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»Ein Buch von Eva Illouz ist immer eine bemerkenswerte Erfahrung.« Elke Schmitter, DER SPIEGEL Die diesjährige Verfasserin der Stuttgarter Zukunftsrede ist Eva Illouz. Als Schriftstellerin und Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sie sich vorrangig mit den gesellschaftliche Einflüssen auf Emotionen und somit dem Zusammenhang von Kapitalismus auf die Produktion und Transformation emotionaler Muster. Die israelische Soziologin und Autorin Eva Illouz gehört zu den bedeutendsten Denkerinnen der Gegenwart, hat nach dem Überfall der Hamas auf Israel in vielen Interviews und Texten zur Situation in Israel und Palästina Stellung bezogen und die Regierung Netanjahu scharf kritisiert. Gleichzeitig verteidigt sie das Existenzrecht Israels und prangert den in der Gesellschaft aufkeimenden Antisemitismus an. Fragen wie warum Liebe weh tut, warum sie endet und wie der Kapitalismus unsere Beziehungen und Emotionen durchwirkt, untersucht sie in ihren Büchern seit vielen Jahren erhellend. Am 4. Februar 2025 hält Eva Illouz – nach Daniel Kehlmann und Liao Yiwu – die dritte Stuttgarter Zukunftsrede.
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Seitenzahl: 63
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eva Illouz
Die Zukunft der Gefühle.
Oder wie Subjektivität die Technologie prägt
Stuttgarter Zukunftsrede
Unter Mitarbeit von Jonas Ferdinand
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Klett-Cotta
Eine kürzere Fassung des Textes wurde am 4. Februar 2025 im Stuttgarter Rathaus als dritte Stuttgarter Zukunftsrede unter dem Titel »The Glamorous and Dismal Future of Emotions or How Subjectivity Shapes Technology« vorgetragen.
Die Stuttgarter Zukunftsrede ist eine Initiative des Literaturhauses Stuttgart, des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart und des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart. Sie wird gefördert von der Landeshauptstadt Stuttgart und der Bertold Leibinger Stiftung.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Klett-Cotta
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Cover: vh7 Medienküche, Stuttgart, unter Verwendung einer Abbildung von Christoph Niemann
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98865-9
E-Book ISBN 978-3-608-12412-5
Wie jedes Jahr seit 1927 kürte das Nachrichtenmagazin Time auch 2006 seine »Person des Jahres«. Fällt diese Wahl für gewöhnlich auf Staatsoberhäupter, Wissenschaftler:innen oder Filmstars, so zeigte die Titelseite diesmal einen leeren Computerbildschirm mit der Aufschrift You (Du). Darunter stand die folgende Bildunterschrift: »Ja, du. Du kontrollierst das Informationszeitalter. Willkommen in deiner Welt.«[1] Die Zeitschrift wollte damit den Millionen von Menschen Tribut zollen, die ohne jede Entlohnung anonym nutzergenerierte Inhalte zu Websites wie YouTube, Facebook, Wikipedia und anderen beitragen. Vielleicht lag darin auch eine Anerkennung der Tatsache, dass dieses Du in den Mittelpunkt von Technologie und Wirtschaft gerückt war: des Technokapitalismus, wie man ihn nennen könnte. Dasselbe Du ist auch der Schlüssel zum Verständnis unserer Zukunftsaussichten. Zwei scheinbar zusammenhanglose Phänomene veranschaulichen, wie Wirtschaft und Kultur durch das Du hindurchgehen: der Prosum und die Kultur der Selbsthilfe. Prosum ist der Prozess, im Zuge eines Konsumvorgangs Wert zu schöpfen. Die Sharing Economy (Kokonsum) ist ein Beispiel für einen solchen Prosum. Man schöpft Wert aus seiner Couch, indem man anderen ihre Nutzung auf Airbnb anbietet, hat diese Couch aber auch gekauft, um auf ihr fernzusehen. Mit demselben Auto kann man seine Kinder zur Schule fahren und Personen über Plattformen wie Uber für Geld transportieren. Im Prosum verwandelt das Individuum einen Konsumgegenstand in eine Quelle ökonomischen Werts und verschmilzt so Konsum und Produktion nahtlos. (Es war Alvin Toffler, Autor des Buchs Der Zukunftsschock, der diesen Begriff Anfang der 1970er-Jahre vorausschauend prägte.[2]) Die Selbsthilfekultur wiederum verfügt über eine ähnliche Doppeleigenschaft, die seltsamerweise nie bemerkt wird: Eine gewaltige Industrie, deren Produkte von Milliarden Menschen auf der ganzen Welt konsumiert werden, bietet eine Reihe von Techniken an, um ein besseres Selbst zu gestalten und herzustellen, das im selben Moment produziert und konsumiert wird. Ein Workshop zur Wutkontrolle oder zur Überwindung einer Abhängigkeit vermittelt Techniken der Selbstkontrolle (Atemtechniken oder solche zur Meditation, zum Niederschreiben der eigenen Gedanken usw.), die dazu beitragen sollen, ein neues, weniger wütendes oder abhängiges Ich hervorzubringen. Dieses neue, verbesserte Selbst wird gleichzeitig produziert und konsumiert: Du bist es, der dieses positive oder weniger abhängige Selbst gleichermaßen produziert und konsumiert. Die doppelte Bewegung der Produktion und Konsumtion eines Selbst mittels psychologischer Techniken bezeichnet einen entscheidenden Wandel der Kultur und der individuellen Identität in allen westlichen Demokratien im Anschluss an die 1960er-Jahre.
