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Liebst du groteske, unheimliche, vor allem aber auch unglaublich witzige Fantasy? Liebst du Hamburg? Liebst du Literatur, die respektlos, tiefgründig und phantasievoll als vorrangigstes Ziel die Freude und den Spaß des Lesers an seiner Gegenwart, also deinen Genuss am fröhlichen Faulenzen zum Ziel hat? Dann bist du in der "Welt der Gespenster" gemeinsam mit den coolen Helden der Geschichte bestens aufgehoben! Dich erwartet ein Feuerwerk an Gags ohne Gleichen und ein Leseerlebnis, das dem Erleben eines Superkinokrachers nicht nur in nichts nachsteht, sondern solches weit noch übertrifft! Und auch an Hintergründigkeit mangelt es nicht, wenn deine Reise durch die Attraktionen eines kunterbunt düsteren Anderswelt-Hamburg geht, um schließlich dem Oberschurken "Bin Saten" zu zeigen, wo der Hammer hängt …! :-) Urlaub in der Dose!
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Seitenzahl: 476
Veröffentlichungsjahr: 2015
Felix Rudolf Durm
Eine Hamburgische Fantasy
Welt der Gespenster Felix Rudolf Durm Lichtschwert-Verlag e. K. Schmiedgasse 12 67227 Frankenthal published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Copyright: © 2015 Felix Rudolf Durm ISBN 978-3-7375-5582-1 Konvertierung: Sabine Abels / www.e-book-erstellung.de Covergestaltung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Titelfoto: © Marco2811
Für alle, die in Liebe ihr Glück noch suchen.
Mal ehrlich! – Damit die heutige Jugend noch mal ’n Buch liest, muss man ihr das Ding wahrscheinlich per SMS zuschicken! Und was die Kids dann so lesen ... – „E-mail und die Detektive“ un’ so ’n Zeugs! Aber Schwamm drüber. Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, und gebt der Jugend was sie mag! Gebt ihr „Welt der Gespenster“, das coolste Buch seit Erfindung des Papiers durch Tsai Lun im Jahre 105 n.Chr. Für junge Leute von 14 bis 84 und darüber!
Ein Buch über eine phantastische neue Welt und zugleich eine irrwitzige Reise durch das schöne Hamburg mit vielen seiner attraktiven Orte und Gegebenheiten.
Ein Student auf Odyssee im Weltenwandel! Ein Verschwinden! Geheimnisse! Eine schreckliche Bedrohung! Eine große Liebe!
Schrill und hintergründig!
Irgendwann passierte es. Zu einer Zeit, als Zeit noch etwas von Bedeutung gewesen war. Es geschah plötzlich, schleichend und doch ziemlich rasch, im Verlauf von einigen wenigen, erst beinahe normalen, zugleich aber auch höchst befremdlichen Tagen. Das Auftreten des „Phänomens“ machte der Bedeutung von Zeit, so wie sie uns bisher geläufig gewesen war, ein Ende.
Das „Phänomen“ veränderte unsere Welt. Es machte aus der betriebsamen, nach mehr oder weniger vernünftigen Zielen hin strebenden, Welt der Menschen, eine Welt, in welcher wir alle, die wir lebten, nur mehr so etwas ähnliches waren wie bis hin zur Panik verängstigte, ausweglose, zweiflerische, zaudernde, hoffnungsvolle, träumerisch faszinierte Asylsuchende.
Das „Phänomen“ machte aus unserer vertrauten Welt eine andere – eine Welt der Gespenster.
Die allerersten Anzeichen wurden von „Himmelsexperten“ wahrgenommen, von Astro-Wissenschaftlern und Physikern, dann auch vereinzelt von ersten einfachen Sternenguckern und schließlich von Priestern und Esoterikern.
Irgendetwas, so schien es da, veränderte sich am Licht der Sonne und so auch dem des Mondes. Sonderbare, hauchzarte Farbenspiele waren immer mal wieder in ungeordneter Folge und in unterschiedlichen Abständen zu sehen. So wie flüssige Schleier über dem gewohnten Weiß, Gelb oder Silber. – Blau, Grün, Lila, ungeheure Nuancen, die allesamt einen ganz und gar unwirklichen und verrückten Eindruck ergaben. Momente, die das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung bereits mächtig ins Wanken brachten. Das war ganz der Beginn.
Das Zweite, was geschah und was sehr schnell, mit beinahe lächerlicher Bestürztheit, von fast allen Menschen auf unserer Erde bemerkt wurde, war, dass die Schatten, welche eine jede Person und ein jegliches Objekt, direkt vom Licht getroffen, zu verursachen pflegten, entweder „grundlos“ und zu ihrer Gänze verschwanden oder aber sich sozusagen nicht mehr an jene Regeln hielten, die ihnen unsere Natur bisher auferlegt hatte.
Sie zeigten sich seltsam verzerrt, bewegten sich selbständig oder blieben in Art „sturer Freiheit“ stehen, obwohl die ihnen zugeordnete körperliche Masse sich weg vom Platz bewegte.
Es folgte der dritte und damit der vorletzte Schritt in jenem gruseligen Prozeß, jener, der die dynamischste Komponente dessen ausmachte, was ich zuvor nur „das Phänomen“ genannt habe. Es kam zur „großen Verdunkelung“ und dann zum sich mehrenden Erscheinen der „Anderen“...
***
Von manchem, das mir zugetragen wurde, doch besonders von mir, will ich erzählen. Nicht weil meine Geschichte etwa um so viel wichtiger oder so viel abnormer gewesen wäre als die unzähliger damals – nein, einfach deshalb, weil man ja wohl immer am besten dazu in der Lage ist, die eigenen und selbst erfahrenen Erlebnisse ziemlich genau, wahrheitsgetreu(!) und versehen mit dem unerlässlichen, rechten Maß an Subjektivität und authentisch erinnertem Gefühl wiederzugeben.
Zugegeben. Mir und zwei, drei anderen, mir eng verbunden, erschien meine Geschichte tatsächlich als die allerwichtigste Geschichte von allen. Aber das ist ja immer so.
Ich setze mit meiner Erzählung dort an, wo das „Phänomen“ – wie übrigens auch Medien es schließlich nannten – gerade begonnen hatte.
***
Es war Freitag, der 17te Oktober, und warm war es draußen in der Stadt, die Luft fast sommerlich. Wunderlich genug, hätte man meinen mögen.
Mein Erwachen an diesem Tag war das ganz normale, nach vorausgegangener langer Nacht, gedämpft draufgängerische Erwachen eines ab und zu freidenkenden, spät pubertierenden Studenten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, in der schönen, deutschen Hansestadt Hamburg.
Mir dröhnte der Kopf von zuviel Bier und Rauch, genossen beim Kneipenbesuch im Anschluß an die leidliche Erfüllung meines Pflichtpensums an Lernzeit. Ich stierte eisig auf den Radiowecker wie auf einen Feind. Die rot leuchtenden Digital-Ziffern der Uhr zeigten mir 08:32. Es erklang Musik aus den Neunzigern, „Nur geträumt“, gesungen von „Blümchen“, ein uralter Schuh, aber ganz nett, wenn man nicht gerade davon geweckt wird. – Ich wurde ganz offensichtlich davon geweckt.
Der Lautstärkeregler war – zugegeben, von mir selbst – weit, sehr weit, nach oben gedreht worden ... Das musste ich jetzt büßen. Andererseits hatte ich schon um Viertel nach zehn ein wichtiges Seminar, und es war angebracht, dazu rechtzeitig und in einigermaßen passablem Zustand zu erscheinen.
Ich betrachtete die große Poster-Collage an der Wand mir gegenüber. Sie zeigte das, mit drei Personen besetzte, Cockpit-Innere des „Millenium-Falcon“ aus dem Film „Star Wars“. Die Köpfe der eigentlichen Akteure waren von mir ersetzt, das heißt, überklebt worden. Han Solo sah nun aus wie ich selbst, etwas jünger also, beinahe einundzwanzig. Chewbaca, der riesige außerirdische „Affenkrieger“, trug die unverkennbaren Züge von Ronald Barnabas Schill, dem umstrittenen Politiker. Und Prinzessin Leia, obwohl auch im Original gar nicht übel, hatte das – mir ein wenig besser gefallende – hier eine lustige Grimasse schneidende, Gesicht von Reece Witherspoon, einer anderen Schauspielerin, ebenfalls klein und blond, doch von jüngerem Baujahr.
Ich stand auf, räumte den „Playboy“ und einige Schreibhefte, sowie Lehrbücher, fort aus meinem sumpfigen Weg Richtung Dusche und all die Sachen hinein in eine eher zufällig offen stehende Schreibtischschublade.
Mein anschließender Blick aus dem Fenster gewährte mir Sicht auf den Fernsehturm, auf hohe, teils schmutzige, hässlich-primitive, teils geschmackvoll schön-gestaltete Hausfassaden, eine stark vom Autoverkehr frequentierte Straßenkreuzung und einen, nebst in vertrautem Blau, auch noch merkwürdigst gelblich und grün getönten Himmel, der eine fast pinkfarbene Sonne umgab, deren Licht bleich und schwach wirkte.
