Die zwölf Jünger Jesu - Viktor Löwen - E-Book

Die zwölf Jünger Jesu E-Book

Viktor Löwen

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Beschreibung

Diese Studie widmet sich den historisch und theologisch bedeutsamen ersten Jüngern Jesu, dem sogenannten "Zwölferkreis". Erstmalig in der Forschung des Neuen Testaments werden alle explizit vom Zwölferkreis handelnden Passagen des griechischen Matthäusevangeliums in einen Zusammenhang gesetzt und unter Anwendung einer textlinguistischen Methodik gründlich ausgelegt. Die Auslegung zeigt, dass der Verfasser des ersten Evangeliums ein facettenreiches Gesamtbild von Jesu "Nachfolgern" gezeichnet hat, das sowohl positive als auch negative Beschreibungen integriert. Die vier ausgelegten Textblöcke Mt 9,36-10,42; 19,27-20,28; 26,20-35 und 28,16-20 werden Vers für Vers aus dem Griechischen übersetzt und analysiert. Das Buch bietet daher auch die Grundlage für das Studium einzelner Verse und Abschnitte.

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Viktor Löwen

Die zwölf Jünger Jesu

Exegetische Untersuchungen zum Kreis der zwölf Jünger im Matthäusevangelium

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Zugleich von der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund angenommene Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctor Philosophiae (Dr. phil.).

 

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-7720-8724-0 (Print)

ISBN 978-3-7720-0138-3 (ePub)

Inhalt

VorwortEINFÜHRUNG1 Thema, Ziel und Vorgehensweise2 Legitimation und Notwendigkeit3 Relevanz und Auswirkungen4 AufbauERSTER HAUPTTEIL (I): Forschungsüberblick und Verhältnisbestimmung Jünger – Zwölf (Jünger)1 Forschungsüberblick: Die zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung ab 19211.1 Formkritik1.1.1 Rudolf Bultmann1.1.2 Kritische Anfragen an Bultmanns formkritische Deutung der zwölf Jünger1.2 Redaktionskritik1.2.1 „Klassische“ redaktionskritische Studien1.2.2 Drei „besondere“ Studien von Seán Freyne, Michael J. Wilkins und Joel Willitts1.2.3 Kritische Anfragen an die redaktionskritischen Deutungen der zwölf Jünger1.3 Narrative Kritik1.3.1 Narrativkritische Studien1.3.2 Kritische Anfragen an die narrativkritischen Deutungen der zwölf Jünger2 Verhältnisbestimmung „Jünger“ – „Zwölf (Jünger)“ und Schlussfolgerungen2.1 Paradigmatische Relationen2.2 Eine kurze Wortstudie zu μαθητής und μαθητεύω im MtEv2.2.1 Lexikalische Bedeutungen von μαθητής und μαθητεύω2.2.2 Bestimmung der Referenten von μαθητής und μαθητεύω im MtEv2.3 Ergebnis und Schlussfolgerungen2.4 Das Vorkommen der zwölf Jünger im MtEv und eine erste StellenauswahlZWEITER HAUPTTEIL (II): Auslegung1 Die zwölf Jünger Jesu in Mt 9,36-10,421.1 Einleitung zu Mt 9,36-10,421.1.1 Vorkommen des Zwölferkreises1.1.2 Passagenabgrenzung1.1.3 Literarischer Kontext1.1.4 Kurzer Aufbau1.2 Auslegung von Mt 9,36-10,421.2.1 Mt 9,36: Die zwölf Jünger und Jesu Mitleid mit der hilfsbedürftigen Schafherde1.2.2 Mt 9,37-38: Die zwölf Jünger und das Gebet um mehr Erntearbeiter1.2.3 Mt 10,1-5b: Die zwölf Jünger, ihre Berufung, Bevollmächtigung und Aussendung1.2.4 Mt 10,5c-8d: Die zwölf Jünger und ihr heilvolles Wirken1.2.5 Mt 10,8e-10b: Die zwölf Jünger und ihr „minimalistischer“ Umgang mit materiellen Dingen1.2.6 Mt 10,11-15: Die zwölf Jünger als Überbringer des Friedens und des Strafgerichts1.2.7 Mt 10,16-23: Die zwölf Jünger und ihre „kluge“ und „unverdorbene“ Reaktion auf drohende Verfolgungen1.2.8 Mt 10,24-25: Die zwölf Jünger, ihr Verhältnis zu Jesus und der Beelzebul-Vorwurf1.2.9 Mt 10,26-31: Die zwölf Jünger, ihre Furchtlosigkeit vor Menschen und ihre Furcht vor Gott1.2.10 Mt 10,32-33: Die zwölf Jünger und die folgenreiche Stellungnahme zu Jesus1.2.11 Mt 10,34-39: Die zwölf Jünger und die „zerstörerische“, bedingungslose Liebe zu Jesu1.2.12 Mt 10,40-42: Die zwölf Jünger und ihre „Identitäten“, als Grund für den Lohn, sie aufzunehmen1.2.13 Zusammenfassung der Auslegung von Mt 9,36-10,422 Die zwölf Jünger Jesu in Mt 19,27-20,282.1 Einleitung zu Mt 19,27-20,282.1.1 Passagenabgrenzung2.1.2 Literarischer Kontext2.2 Auslegung von Mt 19,27-20,282.2.1 Mt 19,27-29: Die zwölf Jünger und die eschatologischen Throne als Lohn ihrer radikalen Nachfolge2.2.2 Mt 19,30-20,16: Die zwölf Jünger, die „Ersten“ und „Letzten“ sowie die Arbeiter im Weinberg2.2.3 Mt 20,17-19: Die zwölf Jünger und ihr Wissen um Jesu bevorstehendes Sterben und Auferstehen2.2.4 Mt 20,20-28: Die zwölf Jünger und ihr Streit um Macht und Ehre2.2.5 Zusammenfassung der Auslegung von Mt 19,27-20,28.3 Die zwölf Jünger Jesu in Mt 26,20-35.563.1 Einleitung zu Mt 26,20-35.563.1.1 Vorkommen des Zwölferkreises3.1.2 Personenkonstellation3.1.3 Passagenabgrenzung3.1.4 Literarischer Kontext3.1.5 Kurzer Aufbau3.1.6 Vorgehensweise3.2 Charakterisierungen des Mahls in Mt 26,20-303.2.1 Tischgemeinschaft: Die zwölf Jünger und ihre Gemeinschaft mit dem Messias3.2.2 Abschiedsmahl: Die zwölf Jünger und Jesu „Vermächtnis“3.2.3 Passahmahl: Die zwölf Jünger und ihre Feier der Befreiung Israels aus der Gefangenschaft3.3 Auslegung von Mt 26,20-35.563.3.1 Mt 26,20-25: Die zwölf Jünger und ihre Bestürzung über den Verräter3.3.2 Mt 26,26-30: Die zwölf Jünger, der neue Bund und die Vergebung der Sünden3.3.3 Mt 26,31-35.56c-d: Die zwölf Jünger und der angekündigte Bruch mit Jesus3.3.4 Zusammenfassung der Auslegung von Mt 26,20-35.564 Die elf Jünger Jesu in Mt 28,16-204.1 Einleitung zu Mt 28,16-204.1.1 Personenkonstellation4.1.2 Literarischer Kontext4.1.3 Aufbau4.1.4 Gattung4.2 Auslegung von Mt 28,16-204.2.1 Mt 28,16: Die elf Jünger und ihr Gang nach Galiläa4.2.2 Mt 28,17: Die elf Jünger, ihre Anbetung und Zweifel4.2.3 Mt 28,18: Die elf Jünger und ihre Vereinigung mit dem Herrscher über Himmel und Erde4.2.4 Mt 28,19-20: Die elf Jünger, ihr Missionsauftrag und Jesu Mit-Sein4.2.5 Zusammenfassung der Auslegung von Mt 28,16-20SCHLUSS: Eine kurze ZusammenfassungLITERATURVERZEICHNIS1 Textausgaben2 Hilfsmittel3 Kommentare4 Monographien, Aufsätze, Artikel, SammelbändeABKÜRZUNGSVERZEICHNIS1 Allgemeine2 Bibelübersetzungen3 Bibelstellen4 Lexika, Serien, Zeitschriften etc.

Vorwort

Bei diesem Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich im Sommer 2018 an der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie der TU Dortmund eingereicht und im Januar 2019 mündlich verteidigt habe. Es ist das Ergebnis eines langen Weges. Am Anfang beschäftigte ich mich mit Aussagen des Matthäusevangeliums über die Jünger Jesu, die sich aus soziologischer Perspektive mit „Macht- und Machtlosigkeit“ beschreiben lassen. Später verschob ich den thematischen Fokus auf das Konzept Zwölferkreis, also die zwölf Jünger Jesu als eine fest umrissene Personengruppe, und entschied mich für eine textlinguistisch ausgerichtete Exegese.

Mein großer Dank geht an meinen Doktorvater Prof. Dr. Rainer Riesner, der mich in der Entstehung dieser Arbeit über die Jahre hinweg zuverlässig, ermutigend und fachlich anregend begleitet hat. Für die Übernahme des Zweitgutachtens möchte ich Prof. Dr. Karl-Heinrich Ostmeyer danken. Neben Prof. Dr. Rainer Riesner und Prof. Dr. Karl-Heinrich Ostmeyer engagierte sich auch Prof. Dr. Michael Basse als Mitglied der Prüfungskommission. Dankbar bin ich auch für die Rückmeldungen, die ich bei mehreren Doktorandenkolloquien erhalten habe, erstens des Instituts für Evangelische Theologie an der TU Dortmund und zweitens des Arbeitskreises für evangelikale Theologie (AfeT). Darüber hinaus sind mir Gespräche mit Jonas Kissel, Dr. Emmanuel Rehfeld und Matthias Ruf in positiver Erinnerung, weil sie zur Schärfung meiner Fragestellung und Methodik beigetragen haben. Sehr gerne denke ich auch an die Zeit bei Seda und Thomas Symank, bei denen ich etliche produktive Wochenenden verbracht habe. Ich bin froh, seit 2015 am Theologischen Seminar Rheinland als Dozent für Neues Testament zu arbeiten, wo ich den Freiraum erhalten habe, zeitweise an der Dissertation zu arbeiten. Meine dortige Kollegin Kristina Grupe hat viele Stunden ihrer Freizeit dafür geopfert, das Manuskript für die Veröffentlichung vorzubereiten. Dass meine Dissertation in der Reihe Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ) erscheinen kann, verdanke ich sowohl der freundlichen Aufnahme durch die Herausgeber der Reihe, insbesondere Prof. Dr. Günter Röhser, als auch der professionellen Betreuung durch den Narr Francke Attempto Verlag, namentlich Dr. Valeska Lembke und Corina Popp im Lektorat sowie Barbara Landwehr in der Herstellung. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses danke ich dem Vorstand des Arbeitskreises für evangelikale Theologie (AfeT). Zu guter Letzt möchte ich sagen, dass ich meiner Frau Christina unendlich dankbar bin für ihre Unterstützung bei diesem langjährigen und kräftezehrenden Projekt.

