Die zwölf Leben des Samuel Hawley - Hannah Tinti - E-Book

Die zwölf Leben des Samuel Hawley E-Book

Hannah Tinti

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Beschreibung

Als Samuel Hawley mit seiner Tochter Loo nach Olympus zieht, soll das kleine Küstenstädtchen ihr Zuhause werden. Doch auch nachdem das ständige Umherziehen ein Ende hat, finden die beiden nur schwer Anschluss. Die Geheimnisse um Hawleys Vergangenheit machen die Einwohner von Olympus misstrauisch. Wieder sind Vater und Tochter sich gegenseitig die einzigen Freunde. Als Loo ihrer Großmutter begegnet, erfährt sie, dass hinter dem Unfalltod ihrer Mutter mehr steckt, als sie bisher glaubte. Loo wird eigenständiger, verliebt sich zum ersten Mal und sucht selbst nach Antworten. Hawleys Narben zeugen von seiner geheimnisvollen Geschichte, lange bevor es Loo gab. Und so sehr er auch versucht, seine Tochter zu schützen: Sein früheres Leben als Krimineller holt die beiden wieder ein.

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Seitenzahl: 662

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

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» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Hannah Tinti, 1973 geboren, wuchs in Salem, Massachusetts, auf. Sie studierte Literatur an der New York University und ist Herausgeberin der Zeitschrift One Story. 2004 veröffentlichte sie den Erzählband Tanz der Tiere, der für den PEN/Hemingway Award nominiert und in mehr als sechzehn Sprachen übersetzt wurde. Ihr erster Roman, Die linke Hand, erschien 2009 auf Deutsch und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem New York Times Notable Book of the Year. Sie lebt heute in Brooklyn.

ÜBER DAS BUCH

Als Samuel Hawley mit seiner Tochter Loo in das kleine Küstenstädtchen Olympus in Massachusetts zieht, sind die Jahre des Umherziehens und der ständigen Schulwechsel für die 12-Jährige vorbei. Doch auch jetzt fällt es ihr vorerst schwer, Anschluss zu finden. Die Geheimnisse um ihren Vater und ihre verstorbene Mutter machen sowohl die Einwohner von Olympus als auch Loo misstrauisch. Je älter sie wird, desto eigenständiger wird sie – und zugleich ihrem Vater immer ähnlicher, ob sie es nun will oder nicht.

»Was Hannah Tinti über Väter, Töchter und Zeit weiß, könnte ein Buch füllen – und das tut es. Mutig, fesselnd und originell.«

Meg Wolitzer

»Welch verführerischer Roman, welch lebendige Sprache, die tief in die Seelen zu schauen vermag, welch umwerfende Symphonie!«

The New York Times Book Review

Hawley

Als Loo zwölf Jahre alt war, brachte ihr Vater ihr das Schießen bei. In seinem Zimmer hatte er einen Koffer voller Waffen, andere Schießeisen waren in Kisten im ganzen Haus verteilt. Loo hatte die Waffen schon oft gesehen, wenn ihr Vater sie abends am Küchentisch auseinandernahm und reinigte, sie stundenlang ölte, polierte und bürstete. Er hatte ihr verboten, sie anzufassen, und so versuchte Loo, möglichst viele Geheimnisse aus der Distanz zu lüften. Bis zu jenem Tag, an dem sie die Geburtstagskerzen auf zwölf gekauften Schokoladentörtchen ausblies, die sternförmig auf einem Teller arrangiert waren, und Hawley daraufhin die Holzkiste im Wohnzimmer öffnete und das Geschenk, auf das sie schon so lange gewartet hatte – das Gewehr ihres Großvaters –, in ihre Arme legte.

Jetzt wartete Loo im Flur, während ihr Vater einen Karton mit Munition vom Garderobenschrank hob. Daraus nahm er einige Randfeuerpatronen Kaliber 22 – lang für Büchsen sowie Winchester Magnum – und einige 9mm Hornady 7,45 g. Die Kugeln klapperten in ihren Pappschachteln, als er sie in seine Tasche schob. Loo achtete auf jedes Detail, als wäre die Patronenwahl ihres Vaters Teil eines Tests, den sie später bestehen musste. Hawley griff nach einer Remington Model 5, einer Winchester Model 52 und seinem Colt Python.

