle, Edelfilz und alten Nylons selbst angefertigten Fantasiegewand, mit ihren schlanken und bis zu den Knöcheln hin lila dick bestrumpften Beinen und den zierlichen, bloßen und reizend dreckigen Füßen, die mit süßem Branntwein zu übergießen sie sich jetzt als Nächstes anschickte – zum Zwecke desinfizierender Reinigung, wie sie es bei anderer, früherer Gelegenheit schon einmal getan und uns dabei in allem unschuldigen Ernst erklärt hatte. – Natürlich. Wozu sonst?

Es würde mich wundern, wenn nicht jeder von uns Jungs irgendwann einmal den gleichen Gedanken diesbezüglich gehabt hätte. Aber ausgesprochen hat es keiner. So was war Sache von Träumen.

Annas Lächeln gerade war das einer verführerischen Sphinx und das einer echt lieben, kindhaften Freundin.

Beides war gut. Zusammen konnte es manchmal ein Problem bedeuten. Doch das war nicht ihre Schuld. Anna war einfach Anna. – Wir alle liebten sie. Dafür. Genau dafür. – Wir würden sie nie enttäuschen, so dachten wir. Sollte ruhig sie die Regeln machen – sie beherrschte das am Besten. Wir respektierten sie.

Anna hatte von uns allen immer die besten Ideen, und war das personifizierte Ende und der Schrecken aller keimenden Langeweile. Sie konnte eindrucksvoll Geschichten erfinden und diese wunderbar mit stimmlich-schauspielerischem Talent erzählen. Wir Jungs konnten nur andächtig lauschen, uns darüber gruseln, von Emotionen einnehmen lassen, heimlich weinen oder schallend lachen.

Anna war unter uns längst gekröntes Aschenputtel. Prinzessin aus Verdienst. Als solche erwählt, doch ohne Prinz.

Womöglich fürchteten wir sogar Prinzen insgeheim. Wenn einer käme, was würden wir tun?

„Das war toll!“, sagte ich, um etwas zu sagen und warum auch immer die Stille zu brechen. Es klang bloß ungefähr so wie: „Schönes Wetter heute!“

Don klatschte leise, fast symbolisch in die Hände, und Jeff seufzte lautstark und grinste dann breit. Steve tat dazu so, als ob er schnarchte. Sein Blick unter halb gesenkten Lidern jedoch war undurchdringlich wach. Schnuckelchen Anna wackelte ahnungslos heftig mit den Zehen, zog ihre Beine zu sich heran und faltete locker die Hände über den Knien.

Draußen senkte sich – sobald die Sonne hinter dem Erdrand verschwunden war um nichts zu hinterlassen als einen mageren, purpurnen Fuchsschwanz, der ihr alsbald schon folgen sollte – die tückisch sich sammelnde Nacht mit einem unerwarteten Herabgleiten rauchgrauer, kompakt dräuender Wolkenmassen über einen nurmehr gequetschten Streifen grünlich lichten Blaus auf die nasse Erde nieder, wo schließlich wieder mehr und mehr die Nebel krochen. Auch das war ein Bild, das Aufmerksamkeit verdiente...

„Der Atem der Hexe! – Erinnert ihr euch noch an die alte Legende…?“ Anna sah in die Runde, ein gefährliches Blitzen von Schalk in den hübschen Augen.

Wir schmunzelten geflissentlich. Allein, den Schauer verspürte nicht nur ich, der sich prompt bei dieser Erwähnung mein Rückgrad hinunter stahl.

Keiner der Alten und keiner der hier am Moor heranwuchs existierte, ohne dass er oder sie die Geschichte längst hatte zu einem insgeheimen Bestandteil seiner Identität werden lassen. Nein, die Legende von der Hexe vom Nebelmoor war vielmehr wahrscheinlich das Erste, das ein neuer und potentieller Wohnanwärter freiwillig oder unfreiwillig über die Gegend hier zu hören bekam – und sie pflegte die Menschen zu faszinieren, eher als dass sie je einen abschreckt hätte. Besonders die Jugend. Ist ja klar. – Trotzdem: Die Geschichte von unserer Anna heute am Vorabend zu Halloween erzählt zu bekommen, auf die ihr eigentümliche intensive Weise, das war ein Genuss, den sich auch nach der soundsovielten Wiederholung keiner von uns entgehen lassen wollte.