Ein Hauptgrund für meine intensive Beschäftigung mit den zwölf Jüngern Jesu liegt in meinem Interesse am Thema Kirche. Ich erinnere mich, bereits als Jugendlicher über die Rolle der Kirche in der Welt, die ihr die Autoren des Neuen Testaments zuweisen, fasziniert, irritiert und erschrocken gewesen zu sein. Dass Jesus seine Jünger zurücklässt (vgl. Joh 14-17), dass die Kirche als „Leib“ Christi gilt (vgl. 1Kor), erscheint mir einerseits als eine ehrenvolle Auszeichnung und andererseits als eine (zu) große Verantwortung, auch angesichts der Licht- und Schattenseiten der Kirche im Allgemeinen und der konkreten Ortsgemeinden im Speziellen. Ich empfinde es als ein großes Geschenk, Eltern zu haben, die diese beiden Seiten auf vorbildhafte Weise zusammenhalten. Ihre anhaltende und Krisen überdauernde Wertschätzung der ganzen Gemeinde und einzelner Menschen betrachte ich als eine Frucht des Geistes. Diese Ambivalenz der heilig-unheiligen Kirche ist übrigens auch im Matthäusevangelium bei Jesu Zwölferkreis erkennbar. Die zwölf Jünger erscheinen sowohl positiv als auch negativ, sie sind bevollmächtigt, aber unvollkommen, manches ist „wiederholbar“, anderes nicht. In gewisser Weise hat sich bei mir in den letzten Jahren wiederholt, was der Auferstandene den elf Jüngern zuallerletzt zusagt: „Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende des Zeitalters!“ (Mt 28,20)

EINFÜHRUNG

1Thema, Ziel und Vorgehensweise

Diese Studie untersucht die Bedeutung der zwölf Jünger Jesu im Matthäusevangelium. Die textuelle Grundlage dieser Untersuchung bildet das MtEv als Gesamt- und Endtext, wie er uns in der 28. Auflage von Nestle-Aland vorliegt. Diese Konzentration auf das MtEv als Gesamt- und Endtext bedeutet, dass sich diese Untersuchung einerseits nicht auf einige ausgewählte Textstellen innerhalb des MtEv beschränkt, und andererseits nicht auf Textcorpora außerhalb des MtEv ausdehnt. Der inhaltliche Fokus richtet sich auf den sogenannten „Zwölferkreis“, d.h. auf die zwölf Jünger Jesu als eine fest umrissene Personengruppe.1 Diese Fokussierung auf den Zwölferkreis als Gesamtgröße impliziert, dass weder die zwölf Jünger als Einzelpersonen noch Aspekte des allgemeineren Themas „Jüngerschaft“, die über den Zwölferkreis hinausgehen, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Demzufolge sollen alle eindeutig vom Zwölferkreis handelnden Textstellen des MtEv identifiziert und daraufhin befragt werden, was sie direkt oder indirekt über den Zwölferkreis aussagen, d.h. was er inhaltlich bedeute. Das Ziel ist also eine möglichst vollständige Beschreibung des Zwölferkreises auf der Grundlage der in den Fokus genommenen Textstellen. Die Antwort der jeweiligen Textstelle auf die Frage nach der Bedeutung der zwölf Jünger wird durch die Exegese erarbeitet. Die Exegese ist textlinguistisch ausgerichtet. Dabei übernimmt die Analyse von Syntax und Semantik eine entscheidende Rolle. Außerdem führt die Konzentration auf das MtEv als Gesamt- und Endtext dazu, bei der Exegese jeder einzelnen Textstelle den textuellen Mikro- und Makrokontext zu berücksichtigen.

2Legitimation und Notwendigkeit

Die Legitimation und Notwendigkeit dieser Studie ergibt sich aus der schlichten Tatsache, dass der Zwölferkreis ein Bestandteil des MtEv ist. Nichtsdestoweniger wurde der Zwölferkreis für sich genommen in den letzten Jahrzehnten der Mt-Forschung entweder gar nicht oder nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit untersucht (vgl. dazu I,1). Die vorliegende Studie soll diese Lücke schließen. Die letzte große Forschungsarbeit, die dieses Thema im Rahmen einer etwas breiter angelegten synoptischen Studie gründlich behandelt hatte, hat 1968 Seán Freyne vorgelegt.1 Und zuletzt hat sich im Jahr 2011 Joel Willitts in einem kurzen Artikel mit der theologischen Bedeutung der zwölf Jünger im MtEv befasst.2 Abgesehen von diesen beiden Arbeiten von Freyne und Willitts (vgl. I,1.2.2), die sich auf die theologische Deutung der Zwölf im MtEv konzentrieren, gibt es durchaus weitere ähnliche Arbeiten, die aber genau genommen nur benachbarte Themen behandeln. So gibt es zwar mehrere Forschungsarbeiten zu den historischen zwölf Jesusjüngern, aber deren thematischer Fokus liegt auf der Frage nach der Historizität des Zwölferkreises.3 Mit diesem Fokus auf der Historizität hängt zusammen, dass diese Arbeiten die besondere Rolle der historischen Zwölf im verkündigten Reich Gottes des historischen Jesus auf der Basis aller vier Evangelien (und teilweise der Apostelgeschichte) bestimmen. Allerdings wird dabei dem MtEv und seiner eigenen Darstellung der Zwölf wenig Platz eingeräumt und zudem seiner Bedeutsamkeit für die historische Frage wenig Gewicht beigemessen. Neben den historisch orientierten Studien gibt es auch exegetisch-theologische Studien zu einzelnen Passagen des MtEv, in denen die zwölf Jesusjünger eine wichtige Rolle spielen.4 Aber es fehlt bei diesen Studien entweder der jeweilige Bezug zu anderen Passagen des MtEv, wo die zwölf Jesusjünger ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, oder die hergestellten Bezüge werden nicht ausreichend ausgewertet. Schließlich gibt es diverse Studien zu verschiedenen Einzelfiguren und Figurengruppen im MtEv, abgesehen von solchen zu Jesus: zum Volk, zu den Frauen, zu Jesu Gegnern, zu Jesu Jüngern, zu Petrus, usw.5 Jedoch gibt es m.W. bislang keine Einzelstudie mit dem spezifischen thematischen Schwerpunkt auf dem Zwölferkreis. Man könnte nun einwenden, dass dieser Eindruck täusche: die Lücke sei nur konstruiert und existiere in Wirklichkeit gar nicht, da Mt-Forscher die „Zwölf“ im Zusammenhang mit dem Thema „Jünger im MtEv“ behandelt hätten. Dieser Einwand ist nur teilweise zutreffend. Das Thema „Jünger im MtEv“ wurde tatsächlich in diversen Veröffentlichungen zu Genüge bearbeitet (vgl. I,1). Allerdings gingen die meisten Mt-Forscher dabei – ob explizit oder implizit – von der These aus, dass der Evangelist Matthäus6 die Gruppen bzw. Gruppenbezeichnungen „die Jünger“ (οἱ μαθηταί) und „die zwölf (Jünger)“ (οἱ δώδεκα [μαθηταί]) grundsätzlich als identische Größen betrachte. D.h.: es gebe bei Mt keine inhaltlich-sachliche Differenz zwischen beiden Größen. Wenn man aber auf eine Differenzierung zwischen beiden Größen verzichtet und zudem allein und allgemein die Größe „Jüngerkreis“ untersucht, dann wird offenbar die andere Größe „Zwölferkreis“ als subsumierend mit abgehandelt verstanden.7 Folglich gebe es an dieser Stelle keine Forschungslücke. Der Ansatzpunkt dieser Studie ist eine (kritische) Überprüfung einer solchen üblichen – und häufig stillschweigend vorausgesetzten – Subsumierung des Themas „Zwölf (Jünger) im MtEv“ unter dem Thema „Jünger im MtEv“. Demgegenüber resultiert die Argumentation unter I,2 in der These, dass Mt die „Zwölf“ und die „Jünger“ durchaus unterscheide. Und obwohl Mt auch die Zwölf als „Jünger“ bezeichnet, ist es legitim und notwendig, in erster Linie diejenigen Textstellen auszulegen, die eindeutig auf die „Zwölf (Jünger)“ verweisen (vgl. I,2.4). Kurz: Die Zwölf sollten nicht nur als eine eigenständige Größe des MtEv wahrgenommen, sondern auch in einer eigenen Studie untersucht werden.

3Relevanz und Auswirkungen

Als eines von vielen inhaltlichen Elementen des MtEv sind die zwölf Jünger eingebunden in ein komplexes Beziehungsgeflecht. Sie stehen in mehr oder weniger direkter Beziehung zu anderen Personen (-gruppen): zu Jesus, zum Volk Israel, zu den Anführern des Volkes Israel, usw.1 Außerdem sind mit den zwölf Jüngern viele (theologische) Themen verbunden. Es seien beispielhaft drei theologische Topoi herausgegriffen. Erstens: Welche Rolle kommt dem Zwölferkreis zu im gegenwärtigen und zukünftigen „Himmelreich“, dessen Anbruch Jesus proklamiert (Eschatologie)? Zweitens: In welchem Verhältnis stehen die Zwölf zu Jesu Person und seinem Handeln und wie wirkt sich das Zwölfer-Verständnis auf das Jesusbild aus (Christologie)? Drittens: Haben die Zwölf eine besondere Funktion für die Gemeinde Jesu? Gehören sie (nur) zu einer historisch vergangenen Zeitepoche oder sind sie (auch) für die nachösterliche Gemeinde von Bedeutung (Ekklesiologie)? Aufgrund dieses personellen und thematischen Beziehungsgeflechts hat eine bestimmte Interpretation des Zwölferkreises direkte Auswirkungen auf das Verständnis der anderen Personen und Themen. Die konkreten inhaltlichen Implikationen können in dieser Studie jedoch höchstens angedeutet, aber nicht weiter untersucht werden. Nichtsdestoweniger bietet diese Studie vielfältige Ansatzpunkte für weitere Arbeiten.