Zuerst dachte ich an eine perverse Art von Dunst, an Smog – oder präziser – an einen gewaltig miesen, irgendwie chemisch kontaminierten Super-Smog. Dann aber erkannte ich, dass dazu das üblich Diffuse des umgebenden Mediums fehlte, dass die Sicht eigentlich klar war, ja dass man sogar ziemlich weit zum Horizont hin zu blicken vermochte, ohne dass dabei die feinen Umrisse der betrachteten Objekte in vom Smog her gewohnter Weise vor dem sensiblen Auge verschwammen.
Ich duschte, verzichtete einmal wieder auf’s Frühstück, zog mich an und war schließlich kurz davor, mich auf die Beine zu machen in Richtung Uni.
Während all dem beschäftigte mich, was ich draußen gesehen hatte. Ich hatte ein seltsames Gefühl. Da war etwas, ungefähr wie das berühmte Kribbeln im großen Zeh, welches manchmal namenlose Ahnungen beschreibt. Meine stärkste Empfindung aber war nicht etwa Verwunderung oder gar Furcht, sondern Neugier.
Ich fragte mich, was los war. Ein kosmisches Ereignis? – Das Ereignis? War es endlich Zeit geworden für das Ende, für die große, mega-geile End-of-the-world-Party?
Meine Gedanken erschienen mir selbst, entsprechend dem Geisteszustand eines hohen Anteils an Erstsemestern, als nicht allzu vernünftig. War es nur Galgenhumor, der mich bewegte und also eine durchaus sinnvolle Schutzfunktion ausübte?
Egal. Nichts hielt mich heute länger in meinen gemütlichen fünfunddreißigeinhalb Quadratmetern Mietwohnung.
Etwas geschah. Etwas Großes. Dessen war ich mir damals bereits sicher.
Ein alter chinesischer Fluch sagt, wörtlich übersetzt: mögest du in interessanten Zeiten leben! Als ich davon das erste Mal gehört hatte, war mir sogleich klar gewesen, dass mich dieser Fluch garantiert treffen würde. In meinem Leben – das hatte ich immer geglaubt und meinte es so auch jetzt – wäre alles möglich, und alles könne geschehen...
Ich war gespannt, was es „am Ende“ wirklich sein würde.
Achtundvierzig Stufen gewendelter Holztreppe im Hausflur und ein Sprung zur knarrenden Tür hinaus konfrontierten mich erneut mit dem Anblick eines aus den Fugen des Normalen ausbrechenden Firmaments. Farben spielten da, als ob sie von einer riesigen Lichtorgel dorthin projiziert worden wären.
„Echt irre! Superirre! – Hallo, Martin!“
Neben mir stand plötzlich Jennifer G., eine liebe Freundin von mir. Sie war es, die gesprochen hatte.
Am Besten gefiel mir an ihr, dass, wenn sie lächelte, dieses Lächeln bei ihr vor allem von den Augen ausging.
Jenny war hübsch, von zierlicher Figur, modebewusst, blond und ganz und gar nicht blöd. Das zeigte sich keineswegs nur beim einmal wöchentlichen Schachspiel mit mir oder bei ihren kleinen spontanen Ausflügen in die Philosophie.
Jenny trug so einen winzigen Nasenring, und ihr Haar war meistens zu einer einfachen aber zugleich raffinierten Frisur arrangiert. Das tat sie selbst. Es war ein Talent von ihr und einer der Gründe dafür, dass sie als Friseuse in einem Laden gleich bei mir um die Ecke arbeitete. Weitere Gründe waren: Sie brauchte das Geld, und es machte ihr einfach sehr viel mehr Spaß, mit lebendigen Haaren umzugehen, als mit toten Lehrbüchern.
Besonders mochte ich an Jenny auch ihre Stimme, die sehr hell und zugleich ein bisschen soft und samtig war.
Ich genoss es stets ihr zuzuhören, fast gleichgültig worüber sie gerade sprach, und meistens war das, worüber sie sprach, auch nicht eben uninteressant.
Eben mal siebzehnjährig, wusste das Mädel beinahe schon unglaublich viel über das Leben und über die Menschen. Aus der persönlichen Erfahrung heraus, aus der Beobachtung und vom richtigen Hinhören. Ich bewunderte sie dafür aufrichtig.
„Hallöchen, Jenny!“, sagte ich, mehr tapsig als flapsig. „Du kommst wie gerufen. Wenn morgen die Welt untergeht, wüsste ich momentan nicht, wen ich lieber an meiner Seite hätte als dich!“
Jenny lächelte verlegen. Sie wusste nicht recht, ob ich das eben ernst gemeint hatte. Auch ich wusste das nicht. Eigentlich. Wir beide wussten jedoch, dass zumindest etwas Wahres daran war. Wir mochten einander wirklich sehr und das schon seit Längerem. Ungeachtet dessen, war es mit uns bis zur Stunde noch nicht zu einem, wie auch immer gearteten, intimeren Verhältnis (blöder Ausdruck) gekommen. – „Äh, hmm ...“
Um es kurz zu machen: Wir waren echt gute Freunde!
Rings die Menschen, sie schauten nach oben, fast verstohlen manchmal, ein paar wenige entsetzt, viele verstört. Auf der Kreuzung Ecke Bundesstraße gab es einen Unfall. Gleich drei Fahrzeuge rammten einander. Blechschaden.
„Hast du Angst?“, fragte mich Jenny. Und auch ihre Augen fragten...
„Noch nicht“, antwortete ich reichlich korrekt, und ich fügte hinzu: „Abenteuerlust! Die überwiegt wohl bei mir, wenn was wie das hier passiert... – Aber du hast trotzdem Recht.
Ein wenig mulmig erscheint mir das Ganze durchaus auch. Normal ist das jedenfalls nicht. Vor allem hoffe ich, dass nicht irgendein blöder Giftkram oder so was Schuld ist an dem da. Habe keine Lust, an irgendetwas einzugehen. Du verstehst!“
„Und ob! Davor hab’ ich auch Angst!“
Jennys süßes Lächeln fiel diesmal ein wenig unsicher aus. Ich legte sehr vorsichtig meinen Arm um ihre Schulter.
„Hab keine Angst! Das brauchst du nicht. Ehrlich, wenn es gar so gefährlich wäre, hätte man über die Medien irgendeine Meldung gebracht, wahrscheinlich sogar einen Alarm gegeben – mit Sirene und so. Wie bei ’nem Fliegerangriff.
Und außerdem ...“
Ich stockte. Meine tiefe und ruhige Stimme war während des Redens immer schwächer und leiser geworden. Es war für einige Sekunden richtig dunkel geworden, und die Sonne hatte dabei blutrot ausgesehen. Irgendwo entfernt schrie ein Kind, ein Hund kläffte, und eine ältliche Frau lief murmelnd und wimmernd mit winzigen hastigen Schritten an uns vorüber.
Jenny zitterte. Ich hielt sie fest ... Das war besser als viel zu quatschen. Nach kaum einer Minute – einer langen Minute allerdings – wurde es wieder heller, und gleich danach sahen der Himmel und auch die Sonne für längere Stunden beinahe wieder wie normal und wie sonst immer aus.
In dieser Zeit ging ich zu meinem Seminar und dann noch zu ein paar Vorlesungen und in die Bibliothek, und Jenny ging zu ihrer Arbeit bei Luigis, dem Coiffeurgeschäft. Am Abend, so hatte ich es mit Jenny vereinbart, wollten wir uns oben bei mir noch mal treffen. Offiziell sozusagen. Ein Rendezvous. Ein Freundetreff. Irgendwie halt. Jenny und ich, das war schon was. Etwas Besonderes. Na ja, „wir halt“ ...
***
Gegen zwanzig Uhr, klingelte es bei mir an der Tür. Es war Jenny. Oups – schon so spät! Na bravo! Ich hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, in der Küche mit Köcheln fertig zu werden und noch mal rasch auf der Toilette gewesen zu sein.
Sie war genau pünktlich. Ihr Ausdruck verriet mir, dass sie ebenso wie ich spürte, dass – ob wir wollten oder nicht – unser Beisammensein jetzt irgendwie ein anderes sein würde, als das sonst in der Vergangenheit der Fall gewesen war.
Sie lächelte schief und, wie es ihre Art war, ein klein bisschen schüchtern. Wunderhübsch sah sie aus, in ihrem kurzen bunten Rock und dem hellbeigen, fast hautengen Top, versehen mit der in goldenem Glitter aufgetragenen Aufschrift „Super-Girl“.
„Hast du den Fernseher an?“, fragte sie mich.
„Nein. Noch nicht.“ Ich wusste worauf sie hinaus wollte.
„In den Radionachrichten haben sie über die Sache fast gar nicht gesprochen. Nur eine kurze Erwähnung hat es gegeben und keine Erklärung.“
„Vielleicht bringt das Fernsehen was darüber. Bestimmt hast du Recht. Es ist gleich soweit für die Tagesschau. Mach’s dir bequem und schon mal selbst den Fernseher an! Du weisst ja Bescheid hier und wo alles ist ... Ich bin dann gleich bei dir!“
Während Jenny ihre Schuhe auszog und sich gemütlich auf die Couch vor meinem Fernseher lümmelte, holte ich uns in Windeseile frischen Orangensaft, heißes Knoblauchbaguette und lauwarmen Nudelsalat – die Dinge, die ich eben zuvor für uns vor- und zubereitet hatte. Ich gehörte halt zu der Sorte Mann, die ihren Frauen gerne etwas boten.