Ich untersuche im Folgenden, wie Gefühle fortlaufend von und mittels Technologie konsumiert und produziert werden. Das mag kontraintuitiv klingen, insofern Technologie, künstliche Intelligenz und Robotik üblicherweise so dargestellt werden, als würden sie die Menschheit ihrer Emotionalität berauben,[3] indem sie etwa menschliche Interaktionen durch Algorithmen erkennbar und steuerbar machen und dafür sorgen, dass Maschinen Menschen zunehmend nachahmen und mit ihnen interagieren können. In Wirklichkeit aber verhält es sich genau umgekehrt: Wir erleben eine beispiellose Emotionalisierung der Technologie, weil Gefühle zu jenem Rohmaterial gemacht worden sind, das im Technokapitalismus durch Technologie gewinnbringend gefördert wird. Bestand der Industriekapitalismus in der Gewinnung von Bodenschätzen und ihrer Verarbeitung durch güterproduzierende Industrien, so gewinnt der Technokapitalismus Wert aus dem Selbst, der vom Selbst selbst konsumiert wird. So ist ein technokapitalistisches Selbst entstanden.
Es sollte damit klar sein, dass nicht von emotionalem Individualismus die Rede ist, wenn ich das Du in den Mittelpunkt dieses kulturellen und ökonomischen Prozesses stelle. Als moralischer und politischer Wert nötigt der Individualismus Institutionen dazu, die Würde und die Rechte der Individuen zu respektieren und ihren Gefühlen wie ihrem Seelenleben zunehmende Aufmerksamkeit zu zollen. Ich spreche jedoch von einem ganz anderen, komplexeren und schwerer fassbaren Phänomen: der Neuausrichtung von Wirtschaft, Kultur und Politik auf das emotionale Selbst; von dem Umstand, dass Markt und Technologie zu Emotionen nicht nur anstiften, sie nicht nur kommodifizieren und mit ökonomistischem Vokabular durchdringen, sondern sie auch als solche zu einer Quelle der Wirtschaftsproduktion machen – die Technologie produziert Emotionen und wird von ihnen produziert. Konsumerlebnisse, Technologien und Gefühle bilden eine einzige Matrix, in der jedes Glied die anderen ermöglicht und erzeugt, und diese Matrix produziert gewaltige wirtschaftliche Werte. Der Technokapitalismus ist nicht nur nahtlos in unsere Subjektivität integriert, sondern verwandelt die Subjektivität selbst in eine primäre Quelle der Wertschöpfung, indem er Gefühle auf vielen Plattformen ausbeutet. Wenn das für Sie eher nach Science-Fiction klingt als nach der Welt, die Sie kennen, dann irren Sie sich. Es ist bereits unsere Welt. Ohnehin ist die Unterscheidung zwischen Gegenwart und Zukunft immer schwieriger zu treffen, weil der Bogen der Gegenwart so straff in die Zukunft gespannt ist. Ob durch Science-Fiction oder ständige Innovationen in einer Geschwindigkeit, die in der menschlichen Geschichte ohnegleichen ist, lebt die Zukunft mitten unter uns und erschüttert regelmäßig unsere Gegenwart.
Die These, die ich hier verfolgen möchte:
Technologie und Gefühle bringen einander wechselseitig hervor (koproduzieren einander) und werden dies auch in absehbarer Zukunft auf mindestens fünf unterschiedliche Weisen tun.
1 a. Emotionales Messaging. Die Internettechnologie wird zunehmend darauf ausgerichtet, enge zwischenmenschliche Interaktionen und Gefühle nachzuahmen. Drei Besonderheiten smarter Technologien mögen diese Behauptung veranschaulichen:
Emojis kodifizieren, visualisieren und standardisieren eine Reihe grundlegender Gefühle und bauen sie in die schriftliche Kommunikation ein. Das Wort Emoji stammt aus dem Japanischen und bedeutet eigentlich Bildschriftzeichen (e für Bild + moji für Schriftzeichen). Die ersten Emoji-Sets wurden Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre von japanischen Herstellern tragbarer elektronischer Geräte auf den Markt gebracht. In den 2010er-Jahren verbreiteten sie sich weltweit und veränderten die Muster der technologisch übermittelten schriftlichen Kommunikation. Heute verwenden 92 Prozent der Internetnutzer:innen in ihrer Kommunikation Emojis, so Unicode, ein Konsortium, das globale Standards für Texte und Emojis definiert.[1] Sie tun dies in Kurznachrichten, E-Mails und sozialen Medien.[2] Täglich kommen fünf Milliarden Emojis zum Einsatz.[3] Im Jahresrhythmus werden neue Emojis vorgeschlagen und eingeführt, oft nach öffentlichem Votum. Es gibt Tausende von Emoji-Optionen, um praktisch so gut wie jeden Gedanken und jede Emotion auszudrücken.[4] Grindr, eine Dating-App für homo- und bisexuelle Männer, bietet eine besonders pointierte Form der Emoji-Kommunikation. »Fast 20 Prozent aller Grindr-Nachrichten enthalten bereits Emojis«, so der Kreativdirektor der App.[5] Emojis erleichtern den Aushandlungsprozess des Kennenlernens und Verabredens. Dies wird von der Plattform explizit gefördert und über geschützte »Gaymoji«-Sets kommerzialisiert, die den Nutzern verkauft werden und mit denen sie etwa ihre sexuellen Vorlieben signalisieren können.[6]
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