4Aufbau

Auf diese Einführung folgt der erste Hauptteil (I). Hier wird im ersten Kapitel (I,1) ein Überblick über die ntl Forschung der letzten etwa 100 Jahre vermittelt. Dabei werden die für das Thema „Die zwölf Jünger Jesu im MtEv“ relevanten Mt-Forscher, ihre form- (I,1.1), redaktions- (I,1.2) oder narrativkritischen (I,1.3) Methoden sowie die daraus folgenden inhaltlichen Positionen jeweils zuerst ausführlich vorgestellt und danach kritisch bewertet. Das zweite Kapitel des ersten Hauptteils (I,2) baut auf dieser kritischen Bewertung auf: hier wird eine alternative Bestimmung des Verhältnisses zwischen „Jünger“ und „Zwölf (Jünger)“ im MtEv präsentiert. Diese Verhältnisbestimmung wiederum ermöglicht die Identifizierung derjenigen Verse des MtEv, in denen der Zwölferkreis thematisiert wird. Die themenrelevanten Verse wiederum bilden den Ausgangspunkt für die Auslegung im zweiten Hauptteil.

Im zweiten Hauptteil (II) erfolgt in vier Kapiteln eine ausführliche Auslegung der vier Textpassagen Mt 9,36-10,42 (II,1); 19,27-20,28 (II,2); 26,20-35.56 (II,3) und 28,16-20 (II,4). Jedes dieser vier Kapitel besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird die jeweilige Textpassage eingeleitet. Dazu gehören meistens: Vorkommen des Zwölferkreises, Personenkonstellation, Abgrenzung der Textpassage, Literarischer Kontext sowie Aufbau. Im zweiten Teil des jeweiligen Kapitels werden die Textabschnitte, die beim Aufbau der Passage festgestellt worden sind, nacheinander ausgelegt. Die Auslegung des jeweiligen Textabschnitts enthält meistens folgende Elemente (jedoch nicht immer einheitlich): Rohübersetzung, Literarischer Kontext, Aufbau, Kommentar und Analyse, Zusammenfassung der Auslegung. Das dritte Kapitel zu Mt 26,20-35.56 hat abgesehen von diesen beiden Teilen einen dritten Teil, in dem der Charakter des Mahls in 26,20-30 besprochen wird (II,3.2).

In allen Kapiteln liegt der Schwerpunkt auf der Kommentierung bzw. Analyse des Textabschnitts. Diese orientiert sich meistens an der Versabfolge innerhalb des Textabschnitts. Die Analyse richtet sich grundsätzlich am Thema Zwölferkreis aus. D.h., dass sämtliche Aspekte des mt Textes berücksichtigt werden, die eine inhaltliche Aussage über den „Gegenstand“ Zwölferkreis treffen (könnten). In diesem Zuge werden häufig zum Versinhalt passende Fragen formuliert und an den Text gestellt. Nach der jeweiligen Antwort wird meistens (da von der Fragestellung abhängig) mithilfe der lexikalisch-grammatikalischen und semantisch-kommunikativen Analyse gesucht.1 Dies geschieht grundsätzlich unter Berücksichtigung des textuellen Mikro- und Makrokontextes des MtEv. Die Ausführungen haben einen argumentativen Stil: es werden Forschungspositionen und Auslegungsoptionen vorgestellt und diskutiert, und schließlich wird – wenn notwendig und möglich – einer bestimmten Auslegung der Vorzug gegeben. Die eigenständige Analyse sowie der große Umfang der auszulegenden Textstellen nötigt dazu, Schwerpunkte zu setzen. So ist z.B. Mt 28,16-20 aus theologischen und forschungsgeschichtlichen Gründen verhältnismäßig ausführlich.

Im Schlussteil werden einige wichtige Ergebnisse dieser Studie kurz zusammengefasst. Es schließen sich ein Literaturverzeichnis und ein Abkürzungsverzeichnis an. Besonderer Erwähnung bedarf der Anhang mit 16 Exkursen, der online zu finden ist, unter www.meta.narr.de/9783772087240/Anhang.pdf.

ERSTER HAUPTTEIL (I): Forschungsüberblick und Verhältnisbestimmung Jünger – Zwölf (Jünger)

1Forschungsüberblick: Die zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung ab 1921

Dieses Kapitel beschreibt und bewertet die Deutungen der zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung der letzten etwa hundert Jahre. Den Startpunkt dieses Forschungsüberblicks bildet Rudolf Bultmanns bahnbrechendes Werk Die Geschichte der synoptischen Tradition aus dem Jahr 1921, das nicht nur hinsichtlich seiner form- und redaktionskritischen Methodik forschungsgeschichtlich prägend war, sondern auch hinsichtlich seiner Deutung der zwölf Jünger Jesu im MtEv.1 Den Endpunkt bildet Joel Willitts kurzer Artikel „The Twelve Disciples in Matthew“ aus dem Jahr 2011.2 Alle hier besprochenen Forschungsbeiträge dieses Zeitraumes werden gemäß ihrer jeweiligen Auslegungsmethode drei verschiedenen Gruppen zugeordnet: zuerst der Formkritik, danach der Redaktionskritik und zuletzt der Narrativen Kritik. Bei der Besprechung dieser drei Gruppen wird jeweils mit der Darstellung sämtlicher Forschungspositionen zum Thema Zwölferkreis begonnen, wobei die Forschungspositionen nach den Kriterien „zeitliche Phase“ und / oder „inhaltliche Position“ angeordnet sind. Auf die Darstellung folgt jeweils die kritische Bewertung der Forschungspositionen. Diese Anordnungsweise ermöglicht mindestens zweierlei: erstens auf evtl. vorhandene Zusammenhänge zwischen den Auslegungsmethoden und den inhaltlichen Ergebnissen zu schließen. Und zweitens Zusammenhänge zwischen dem Thema Zwölferkreis und anderen Themen zu erkennen. Aus der hier vorgenommenen Bewertung der bisherigen Forschungsgeschichte werden im hierauffolgenden Kapitel (I,2) Schlussfolgerungen gezogen, indem das Verhältnis zwischen „Jünger“ und „Zwölf (Jünger)“ bestimmt wird und darauf aufbauend Textstellen im MtEv identifiziert werden, die von den Zwölf (Jüngern) handeln.

1.1Formkritik

Karl Ludwig Schmidt, Martin Dibelius und Rudolf Bultmann zählen zu den Forschern, die mit ihren Arbeiten die Grundlage für die klassische Formkritik der Evangelien gelegt haben.1 Doch einzig Bultmann hat sich in Die Geschichte der synoptischen Tradition u.a. relativ ausführlich zum Jünger- bzw. Zwölferkreis in den Evangelien und speziell im MtEv geäußert.2 Seine Deutung wurde in der späteren Mt-Forschung nicht selten rezipiert, wenngleich meist nur auszugsweise.3

1.1.1Rudolf Bultmann

Rudolf Bultmann verfolgt mit seiner formgeschichtlichen Untersuchung folgendes Ziel: „[…] ein Bild von der Geschichte der Einzelstücke der Tradition zu geben; von der Entstehung dieser Tradition wie von ihrer Abwandlung bis zu der Fixierung, in der sie uns in jedem der Synoptiker vorliegt […].“1 Folglich durchlief auch der bei den Synoptikern versammelte Jüngerstoff zunächst vor-markinische Tradierungsstufen, sodann die markinische Tradierungsstufe, bevor er schließlich von Mt oder Lk redigiert und weitertradiert wurde. Um das Ziel der Formkritik zu erreichen, müsse man neben dem „Stilgesetz“ auch die „Gesetze der literarischen Weiterüberlieferung“ berücksichtigen.2 Eines dieser zentralen Überlieferungsgesetze besagt, dass die ursprünglich im Großen und Ganzen stabilen Erzählungen im Überlieferungsprozess von „legendarischen Schöpfungen der Phantasie“ beeinflusst wurden, so dass kurze und einfache Erzählstücke zunehmend um Details erweitert wurden und verschiedenartig wuchsen.3 Dieses Überlieferungsgesetz wendet Bultmann in seiner Analyse des synoptischen Stoffs allgemein auf Personen und speziell auf die Jünger an.4 Er stellt fest, dass sich eine grundsätzliche Tendenz abzeichne: anfangs noch unbestimmte Personen wurden zunehmend zu bestimmten Personen. Das zeige sich erstens darin, dass zunächst unbestimmte Personen (-gruppen) zu bestimmten Gruppen und „Typen“ gezählt wurden, in etwa den Schriftgelehrten, Pharisäern oder den Jüngern. Hierzu gehört, dass vormals einheitliche Gruppen intern differenziert wurden, was z.B. in Mt 28,17 deutlich werde, wonach nur eine Teilmenge der Jünger am Auferstandenen zweifelte. Und zweitens zeige sich die zunehmende Bestimmung darin, dass bis dato unbestimmte Einzelpersonen mit zusätzlichen Details versehen wurden, in etwa Namen erhalten haben, mit bestimmten Eigenschaften charakterisiert oder ihnen bestimmte Handlungen zugeschrieben wurden.5

Daraus folgt: in der vor-markinischen Phase seien mit den „Jüngern“ nicht die Zwölf gemeint gewesen, sondern eine unbestimmte und nicht fest umrissene Anhängerschar um Jesus. Reste dieser alten Tradition fänden sich z.B. in Mk 3,34: solche, die Gottes Willen tun, gehören zu Jesu Familie und sind seine „Anhänger“ bzw. „Jünger“. Die Jünger seien auf dieser Entwicklungsstufe meistens – wie eine Einzelperson – als Einheit dargestellt worden, erkennbar an der Kollektivbezeichnung „Jünger“. Allerdings seien bereits in dieser frühen Phase hin und wieder Einzelpersonen aus der allgemeinen Jüngergruppe namentlich hervorgehoben worden.6 Dennoch gilt s.E. grundsätzlich die Regel, dass Differenzierungen und Individualisierungen ein eindeutiges Zeichen für den sekundären Charakter seien. In der markinischen Phase schematisiere der Redaktor des MkEv die Jünger: sie seien „als selbstverständliche Begleitung Jesu überall vorausgesetzt“, mit Ausnahme ihrer Berufung, Aussendung und Rückkehr.7 Dass Jesus an manchen Stellen alleine auftritt, ohne seine Jünger, deutet Bultmann folgendermaßen: „[…] daß die Jünger in manche Einzelgeschichten der Tradition noch nicht eingedrungen sind […].“8 Darüber hinaus zeige sich die redaktionelle Arbeit des Mk darin, dass er die Jünger mit den Zwölf identifiziere: „Und zwar denkt Mk, wo er von den μαθηταί als Gruppe redet, offenbar immer an die Zwölf (auch wohl an den Stellen vor der Berufung naiv und ohne Reflexion 2,15f18.23; 3,7.9).“9 Die Nennung der δώδεκα sei – abgesehen von 3,13-19 und 6,7-13 – „sekundäre Redaktionsarbeit des Mk und vielleicht gar z.T. späterer Abschreiber.“10 Diese Entwicklung von einer „unbestimmten Anhängerschar“ zur „bestimmte[n] Gruppe der Zwölf“ zeige sich z.B. an 4,10, wo der Evangelist Mk das ursprüngliche „es fragten ihn, die um ihn waren“ um „samt den Zwölf“ ergänzt habe.11 Aber auch in dieser mk Tradierungsphase müsse man damit rechnen, dass Mk (und alle späteren Abschreiber) hin und wieder einzelne Personen aus dem Zwölferkreis hervorgehoben hätten.12 In der nächsten matthäischen Überlieferungsphase übernehme Mt von Mk sowohl die Gleichsetzung von Jüngern und Zwölferkreis, wobei die Gleichsetzung für Mt inzwischen sogar selbstverständlich sei, als auch die Rolle der Jünger als ständige Begleiter Jesu, wobei Mt ihre Rolle als Begleiter noch weiter ausbaue:

„Die Jünger spielen dieselbe Rolle wie bei Mk. Daß Mt oft die μαθηταί ausdrücklich nennt, wo sie im Mk-Text nur vorausgesetzt sind, will natürlich nichts sagen. Er fügt sie aber auch manchmal da ein, wo Mk nicht an sie denkt: 9,19; 12,49; 23,1. […]. Die Zwölfzahl ist bei ihm selbstverständlich, und es ist bezeichnend, daß er auch in der Verklärungsszene und im Gespräch nachher einfach οἱ μαθηταί sagt (17,6.10.13); er scheint vergessen zu haben, daß nach 17,3 nur die drei Vertrauten anwesend sind, wie er denn auch V.14 nicht wie Mk 9,14 sagt, daß sie πρὸς τοὺς μαθητάς kamen, sondern πρὸς τὸν ὄχλον, und wie er 24,3 die eschatologische Rede nicht an die vier Vertrauten, sondern an die μαθηταί insgesamt gerichtet sein lässt.“13

Ein anderes Beispiel für Bultmanns Verständnis ist Mt 12,49: hier nenne Mt die um Jesus sitzenden Personen „Jünger“, aber er verstehe unter ihnen „zweifellos“ die Zwölf (par Mk 3,34).14 Sehr ähnlich sieht Bultmann das bei den Apophthegmata: „Auch für Mt versteht sich diese Identität [der μαθηταί mit den Zwölf; V.L.] schon von selbst […].“15 Die von Mk eingebrachte Gleichsetzung der „Jünger“ mit den „Zwölf“ sei auf der nächsten Überlieferungsstufe bereits selbstverständlich geworden, so dass spätere Abschreiber wie Mt wieder allgemein von „seinen Jüngern“ reden, aber damit – stillschweigend, weil voraussetzend – die bestimmten „Zwölf“ meinen!16 So wie in Mt 17,1-14 par Mk 9,2-14 spreche Mt auch an diesen Stellen allgemein von „Jüngern“, während in der Parallele bei Mk einzelne Jünger genannt sind. Bultmann deutet diesen mt Vorzug von „Jüngern“ gegenüber Einzeljüngern als „Interesse für die Zwölf“.17 Daraufhin leitet Bultmann zum nächsten Aspekt der „Überlieferungstendenz“ über: von der selbstverständlichen Gleichsetzung der Jünger mit den Zwölf ausgehend werden auf der nächsten Überlieferungsstufe wieder Einzelpersonen – wie z.B. Petrus – aus dem Zwölferkreis hervorgehoben.18 Deswegen entspreche es laut Bultmann eher der allgemeinen Entwicklung, dass Mt manchmal einzelne Jünger nennt, anstatt wie Mk allgemein von den „Jüngern“ zu reden (z.B. Mk 7,17 par Mt 15,15 oder 18,21).

1.1.2Kritische Anfragen an Bultmanns formkritische Deutung der zwölf Jünger

An Bultmanns Deutung der Jünger im Allgemeinen sowie der zwölf Jünger im Speziellen lassen sich einige kritische Anfragen richten.1Erstens: Ist Bultmanns Entwicklungs-Modell in sich konsistent und damit auch praktisch anwendbar? Denn für Bultmann ist die Hervorhebung von Einzelpersonen einerseits ein Kennzeichen für den sekundären Charakter und andererseits theoretisch in allen Überlieferungsphasen auffindbar.2 Nach welchen Kriterien sollte dann über das Alter einer solchen Angabe entschieden werden? Das führt zu den nächsten beiden kritischen Beobachtungen. Zweitens: Bultmanns These, dass die meisten der Verweise auf den Zwölferkreis im MkEv auf den Evangelisten Mk zurückgehen, lässt sich aus redaktionskritischer Sicht in Frage stellen, so z.B. durch Ernest Best geschehen.3Drittens: Einerseits sieht Bultmann im Wechsel von den allgemeinen Jüngern (im MkEv) hin zum einzelnen und konkreten Jünger (im MtEv) die normale und erwartbare Entwicklung. Allerdings findet sich im MtEv auch der umgekehrte Wechsel, wenn Mt nicht mehr einzelne Personen reden lässt, wie es noch bei Mk der Fall war, sondern allgemein die „Jünger“. Diesen ungewöhnlichen Wechsel deutet Bultmann aber als Interesse an den Zwölf. Sollte das Überlieferungsgesetz tatsächlich stimmen: ließe sich dieser Wechsel nicht auch als ein Argument gegen eine einfache Abhängigkeit des MtEv vom MkEv deuten? Und könnte man außerdem diese Reihenfolge als Infragestellung des Überlieferungsgesetzes deuten, dass es zumindest in dieser starren Form nicht zutrifft? Das leitet über zum nächsten Punkt. Viertens: Lässt sich nachweisen, dass in der Überlieferung des synoptischen Stoffs die Differenzierung, Detailliertheit und Individualisierung tatsächlich zunimmt? In der Jesus-Forschung werden die „Überlieferungsgesetze“ als Authentizitäts-Kriterium infrage gestellt.4 Ebenfalls kritisch ist die neuere Form- und Gattungsforschung: sie bemängelt den Grundsatz der klassischen Formgeschichte, dass das Einfachere und Kürzere das Ursprünglichere sei. Vielmehr müsse man mit verschiedenen Varianten von Formen rechnen, die insgesamt unbeständig seien.5 Vielfach wird hierbei verwiesen auf E.P. Sanders’ The Tendencies of the Synoptic Gospels, in der Sanders die Überlieferungsgesetze der formgeschichtlichen Schule (insbesondere bei Bultmann und Dibelius) einer gründlichen Überprüfung unterzogen und kritisiert hat: die von Dibelius und Bultmann behauptete Tendenz, dass die Detailliertheit mit der Zeit stetig wachse, sei falsch und von ihnen nie ausreichend begründet worden.6 Stattdessen gebe es sowohl Erweiterungen als auch Kürzungen im Stoff.7Fünftens: Bultmann begründet seine These, dass Mt die „Jünger“ und die Zwölf gleichsetze, mit der Behauptung, dass Mt diese Gleichsetzung von Mk übernommen habe. Diese Gleichsetzung sei für Mt „selbstverständlich“. Bultmann impliziert erstens, dass man die Gleichsetzung nicht an der redaktionellen Tätigkeit des Evangelisten Mt nachweisen müsse. Hierbei stellt sich die Frage: auf welche alternative Weise könnte man belegen oder widerlegen, was der Evangelist gedacht oder gemeint hat, wenn er „Jünger“ schrieb, wenn nicht am Text selbst? Und wäre es nicht konsequent zu schlussfolgern, dass die Rede von den „Jüngern“ in die vor-mk-Phase einzuordnen sei, weil „Jünger“ so allgemein und unbestimmt klingt, als wäre eine nicht näher definierte Anhängerschaft gemeint? Und zweitens impliziert Bultmann, dass der Evangelist Mt den Jünger-Stoff des MkEv „richtig“ gelesen habe. Doch hat Mt diese (nur) in der redaktionellen Tendenz erkennbare Gleichsetzung von Jüngern und Zwölf wirklich erkannt, indem er – gewissermaßen form- und redaktionskritisch denkend – die älteren traditionellen Elemente von den jüngeren mk Elementen trennen konnte?8 Außerdem müsste Bultmann dann erklären, warum der Evangelist Lk die Zwölf meistens „Apostel“ (und manchmal „Jünger“) und die anderen Jesusanhänger meistens „Jünger“ nennt. Vorausgesetzt, dass Lk (u.a.) das MkEv als Quelle hatte: Könnte es nicht auch sein, dass Lk im MkEv gar keine absolute Gleichsetzung von „Jüngern“ und Zwölf vorfand? Sechstens: Belegen die Stellen, die Bultmann aus dem MtEv anführt, tatsächlich ein besonderes Interesse des Evangelisten Mt am konkreten Jüngerkreis, den er zudem mit dem Zwölferkreis gleichsetze? Z.B. lässt sich aus Mt 17,4 lediglich ableiten, dass einzelne Mitglieder des Zwölferkreises auch „Jünger“ genannt werden. Und würde man in Mt 17 die Erzählungsabfolge von V.1-13 und V.14-20 beachten, dann wäre es eine angemessene Schlussfolgerung, dass mit den „Jüngern“ in V.16.19 diejenigen gemeint sind, die Jesu Verklärung gerade nicht miterlebt hatten; d.h. es gibt in 17,1ff zwei verschiedene Personengruppen, die beide „Jünger“ genannt werden.9

1.2Redaktionskritik

Nach dem zweiten Weltkrieg kam mit den Veröffentlichungen von Günther Bornkamm (zum MtEv), Willi Marxsen (zum MkEv) und Hans Conzelmann (zum LkEv) die redaktionskritische Methodik auf und dominierte die Evangelien-Forschung mindestens bis in die 1980er Jahre.1 Der Redaktor galt nicht mehr in erster Linie als „Sammler“ von überlieferten Einzelformen, die er mehr oder weniger sinnvoll ordnete,2 sondern als ein theologisch bewusster und klug gestaltender Interpret seiner Quellen.3 Anhand der redaktionellen Modifikationen seiner Quellen versuchte man sowohl die Theologie des Evangelisten als auch den „Sitz im Leben“ eines Textes zu rekonstruieren.4 Dabei betrachtete man den Text gewissermaßen als ein „Fenster“ für die dahinterliegende reale Gemeindesituation.5 Das konkretisierte sich u.a. darin, verschiedenen Personen des Textes reale Personen innerhalb oder außerhalb der mt Gemeinde zuzuweisen. Einen besonders klaren Blick auf die mt Gemeindesituation versprach man sich von der Jüngergruppe im MtEv. Im Zusammenhang mit den „Jüngern“ und ihrer Bedeutung für die mt Gemeinde gingen etliche redaktionskritisch arbeitende Forscher auch speziell auf die zwölf Jünger ein. Dabei waren v.a. zwei Verhältnisbestimmungen ausschlaggebend: erstens das Verhältnis zwischen den Jüngern und den zwölf Jüngern, und zweitens das Verhältnis zwischen den (zwölf) Jüngern und „Mitgliedern“ der mt Gemeinde.