Jenny bot mir dafür ihre liebe Gegenwart und den Blick unter anderem – auf zwei traumhaft schöne schlanke Beine in edlen karamellfarbenen Halterlosen...
Nichts! – Die „Tagesschau“ brachte absolut nichts über das Phänomen am Himmel. Lediglich das Übliche, aus Politik, Wirtschaft und Sport. – Krisen, Geldprobleme, Katastrophen, Bedrohungen, die alltägliche Angstpropaganda, zum Zwecke, mittels künstlicher Erweckung des scheinbar ganz natürlichen Grundbedürfnisses nach Ersatzbefriedigung, den allgemeinen Konsum anzuheizen. Sonst herrschte Ebbe im TV. Keinerlei Information zu dem, was uns am Heftigsten bewegte. Aber die Sprecherin, die guckte so merkwürdig drein. Die stand unter Druck! Das fiel uns beiden gleich zu Beginn der Sendung auf.
„Ein Kom(...)plott!“, meinte Jenny zwischendurch kauend.
„Leider sehr verdächtig!“, meinte ich. „Oder wir spinnen!“
Jenny schüttelte den Kopf. Sie sah zu mir auf. Ihr Gesicht drückte in einer sympathischen, kurzen Grimasse ihre Zweifel und Bedenken aus. Ich nahm ihre Hand in die meine, drückte sie stumm und lächelte verzagt.
„Etwas Ablenkung wird uns gut tun, glaube ich!“
Ich griff zur Fernbedienung und schaltete auf einen anderen Kanal um. Dann deutete ich auffordernd auf die Reste der dargebrachten Köstlichkeiten und sagte: „Du mjam-mjam!“
Das klang nicht intelligent, aber es half.
Wir saßen noch lange auf Tuchfühlung, doch ohne etwas zu wagen, aßen zusammen und sahen uns nacheinander erst einen lustigen britischen Spielfilm und dann noch eine Ausstrahlung des „Literarischen Quartetts“ an.
Die Situation lässt sich nur so erklären, dass auch ich eher von der schüchternen Sorte war und außerdem viel zu clever, um nicht zu wissen, dass „gut Ding Weile haben will“.
***
Es passierte, nachdem wir den „Klapperkasten“ ausgeschaltet hatten. Das war kurz vor Mitternacht. Wir erfuhren so nichts von der spontan ins Programm gestellten Sondersendung, die gleichzeitig auf mehreren Kanälen exakt zur vollen Stunde ausgestrahlt wurde. Das war auch gar nicht nötig, denn wir erlebten selbst das Ungeheuerliche, welches da Thema jener Berichterstattung war und was die Medien nun doch nicht mehr übergehen konnten.
Noch während des listig-lustig und streitbaren Ausklangs der Kultursendung mit dem exzentrisch-genialen Reich-Ranicki, hatte die Sache ihren Anfang genommen. Wir hatten es nur nicht sofort bemerkt, weil wir zu sehr mit uns selbst und mit der angeregten Diskussion darüber beschäftigt waren, ob denn anspruchsvolle Literatur wirklich immer auch zeitkritisch zu sein habe oder nicht.
Der Blick der Kameras, das Licht der Scheinwerfer, sowie ein aufmerksames Späherauge registrierten und enthüllten was geschah. Dass nämlich fadenscheinige Akteure, uns täglich folgsam begleitend, einen ganz besonderen Aufstand wagten. Schatten! Ja, von unseren Schatten spreche ich. Sie taten nicht mehr, was sie tun sollten, verweigerten sozusagen ihren, für ewiglich und permanent erachteten, Sklavendienst an allem Gegenständlichen.
Im Literaturquartett war das so: Die Schatten der Menschen auf dem Podium erhoben sich plötzlich und gingen, während die physisch vorhandene Kritikerrunde noch eifrig und sitzfest weiter schwadronierte. Das dauerte nur Sekunden. Doch sicher war es zumindest einigen Zuschauern aufgefallen.
Jenny und ich hingegen hatten gerade nicht hingeschaut. Wir bemerkten die in Gang gekommene Verrücktheit an uns selbst und auf ein bisschen drastischere Weise.
Ein wenig müde und zärtlich sah ich sie an. – Jenny gähnte. Jenny seufzte. Nein, sie war nicht müde.
Dann grinste sie und meinte zu mir: „Blödes Programm in der Glotze. Komm, wir machen unser eigenes!“
Mit diesen Worten beugte sie sich auf recht attraktive Weise in Richtung der orange beschirmten, also in warmem Lichtton leuchtenden, Stehlampe links hinter ihr und begann, dort davor mit ihren Händen niedliche, kleine Figuren zu formen, deren Silhouetten sich daraufhin dunkel, deutlich umrissen und im vermittelten Eindruck ziemlich lebensnahe am angedachten Vorbild, an der weißen Wand gegenüber abzeichneten.
Ich mochte dieses Spiel – Jenny hatte es mir schon einmal gezeigt.
„Schau! Was ist das?“, fragte sie lächelnd.
„Ein Hund – ein Schäferhund?“
„Richtig. Und jetzt das hier! Sag!“
Jenny veränderte flink und geübt die Stellung ihrer Hände, so dass sich eine ganz neue Ansicht ergab.
„Weiß nicht“, sagte ich. „Ein Kran vielleicht?“
„Nein. Unsinn! Es ist ein Tier – ein großes exotisches Tier.“
Ich lächelte. „Ah, okay, jetzt hab’ ich’s. Es ist eine Giraffe!“
„Bravo! Und gleich das nächste ...“
Wir hatten Riesenspaß in den darauf folgenden Minuten – besonders Jenny, die mit ihren kleinen, flinken Fingern eine wahre Künstlerin war.
„Na?“, fragte sie, als ich nicht gleich erriet, was sie mit der neuerlichen Figur darstellen wollte und etwas zu lange zögerte, was daher kam, dass mich etwas irritierte.
„Du musst deine Hände etwas ruhiger halten!“ erklärte ich sanft. „Sonst komm’ ich da nie drauf!“
Jenny sah mich stirnrunzelnd und mit leicht unterschiedlich erhobenen Augenbrauhen an. „Was soll das, Martin? Ich halte die Hände absolut ruhig! Sieh genau hin. Nichts bewegt sich. – Also, was ist das? – Es ist ganz einfach ...!“
„Entschuldige Jenny, aber sieh du mal ganz genau hin!“
Ich deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Wand, wo der eben abgebildete Schattenriss, Jennys Absicht nach ein sich aufbäumendes Pferd darstellend, zitterte wie Espenlaub.
Jenny schaute verblüfft auf die Wand und beinahe gleichzeitig auf ihre still in Position verharrenden Hände.
Als nächstes fiel uns beiden vor ungläubiger Überraschung buchstäblich die Kinnlade herunter. Automatisch schüttelten wir – jeder für sich – unsere Köpfe. Das Schattenpferd an der Wand warf sich ungestüm rückwärts und brach dann in einen Galopp aus. Das war nicht alles. Der Schatten meines noch ausgestreckten Zeigefingers gesellte sich dem zu, wurde länger und dünner, formte sich zu einer Schlinge, zu einem Lasso, welches dann versuchte das fliehende Pferd einzufangen.
Für Sekunden waren Jenny und ich völlig sprachlos. Kurz darauf flüsterte Jenny ein nachdrückliches: „Hilfe!“
Ich schob mich auf der Couch ganz nahe an sie heran, bis jeder Sicherheitsabstand zwischen uns geschwunden war, und flüsterte ebenfalls und sehr mit innerem Gewicht: „Hier...!“
Ich küsste sanft ihr Haar, das ein großes bisschen wie Heu, ein kleines bisschen wie Zimt und ein ganz kleines bisschen wie Waldmeister duftete.
Jenny zitterte. Ihr Mundwinkel zuckte ein wenig nach oben.
Ich glaube, wir atmeten im gleichen ruhigen und zugleich flatternden Rhythmus.
„Martin ...?“
„Ja?“
„Bringst du mich bitte nach Hause?“, fragte Jenny verlegen und mit einer Mischung aus vernehmlicher Angst und im Vorraus gewährter aufrichtiger Dankbarkeit, weil sie wusste, dass ich das gerne tat.
„Das mach ich, Jenny!“
Hätte ich mehr sagen sollen? – Sie wusste doch, dass sie sich auf mich verlassen konnte. Unter gar keinen Umständen hätte ich sie gerade jetzt alleine gehen lassen wollen. Und Worte, die fehlten mir momentan noch ebenso wie ihr selbst.
Worte, die würden wieder kommen, sprudeln, überfließen – später, wenn der Schock sich gelegt hätte oder wenn weiteres geschah und es nötig wäre.
Was wir benutzt hatten an Geschirr und auch sonstige Dinge, alles blieb stehen und liegen, weil unwichtig.
Wir machten uns fast mechanisch und wie in einer Trance „abmarschbereit“ und verließen anschließend, still und leise, erst das Zimmer, dann meine Wohnung ... und endlich – mit beinahe zögerlichen und trotzdem viel zu polternden Schritten, auf grausig knarrenden und quietschenden Stufen – das Haus.
Eine ungewohnt menschenleere Straße empfing uns...
Gelblich buntes Laub wirbelte in kleinen Formationen, so wie die aufgeschreckten Schwärme irgendwelcher Vögel, auf dem glitzernden Asphalt der Fahrbahn, an den Bordsteinkanten und in den finster glotzenden Winkeln lauernder Häuserfluchten.