Wann immer Loos Vater das Haus verließ, trug er eine Waffe bei sich. Jede von ihnen hatte eine Geschichte. Da war zunächst das Gewehr, das Loos Großvater im Krieg getragen hatte und das jetzt Loo gehörte, mit einer Kerbe für jeden gefallenen Feind. Dann die Schrotflinte von einer Pferde-Ranch in Wyoming, auf der Hawley eine Zeit lang gearbeitet hatte. Außerdem die beiden silbernen Duellpistolen in ihrem glänzenden Holzkoffer, beim Pokern gewonnen in Arizona. Der Ruger-Revolver, den er in einer Tüte ganz hinten in seinem Kleiderschrank aufbewahrte. Die Sammlung Deringer-Taschenpistolen mit Perlmuttgriff, die er in der untersten Schublade seiner Kommode versteckte. Und der Colt mit dem Stempel »Hartford, Connecticut« auf der Seite.

Der Colt hatte keinen fixen Aufbewahrungsort. Loo hatte ihn schon überall liegen sehen, unter der Matratze ihres Vaters, offen auf dem Küchentisch, auf dem Kühlschrank und einmal sogar auf dem Badewannenrand. Der Colt war der Schatten ihres Vaters. Er lag immer da, wo dieser gerade gewesen war. Wenn Hawley nicht im Zimmer war, berührte sie manchmal den Griff. Er war aus Palisanderholz und fühlte sich glatt an, aber sie nahm den Colt nie in die Hand oder entfernte ihn von dem Ort, an dem ihr Vater ihn abgelegt hatte.

Nun steckte Hawley ihn in seinen Gürtel, bevor er sich die Gewehre über die Schulter hängte. »Na komm, du Unruhestifterin«, sagte er und hielt für sie beide die Tür auf. Er führte seine Tochter in den Wald hinter dem Haus, hinunter in die Schlucht, in der ein Flüsschen über moosbewachsene Felsen rauschte und sich anschließend ins Meer ergoss.

Es war ein klarer Tag. Die Blätter waren von den Ästen gefallen und bildeten auf dem Waldboden einen raschelnden Teppich aus Purpur, Gelb und Orange. Loos Vater blieb vor einem alten Ahornbaum stehen, an dem ein rostiger Farbtopf hing. Er band ihn los, brach den Deckel mit einem Messer auf und nutzte den am Henkel befestigten Pinsel, um den Stamm einer etwa hundert Meter entfernten Kiefer mit einem weißen Farbtupfer zu markieren, bevor er zurück zu seiner Tochter und den Waffen ging.

Hawley war Mitte vierzig, sah jedoch jünger aus. Seine Hüften waren immer noch schmal, seine Beine kräftig. Er war groß, wie ein Langschiff, mit breiten Schultern, die ein wenig hingen von all den Jahren, in denen er mit Loo auf dem Beifahrersitz seinen Pick-up kreuz und quer durchs Land gelenkt hatte. Seine Hände waren schwielig von seinen Gelegenheitsjobs – Autos reparieren oder Häuser anstreichen. Entlang seiner Fingernägel hatten sich Öl und Schmutz eingegraben, und seine dunklen Haare waren immer ein wenig zu lang und ungekämmt. Aber seine Augen waren tiefblau, und sein kantiges Gesicht war auf eine sehr attraktive Weise verlebt. Wo auch immer sie während ihrer jahrelangen Odyssee angehalten hatten, ob zum Frühstück in einem Diner am Highway oder in einer Kleinstadt, in der sie eine Weile Station machten – überall konnte Loo beobachten, wie die Frauen sich unwiderstehlich von ihm angezogen fühlten. Doch ihr Vater presste stets die Lippen zusammen und spannte die Kieferknochen an und hielt damit jede und jeden davon ab, ihm zu nahe zu kommen.

Inzwischen fuhr der Pick-up nirgendwo mehr hin, außer zum Strand, wo sie eimerweise Venusmuscheln ausgruben. Quahogs nannte Hawley sie. Oder auch Littlenecks, Topnecks, Steamers oder Cherrystones, je nach Größe und Farbe. Er spürte sie mit einer Harke auf, während Loo einen langen, dünnen Spaten bevorzugte, mit dem sie tief in den Boden stechen konnte, bevor die Tiere sich eingruben. Jeden Tag krempelten Vater und Tochter früh am Morgen ihre Hosen bis übers Knie hoch und schlüpften in ihre Gummistiefel. Die Muscheln wurden in den Salzmarschen und im Watt geerntet, am Sandstrand und bei Ebbe entlang des Ufers.

Hawley nahm die Remington von der Schulter und zeigte Loo, wie man den Ladestreifen bestückte. Fünf Patronen legte er ein, eine nach der anderen. Dann schob er den Streifen ins Magazin und ließ es einrasten.