1.2.1„Klassische“ redaktionskritische Studien

„Jünger“ als „ekklesiologischer terminus“. Stanton spricht stellvertretend für die redaktionskritische Mt-Forschung zwischen 1945 und 1980, wenn er resümiert: „Matthew᾽s distinctive portrait of the disciples (including Peter) is very much part of his ecclesiological interest.“1 Spätestens seit Günther Bornkamm galt in der redaktionskritischen Mt-Forschung der Begriff „Jünger“ (ὁ μαθητής oder οἱ μαθηταί) als ein zentraler „ekklesiologischer terminus“, weil mit ihm nachösterliche Gemeindethemen wie z.B. „Nachfolge“ verbunden seien.2 Daher war es konsequent, wenn Bornkamm und einige andere Mt-Forscher der redaktionskritischen Pionierphase auf der einen Seite die Jünger im MtEv und auf der anderen Seite die adressierte mt Gemeinde als austauschbare Größen verstanden: mit „Jünger“ sei die mt „Kirche“ gemeint. Bornkamms ekklesiologische Deutung der Jünger teilten nicht nur seine eigenen „Schüler“ Gerhard Barth3 und Reinhart Hummel,4 sondern viele andere Mt-Forscher (dazu gleich mehr), z.B. Wolfgang Trilling, der in Das Wahre Israel: Studien zur Theologie des Matthäusevangeliums (1959) zum Ergebnis gelangte, dass mit „Jünger“ im MtEv der „ideale Jünger“ gemeint sei.5

Die „Zwölf (Jünger)“ als „typische“ Jünger der mt Gemeinde. Weder Bornkamm noch Barth, Hummel oder Trilling nahmen eine Unterscheidung zwischen den zwölf Jüngern bzw. Aposteln einerseits und den Jüngern andererseits vor:6 Laut Bornkamm sind die zwölf Jünger, die in Mt 9,35-11,1 ausgesandt werden, nicht mehr als „Jünger par excellence, Prototypen und Vorbilder auch der späteren Jüngerschaft“, sie sind v.a. Vorbilder für die Mission der Kirche.7 Weil für Barth die Gleichsetzung der Jünger mit der Kirche im Vordergrund steht, können s.E. weder die zwölf Jünger noch die Apostel einen besonderen Status oder eine besondere Funktion haben, die sie von den allgemeinen Jüngern abhebt.8 Und Trilling schlussfolgert, dass mit „Jünger“ kein Apostel oder eine andere historische Person gemeint sein könnte. Vielmehr gelte: „An vielen weiteren Stellen ist zu erkennen, daß Matthäus den engeren Kreis (bei Markus meist der ,Zwölf‘) als Typus und Paradigma für den wahren christlichen Jünger auffaßt.“9

Die „Zwölf (Jünger)“ als Inhaber und Vorbilder eines besonderen „Amtes“? In den 1970er Jahren rückten mehrere redaktionskritische Arbeiten bestimmte Begriffe des MtEv in den Fokus und diskutierten, ob diese Begriffe termini technici seien und als solche auf bestimmte Funktionen oder Ämter in der mt Gemeinde hinwiesen:10 Weisen z.B. Mt 5,12; 7,22f; 10,41; 23,34 auf Propheten in der mt Gemeinde hin, zu denen evtl. auch die Wundertäter und Exorzisten zählten? Das bejahen z.B. Hummel,11 Sand,12 Schweizer13 oder Künzel.14 Doch Trilling15 und Frankemölle16 verneinen das. Gab es z.B. aufgrund von Mt 8,19; 11,25; 13,52; 18,18; 23,8-12.34 Schriftgelehrte bzw. Lehrer, zu denen evtl. auch „Weise“ gehörten? Dem stimmen z.B. Hummel,17 Trilling,18 Sand,19 Schweizer20 oder Künzel21 zu. Frankemölle22 und van Tilborg23 hingegen lehnen das ab. Oder existierte – z.B. aufgrund von Mt 10,41 – eine bestimmte Gruppe von „Gerechten“? Das negiert z.B. Trilling,24 Schweizer jedoch ist sich diesbezüglich unsicher.25 Oder leiteten vielleicht Presbyter bzw. Älteste und außerdem Episkopen die Gemeinde? Das können sich z.B. Sand26 und Frankemölle27 nicht vorstellen. Ergänzend zu diesen Begriffen wurde v.a. aufgrund von Mt 16,17ff ein mögliches Petrus-Amt debattiert:28 Viele Forscher erkannten die herausragende Rolle des historischen Petrus an, der erstens die Schlüsselgewalt erhalten hatte (Stichwort „Disziplinarvollmacht“) und zweitens ein autoritativer Überlieferer der Jesuslehre war (Stichwort „Lehrvollmacht“). Und manche dieser Forscher erkannten gerade in seiner zweitgenannten Funktion seine bleibende Bedeutung für die mt Gemeinde. Doch es wurde stark bezweifelt, dass sich Petri heilsgeschichtliches Primat in einem Gemeindeamt fortgesetzt haben könnte, welches mit einer entsprechenden Autorität ausgestattet gewesen wäre. Die meisten sahen in Petrus stattdessen einen (proto-) typischen Jünger, einen primus inter pares, mit dem sich jedes Gemeindemitglied identifizieren sollte. Diese Position vertraten z.B. Kilpatrick,29 Hummel,30 Schweizer,31 Trilling,32 Bornkamm,33 Künzel,34 Kingsbury35 und bemerkenswerterweise auch Strecker36 und Walker.37 Frankemölle hingegen sah in Petrus tatsächlich die Gemeindeleiter angesprochen.38 Wenn nun im Zusammenhang der Frage nach Ämtern in der mt Gemeinde die zwölf Jünger bzw. Apostel in den Blick geraten, dann fällt die Bewertung relativ eindeutig aus: es gebe in der mt Gemeinde in Fortsetzung der zwölf Jünger kein entsprechendes Amt. Auf die Frage, ob sie im MtEv als (historisch vergangene) Autoritäten dargestellt werden, zumindest an wenigen Stellen, gibt es unterschiedliche Antworten: zu „Nein“ tendieren z.B. Hummel,39 Sand40 und Walker.41 Mit einem eingeschränkten „Ja“ hätte z.B. Trilling geantwortet: Laut Mt 10,2 seien die Zwölf „Apostel“ im dogmatischen Sinne, ähnlich wie im LkEv, nur dass der Evangelist Lk diese dogmatische Angleichung der Zwölf als „zwölf Apostel“ bewusst vornehme, während der Evangelist Mt die Angleichung voraussetze bzw. sie selbstverständlich finde, denn er übernehme den Ausdruck „zwölf Apostel“ aus einer ihm überlieferten Namenliste. Für die Selbstverständlichkeit spreche s.E. der Wechsel von 10,1 zu 10,2. Mt blicke aus einer historischen Distanz auf die Zwölf als Apostel zurück. Denn das aktuelle Interesse des Mt richte sich nicht auf das „Apostel-Sein“, sondern auf das Jünger-Sein der Zwölf.42 Ähnlich würde Schweizer darauf antworten: Einerseits zeige die Augen- und Ohrenzeugenschaft sowie die Thronverheißung 19,28 (jedoch nicht Mt 10) die hervorgehobene Rolle der Zwölf im MtEv. Andererseits seien die Zwölf hauptsächlich Vorbilder für alle Jünger.43