Es wehte ein streichelnder und frischer, für die herrschende Jahreszeit jedoch viel zu lauer Wind...
Genuss und Irritation – wir freuten uns zögerlich darüber.
Die Gesamtheit der nächtlichen Stadt zeigte sich gebadet in bleiches und bläuliches Mondlicht, und die volle, im Wachsen begriffene, Sichel des Mondes war umgeben von einer riesigen milchigen Aura.
Unheimlich war es und schön...
Wir gingen stumm, vorsichtig und zügig, instinktiv so wie Verfolgte, die nicht wussten, von wo eine drohende Gefahr sich nähern würde und Seite an Seite ganz nah beieinander. Unser beider Fingerspitzen berührten sich – zuerst wie unabsichtlich, versuchend, dann gewollt, folgend einem tiefen Drängen nach Schutz und Geborgenheit. Schließlich gingen Jenny und ich Hand in Hand. Das erste Mal taten wir das, und es fühlte sich verdammt gut an. Eine winzige, pelzige Maus rannte ein paar Meter vor uns über das schmutzige Trottoir und verschwand schrill piepsend in einer Öffnung im Stein einer Hauswand. Wir schauten uns an und lächelten dabei.
Ein scharfes Geräusch störte urplötzlich die Romanze, und weitere Geräusche kamen hinzu, ließen aus einem eine Gruppe werden. Es waren eindeutig die zischenden, singenden und schleifenden Geräusche rasender Fahrradreifen. Es hörte sich erst an wie eines, das sich uns in hohem Tempo näherte. Dann hörte es sich an wie viele, und auch mehrere Fahrradklingeln ließen sich lautstark vernehmen. Es klang als erreichten sie uns und als führen sie direkt an uns vorbei. Doch zu sehen war nichts! Es war keine Täuschung. Es war gespenstisch.
Ein kleiner, stechender Schmerz durchzuckte meine Hand. Jennys gepflegt manikürte, überlange Fingernägel bohrten sich da hinein. Ich schnaufte.
„Uutsch!“, sagte ich und: „Danke Fräulein, ich bin wach!“
„Und ich dachte schon, nur ich hätte es gehört.“
„Uns verbinden gleiche Träume ...“
Ich hatte schon besser gequasselt. Vermutlich reagierte ich solcher Art, um selbst besser mit meinem Schrecken umgehen zu können.
„Frotzle nicht!“
„Das tue ich nur für dich!“
Das stimmte.
„Ich weiß. Bitte, lass es!“
Jenny blickte ernst.
„Cool ist out?“, fragte ich.
„Genau.“
„Okay. Abgemacht.“
Ich bereute. Warum nur benahm ich mich so? War es etwa Verklemmtheit – der schädliche Einfluß zu vieler angesehener Hollywood-Streifen – oder war es eigentlich doch das, was der Situation angemessen war? Die Welt war verrückt. Offenbar. Konnte ich – sollte ich – da normal bleiben?
Jetzt kamen die Fahrräder! Eine ganze Minute nachdem sie zu hören gewesen waren, erschienen sie hinter uns! – Stabile Objekte, lautlos wie Schemen – führerlos – ohne Fahrer! – Ein Pulk – ein ganzer Verband. – mindestens zwanzig Fahrräder, angetrieben und aufrecht gehalten von unnatürlichen Kräften!
Einige wenige brachen aus. Sie bedrängten uns, umzingelten uns. Wir blieben stehen. Jenny schrie leise und kläglich, als eines der Fahrzeuge sie beinahe zu rammen drohte. Ich hielt sie fest in meinen Armen und schütze sie ganz bewusst mit meinem Körper, blieb dabei aber ebenfalls unversehrt. – Wir bebten. Uns beide schauderte das Geschehen. Jenny fühlte sich wunderbar weich an. Leider war mein Genuss nicht ungetrübt.
In wenigen langen Sekunden war dann alles vorbei, und die Geisterfahrräder bogen weit entfernt ab in eine andere Straße. Endlich! Wir hielten einander noch immer. Wirklich, es war gar nicht so schlimm! – Und diesmal war ich nicht so dumm, etwas zu sagen. Ich wartete.
Jenny wartete auch und war dann froh, mit mir zu warten.
„Danke, Martin! – Danke, dass du da bist!“ hauchte sie nur. Es klang sehr ehrlich und beinahe schon feierlich.
Irgendwie gingen wir danach weiter, und irgendwie waren wir gleich darauf am Ziel angelangt, dort wo Jenny zusammen mit ihrer Mutter wohnte.
***
Jennys braune Augen glitzerten und fragten, während sie noch auf der Schwelle stand und milder Silberschein sie kleidete. Ihre Lippen hatte sie auf kindliche Weise eingezogen, und ihr hübscher Mund bildete dabei einen lustigen, von Grübchen umrahmten, schmalen Strich.
Jenny war bemüht, sich tapfer zu geben. Zugleich drückte etwas an ihrer Haltung und in ihrem Blick ungewollt deutlich ihr unterdrücktes Empfinden von Hilflosigkeit aus.
„Ich könnte dich noch nach oben begleiten“, sagte ich. „Nur bis gewiss ist, dass bei dir zu Hause alles soweit in Ordnung ist ... und für den Fall, dass deine Mutter vielleicht irgendwelche Hilfe braucht ...“
Auf Jennys Stirn machten sich ihre Brauen, geschwungen wie Adlerflügel, abflugbereit und aufwärts.
„Was meinst du?“, fragte sie verstört, mit einer winzigen reflexhaften Spur von Misstrauen.
„Am Besten ist, ich warte hier“, antwortete ich und zeigte ein halbseitiges Lächeln mit bewusst schurkenhafter Note, welches ich jedoch vernünftigerweise rasch wieder abstellte.
„Wenn du oben bist, Prinzeßchen, und alles ist in Ordnung, rufst du mir einfach runter, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche!“
Jenny, in leicht verschämter Einsicht, erklärte leise, während sie erneut und dankbar ihre kleine, kühle Hand in einer Geste vertrauensvoller Zuneigung auf die Suche nach der meinen schickte:
„Nein. Du hast Recht. Meine Mutter könnte Hilfe brauchen, und dann hab’ ich dich lieber gleich dabei!“
Ich nickte.
Jenny klimperte mit dem Schlüsselbund. Es dauerte, bis sich die schwere Eingangstür mit Knirschen öffnete.
Eine Sekunde lang war es drinnen dann stockdunkel. Danach schaltete, seitlich und über uns, eine verborgene Automatik ein unangenehm trübes und schmutziges Lampenlicht an.
Fünf Stockwerke waren es bis hoch zu Jennys Bude, und wir beschlossen gemeinsam, die vielen Stufen zu nehmen, obwohl es auch einen schmalen alten Fahrstuhl gab.
„Und nenn du mich nie wieder Prinzeßchen!“ forderte Jenny, plötzlich scharf im Ton und süß im Auftritt. „Das hier ist nicht ‚Star Wars‘!“
Ich grinste ertappt. Schlagartig wurden wir wieder ernster, als es an den Aufstieg ging.
Das Ganglicht im Treppenhaus ließ zahllose Schatten zu.
Drohend und angeberisch bäumte sich der scharf konturierte Schatten des massiven Holzgeländers an der hohen, laienhaft mit kalkiger Substanz verputzten Wand uns gegenüber.
Filigraner, verspielter und sanftmütiger zeigten sich seitlich davon in der Ecke die Buntschatten einiger auf Fenstersimsen aufgestellter Topfpflanzen ...
Gleich fiel mir auf, dass etwas nicht stimmte. Aber was?
... Und schließlich wusste ich es: Unsere eigenen Schatten – sie fehlten! Auch sie hätten zu sehen sein müssen, gestreckt, bewegt, uns entweder vorauseilend oder „gehorsam“ folgend, jeweils gerecht unserer Position zum Licht der Lampen, was aber nicht der Fall war.
Ehe ich mich entscheiden konnte, Jenny behutsam darauf hinzuweisen, waren wir beide auf unserem Weg hinauf bereits ein gut Stück weiter gelangt und sahen nun unsere eben noch verschwunden gewesenen Schatten. Wenn auch an falscher, den Regeln zuwiderlaufender Stelle.
Wir sahen sie nur allzu deutlich. Etwas präziser ausgedrückt: Wir fanden sie vor. Wir ertappten sie sozusagen in eindeutiger Pose und Aktion!
Wie unsere Schattenfinger vorhin bei dem Spiel, so hatten auch sie ein Eigenleben entwickelt, und sie gingen miteinander wesentlich weniger scheu, brav und zurückhaltend um als ihre leibhaftigen, wohlerzogenen Vorbilder. Es war absolut grotesk und außerdem für Jenny und mich ganz schrecklich peinlich.
Na ja, ein bisschen amüsant war es wohl auch – aber ganz sicher erst bei jedem dritten oder vierten hinsehen ...
Jedenfalls bekam ich anfangs ein paar ziemlich rote Ohren, und Jennys Gesichtsausdruck ließ auf heftige, wechselhafte Emotionen schließen, sowie auf den teilweisen Versuch, die eine oder andere darunter so nicht zuzulassen.
Überdies fehlten uns die Worte, und wir unterließen quasi aus strategischen Gründen jegliche spontane Äußerung.