„Ach ja, da war doch was…“ meinte Jeff. „Was war das doch gleich ...?“ Don kicherte. „Hyperventiliert hat die Schreckse!“ – Steve schnaufte: „Trottel …!“

Nur ich blickte Anna jetzt fest in die Augen und sagte dann ohne eine Miene zu verziehen, zugleich aber mit wie ich hoffte aufbauend freundlicher Stimme: Ich liebe es, wenn du uns aufklärst!“

Anna lächelte. Und dieses Lächeln erst brachte mir das leidlich Doppeldeutige meiner Worte zu Bewusstsein und ließ mich erröten. Zum Glück fiel es bei mir unter meiner relativ dunklen Haut nicht wie bei den anderen so sehr auf.

„Oh, ich sehe, ihr bettelt förmlich darum.“ sagte Anna, blickte kontrolliert in die ganze Runde und klang womöglich ein klein bisschen verärgert, doch auch unterschwellig wild darauf, endlich mit ihrer Version der Geschichte und deren individueller sprachlicher Darbietung loszulegen.

„Bitte, bitte, bitte, bitte!“, sagte Don. „Hau ruhig rein, Fräulein!“ erklärte Jeff flapsig.

„Bitte, Anna! … Und: Danke!“ meinte Steve.

Ich fand, plötzlich und zum ersten Mal mit einer Art Stechen, dass er insgesamt, oder auch nur jenes, sein spezielles „Danke“, sich für unseren Steve irgendwie merkwürdig zärtlich anhörten, und … ich schwieg einfach, obwohl mir auch etwas nebst einem „Dank dir!“ auf der Zunge gelegen hatte.

Aber Anna registrierte auch mein Schweigen, dessen war ich mir sicher.

Sie ließ stet eine stolze Braue schweben, brachte sich auf dem Schaukelstuhl in eine locker aufrechte Schneidersitzposition, griff mit den Händen irgendwie gewohnheitsmäßig links und rechts nach ihren Zehen und so – in ihrer Haltung einem weiblichen Guru nicht unähnlich – legte sie los, mit phantasiebunten Blitzen in den Augen und mit raschelnder Seide in der mädchenhaften, weichen Stimme…

„Dass sie eine Hexe war, wusste in Wahrheit keiner…

… Die meisten aber gefielen sich lautstark darin, sie als solche anzusehen, sie zu verachten, zu beschuldigen und sie für alles ihnen nur nicht recht erklärliche Übel in ihrem Umfeld und ebenso im weiteren örtlichen Umkreis des Moores hier verantwortlich zu machen…

Ihren Namen – wenn diesen je einer gekannt haben sollte – hat die Zeit längst vergessen. Aber nicht die Erinnerung an ihr Ende. … Sie, die alle Bewohner der Umgegend nur die „Hexe“ nannten, obwohl oder vielleicht auch gerade weil sie jung und zierlich und nicht eben ganz unhübsch gewesen war und obwohl man nie im Stande gewesen war, oder es auch nur für nötig gehalten hatte, handfeste Beweise für einen solchen Vorwurf an sie zu erbringen, wurde als Hexe von diesen bigotten, scheinheiligen, pervertiert lüsternen Dorftrotteln verfolgt, gebrandmarkt und zum Tode hin gejagt! Ja, verbrennen wollte man sie, oder doch zumindest sie im Moor versinken sehen, dort wo es damals schon als am Tiefsten vermutet wurde, ganz weit draußen, da wo auch dereinst ihre ärmliche Behausung, ihre Hütte und Schlafstatt stand! Alles nur wegen ein paar kranken Tieren, seltsamen Unfällen und undurchsichtigen Omen, die wirklich nichts mit ihr zu tun haben mussten! …“ – Anna hatte sich jetzt richtig ein bisschen in Rage geredet, und wir genossen die spürbare Spannung und den leichten Grusel.