»Ein gutes Übungsgewehr für den Anfang. Damit kannst du nicht allzu viel Schaden anrichten. Trotzdem, lass die Sicherung drin. Schau dir dein Ziel genau an und alles, was dahinter ist. Richte die Waffe auf nichts, auf das du nicht wirklich schießen willst.«

Er schob den Verschlusshebel nach hinten und wieder nach vorn, wodurch die erste Patrone ins Lager rutschte. Anschließend gab er ihr das Gewehr. »Stell dich fest auf die Füße«, ordnete er an. »Knie locker. Dann holst du Luft und lässt den halben Atemzug wieder raus. In diesem Moment betätigst du den Abzug, beim Ausatmen. Nicht daran ziehen – nur ein wenig dagegendrücken.«

Das Gewehr fühlte sich kühl und schwer an, Loos Arme zitterten ein wenig, als sie den Schaft auf Schulterhöhe hob. Sie hatte so viele Jahre davon geträumt, endlich eine Waffe ihres Vaters in den Händen zu halten, dass sie auch jetzt das Gefühl hatte zu träumen. Nachdem sie ihr Ziel anvisiert hatte, zog sie den Schaft dicht zu sich heran, hob den Ellbogen und löste als Letztes, als Allerletztes, die Sicherung.

»Worauf wirst du schießen?«, fragte ihr Vater.

»Auf den Baum dort hinten«, antwortete Loo.

»Richtig.«

Sie stellte sich die Geschossbahn der Kugel vor, sah sie durch die Luft fliegen und ihre eigene Geschichte kreieren. Loo kannte sämtliche Teile dieser Waffe und spürte, wie jedes einzelne davon – Schlagfeder, Ladelöffel, Patronenlager und Schlagbolzen – mit den anderen zusammenarbeitete und sich in die richtige Position verschob, als sie den Abzug berührte.

Die Explosion, die folgte, war mehr ein dumpfer Knall als ein Krachen. Der Gewehrkolben an ihrer Schulter bewegte sich kaum. Loo erwartete einen gewissen Kick, einen erregten Schauder, der ihren Körper durchlief, spürte jedoch lediglich eine kleine Blase der Erleichterung in sich aufsteigen.

»Sieh es dir an«, forderte ihr Vater sie auf.

Loo ließ den Arm sinken. In der Ferne erkannte sie den weißen Fleck am Stamm der Kiefer. Er war unversehrt. »Ich habe ihn verfehlt.«

»Das passiert jedem.« Hawley kratzte sich die Nase. »Deine Mutter hat auch danebengeschossen.«

»Wirklich?«

»Beim ersten Mal«, antwortete er. »Zieh den Verschluss nach hinten.«

»Hat sie mit diesem Gewehr geschossen?«

»Nein«, sagte Hawley. »Sie mochte den Ruger.«

Loo zog den Ladehebel zurück, woraufhin die Patronenhülse durch die Luft flog und auf dem Waldboden landete. Als sie den Verschluss wieder nach vorn schob, glitt die nächste Patrone ins Lager. Ihre Mutter Lily war so früh gestorben, dass Loo sich nicht an sie erinnern konnte. Sie war in einem See ertrunken, ein Unfall. Hawley hatte Loo die genaue Stelle gezeigt, an der es passiert war, auf einer Karte von Wisconsin. Ein kleiner blauer Punkt, der verschwand, sobald sie ihre Fingerkuppe darauflegte.

Hawley sprach nicht gern darüber, und wenn er es doch tat, flimmerte die Luft immer ein wenig, als würde Lilys Name Gefahr heraufbeschwören. Das meiste, was Loo über ihre Mutter wusste, stammte aus einem Karton voller Erinnerungsstücke, einem mobilen Schrein, den ihr Vater im Badezimmer jedes ihrer Wohnorte neu errichtete – in Motelzimmern und Wohnungen auf Zeit, in Stadtapartments und Waldhütten. Und nun eben in diesem Haus auf dem Hügel, dem Ort, von dem Hawley sagte, dass er ihr Zuhause werden würde.