Endlich begegneten wir der „zwielichtigen Situation“, indem wir ächzend eine große Eile entwickelten und den Rest der Treppe bis zur angepeilten Wohnungstür im Laufschritt hinter uns brachten.
Die aufgeregten, teils hohen und hysterisch lamentierenden Stimmen hinter einigen Wänden, das Wimmern eines Kindes, das Maunzen einer Katze, all das war leise schon beim Eintritt ins Haus zu hören gewesen. Wir hatten es nur nicht beachtet. Das Gehirn, wenn reichlich irritiert, arbeitet zuweilen langsam, und erst oben – wir hielten kurz inne, um Atem zu holen – fiel Jenny und mir richtig auf was um uns her los war.
Natürlich! – Wir waren so mit unseren eigenen Erlebnissen und persönlichen Anliegen beschäftigt gewesen, dass wir etwas außer acht gelassen hatten, das offensichtlich war. Dabei hätte uns klar sein sollen, dass wir beide und wahrscheinlich auch Jennys Mutter heute gewiss nicht die einzigen waren, die von Verrücktheiten und widernatürlichen Erscheinungen betroffen wurden und mitgenommen waren.
Wir überschauten nur einen winzigen Teil eines winzigen Teiles der Ereignisse. Und freilich erahnten wir auch dann, als uns dies zaghaft bewusst wurde, noch nicht das ganze Ausmaß der Dinge.
Mehr oder minder überall auf dem Globus herrschte gerade heftiges Chaos, Nichtbegreifen und Kopfschütteln. – Und die Stadt Hamburg – auch das stimmte, ohne dass wir es wussten, –war ein Fixpunkt im Spiel und Plan der unbekannten Mächte, welche all dies bewirkten.
Dass sich zuvor auf der Straße keiner hatte blicken lassen, das hatte schlicht mit der späten Stunde zu tun oder war sogar eine Folge der allgemeinen Situation, weil die meisten Leute sich in ihren eigenen Räumen vergleichsweise am sichersten wähnten – in Furcht vor was auch immer ...
„Komm! ...“ drängte Jenny – mehr sich selbst als mich. Sie öffnete die Wohnungstür. Ich gab mich als Bodyguard, hielt sie sanft zurück, ging voran, sah nichts Auffälliges und machte ihr dann rasch Platz.
„Danke!“ flüsterte Jenny fast tonlos.
Wir betraten den ersten Raum, das quadratische Vorzimmer mit der Garderobe in der Ecke und den fünf Türen, zur Küche, zum Wohnzimmer, zum Bad und den zwei Schlafzimmern.
„Mammi!“, rief Jenny jetzt laut, hoffnungs- und sorgenvoll.
Keine Antwort kam, aber plötzliches Rauschen von Wasser drang vernehmlich aus dem zweiten Zimmer zur Linken.
„Im Bad?“ meinte ich. Es war eine rhetorische Frage, denn das Geräusch klang eindeutig nach Benutzung einer Dusche.
Jenny ging zu der Tür des Badezimmers, die verschlossen schien, klopfte zweimal und rief dann abermals und diesmal lauter noch: „Mammi, hallo, ich bin’s! Bist du da? Ist alles in Ordnung?“
Die Stille dröhnte, in die wir lauschten.
Endlich dann ...
„Alles ist fein, Kleines! Mir geht es wunderbar! Es gibt bei mir keinerlei Probleme!“ erklärte die leicht rauchige Stimme von Jennys „Mommy“ geradezu unbeschwert und in höchsten Tönen der Überzeugung.
Ich vermutete Übles. Aber Jenny sah gleich erleichtert aus und seufzte beruhigt.
Ich kämpfte mit mir. Oh, verdammt: Ich tat es sehr ungern, aber ich wies Jenny auf meinen Verdacht hin.
„Ist das etwas, das deine Mutter sagen würde?“, fragte ich.
Es war grausam. Jenny wusste sofort was ich damit eigentlich sagen wollte. Mit gequältem Gesichtsausdruck stürzte sie sich auf die Türklinke zum Bad – es war nicht abgeschlossen – drückte diese nach unten, stieß die Tür einen Spalt weit nach innen, trat ein und erstarrte. Das Bad war angefüllt mit heißen Dampfschwaden und mit den üblichen Utensilien. Ansonsten jedoch war es leer. Niemand hielt sich darin auf. Die Stimme von Jennys Mutter war eine „Geisterstimme“ gewesen.
Jenny war nun völlig verstört ... Sie schluchzte, und wieder einmal schloss ich sie tröstend in meine Arme.
Wir standen eine Weile eng umschlungen und Seite an Seite unter dem Türrahmen und sahen stumpfen Blickes hinein in die trübe Verlassenheit des Bades, aus dem allmählich die Feuchtigkeit abzog, da mit Jennys Eintreten dort abrupt der heiße Strahl aus der Brause wieder verebbt war.
Der große, von vielen kleinen, zierenden Lämpchen darum herum hell beleuchtete Wandspiegel zeigte sich uns als völlig beschlagen. Er befand sich direkt uns gegenüber. Dort tat sich etwas. Eine Schrift erschien! Buchstaben, geformt aus Wasser, bildeten sechs Worte: NACH MIR BEIM SUCHEN VIEL GLÜCK
Jenny lachte kummervoll auf. Es war kein echtes Lachen.
„Wenn das Böse ’nen Humor hat, so ist selbst der Scheiße!“ entfuhr es mir bitter.
„Und außerdem ist da die Grammatik falsch“, stellte Jenny nun betäubt und wie nicht ganz bei sich fest.
Ich wusste, dass ihr trockenes Reagieren ein Mechanismus von Stärke war, der in der Gefahr einsetzte. Sie durfte jetzt nicht einknicken, musste versuchen sich aufrecht zu halten.
„Das ist wahr“, sagte ich feststellend.
Ich bewunderte Jenny für ihre sichtbar erwachte Tapferkeit, die keineswegs selbstverständlich war und die ich nicht vielen anderen Mädchen zutraute.
Ich dachte dabei an meine eigenen Eltern. Die lebten seit drei Jahren als Wissenschaftler am Amazonas und befassten sich mit Schlangen, kleinen giftigen Fröschen und Vogelspinnen. Unser Kontakt bestand schon lange nur noch brieflich und zweimal im Jahr – zu meinem Geburtstag im Mai und zu Weihnachten – am Telefon. Mein Verhältnis zu ihnen war deshalb ein bisschen anders, als das bei gewöhnlicheren oder besser gesagt normalen Familien der Fall war. Als Kind einer normalen Familie und an Jennys Stelle, hätte mich eine Sache wie die eben allerdings schwerst erschüttert.
„Vielleicht bedeutet es ja sogar etwas! – Einen Hinweis ...“, führte Jenny ihre anfänglich lapidar wirkenden Gedanken noch weiter.
„Hmm“, machte ich nur. Sie konnte Recht haben, weiß Gott. – Oder auch nicht. – Gab es denn in all dem irgendeine Logik? Immerhin: Deutlich genug ließen sich die Worte am Spiegel als Nachricht an uns verstehen. Für wen sonst wohl sollten sie bestimmt sein, wenn nicht für uns?
Wir waren ja schließlich die einzigen hier und die einzigen auch, deren Auftauchen an Ort und Stelle zu erwarten gewesen war. Überhaupt war die Schrift erst seit einigen Sekunden da. Diesen Voraussetzungen nach, machte Jennys Vermutung also durchaus einen Sinn.
Richtig hätte es heißen müssen: VIEL GLÜCK BEIM SUCHEN NACH MIR – die Worte Bezug nehmend auf Jennys Mutter, die offenbar verschwunden war. (Natürlich würden wir, nur um sicher zu gehen, gleich auch noch in den anderen Räumen nachsehen ...)
Die seltsame Wortstellung NACH MIR BEIM SUCHEN VIEL GLÜCK konnte man deuten, als habe Jennys Mutter zuerst nach etwas gesucht, und wir sollten nun folgen, also die nächsten sein, die suchten.
Das allerdings ließ alles nur noch rätselhafter werden ...
Ich teilte meine Gedanken mit Jenny. Sie war genau derselben Meinung. Wir wollten als nächstes beratschlagen. Ruhe dazu aber war uns nicht vergönnt.
Eine Art wahnsinniges Vibrieren ging durch die Luft um uns her. Die verflixten Wasserbuchstaben auf dem Spiegel wurden unversehens immer „fetter“, blähten sich auf und gewannen dabei zunehmend an Substanz und Dreidimensionalität, so dass sie längst hätten nach unten fließen müssen. Schließlich taten sie das dann auch. Doch wie ..! Sie taten es als kompakte Gebilde, blieben als Wasserbuchstaben erhalten und erwachten im Waschbecken, auf dem sie sich wie flinke kleine Äffchen niederließen, zu einem irrwitzigen, krotesk-unheimlichen und recht amüsanten Chorleben. Sie bildeten kleine Wasserarme und Wasserbeine und tanzten so, mal durcheinander, mal im wildverzückten Gleichschritt wie eine irische Steptanztruppe hin und her.
Jenny und mir fielen bei dem Anblick fast die Augen aus dem Kopf. Es sah wirklich wahnsinnig lustig aus. Wäre nicht die drückende Besorgnis gewesen, wir hätten einen Lachanfall kaum zu meiden gewusst.