„… Zwischen vier und fünf Uhr am Morgen, noch vor dem ersten Licht der Dämmerung machten sich die Häscher mit leuchtenden Kürbislaternen, anstelle von auffälligeren und weiterhin sichtbaren Pechfackeln auf den zuvor genau ausgekundschafteten und markierten Weg zum Heim des Mädchens, welches sie Hexe nannten. Diese hatte für den damals noch mehr als heute gefährlichen Weg durch das Moor nie irgendwelche Wegweiser benötigt, was man ihr ebenfalls als Fingerzeig zur Teufelsbuhlschaft angekreidet hat. Tatsächlich hätte der Marsch zu ihr hin – eine unheimliche und gewisslich unheilige Prozession von Geiferern – zwei von ihnen beinahe das Leben durch bröckliges Ersäufen gekostet, trotz des markierten Pfades…“ Anna grinste tückisch. Wir grinsten ebenfalls. Es war schön, und es war einträchtig, wie wir so grinsten. – Und Anna fuhr sogleich fort zu erzählen.

„… Vor Ort, noch bevor man sich überhaupt richtig vergewissert hatte, dass sie überhaupt zu Hause sei, verbarrikadierte der eifernd entschlossene Mopp von außen mit Heugabeln und Brettern und eisernen Ketten die Tür und die Fenster ihrer hölzernen Hütte, bis auf eines, durch welches man dann nach ihr rief und spähte. Um das ganze kleine Gebäude herum versprengte man inzwischen auch Öl aus einem eigens dafür mitgeführten Fass. Und endlich, auf ein einzelnes lautes Geräusch aus dem Inneren hin, welches in den Ohren der Meute wie ein Stöhnen und Grunzen klang und doch auch ganz anders, wurde nun auch die erste Fackel entzündet. Durch zwei in ihren Herzen eiskalte Männer: den Pfaffen und einen noch jüngeren Laffen, den Gemeindevorsteher. Eine Brandfackel. Das Instrument qualvoller Vernichtung. Das Feuer wurde gelegt. Es fauchte. Die Flammen zehrten hungrig und prasselnd. Der Qualm, schwarz uns stickig machte einen husten.

Das wilde und karge Moor schien stumm doch schrill zu schreien. Der düstere, teils unheimlich zerklüftete Himmel weinte Nieselregen. Nebel zog auf, milchig und wabernd, rasch, wütend fast …, und er verdichtete sich. – Bis er beinahe greifbar wurde…“

Anna machte eine Pause, holte tief Atem und stieß in wieder aus. Ihre Augen blitzten freudig erregt, und es war so, als flackerte das Feuer aus der Erzählung in ihnen. – Niemand von uns wagte es, sie jetzt zu unterbrechen. Wir wussten so ziemlich was da noch kommen musste. Aber wir waren wieder einmal gebannt.

„… Zusammenbleiben! Unbedingt alle zusammenbleiben! – So befahlen mit bebender Stimme die Anführer der Gruppe. Und obgleich man alsbald längst das Licht des Tages erwartet hatte, blieb dieses aus, und es wurde nicht heller, wenn nicht gar dunkler rings über dem drohend glucksenden Moor. Künstliche Lichter waren jetzt absolut lebenswichtig, mehr denn je. Aber irgendetwas war mit den Kürbislaternen. Sie schwebten zuweilen ganz sonderbar umher, unwirklich im Anschein, wie entgegen menschlicher Führung, und mancher meinte zunehmend auch böse Fratzen in ihnen zu erkennen, mit geifernden Mäulern... Dazu kam noch das Wegmarkierungen, die auf dem Hinweg noch genau gestimmt hatten, sich auf einmal nicht nur nicht mehr ausmachen ließen, sondern vereinzelt so wie willkürlich versetzt wirkten. Panik lag ätzend in der Luft. Zumindest. Auf jeden Fall aber entglitt den durchaus tief verwurzelt abergläubischen Leuten zunehmend die geistige und optische Kontrolle und damit die Orientierung auf einem ihnen in jeglicher Hinsicht feindlichen Grund...