Die „Zwölf (Jünger)“ als „historisierte“ oder „transparent“ gemachte Personen? Im Zusammenhang der (zwölf) Jünger-Thematik verdient eine Debatte besondere Beachtung: auf der einen Seite steht Georg Strecker mit seiner These, dass Mt die Jünger „historisiert“ habe, und auf der anderen Seite steht Ulrich Luz mit seiner These, dass Mt die Jünger „transparent“ gemacht habe.44Strecker hatte in Der Weg der Gerechtigkeit (1962)45 für drei heilsgeschichtliche Phasen im MtEv plädiert46 und im Hinblick auf die letzten beiden Phasen gefordert, dass man im MtEv zwischen der „heilsgeschichtlichen Vergangenheit und dem Verständnis der Gegenwart grundsätzlich differenzieren“ solle.47 Weil für den Redaktor die Zeit Jesu – und damit auch die Zeit seiner Jünger! – ein „einmaliger, unwiederholbarer, heiliger, idealer Abschnitt im Ablauf der Geschichte […]“ sei, seien die Jünger historisch von der eigenen Kirche distanziert einer heilsgeschichtlich einmaligen Vergangenheit zugeordnet.48 Für das „historisierende“ Vorgehen entdeckt Strecker mehrere Hinweise im MtEv, erstens im μαθητής-Begriff, zweitens in der Idealisierung der Jünger, drittens in ihrer Verkündigung und viertens in ihrer Augenzeugenschaft.49 Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen den zwölf Jüngern im Speziellen und den Jüngern im Allgemeinen sind Streckers Überlegungen zum matthäischen μαθητής-Begriff besonders relevant:50 Mt gebrauche die Begriffe μαθηταί und δώδεκα synonym und historisiere dadurch die „Jünger“. Denn Matthäus verbinde in synoptisch einzigartiger Weise οἱ μαθηταί und οἱ δώδεκα (Mt 10,1; 11,1; 26,20). Der Wechsel beider Begriffe deute eine synonyme Gebrauchsweise an,51 und grenze somit die „Jünger“ auf die „Zwölf“ ein. Strecker überprüft seine These anhand folgender Belege, die der These entgegenstehen könnten: 1. Den Schriftgelehrten in 8,19 erkennt Strecker nicht als Jünger an. 2. Dagegen gehöre der „andere Jünger“ in 8,21 vielleicht sogar zum Zwölferkreis. 3. Der Begriff „Jünger“ in 10,24f sei tatsächlich allgemein gefasst und gehe also über die Zwölf hinaus, aber er sei vormatthäischen Ursprungs und falle im Gegensatz zu redaktionellen Veränderungen nicht ins Gewicht. 4. 10,42 sei möglicherweise redaktionell, wobei es dann möglich wäre, „um des Jüngers willen“ entweder auf die voraufgehende Gemeinde oder auf die ursprüngliche Ausrichtung der Rede an die Zwölf zu beziehen. Ein weiteres gewichtiges Argument für Streckers Annahme, dass der μαθητής-Begriff den „Zwölf“ vorbehalten sei, ist das Verb μαθητεύω (13,52; 27,57; 28,19), das Mt nach Streckers Verständnis nie auf die „Zwölf“ beziehe. Das sei bei seiner Vorlage, dem MkEv, noch anders gewesen, dort konnten mit „Jünger“ auch andere Personen als die Zwölf bezeichnet werden, z.B. wenn in Mk 3,13f die „Zwölf“ aus einem größeren Jüngerkreis berufen werden (vgl. 2,15f23; 3,9). Luz hatte in seinem einflussreichen Aufsatz „Die Jünger im Matthäusevangelium“ (1971) Streckers „Historisierungsthese“ kritisiert und ihr die „Transparenzthese“ entgegengestellt.52 Die Transparenzthese geht von nur zwei Phasen der Heilsgeschichte aus, wobei die Phase der Zeit Jesu und die seiner irdischen Jünger in eins fällt mit der Phase der Kirche. Luz meint, dass die Hinweise, die Strecker aus dem MtEv als Stützen für seine These heranzieht, anders gedeutet werden müssten. Luz leugnet, dass aus den identisch gebrauchten Begriffen μαθηταί und δώδεκα ein historisierendes Interesse des Mt abgeleitet werden dürfe.53 Gegen die Idealisierung der Jünger spreche z.B. die Kritik am Kleinglauben der Jünger, welcher aber nicht auf das Verstehen der Lehre Jesu bezogen sei, sondern allein auf das Vertrauen hinsichtlich der Person Jesu (im Gegensatz zu Markus).54 Und Luz betont transparente statt historisierende Aspekte in der Aussendungspassage (Mt 10).55 Er kommt zu dem Schluss, dass das Historisierende im MtEv nur darin liege: die Gemeinde sei auf die Lehre des historischen Jesus bezogen. Die Jünger seien zwar Begleiter des historischen Jesus, aber: „Gerade als Schüler des historischen Jesus werden die Jünger transparent, Typen für das Christsein überhaupt.“ Transparenz der Jünger bedeutet für Luz: „Gleichzeitig werden mit einer Gestalt der Vergangenheit. Die zeitliche Distanz wird übersprungen, aber offensichtlich nicht so, daß der historische Jesus einfach in den Geisterfahrungen der Gemeinde aufgeht.“56 Das gelte für jeden Jünger, auch für Petrus, der als Typus der Jünger verstanden werden müsse. Luz lässt offen, ob die Jünger eher für die Gemeindeleiter oder die Gemeindeglieder transparent sind, da beide Gruppen hinter verschiedenen Texten gesehen werden können. Er schlussfolgert daraus, dass diese Gruppen-Differenzierung im mt Verständnis irrelevant sei, und dass die Gemeindeleiter „in gleicher Weise Jünger, wie alle anderen Gemeindeglieder“57 seien. Die Transparenz-These untermauert Luz danach mit den Wundergeschichten58 sowie anhand drei kürzerer Beobachtungen: zum Substantiv ἀπόστολος, zum Verb μαθητεύω und den Begriffen ἀδελφός und μικρός (dazu s.u. mehr).59 Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit interessiert insbesondere Luz᾽ erstes Argument (gegen Strecker), nämlich das Verhältnis von „Jünger“ und „Zwölf“:60 1. Weil Matthäus das markinische δώδεκα durch μαθηταί ersetze, jedoch niemals ein μαθηταί durch ein δώδεκα μαθηταί, liege Mt nicht viel an der Zwölfzahl der Jünger, sie sei für ihn vielmehr selbstverständlich. 2. Warum sonst komme δώδεκα bei Matthäus nur acht Mal vor, bei Markus hingegen elf Mal? 3. Die Tendenz, die Jünger mit dem Zwölferkreis gleichzusetzen, habe Matthäus bereits von Markus übernommen. 4. Wäre der Zwölferkreis von besonderem Interesse, dann hätte Matthäus ihn nicht erst in Mt 10,1 ganz selbstverständlich erwähnt, sondern wie Markus in Mk 3,13f von ihrer Konstituierung berichtet. 5. Wenn Matthäus beide Größen konsequent gleichsetzen wollte, dann hätte er in Mt 10,2ff die zwölf namentlich aufgelisteten Personen „Jünger“ genannt, und nicht „Apostel“.61 Luz kommt infolgedessen zum Ergebnis, dass Streckers These, dass Matthäus die Jünger historisiere, indem er sie in bewusster redaktioneller Arbeit mit den Zwölf gleichsetze bzw. identisch mache, nicht stimme. Man beachte, dass Luz ebenso wie Strecker davon ausgeht, dass die „Zwölf“ und die „Jünger“ im vorliegenden Text des MtEv „identisch“ – im Sinne von „völlig übereinstimmend, vollkommen gleich“62 – sind.63 Das bestätigt seine, den Gesamtbefund übergreifende, Deutung des Begriffs μαθηταί: „Mt 17,6 ist die einzige Stelle, wo mit μαθηταί eindeutig nicht der Zwölferkreis gemeint ist, sondern die 17,1 genannten Drei.“64 Allerdings deutet Luz die Gleichsetzung in die entgegen gesetzte Richtung wie Strecker: erstens interessiere sich der Redaktor nicht für diese Gleichsetzung, er habe sie lediglich aus seiner Tradition übernommen.65 Zweitens zeige sich in der redaktionellen Arbeit des Evangelisten eine entgegen gesetzte Tendenz: er habe nicht die allgemeinen „Jünger“ auf die historischen „zwölf Jünger“ beschränkt (Jünger → Zwölferkreis) und somit historisiert (so aber Streckers Behauptung), sondern er habe die „Zwölf“ in ihrem „Jünger-Sein“ dargestellt (Zwölferkreis → Jünger) und somit transparent gemacht. Luz’ Deutung ist also im Wesentlichen redaktionsgeschichtlich begründet. Anders gesagt: Die Zahl der irdischen Jesusjünger, die Mt für seine Gemeinde (und jeden Christen) transparent macht, ist tatsächlich auf die Zwölf beschränkt. Und nicht die Gleichsetzung von Jüngern und Zwölf vertieft Mt gegenüber dem MkEv, sondern die Transparenz der Zwölf durch den allgemeinen Begriff „Jünger“.66 Im Zusammenhang mit der Verhältnisbestimmung Jünger – Zwölf stehen drei weitere Beobachtungen, durch die Luz seine Transparenz-These gestützt sieht:67 1. Matthäus vermeide im Gegensatz zu Lukas den Begriff „Apostel“, weil sich die Gemeindeglieder besser mit dem Begriff „Jünger“ identifizieren könnten, da „Apostel“ historisch konkrete Personen bezeichne, die zudem in der nachösterlichen Zeit eine hervorgehobene Funktion gehabt hätten (man vergleiche dazu z.B. Apg, 2Kor 12). 2. Matthäus verwende drei Male das Verb μαθητεύω, das den gleichen Sinn habe wie das Substantiv μαθητής und deswegen mit „Jünger machen / werden“ übersetzt werden müsste, wodurch Mt die nachösterlichen Gemeindeglieder adressiere. 3. Matthäus verwende die allgemeinen, nicht auf spezifische historische Personen bezogenen Begriffe ἀδελφός und μικρός, die parallel und synonym zu μαθητής stehen.