„Keine Macht den Drogen!“ rutschte es mir raus, und Jenny musste endlich wenigstens kurz glucksen. Es klang befreiend und irgendwie ziemlich reizend. „Ob wir auf dem Sofa bei dir eingeschlafen sind und das hier ein gemeinsamer Traum ist?“
Mein Blick wandte sich prüfend Jenny zu. Deren „sichtbar erwachte Tapferkeit“ drohte im Moment wieder einzuschlafen.
Ihre Frage war kein Scherz gewesen! Kurz und heftig petzte ich sie ins eine Ohrläppchen und sagte sehr fest: „Nein!“
„Autsch! Das war nicht nötig!“ protestierte sie.
„Es war nötig! – Leider. Entschuldige, bitte!
Wir träumen nicht, Jenny! Wenn das, was wir erleben, nicht Wirklichkeit ist, dann gibt es keine Wirklichkeit mehr!
Bitte, passe sehr verdammt gut auf! – Ich glaube nämlich, dass es sehr verdammt gefährlich für uns ist, die Dinge welche uns begegnen nicht ernst zu nehmen!“
„Ach, und du Pisaner hältst dich wohl für ernst?“
Jennys Erwiderung klang scharf. Sie begann, kampflustig zu werden. In ihren Augen blitzte es. Na prima! Genau das wollte ich erreichen.
„Ich halte mich nicht für ,Ernst‘, sondern immer noch für den guten alten Martin! ...“
Jetzt musste ich mich in acht nehmen.
„Werd endlich erwachsen!“ maulte Jenny ziemlich laut.
Ich schaute demonstrativ zu den, noch immer ausgelassen tanzenden, Wasserbuchstaben hin, musste automatisch dabei grinsen und fragte ruhig erwidernd:
„Meinst du, dass das die richtige Gelegenheit dafür ist?“
Jenny zögerte, schüttelte daraufhin aber lächelnd den Kopf, und danach waren wir wieder fast ein Herz und eine Seele. Trotzdem leistete das Mädel ein wenig später bei mir siegreich Überzeugungsarbeit, indem sie mir in Variation meine eigenen Worte vorhielt, von der Gefahr, welche besonders die Dinge in sich bargen, die man nicht ernst genug nahm.
Im folgenden, vernünftigen Schritt verließen wir die „Show“ und das Badezimmer. ( – „Goodbye, little Riverdance!“) Es wurde Zeit für uns, zu reagieren und etwas zu unternehmen, das zumindest kurzfristig etwas Licht in einige unserer Fragen bringen könnte.
Wir sahen zunächst in den anderen Zimmern nach Frau Graf, also nach Jennys Mutter, und wir fanden dort weder sie noch weitere Ungewöhnlichkeiten vor ...
Dann schalteten wir zum wiederholten Male den Fernseher an und suchten die Kanäle systematisch nach Nachrichten ab. Dieses Mal nutzten wir die Glotze auf ganz kurze Dauer und einzig zu dem Zweck, uns womöglich Informationen darüber gewinnen zu können, wie sich die aktuelle Lage gesammelter Monstrositäten inzwischen andernorts auf der Welt darstellte.
Mit Erfolg.
***
Von Anfang an war ich mir zweifelsfrei sicher gewesen, dass das „Himmelsphänomen“ und die anderen Sachen, die bisher passiert waren, einen direkten Zusammenhang hatten und dass deshalb davon auszugehen sei, dass nicht nur wir in Hamburg betroffen waren, sondern die gesamte Menschheit und alle, die unter diesem Himmel existierten. Das bestätigte sich. Sogar dramatisch. – Zumindest, wenn man den Sprechern der ARD und von CNN Glauben schenkte.
Die Welt war im Begriff, aus ihren Fugen zu geraten. Bald stimmte gar nichts mehr. Reales vermischte sich mit so viel Irrealem, dass diese Begrifflichkeiten in Frage gestellt wurden. Überall geschah Groteskes und Fantastisches, und es wurde schubweise immer mehr. Man fing bereits an, noch Ärgeres zu erwarten. Von den Geistern der Toten und von Außerirdischen war schon die Rede und vom biblischen Armageddon.
Führende Machthaber, Politiker und das rasch herbeizitierte Heer sogenannter wissenschaftlicher Experten sprachen von „Massenhalluzinationen“ und erfüllten ihre Amtspflicht und ihren Kodex, indem sie sich für Ruhe und Ordnung und das besonnene Abwarten weiterer Erkenntnisse aussprachen. Die Menge dagegen reagierte regional mit purer Panik, und ihre Gurus richteten Appelle an alle, „zur inneren Einkehr und zur äußeren Umkehr“, was immer das heißen sollte.
Ganz besonders betroffen waren große Städte, Orte, wo viele Menschen auf engem Raum lebten, darunter auch Hamburg, obwohl es hier durchaus Freiraum und zum Glück eher wenige Häusergiganten gab.
Anhänger der Massenhalluzinationstheorie machten speziell den Zusammenhang und die Relation zwischen der Anzahl der Menschen an einem Ort und der Anzahl der dort beobachteten Erscheinungen zu ihrem Kernargument.
Blöderweise ignorierten sie völlig die oft recht „handfesten“ Aktionen jener Erscheinungen.
Nach einer halben Stunde audio-visueller Fütterung durch die Medien waren Jenny und ich zwar weitaus informierter, doch um keine Spur schlauer.
Die Medien betreffend konnte man wohl sagen, die wussten, dass wir wussten, dass sie nichts wussten, und uns selbst ging es nach wie vor ganz genauso.
Die alte Standuhr, drüben am Fenster neben der Bücherwand, machte uns mit ihrem Westminsterschlag darauf aufmerksam, dass es halb drei am Morgen war. Die Wohnung von Jenny und ihrer Mutter war hübsch mit femininer Note, geschmackvoll und altmodisch eingerichtet. Ich registrierte das nebenbei.
„Okay“, sagte ich reichlich erschlagen. „Was jetzt?“
„Wir sollten schlafen!“, sagte Jenny.
„Hm ...?“
„S-c-h-l-a-f-e-n!“
Daran, woran ihr jetzt denkt, dachte ich noch nicht mal.
Na ja, okay, wir taten es dann doch – natürlich –, und das Folgende war einfach wunderschön –, und (Wow! ...) es tat unvergleichlich gut ...!
Obwohl Jenny darauf bestand, dass wir beide Pyjamas trugen – sie einen eigenen, ich einen solchen, den sie mir lieh und der mir nur deshalb passte, weil das gute Stück nicht ihr gehörte, sondern ein Überbleibsel ihres Ex-Stiefvaters darstellte.
Auch musste ich ihr noch in die sanft blickenden Funkelaugen versprechen, während wir miteinander das große weiche Bett teilten, „keinen vermeidbaren Blödsinn“ zu machen und, wie sie es allerliebst ausdrückte, „brav zu bleiben“!
Bei meinem Erwachen, bevor ich die trägen Lider meiner Augen öffnete, um goldenen Sonnenschein und Hübscheres noch einzulassen, fühlte ich mich wonniglich und lebensfroh.
Als ich meine Augen schließlich öffnete, da war Jenny nicht mehr bei mir! Sie war weg!
„Jenny!!!“
Ich rief nach ihr. Keine Antwort. Nichts!
Auch von strahlender Sonne konnte keine Rede sein. Es war bereits später Vormittag, und noch immer herrschte draußen ein unnatürliches, blau-violettes und geradezu wie nächtliches Dunkel, in welchem ein voller, grünlich-gelber Pastellmond das gewohnte Himmelslicht des Tages ersetzte.
Oh mein Gott!
Mein Herz, es pumpte und trommelte – so heftig, dass ich es förmlich zu hören glaubte. Ich sprang auf. Eine Stimme in mir empfahl mir, Ruhe zu bewahren und erst mal im Badezimmer und in der Küche nachzusehen. Gleichzeitig spürte ich schon bitter die Wahrheit, dass dieses vergebens sein würde. Meine Füße froren. Der Fußboden war kalt. Doch ich hatte nicht die Geduld, mir erst noch Schuhe anzuziehen. Ich eilte hinaus in den Flur. Die Tür stand offen. Überall sah ich nach und rief erneut nach Jenny. Keine Spur fand ich von ihr. Keine Notiz. Kein Stück ihrer Kleidung. Selbstverständlich dachte ich auch an die simpelste Möglichkeit und machte mir damit nur selbst etwas vor. Wir hatten es versäumt, darüber zu sprechen, doch ich hielt es für völlig ausgeschlossen, dass sie heute zur Arbeit gegangen sein könnte.
Ich überlegte. Dann griff ich zu meinem Handy und wählte Luigi’s an. Resultat: Absolute Funkstille. Eilig suchte ich das normale Telefon im Wohnzimmer und versuchte es dort. Na prima! Eine Verbindung! Es läutete sieben Mal, bevor Luigi persönlich am Apparat war. – Neben einigem, das ich nicht verstand, weil es italienisch gesprochen und zudem aufgeregt und teils stotternd vorgetragen war, verstand ich immerhin, dass er seinen Laden geschlossen hatte, da sämtliche dringend benötigten Gerätschaften in eine Art Streik getreten seien und dass Jenny sich dort nicht hatte blicken lassen, ebensowenig wie Natascha, ihre Kollegin, und fast alle, die zur für heute morgen bestellten Kundschaft gezählt hatten.
„Skusi! – Tut mir echt leid!“ betonte Luigi mitfühlend.