Tja… – Von achtzehn Leuten, darunter sogar zwei Weiber, die schändlich zum feigen Morden und selbstherrlichen Richten hinaus aufs Moor gezogen waren, kehrten am Ende doch nur sieben lebend zurück. Sie alle aber versicherten, mit der Hexe sei es vorbei. Keiner wollte viel mehr berichten. Die Anderen, die Toten, die die nicht mehr zurückkamen seien erst von dem Nebel und dann vom Moor verschluckt worden. Doch sie habe man brennen sehen und hören! Daran bestehe kein Zweifel. Schließlich wäre ja wohl auch kein anderer dort in der Hütte bei ihr gewesen… Oder etwas…“ – Das letzte Wort kam wie mit spitzer Zunge gehaucht und ganz fein gezischelt über Annas hübsche Lippen.

Klitzekleine, eiskalte Käfer schienen mir und meinen Freunden das Rückgrat entlang zu krabbeln. So war es uns jedes Mal, wenn Anna diesen Höhepunkt und Abschluss ihrer erzählerischen Darbietung erreichte.

Diesmal erntete sie echten Applaus. Unser Goldstückchen! Und kein Zweifel, sie hatte ihn sich verdient.

Ich blickte Anna mit aufrichtiger Bewunderung und mit Verehrung entgegen, und mehr noch mochte sie selbst aus meinen Augen lesen. Jeff kickte mich mit dem Schuh an den Knöchel und verlangte Aufmerksamkeit für seinen Spruch:

„Nur gut das unser Hexchen hier so quicklebendig ist und ganz auf unserer Seite steht – was Leute?!“

„Das ist zu wahr!“, sagte ich und fühlte mich dabei auf einmal aus unerfindlich düsterem und auch sofort verdrängtem Grunde ganz merkwürdig unwohl.

Don lachte untertänig lauthals. Dabei ließ er seine fettige Haartolle fliegen. Steve blickte für einen Moment furchtbar übel drein, murmelte erst etwas völlig Unverständliches und lachte dann auch. Es war aber ein völlig erkennbar künstliches Lachen.

Anna schien mir erst, beinahe wie betreten, fest die roten Lippen zusammen zu pressen. Aber der Eindruck mochte täuschen, denn in den nächsten Sekunden scherzte sie heftig, machte einen Buckel, verzog das Gesicht zu größtmöglicher Schiefe und schnatterte, sabbernd und dazu mit einseitig rollendem Auge, ein mit brillantem parodistischen Talent durchgespieltes Disney-Hexen-gerechtes Hexengekäcker. – Das löste natürlich die allgemeine Stimmung und manövrierte diese für alle Anwesenden deutlich von angespannt ins Ausgelassene.

Doch es war eine eher stille Ausgelassenheit, bei der das Gelächter nach einer Weile zu einem sprachlosen und dabei richtungslos erwartungsvollen Lächeln verebbte.

Ausgerechnet ich fühlte mich dann halbidiotisch berufen, die aktuelle Ruhe zu brechen und die abendliche Tagesordnung fortzuführen – es wurde jetzt immer schneller dunkel, und Don war geistesgegenwärtig oder auch nur nervös genug, um schon mal während meines Beitrages ein paar Kerzen anzuzünden:

„Freunde, ihr wisst, was morgen für ein Tag ist! Vorbereitet sind wir, glaube ich, seit längerem. Später heute werden wir aber unseren Schlaf brauchen. Damit wir morgen richtig fit sind…

Also lasst uns gleich nun noch einmal tätig werden und die gar erschröcklichen Details unseres moorigen Halloweenfestes planen! Schließlich ist das für uns so etwas wie der Höhepunkt des Jahres! – Ich übergebe das Wort dazu dem, der es haben will, ansonsten aber auf ein Neues an unsere liebe, junge Anführerin…“

Steve stöhnte daraufhin, in einer zu vermutenden Mischung aus genervter und offener Geringschätzung gegenüber meiner gestelzten Ausdrucksweise und eher geheimer und mühsam verhohlener Wut, was mich wiederum umso gebleckter grinsen ließ.