Die „Zwölf (Jünger)“ als Vorbilder für Gemeindeleiter. Manche Matthäusforscher der 1970er Jahre, die ebenfalls redaktionskritisch arbeiteten und einer ekklesiologischen Lesart des Jüngerstoffs folgten, sahen in den Jüngern Gemeindeleiter widergespiegelt oder angesprochen. Sie betonten Hinweise des MtEv auf Positionen oder Beauftragungen, die mit einer bestimmten Form von Autorität verbunden sind: auf die Parallelen zu atl Propheten sowie zu Jesu vollmächtigem Wirken (z.B. Mt 10,5ff), desweiteren auf Begriffe wie „Schriftgelehrte“ (13,52; 23,34), „Propheten“ (10,41; 23,34) usw.68 Diese Hinweise bezogen sie auf die Jünger, und eben nicht auf Personen, die von den Jüngern zu unterscheiden wären. Z.B. arbeitete M. Jack Suggs in Wisdom, Christology, and Law in Matthew᾽s Gospel die besondere Bedeutung der Lehre in drei für Mt zentralen Jünger-Beauftragungen 28,18-20, 16,17-19 und 5,11-16 heraus. Und schlussfolgerte z.B. zu 5,11-16, dass die Jünger als Schriftgelehrte die primären Adressaten der Bergpredigt seien.69 Zwei bekannte Vertreter dieser These sind Raymond Thysman und Paul S. Minear, die sich sich auch zur Zwölfzahl der Jünger äußerten: Während Thysman die „Jünger“ kategorisch mit den Zwölf gleichsetzte (wie Strecker), gab es für Minear neben den Zwölf auch andere Jünger. Nichtsdestoweniger gebrauchte Minear beide Größen de facto austauschbar. Ähnlich wie Thysman ist Paul S. Minear zu verorten: er vertritt zuerst in seinem Aufsatz „The Disciples and the Crowds in the Gospel of Matthew“70 und später in seinem Kommentar Matthew: The Teacher’s Gospel71 die These, dass die Volksmengen für gewöhnliche Gemeindeglieder stünden und dass die Jünger für Gemeindeleiter transparent seien. Denn die Jünger bildeten eine qualitativ herausgehobene Leitergruppe: Jesus habe sie berufen, um sie zu seinen Nachfolgern als Exorzisten, Heiler, Propheten und Lehrer auszubilden.72 Außerdem seien die Jünger quantitativ begrenzt: Matthäus meine in 12,46-50 mit „Jünger“ die Zwölf (vgl. Mt 10),73 das gelte wohl auch für Mt 13,74 ebenso würden in Mt 18 die Zwölf adressiert.75 Dass Mt mit „Jüngern“ eine kleine Gruppe gemeint habe, belegen s.E. nicht nur die limitierte Platzzahl in einem Boot (8,23),76 sondern auch die Geschichten rund um Jesu Passion, wo ausdrücklich nur zwölf Jünger anwesend seien. Mit Gewissheit könne man bei den Perikopen zwischen 9,35 und 11,1 und zwischen 19,10 und 28,20 von der Zwölfzahl der Jünger ausgehen. Allerdings gebe es vier Fälle, in denen nicht Individuen des Zwölferkreises gemeint sein könnten: 8,21; 10,42; 27,57 und 28,19. In einigen anderen Fällen sei eine größere Gruppe gemeint (z.B. 12,19). Und in vielen anderen Fällen sei die Größe der Gruppe offen gelassen. Minear schlussfolgert daraus: „We infer that Matthew had no special fondness for the term Twelve nor for the special office of the apostle, a term which he used only once.“77 Das hindert Minear nicht, in den beiden genannten Publikationen die Jünger und die Zwölf pauschal als austauschbare Größen zu behandeln. Das passt zu seiner grundsätzlichen Verhältnisbestimmung beider Begriffe, die im Zusammenhang mit Mt 10 deutlich wird: „Most often he spoke of them [the Twelve; V.L.] simply as the disciples (about sixty times). In most instances where he used this simpler designation, Matthew had in mind the group of twelve to whom Jesus gave a special role as shepherds and physicians.“78 Kurz: Mt interessiere sich nicht besonders für die Zwölfzahl oder das Apostelamt, weil die Begriffe „Zwölf“ und „Apostel“ sehr selten auftauchen. Nichtsdestoweniger seien mit „die Jünger“ meistens (bis auf vier oder mehr Ausnahmen?) die Zwölf gemeint. S.E. werden die Jünger, die für die Gemeindeleiter stehen, nicht weiter ausdifferenziert. Raymond Thysman interpretierte im ersten Kapitel seines Buches Communauté et directives éthiques : La catéchèse de Matthieu79 die Funktionen der Jünger als pastoraler, missionarischer und schriftgelehrsamer Art, weswegen sie Prototypen eines Pastors seien.80 Die Volksmengen dagegen seien im MtEv positiv dargestellt81 und auf Lehre und Leitung angewiesen, weswegen sie für die Gemeindeglieder stünden. Die Gemeindeleiter seien die Erstadressaten der Lehre Jesu im MtEv, die dann Jesu Lehre den Gemeindegliedern, den Zweitadressaten, vermitteln sollten. Für diese zwei „Ebenen“ innerhalb der mt Gemeinde und innerhalb der Personengruppen des mt Evangeliums gibt es laut Thysman ein zentrales Argument:82 nämlich die Beschränkung der „Jünger“ auf eine kleine Schar: „[…] mais chez Marc et chez Matthieu, le titre de disciple conserve très généralement un sens technique et restreint.“83 Und dann etwas präziser zum Begriff „Jünger“: „Le mot revient 71 fois chez Mt. et désigne pratiquement chaque fois les membres du groupe des ,Douze‘ […].“84 Als mögliche Ausnahmen für einen Jüngerkreis, der über die Zwölf hinausgehen könnte, nennt Thysman die Stellen 8,12-22 und 12,46-50.

1.2.2Drei „besondere“ Studien von Seán Freyne, Michael J. Wilkins und Joel Willitts

Die folgenden drei Studien sind besonders bemerkenswert: Seán Freyne hatte sich m.W. als Erster besonders ausführlich mit dem Thema „Zwölf Jünger im MtEv“ beschäftigt. Michael J. Wilkins hat die bis dato wahrscheinlich wichtigste Arbeit zum Thema „Jünger im MtEv“ vorgelegt. Und von Joel Willitts stammt die m.W. aktuellste Veröffentlichung zu den zwölf Jüngern im MtEv.

Seán Freyne behandelt in seiner redaktionskritischen Arbeit The Twelve: Disciples and Apostles. A Study in the Theology of the First Three Gospels1 außergewöhnlich ausführlich das Thema „Zwölf Jünger im MtEv“ und legt eine theologische Deutung des Zwölferkreises vor. Freyne geht in seiner Studie von drei Überlieferungs-Stufen des Evangelien-Stoffes aus: 1. Stufe: Jesu Worte; 2. Stufe: nachösterliche Tradierung durch die Apostel; 3. Stufe: Fixierung durch die Evangelisten.2 Das erste Kapitel widmet sich der ersten Stufe: welche Rolle spielen die zwölf Jünger im Leben des irdischen Jesus?3 Kapitel zwei bis fünf widmen sich der dritten Stufe: welche theologischen Motive lassen sich bei der redaktionellen Gestaltung des Zwölfer-Stoffs durch die drei Synoptiker identifizieren, insbesondere im Verhältnis der Zwölf zu „Jünger“ und „Apostel“? Im zweiten Kapitel untersucht Freyne, wie die drei Synoptiker zwei zentrale Zwölfer-Themen, nämlich Wahl und Aussendung, interpretieren; erkennbar an ihrer redaktionellen Bearbeitung des Traditionsstoffes, speziell an der Einordnung in eine übergeordnete Struktur und an den inhaltlichen Akzentuierungen. Er kommt im entsprechenden Unterkapitel zum Ergebnis, dass Mt sowohl die Wahl der Zwölf als auch ihre Rückkehr von der Mission auslasse.4 Eine Erklärung dafür biete die einheitliche übergeordnete Struktur, die deutlich erkennbar redaktionell gestaltet sei: statt der Wahl der Zwölf im Zusammenhang der Bergpredigt (so bei Lk) finde sich in Mt 4,23-25 ein Summarium des Wirkens Jesu. Und unmittelbar vor der Aussendung der Zwölf zur Mission wiederhole sich in 9,35-37 das nahezu identische Summarium. Dadurch signalisiere der Redaktor, dass zwischen 4,23 und 9,37 allein Jesu Wirken im Vordergrund stehe, aber ab Mt 10 die Zwölf zu seinen Mitarbeitern im Hirtendienst an den Schafen Israels werden. Auch die redaktionellen inhaltlichen Akzentuierungen in Mt 10 bestätigen den Eindruck, dass die Zwölf Jesu Werk fortführen, z.B. die Parallelen zwischen den wunderhaften Taten Jesu (Mt 8-9) und der zwölf Apostel (10,5ff).5 Die Erkenntnisse des zweiten Kapitels vertieft Freyne im dritten Kapitel. Weil Mt den traditionellen Ausdruck „die Zwölf“ sowie die Nennung von namentlich bekannten Einzelpersonen meide und stattdessen meistens von den „zwölf Jüngern“ spreche, lasse sich ein gezieltes Interesse am Begriff „Jünger“ erkennen. Deswegen untersucht Freyne zuerst die mt Vorstellung von „Jüngerschaft“,6 dann – vor diesem Hintergrund – die „zwölf Jünger“7 und zuletzt die Zwölf als „Jünger“.8 Zum Ausgangspunkt des mt Verständnisses von Jüngerschaft wählt Freyne den Missionsbefehl „machet zu Jüngern […], lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ (28,18ff). Deswegen sei für Mt Jüngerschaft erstens für alle offen und nicht auf einige wenige, wie die Zwölf, beschränkt; zweitens sei das Tun des Gesetzes – gemäß der Auslegung Jesu (5,17ff; 22,34ff) – das Entscheidende für einen Jünger (vgl. 12,46-50). So sei die Christusnachfolge allen Christen geboten (so aus 19,16-26 abgeleitet). Christi Lehre sei für die nachösterliche Gemeinde verbindlich und Christi Vorbild demütiger Lebensführung reize nachösterliche Christen zum Nachahmen an. Denn er als der auferstandene „Christus“ sei inmitten der Gemeinde präsent. Um nun das mt Verständnis der „zwölf Jünger“ herauszuarbeiten,9 müsse man laut Freyne eigentlich alle Stellen in den Blick nehmen, in denen Mt die Zwölf einführt: ihre Mission in Galiläa (10,1-11,1), die dritte Leidensankündigung (20,17), das letzte Mahl (26,20) und schließlich ihre Aussendung (28,16). Allerdings hätten alle diese Stellen Parallelen im MkEv, so dass man sich auf die inhaltliche Gestaltung des Zwölf-Materials konzentrieren müsse, um das Originelle am matthäischen Zwölf-Verständnis zu sehen. Doch alle diese Stellen, bis auf die Mission in Galiläa (Mt 10), entsprächen inhaltlich den anderen Evangelisten, so dass Freyne sich auf Mt 10 konzentriert. Weil die Zwölf in Mt 10 zum ersten Mal erwähnt werden, sei der Ausdruck „Jünger“ zwischen Mt 4 und Mt 9 unspezifisch und man dürfe deswegen dort nicht automatisch an die Zwölf denken.10 Die Frage nach dem Verhältnis von „Jüngern“ und „Zwölf“ stellt sich insbesondere beim Wechsel von „Jünger“ in 9,37 zu „seine zwölf Jünger“ in 10,1. Laut Freyne sind es zwei verschiedene, wenngleich auch miteinander verbundene, Gruppen. Ihre Verbundenheit zeige sich an dem kontinuierlichen Moment zwischen dem Gebet für Erntearbeiter und der unmittelbar folgenden Berufung der Zwölf. Dadurch bildeten die Zwölf eine Einheit mit der Jünger-Gemeinde, aber sie blieben als zwölf Jünger dennoch von den anderen Jüngern unterschieden, sie seien also nicht identisch. Mt streiche damit das Jünger-Sein der Zwölf besonders hervor. Nur als „Jünger“ könnten die Zwölf eine symbolische Einheit bilden, die für Israel Relevanz hat. Weil sie nicht zu weiteren Aufgaben neben der Missionsaufgabe berufen werden, wird ihre Berufung erst hier in Mt 10 berichtet, und somit mit ihrem besonderen Missionsauftrag zusammengebracht.11 Demnach seien für Mt die Zwölf nur im Kontext der Mission an Israel interessant, nur ihre Mission verleihe der Zwölf-Gruppe eine besondere Stellung in der Jünger-Gemeinde. Deswegen würden die Zwölf hier – im MtEv das einzige Mal – „Apostel“ genannt (10,2). Deswegen zähle Mt das vollmächtige missionarische Wirken der zwölf Apostel (heilen, predigen usw.), welches bereits als konsequente Fortführung des vollmächtigen Wirkens Jesu gedeutet wurde, zu den „Werken Christi“, von denen Johannes der Täufer im unmittelbar folgenden Kontext höre (11,2-6). Die Aussendungsrede sei also ausschließlich an die Zwölf adressiert (vgl. 10,1.2.5; 11,1). Dieser Fokussierung auf die Zwölf entspreche die Fokussierung ihrer Mission auf Israel. Aber Israel lehne seinen Messias ab und lade dadurch bewusst Schuld auf sich (v.a. 21,33-46; 27,25), so dass Israel das Gericht Gottes drohe. Weil Israel auch die Werke der Zwölf ablehne, die aber als Werke Christi gelten, würden die Zwölf in Zukunft auf zwölf Thronen sitzend über Israel regieren oder richten (19,28). Auch die Zwölf würden wie ihr Lehrer Jesus abgelehnt und verfolgt werden (10,14ff; 24f vgl. auch 23,29-37). Die Heiden würden zu Hilfs-Instrumenten Israels gegen den Messias und seine Apostel (10,17; mit Bezug zu 20,19). Der Gerichts- und Lohngedanke komme auch im Abschluss der Aussendungsrede vor, wieder würden Jesus und seine Apostel parallelisiert: wer Jesu Apostel (auch „Geringe“ genannt) aufnehme, nehme Jesus auf, und dadurch Gott selbst, dessen Apostel Jesus ist.12 Freyne schließt mit folgendem Fazit:13 Einerseits zeige Mt nur in der Aussendungsrede ein besonderes Interesse an den Zwölf. Die Zwölf hätten für Mt eine herausragende Bedeutung, sie seien eine symbolische Größe in ihrer Mission an Israel. Sie würden in Zukunft die Nation Israel richten, weil Israel die Botschaft der Zwölf abgelehnt habe. Sie hätten eine bleibende besondere Funktion in der Jünger-Gemeinde Jesu als Gründer des „wahren Israel“.14 Das sei auch in 28,16-20 erkennbar, wo Jesus allein die Elf adressiere, sie als seine Delegierten autorisiere und aussende. Andererseits mache Mt klar, dass er die Apostel als Teil der Jüngerschaft betrachtet: alles, was den Jüngern gelte, gelte auch den Zwölf; das mache Mt klar durch den redaktionell geprägten Ausdruck „zwölf Jünger“ und durch die verschiedenen Parallelen zwischen den Anweisungen an die Zwölf in Mt 10 und den Anweisungen an die Jünger im restlichen MtEv.15 Auch rechnet Freyne damit, dass die „Schriftgelehrten“, „Weisen“ und „Propheten“ (23,34) ebenso wie die Zwölf zu Jesu „Aposteln“ gehören könnten. Die Zwölf seien zwar unwiederholbar, aber „offen“ für andere Mitarbeiter Jesu, sie würden zu Beispielen und „Typen“ für alle, die die gleiche Arbeit machen. Nun zu den „Zwölf als Jünger“ bei Freyne: Die Zwölf seien nicht nur dort gemeint, wo sie explizit genannt sind, sondern manchmal auch dort, wo sie allgemein „Jünger“ heißen. Ausgangspunkt für Freynes Debatte, wie man die Zwölf als eigentliche Referenten des Ausdrucks „Jünger“ entdeckt, ist die These von Martinez, dass ab 10,1-4 der Ausdruck „die Jünger“ erst nach 10,1 auftauche und dann ausschließlich die Zwölf meine, der Ausdruck „seine Jünger“ hingegen entweder einige der Zwölf (vor 10,1), die Zwölf oder mehr als die Zwölf.16 Freyne hält dagegen, dass 15,23-25 und 16,13-20 Martinez’ These widerlegen würden, und er selbst plädiert stattdessen für eine austauschbare Gebrauchsweise beider Ausdrücke – mit oder ohne possessiv gebrauchtem Pronomen – bei Mt. Auch solle man nicht die Kontexte der synoptischen Parallelen zur Identifizierung der Personen zu Rate ziehen, weil die individuelle Theologie des Evangelisten zähle. Vielmehr solle man die exakte Bedeutung der Begriffe wie „seine Jünger“ an der redaktionellen Bearbeitung des Stoffes erkennen, welcher durch Einleitungsformeln eingeführt wird. In allen restlichen vier großen Reden des MtEv habe der Redaktor den Stoff so konzipiert, dass damit der allgemeine Jünger bzw. die Gemeinde des Matthäus angesprochen werde, und keine spezielle Gruppe (wie z.B. die Zwölf), unabhängig davon, ob jeweils der Ausdruck „seine Jünger“ oder „die Jünger“ die Rede einleite und den Zuhörer benenne.17 Freyne beendet mit folgender Schlussfolgerung dieses Unterkapitel zum Redestoff:

„The original companions of Jesus had a twofold aspect, being his community and at the same time active co-operators in his mission. Matthew, in presenting Jesus as the teacher of his community of disciples, is interested in the first aspect. He is thereby enabled to project a double image: the community of Jesus is typical for the christian community of every age.“18

Zum gleichen Ergebnis kommt Freyne bei der Analyse der redaktionellen Veränderungen im Erzählstoff:19 Mt habe die Wundererzählungen in katechetischer Absicht zu Abhandlungen über wahre Jüngerschaft gemacht.20 Freyne beschließt dieses Unterkapitel zu den „Zwölf als Jünger“ mit folgendem Ergebnis:

„It is unnecessary to look in Matthew for any clearly defined distinction between the community of believers and their apostolic leaders, exept perhaps on the occasion of the introduction of the group at 9:37-10,1ff and of course 16:16ff and 28,16ff. The apostle is first and foremost a disciple, and because of this character the instruction which he receives, the explanations which he looks for, even his failures, are community events valid for all who would model themselves on them by seeking to follow Jesus.“21

Keine Studie der letzten Jahrzehnte hat den Begriff und das Konzept μαθητής im MtEv so gründlich bearbeitet wie Michael J. Wilkins in Discipleship in the Ancient World and Matthew’s Gospel.22 Indem Wilkins in seiner Studie die kompositionskritische Methode wählt, schlägt er einen Mittelweg ein zwischen der klassischen Redaktionskritik und der damals neu aufgekommenen Narrativen Kritik.23 Vertreter der Kompositionskritik beachten zwar ebenso wie die klassischen Redaktionskritiker die redaktionellen Veränderungen des Traditionsstoffes („diachrone“ bzw. „horizontale“ Leserichtung), aber sie messen dem redaktionell unbelassenen Traditionsstoff ebenfalls eine theologische Bedeutung zu, weswegen sie sich auf das textuelle „Endprodukt“ konzentrieren („synchrone“ bzw. „vertikale“ Leserichtung).24 Für Wilkins Vorgehensweise bedeutet das: zuerst sollen alle mt Vorkommen von „Jünger“ durch einen Vergleich mit den Quellen des MtEv auf Gemeinsamkeiten und Einzigartigkeiten abgesucht werden (diachron bzw. horizontal), bevor die Vorkommen innerhalb der „story“ des MtEv betrachtet werden (synchron bzw. vertikal).25 Neben der Kompositionskritik wendet er übrigens zwei weitere Forschungsinstrumente an: erstens die moderne Linguistik, demzufolge nicht die Geschichte des Begriffs, sondern die Geschichte des Konzepts μαθητής untersucht werden müsse, und zweitens die Sozialgeschichte, so dass er verschiedene Meister-Schüler Verhältnisse im AT, Frühjudentum und in der hellenistischen Literatur untersucht.26 Wilkins behandelt die zwölf Jünger im Zusammenhang mit den Jüngern unter „Matthew’s Use of the Term Μαθητής“, dem m.E. wichtigsten Teil seiner Arbeit.27 Das Ergebnis seiner dortigen Analyse ist, dass Mt ein großes Interesse an den Jüngern zeige, und seine redaktionelle Arbeit Jesus als „supreme Lord and Teacher“ der historischen Jünger und der nachösterlichen Gemeinde hervorgehoben habe. Und durch den häufig eingesetzten Begriff μαθητής habe er die meisten Passagen zu Lehreinheiten gemacht: „Matthew’s gospel is at least in part manual on discipleship.“28 Seine These, dass Mt durch den Begriff μαθητής über die historischen Jünger hinaus die mt Gemeinde adressieren wollte, entwickelte er bezeichnenderweise im Kontext seiner Verhältnisbestimmung Zwölf – Jünger (IV.B.3.)! Das Verhältnis Zwölf – Jünger behandelt er im Unterkapitel II.A.2. „Οἱ δώδεκα completed“ und im Kapitel IV.B. „The Μαθηταί and the Twelve“: Wenn Mt nun die Zwölf mit Vorliebe „Jünger“ nenne, dann akzeptiere und übernehme Mt die Tendenz des Mk, die Jünger mit den Zwölf zu identifizieren („identify“).29 Das beweisen erstens die Ersetzungen des mk „Zwölf“ in Mk 4,10 oder 9,35 mit „Jünger“ in Mt 13,10 oder 18,1. Zweitens beweisen das die Ergänzungen des mk „Zwölf“ zu „Zwölf Jünger“ in Mt 10,1; 20,17; 26,20. Drittens beweise das die redaktionelle Formulierung „zwölf Jünger“ in 11,1, die keine synoptische Parallele habe. Deswegen kann Wilkins schlussfolgern: „Matthew’s longer title, οἱ δώδεκα μαθηταί, assumes an identification of οἱ δώδεκα with οἱ μαθηταί.“30 Wilkins gelangt also im Wesentlichen zu den gleichen Ergebnissen wie Luz (s.o. I,1.2.1). Im Epilog nennt er eine zusätzliche Begründung: aus Platzgründen muss der Jüngerkreis klein gewesen sein.31 Die Identifikation baue Mt aber nicht weiter aus, er könne das auch gar nicht, da Mk die Identifikation bereits komplett habe, stattdessen mache Mt sie nur expliziter als Mk.32 Das bedeutet für Wilkins allerdings nicht, dass Mt den Begriff „Jünger“ – einem terminus technicus gleich – ausschließlich auf die Zwölf anwendet:33 „While it may be accepted that Mark and Matthew generally identified the terms, it is questionable whether they intended to limit the term μαθητής exclusively to the Twelve.“34 S.E. hätten Martin Hengel und Benno Przybylski gezeigt, dass die beiden ersten Evangelisten neben den Zwölf auch andere „Jünger“ kennen (z.B. 8,19.21; 10,24f42; 27,57).35 In seinem Aufsatz „Named and Unnamed Disciples in Matthew: A Literary-Theological Study“ geht Wilkins auf diese Stellen ein und zählt u.a. Josef von Arimathäa (27,57) zu den wenigen „Jüngern“ außerhalb des Zwölferkreises.36