„Klar. Danke! Alles Gute!“, sagte ich, und: „Tschüß! Ich sag dir Bescheid, wenn ich sie wiederhabe!“
Blödsinn!
Jenny war fort. Sie war und sie blieb ebenso verschollen wie ihre Mutter.
Mir kam eine neue Idee. Ich ging zuerst in Jennys eigenes, und danach zurück in das von uns benutzte, größere der beiden Schlafzimmer und suchte nach Jennys Kuschel-Pyjama, dem gelb-weißen, den sie heute Nacht angehabt hatte. Nichts!
Seltsam. Beides, ihre Wäsche und Oberkleidung vom Vortag und der Pyjama waren mit ihr verschwunden.
– Warum das denn?
Ich stellte das Fenster im Raum schräg, damit etwas Frische hereinkäme, stellte fest, dass auch weiterhin jenes merkwürdige Halblicht herrschte, setzte mich anschließend auf die Bettkante und stieß Luft aus wie eine alte Dampflok. Draußen – das fiel mir gerade eben auf – ging es zudem ungewohnt laut zu. Es wimmelte von Stimmen und Geräuschen.
„Sogar für einen Samstag zu viel“, dachte ich.
„Aber was kümmert mich das? Später ... – Mal sehen ...“
Ich hatte Pudding im Kopf, und ich vermisste meine Jenny!
Ich vermisste Jenny in einer speziellen intensiven Weise, die ich gestern so noch kaum für möglich gehalten hätte, und ich sorgte mich um sie in ebensolcher Weise.
Oh, oh! Mir schwante süß, was sich da in mir anbahnte, und traurig musste ich lächeln.
(„Martin liebt Jenny! – Martin liebt Jenny!“ – „Ach, nöh?“)
So ist das Leben!
Wie ich jetzt saß, konnte ich durch die offen stehende Tür etwas erkennen, das mir bisher entgangen war.
„Ymmhh!“ Ich stöhnte.
Ähnlich kannte ich das schon. Da war erneut eine Botschaft im Anmarsch. Diese kam geradewegs aus dem zweiten Regal der Speisekammer, in der linken hinteren Küchenecke, setzte sich zwar abermals, wie schon in der Nacht, aus einzelnen, belebten Buchstabenfiguren zusammen, aber bestand aus ... – Was war das? – Bäh, ich hasste Camembert!
Jene Buchstabentypen bewegten sich bei ihrem Auftritt mit der ironisierten Grazie von Sumo-Ringern.
Ihre feuchte Konkurrenz war da erheblich graziler gewesen, hatte erheblich mehr Temperament besessen und hatte auch nicht so penetrant gerochen!
„Also? Was gibt es?“, fragte ich, nachdem ich mich erhoben hatte und näher getreten war. Ich tat gelangweilt.
Die Kerle formierten sich erst richtig in den letzten Sekunden und blieben dann stehen und reckten sich hoch und dabei ein wenig rückwärts. Sie streckten sozusagen ihre Bäuche heraus. Womöglich sollte das so eine Art Imponiergehabe sein.
Ich las: NICHT! DU FINDEST MICH
Aha! Wieder die falsche Grammatik! – Dazu sollte ich wohl annehmen, dass diese Botschaft nun von Jenny stammte, so wie jene gestern von Jennys Mutter.
NICHT! DU FINDEST MICH
Hatte das zu bedeuten, dass ich mir meine Hoffnungen, Jenny wiederzusehen, nach ihrem eigenen Dafürhalten abschminken sollte? Oder meinte die knappe Botschaft mit der verqueren Wortstellung, dass ich besser daran täte, nichts zu unternehmen und dass ich sie irgendwann in jedem Falle fände?
„Schade, dass ich euch nicht fragen kann, Jungs!“, sagte ich spöttisch zu den neunzehn fetten Käsekriegern, und ich drehte mich frustriert um, weil ich es dann vorzog, mit der neuen Erfahrung meines ganz besonderen Kummers ein Weilchen alleine zu sein.
Aus dem Augenwinkel war mir, als ob einer der duften Kerle sich schüttelte und mir einen Vogel zeigte. Was soll’s? Sollte ich mich deswegen etwa aufregen?
***
Es war so wie in zahlreichen Heroengeschichten, mit leichter Hand aufs Herz beschrieben: In einer Lage, nahe der Aufgabe und der Verzweiflung, streckte sich meine Seele. Ernstigkeit, Verantwortung, Mut und Wille erwachten und forderten mein entschlossenes Handeln.
Eine wundersame und uralte Macht durchflutete mein ganzes Sein und formte mich neu. Mein Ziel war es, hinaus zu gehen und Jenny zu finden, gleich wo immer sie sein mochte, tapfer zu sein, zu kämpfen, zu erdulden, nicht nachzugeben, Schläue, Patentheit und Verstand zu beweisen, gleich welchen Gefahren und Verlockungen zu begegnen mir auch immer bestimmt sein würde, auf meinem abenteuerlichen Wege zu ihr!
(Tandaradei!)
Ehrlich! Ganz genau so fühlte ich. Ist mir doch egal, ob das im Nachhinein lächerlich klingt! Es ist ganz einfach die Wahrheit!
Bevor ich aufbrach, brachte ich noch einiges in den Räumen in Ordnung, so dass diese halbwegs einen Ort darstellten, den man guten Gewissens als ordentlich und sauber bezeichnen konnte. Des Weiteren kümmerte ich mich darum, dass alle elektrischen Geräte ausgeschaltet, alle Wasserhähne gut zugedreht und alle Fenster bis auf eines, das ich oben einen Spalt breit offen ließ, fest verschlossen waren. Beim Verlassen der Wohnung, nahm ich, neben meinen eigenen Sachen, gleichsam als Talismane, eines von Jennys goldenen Fußkettchen und eine mit lila Straß besetzte Haarspange von ihr mit mir. Die Eingangstür zog ich lediglich fest zu, denn Schlüssel hatte ich leider keine.
In der Schlucht des Treppenhauses drängte es mich geradezu hinunter. Ich rannte, trampelte und sprang über mehrere Stufen hinweg, und einmal fiel ich fast, bevor ich endlich unten und dann vor dem Haus und auf der Straße war.
Die vertraute Umgebung dort zeigte sich nicht mehr imstande, Vertrauen einzuflößen. Jennys Adresse, Grindelhof 124, lag ganz in Nähe der Hamburger „Uni“, in einem Bereich, wo sich zumeist Bistro an Kneipe und Kneipe an Café reihte.
Zur Stunde – es war mittlerweile früher Samstagnachmittag – pflegte hier gewöhnlich und unter normalen Umständen eine rege und zugleich gelassene Geschäftigkeit zu bestehen.
All die Leute, Studenten, Lokalbedienstete, die Arbeiter und ihre Chefs, die Touristen und Einwanderer aus allen denkbaren Ländern, gingen beschwingt einer angenehmen Routine nach, machten noch letzte Besorgungen und stimmten sich ein auf den schönsten Teil der Woche. An diesem Tag aber, bot sich dem Betrachter das traurige Bild einer verloren Idylle und weit Schlimmeres noch. An genannter Stelle empfing mich jetzt ein Hamburg, das dem mir bekannten gerade eben noch zu ähneln schien.
Sicherlich handelte es sich nach wie vor um dieselbe Stadt, die in der ich lebte und die seit Kindheit an meine Heimat war. Die Atmosphäre aber und das Leben darin waren seit gestern andere geworden.
Der Himmel zeigte sich fest eingenommen vom Bann einer magisch-leuchtenden Nacht, deren irrende, seufzende Winde unsichtbare Existenzen bargen. Eine mit dem menschlichen Verstand nicht erfassbare, hungrige Düsternis schlich umher, welche man greifbar wähnen konnte. Alles Licht zeigte sich bunt eingefärbt und verhieß Gefahr, Lockung oder beides ...
Und auch ein milder, irgendwie versprechender Zauber war da – deutlich verspürbar, doch einzig wohl mit dem „siebten“, jenem namenlosen, der Wissenschaft nicht erschlossenem Sinn – ein Zauber, der gewisse Süße bot und Neugier weckte.
Anfangs nahmen wenige nur dieses letzte Ding war. Keine Emotion war stärker und weiter verbreitet als die Angst und die Furcht. Für die meisten Menschen, war da nichts, das sie anzog. Sie registrierten einzig das, was sie für den Hauch der Hölle hielten, den Schrecken des Unbegreiflichen, der sich über sie legte und ihre ungeliebte Wirklichkeit verschlang, von der sie doch so abhingen.
Das unbekannte Böse war nun da, und es ließ die Menschen das bekannte Böse vergessen und machte sie panisch. Einige verfielen dem Irrsinn. Manche mordeten gar sich selbst ...
Man konnte die Fakten sehen, die Leichen, die Verzweifelten und die ziellos Flüchtenden!
Ich hörte sie schreien. Ich sah sie rennen. Ich verstand sie, obwohl ich mich glücklich zu denen zählte, die anders damit umgingen, eine Welt zu verlieren. Ich wusste mich gesund. Ich liebte. Und wenn auch alles verloren wäre, so hätte ich doch immer noch mich und eine Aufgabe ...!