„Was hast du gesoffen?“, fragte Jeff. „Du klingst so mariniert.

„Joints nicht zu teilen ist unbrüderlich!“ erklärte Don.

„Maniriert heißt das.“, verbesserte Steve Jeff leise wie im Selbstgespräch.

Anna beugte sich anmutig wie eine Schwanenprinzessin beim Ballet weit zu ihren parallel gehaltenen kleinen Füßen hinunter und leckte einmal kurz mit spitzer Zunge darüber. Dann sagte sie, ohne aufzublicken und jemanden von uns anzusehen, mit verführerischer Stimme ganz sachlich: „Er hat recht. Matthew hat völlig Recht! – Ja, es ist wichtig noch einmal über alles zu reden. Keiner von uns will, dass im Moor etwas schief geht. … Unsere Eltern, Tanten, Onkel et cetera werden sämtlich nicht da sein, sondern im nächsten Dorf. Noch nicht einmal in der Nähe. Wir sind dann allein. Auch in Sachen Sicherheit sind wir dann allein… – Seid ihr ganz sicher, dass ihr das wollt, das Nylonseil ausreicht und habt ihr die Kürbislaternen und die Windpfeifen auch wirklich schon auf ihre Funktionstüchtigkeit hin überprüft…?“

Ich schätze, da war keiner unter uns Lümmeln, der dabei nicht irgendwie auch seine ganz eigene kindisch machohafte Vorstellung davon pflegte, wie gerade Annas kleine, glatte, butterweiche Tittchen appetitlich unter ihrer, raffiniert und mit kaum erkennbarer Naht zusammengeschneiderten, Nylonbluse pendelten. – Man sah aber eigentlich gar nicht viel davon, na ja, wegen des wollenen Bolerojäckchens darüber…

Jeder meldete sich nun einmal mindestens zu Wort. Es gab trotz wohlbekannter Bedenken einhellige Zustimmung zu dem bereits im letzten Jahr eher mutwillig und weinselig angedachten Plan. Der gemeinsame Schluss war, dass es vor allem auf gute Organisation, Zusammenhalt und klare, furchtlose Köpfe ankam. Und so hatte nun also wirklich die Absprache begonnen. Die Absprache zu unserem bis dato düster-gruseligsten, gewagtesten, und abenteuerlichsten Unternehmen im Moor – denn vorgesehen war es, am Halloweenabend den Platz aufzusuchen, wo damals das Häuschen der „Hexe“ stand und dabei, auf dem von uns als circa zwei und einen halben Kilometer weit ausgerechneten Weg, Windpfeifen in verschiedener Tonhöhe und Kürbislaternen mit zusätzlichen Solarlichtern darin in Abständen von gewisser Regelmäßigkeit anzubringen.

Das Ganze sollte ein Super-Event werden, und die angebrachten Windpfeifen und Kürbisleuchten sollten nicht nur die geniale Maßnahme mit dem doppelt auszulegenden Nylonseil als modernem Ariadne-Faden zur Sicherheit unseres Heimweges ergänzen, sondern auch noch künftig ein Schauspiel liefern, welches man vom Haus aus über das Moor blickend dann bald täglich würde erleben dürfen.

Der Abend unserer Planungen jedenfalls endete fast glücklich und tatsächlich relativ früh. Das pantomimisch stumme Betteln von uns Jungs wurde lächelnd vergnügt erhört. Vor dem Auseinander- und Zubettgehen gab Anna einem jeden von uns einen flüchtigen Gutenachtkuss. Wir schmolzen dahin und sagten „Wir lieben dich!“ im ungeordneten Chor. Anna wiegte sich in den Hüften und grinste frech. „Und jetzt raus und Marsch ins Bettchen…!“

Wir dachten … Ach, was soll’s, egal was wir dachten.

Draußen wühlte feucht und ironisch das Moor, murmelte windig die Nacht und ein Atmen der ewigen Natur begleitete unser menschliches Seufzen.

Wie unruhig mein Schlaf in jener Nacht tatsächlich verlaufen sein musste, verrieten mir eigentlich erst am Morgen die total wirren und wild verknäuelten Laken meiner Bettstatt. Irgendwann, so erinnere ich mich, muss ich für kurze Zeit wohl erwacht zu sein. Gegen drei Uhr spät und mitten im sonst üblichen Zentrum der Dunkelheit hatte es draußen ein merkwürdig trockenes Gewitter gegeben und durch das offene Fenster eindringende tiefblaue Lichtblitze hatten zuckende Visionen von phantastischen Monstren und subtilen Angstsymbolen an die fahlen Wände meines kleinen Zimmers gemalt. Wie Nebel zerfließende Gespenster... Karibische Totenmasken. Wild wucherndes Wollgras. Glucksender Schwingrasen. Glotzende Mooraugen. Speerartiges Schilf. Seltsam leuchtendes Heidekraut. Vor Nässe glitzernder Sonnentau. Unnatürlich boshaft wirkende Bekasinnen und Birkhennen. Abnorm große Frösche. Die Hexe – und Anna …

Visionen. Träume. Meine Augen interpretierten Schattenspiele und vermengten dies mit weiteren Eindrücken der nächsten Umgebung und mit Fetzen aus der Erinnerung des vergangenen Tages. Mein Gehirn arbeitete im außervernünftigen Wachschlafmodus. Wahngestalten und Elemente des Realen, vor allem solche des Moores dominierten das Konzert der Impressionen und selbst geschaffenen Expressionen als Antwort darauf. Mein karibisches Blut war empfänglich. Ich besaß einen K’guitscha, eine Art jamaikanischen Traumfänger an einem Faden über meinem Bett. Eigentlich sollte der mich schützen. Dazu war es gut, wenn man glaubte. Meine Hand umklammerte den alten bunten Plüschzombie, den mir vor Jahren Tante Batshiba von den Inseln geschickt hatte. Für eine Zeit lang in diesen dunklen Stunden bis zum Morgen war ich wieder fast ein kleines Kind. Allein meine Gedanken an unsere Anna waren zumindest relativ erwachsener Natur. Ich hatte Angst und zugleich einen mächtigen Steifen…

Erst spät wurde es hell. Überhaupt nur einigermaßen. Jeglicher Versuch einer Vorhersage bezüglich des Wetters hier in Stevensons Moorlands und für den späteren heutigen Tag und den Halloweenabend wäre allerdings anfangs noch müßig gewesen. Wir hofften natürlich auf Bedingungen wie gestern, als es warm und auch nur wenig von dem Nebel da gewesen war. Aber die äußere Laune des Moores änderte sich. Zuweilen verdammt schnell. Immerhin waren wir auch darauf eingestellt. Und ein prüfender Gang ans dann offene Fenster bewies, dass bislang wenigstens die Temperatur in der Luft noch reichlich in Ordnung für uns war. Allerdings spürte ich auch schon die wieder anwachsende Feuchtigkeit...

Es war jetzt halb zehn. Bald Zeit fürs Frühstück. Die beiden Alten waren noch am pennen. Es roch überall streng und unverkennbar auch nach Alkoholresten.

Ich ließ für ne Weile Luft in die Bude – Mein Zimmer und die Küche waren davon betroffen. Ich hatte nicht die Absicht jemanden zu wecken. –, und kramte nach etwas leidlich Essbarem, was ich schließlich in Gestalt von einem alten Stück Salami und einer Packung Schokobrötchen fand.

Kaffee! – Ich brauchte jetzt einfach Kaffee, und wäre es nur des Geruches wegen gewesen. Also ging ich in die Küchenecke und machte dort welchen. Das ganz billige Zeug. Mehr konnten wir uns ja nicht leisten. Aber dafür frisch von Hand gemahlen. Wir hatten nämlich so ne alte Kurbelmühle. Ich machte das dann. Das Ergebnis dauerte so etwa eine gute Viertelstunde. Es war wunderbar. Verdammt bitter und verflucht gut! Und duften tat das Zeug!