Absolut entscheidend war, wie man reagierte. Dabei ist zu sagen, dass es eine Wahl eigentlich nicht gab. Menschen waren verschieden. Solche, die den Wandel nicht verkrafteten, hörten bald auf, Mensch zu sein. Das Phänomen ging erbarmungslos mit ihnen um. Sie hatten lediglich eine Chance, wenn sie das Fremde und Unbekannte als gegeben akzeptierten.
Entweder öffnete man sich dem, was da kam, wusste das, was man nicht wissen konnte und sah das, was nicht zu sehen sein durfte, oder man verzehrte sich im Wahnsinn und starb!
Unzählige traf dieses Los im Verlauf der großen Wandlung.
Ich selbst gehörte zu denen, die sofort „sahen und wussten“, obwohl auch ich zunächst noch nicht das gigantische Ausmaß der Wahrheit begriff: Alles war auf einmal möglich. Seltsame Wesen gab es nun und neue Gesetze einer neuen Wirklichkeit, denn eine fremde Welt war gewaltsam und urplötzlich in die unsrige eingedrungen, ließ nun beide ersterben und eine neue Welt daraus geboren werden, bevölkert auch von „Dingen“, die nicht irdisch waren, Dingen, die bis dahin lediglich unsere Phantasie und unsere Träume besucht hatten.
Die großen Zusammenhänge, die entscheidenden Details von dem was geschah, sowie einiges, was uns „Erdlingen“ im Zuge der „Neuordnung“ weiter noch widerfahren sollte, erfuhr ich – das muss ich gestehen – lange später erst.
Ein anderes aber hatte ich tatsächlich schon bald nach jenem Samstagnachmittag erkannt, und darauf bin ich, wie ich glaube zu recht, noch immer stolz: Das Leben war und ist immer und überall ein Kampf. Daran hatte sich nichts geändert, und daran würde sich nie etwas ändern, noch nicht einmal in einer völlig neuen Welt. Konnte man mit diesem Fakt richtig umgehen, so war man nicht so leicht zu besiegen!
Vom Grindelhof her, führte mich mein Weg zunächst stracks im Eiltempo zurück zu meiner eigenen Wohnung. Es gab dort nämlich ein paar Sachen, die ich unbedingt noch bei mir haben wollte, ehe ich mich aufmachte, um nach Jenny zu suchen und die unzähligen Abenteuer der neuen Welt zu entdecken.
Bis ich nach Hause gelangte, was ich leicht in vier Minuten schaffte, fiel mir nicht ein einziges Gesicht auf, das ich näher kannte, trotz der Hunderten von Menschen um mich her, deren offenbare Konfusion aus ihren grotesken Mienen, ihren Gesten und Manövern abzulesen war und die sich gewiss baldig einem Höhepunkt nährte. Ich hastete stur durch die Menge auf den Straßen wie durch einen lebendigen Tunnel, gebrauchte mehr als einmal Schultern und Ellenbogen, schlug Haken wie ein Hase und hatte dabei nur eingeschränkt Augenmerk auf meine Umgebung.
Einmal rammte ich einen, auf Pfennigabsätzen aufgescheucht umher wandelnden, Beitrag zum Welthungerproblem.
Bei einer anderen Gelegenheit stolperte ich fast über einen kleinwüchsigen Mitbürger, der zwei äußerst seltsame, bläulich phosphoreszierende, schwarzfellige Kater unter seinen beiden Armen trug. Weiteres entging mir.
In meiner Wohnung angelangt, hielt ich mich nicht länger als nötig auf. Ich nutzte die Toilette, aß eine Banane, trank etwas kühle Milch und kramte nach frischen Klamotten.
Am Ende, fand ich mich sorgsamst neu eingekleidet in eine komplette Trekking-Garnitur, robuste Halbstiefel, wildlederne Hose, Jeanshemd und Multitaschen-Weste, Sachen, die ich mir ein Jahr zuvor für einen Tripp nach Australien gekauft hatte, der leider hatte ausfallen müssen. Ergänzend trug ich ein rotes Halstuch und eine kleine Gürteltasche, in welcher ich Papier- und Münzgeld, den über Jahresdauer gültigen Fahrausweis für Hamburgs öffentlichen Personennahverkehr und die beiden als Talismane verstandenen Schmuckstückchen barg, die ich bei Jenny stibitzt hatte.
Außerdem hatte ich mir einen dicken, blauen Strickpulli mit den Ärmeln um den Bauch gebunden, um ihn bei Bedarf zu verwenden, sollte es kühler werden. – Eben kurz zuvor, war es draußen auf der Straße geradezu sommerlich warm gewesen. Aber das war ja nicht normal, und man wusste nicht, wann der Zustand vielleicht überraschend umschlagen würde.
In den dreizehn Taschen meiner Spezialweste befanden sich lauter kleine Utensilien, die ich dort, teils längst schon, für so ziemlich alle möglichen und quasi unmöglichen Gelegenheiten deponiert hatte.
So, reichlich mit allem ausgestattet, was ein Profi-fast-noch-Teenager-Einmann-Kommandounternehmen ausmachte, brach ich endlich auf in die Stadt.
Während des Gehens, rechtfertigte ich vor mir selbst meinen Aufwand. Der hatte seinen sehr guten Grund: Die Überlegung nämlich, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie lange ich gleich fort und unterwegs sein würde und dass das, was mir bevorstünde, eine gewisse Bereitschaft durch eine vorab klug ausgewählte Ausrüstung sicherlich begrüsste.
Den bis dato vertrauten, natürlichen Wechsel an Tageszeiten schien es nicht mehr zu geben, und auch der übliche, geregelte Ablauf beruflicher und sozialer Tätigkeiten war verhindert.
Kaum einer, so stand zu vermuten, tat mehr das, was von ihm vor dem Auftreten des „Phänomens“ erwartet worden war – es sei denn, er oder sie war öffentlich tätig, zum Beispiel in der Pflege engagiert, dazu ungewöhnlich cool und pflichtbewusst.
Meine „universitären Verpflichtungen“ meinte ich jedenfalls getrost vergessen zu können. Stattdessen, stellte ich mich mit meinem ganzen jugendlichen Sein auf Abenteuer ein.
Na ja, und die dauerten bekanntlich des Öfteren etwas länger und waren selten ungefährlich.
Darum der Aufwand!
***
„Hoppla!“, rief ich aus.
Ich war mitten auf der Edmund-Siemers-Allee in Richtung Dammtor-Bahnhof über irgendetwas gestolpert – etwas, das ich nicht gesehen hatte und das ich auch direkt nach meinem Darauf-aufmerksam-werden nicht ausfindig machen konnte.
„Flegel!“ schimpfte da eine knarrende Fistelstimme schräg unter mir.
„Wie bitte?“ sagte ich.
Ich suchte zu meinen Füßen, sah aber niemanden.
„Das heißt: Wo bitte!“ antwortete die Stimme recht deutlich.
„Ich verstehe nicht!“ erklärte ich und blickte neugierig und ein wenig verblüfft rings in Richtung des Asphaltes auf dem ich stand.
„Wo bitte ist deine Angst?“
Jetzt erkannte ich plötzlich schwache, irgendwie wässrige und flimmernde Konturen, welche etwa den Umriss und die groben Gesichtszüge eines winzigen alten Kerlchens mit Schlapphut nachzeichneten.
„Angst – wieso? Müsste ich die denn haben?“, fragte ich.
„Sagen wir einfach, es gehörte sich so!“, meinte der Andere. „Denn wenn man auf einen Klabauter tritt und dann ‚hoppla‘ sagt, anstatt sich anschließend entschuldigend vor ihm auf die Knie zu werfen, dann sollte man eigentlich wenigstens Angst vor ihm haben.“
„Ich habe Sie wirklich nicht sehen können!“ verteidigte ich mich wahrheitsgemäß. „Entschuldigung also!“
„Nächstes mal ...!“ keifte der Klabauter.
„Was?“ Ich wusste nicht, was der Kerl meinte, aber gab mich vorsorglich trotzig, da ich glaubte, dass mich das weiterbrächte.
Ich hielt ihn für keine große Bedrohung, sonst hätte er längst etwas passieren lassen oder mich mit seinen kleinen spitzen Wichtelzähnen angegriffen.
„Nächstes mal ... machen wir ein Spielchen.“
In der substanzlosen, vierfingrigen und klauenartigen Hand des Klabauters tauchte ein Würfelbecher auf.
„Und wenn du verlierst – was gewiss ist – dann fresse ich deine Eier und verfüttere den Rest von dir an die Nixen!“
Ehe ich darauf eine passende Erwiderung geben konnte, raste der kleine Widerling breit grinsend los wie die Maus in einem Trickfilm und verschwand.
„Na, bravo!“ dachte ich. „Das erste Märchenwesen, dem ich in Hamburg begegne und schon in jeder Hinsicht ortstypisch!“
Aber mit dergleichen und einigem mehr hatte ich gerechnet, spätestens, seit ich nach Jennys Verschwinden den Entschluß gefasst hatte, nicht aufzugeben, mit Herz und Kopf meine neue Wirklichkeit anzunehmen und sie zu bestehen.
Während ich mich schnurstracks weiterbewegte, erhoben sich vor mir die Wipfel der Laubbäume im City-nahen Parkgelände „Planten un Blomen“, und auch die als himmelüberspannende Halbröhre geformte, aus Sicherheitsglas und ölhaltigem Stahl gefertigte Bahnhofskuppel des zentralen Fern- und S-Bahnhofs Dammtor rückte bald in greifbare Nähe.
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