Meine Stimmung fing an sich aufzuhellen. Womöglich würde es tatsächlich ein wie ersehnt richtig geiler Tag werden!

Ob Anna schon auf war, oder sich noch scheinbar keusch und süß im Bettchen räkelte? – Ich schmunzelte. Ich mochte sogar ihren kleinen Überbiss richtig gerne. – Nag mich, Baby! Komm schon! Nag mich! – Ich machte schmatzende Luftküsse, streckte und dehnte mich und aß genussvoll grinsend den Rest meiner Mahlzeit.

Zwei Stunden nach meinem Frühstück, während ich gerade bäuchlings in einem Wust von Spiderman-Comics auf der Matratze in meinem Zimmer lag, nachdem ich zuvor mit nur mäßigem Fleiß an einem Zweimaster aus Hartplastik etwas Modellbau betrieben hatte, streckte meine Mutter ihren Kopf bei mir zur Tür herein und flötete in ihrem typischen, mir angenehm vertrauten Eingeborenen-Singsang ein sprachlich gebrochenes „Guten Morgen, Matthew und: Happy Halloween! – Der Gaffee kommt wieder doll – danke!“

„Gern geschehen!“ antwortete ich meiner Mutter ehrlich und ließ im Umdrehen zu ihr hin meine hundertfach gelockte Haarpracht fliegen.

„Dasselbe auch im Namen deines Vaters…“ fuhr Mom fort. „Er sagt, ihm ein Schokobrötchen übrig su lassen, war ungeheuer großherzig von dir! Er iss aber schon wieder unten gangen un abeitet den Chrysler der Chandlers…“

Meine liebe Mom! Sie würde unsere Sprache wahrscheinlich nie richtig lernen. Und manchmal hing sie genau wie mein Daddy richtig durch. Doch wenn sie danach lange genug ausgeschlafen hatte, war sie eigentlich fast immer gut drauf und wohl gelaunt. Sie fragte auch selten, ob ich etwa Schularbeiten versäumte oder so. Das tat ich ja auch nicht, meine Pflichten vernachlässigen, mein ich.

Ach…, ich vergaß zu erwähnen, dass unsere Schule, zu der wir von hier aus und zurück mit dem Bus zu kommen pflegten, in der Zeit um den ersten November herum an ganzen drei Tagen geschlossen hatte – lokale Tradition, oder so. Denk ich mal, jedenfalls.

Ich warf, eben bevor sie verschwinden konnte, rasch noch einen Blick auf die Kuckucks-Wanduhr aus dem schwarzen Wald von Germany, stellte fest, dass es danach halb eins vorbei war, und fragte meine Mutter noch schnell: „Wann müsst ihr … Ich meine, wann habt ihr vor später aufzubrechen..?“

Ich erntete einen irritierten Blick. – „Wann ihr zu euren elterlich-erwachsenen Feierlichkeiten abmarschiert, will ich bitte wissen!“

Der nächste Blick meiner Mutter kam vielschichtiger, endete aber ausufernd in einem verständnisvollen Grinsen. „So du dich anständig verhalte …, gegen halb nach vier, ihr alle werdet haben freie Bahn von uns! – So du dich aaanständig verhalte!“

Ein verschwörerisches Augenzwinkern noch von ihr, ein breites Lächeln, ein fliegendes Küsschen und ein Dankeschön von mir, und die Tür ging wieder zu, um mich allein zu lassen.

Unsere Gruppe wollte sich gemäß Absprache um sechzehn Uhr dreißig, also circa eine halbe Stunde bevor es aktuell begann, dunkel zu werden, unten vor dem Hinterausgang des Hauses treffen. Dann sollte jeder körperlich und geistig und gewissermaßen auch seelisch vorbereitet sein und absolut alles Notwendige und Ausgemachte dabei haben. Dann nämlich wäre es endlich soweit.

Nur noch knapp vier Stunden. Lange kurze vier Stunden… Ich schob mir die Fäuste ans Kinn unter die Nase, überdachte zunächst die Toilettenfrage, dann die Mitnahme eines Apfels ..., nein zweier Äpfel… – Oh, … Mann …!