Zuerst wurden die Fotos aufgehängt, rund um die Badewanne und das Waschbecken. Ihr Vater befestigte jedes Bild voller Sorgfalt, damit es nicht einriss – Aufnahmen von Loos Mutter, mit ihren langen schwarzen Haaren, ihrer blassen Haut und ihren grünen Augen. Als Nächstes arrangierte er halb leere Flaschen Shampoo und Spülung, eine Puderdose und einen roten Lippenstift, eine verbogene Zahnbürste, einen seidenen, auf dem Rücken mit Drachen bestickten Bademantel und Dosen mit Lilys Lieblingskonserven – Ananas und Kichererbsen – sowie handbeschriebene Zettel, die er nach ihrem Tod gefunden hatte: eine Einkaufsliste, eine Liste mit allem, was sie bis zum folgenden Samstag erledigen wollte, einen Strafzettel, auf dessen Rückseite sie Fragmente aus einem Traum notiert hatte. Altes Auto mit Scharnieren, das sich zu einem Koffer zusammenfaltet. Wann immer Loo auf die Toilette ging oder ein Bad nahm, hatte sie die Wörter ihrer Mutter vor Augen, sah, wie die Buchstaben mit den Jahren verschwammen, wie die Tinte durch den Wasserdampf verblich.

Die tote Lily war ein allgegenwärtiger Bestandteil ihres Lebens. Machte Loo etwas gut, sagte ihr Vater: Genau wie deine Mutter. Und machte sie etwas nicht so gut, sagte er: Das würde deiner Mutter gar nicht gefallen.

Loo drückte ab. Wieder und wieder betätigte sie den Abzug und lud nach, über eine Stunde lang. Hin und wieder sprengte sie ein wenig Rinde vom Baum, verfehlte den weißen Fleck jedoch jedes Mal, bis zu ihren Füßen ein ganzer Haufen Patronenhülsen aus Messing lag und ihr Arm vom Gewicht des Gewehrs schmerzte.

»Die Markierung ist zu klein«, beschwerte sie sich. »Die treffe ich nie.«

Hawley zog einen Tabakbeutel aus der Tasche und ließ ihn vor seiner Tochter baumeln. Loo legte das Gewehr ab, ging zu ihm und nahm den Beutel und ein Päckchen Zigarettenpapier entgegen. Sie faltete eines der Blättchen in der Mitte und füllte es entlang des Knicks mit Tabak. Mit dem Filter rollte sie das Ganze in Form, leckte über die Papierkante, bevor sie die Zigarette zuklebte. Ihr Vater nahm die Zigarette, zündete sie an, ließ sich auf einem Felsen nieder und drehte sich zur Sonne. Er ließ sich gerade einen Bart wachsen, wie immer, wenn es kälter wurde, und kratzte sich die drahtigen braunen Barthaare.

»Du denkst zu viel.«

Loo warf ihm den Beutel zu und griff wieder nach dem Gewehr. Ihr Vater hatte während des Schießunterrichts kaum gesprochen, als erwartete er von ihr, dass sie bereits alles wusste. Am Anfang war sie noch enthusiastisch gewesen, aber jetzt verlor sie allmählich den Mut – genau wie manchmal im Badezimmer, umgeben von den Wortfetzen, den Lieblingskonserven, den Bildern von der unangestrengten Schönheit ihrer Mutter.

»Ich kann das nicht«, sagte sie.

Die Flut kam. Loo hörte, wie jenseits der kleinen Schlucht, in der sie standen, das Meer anschwoll, wie eine Welle nach der anderen ans Ufer rollte. Hawley verstaute den zusammengerollten Tabakbeutel wieder in seiner Tasche.

»Nichts steht zwischen dir und diesem Baum.«

»Ich stehe dazwischen.«

»Dann geh aus dem Weg.«

Loo sicherte das Gewehr und legte es zur Seite. Mit den Fingern grub sie einen Stein aus der Erde und warf ihn so weit sie konnte in den Wald hinein. Er flog durch die Luft und landete auf halber Strecke zu der weißen Markierung krachend im Gebüsch. Vögel flatterten auf. Über ihnen flog ein Flugzeug vorbei, und Loo spähte durch die Äste zum aufblitzenden Aluminium am Himmel. Zehntausend Meter entfernt, und doch wirkte es leichter zu treffen als der weiße Fleck.

Hawleys Zigarette war ausgegangen, während er seine Tochter beobachtet hatte. Er zündete ein Streichholz an und hielt es an das erloschene Ende, ließ es einmal, zweimal aufglühen, indem er an der Zigarette zog, und drückte sie schließlich an dem Felsen aus, auf dem er saß. Dann stieß er eine Rauchwolke aus.

»Du brauchst eine Maske.« Hawley hob seine großen Hände, bedeckte damit sein Gesicht und öffnete die Finger, sodass sie einen Rahmen um seine Augen und eine Brücke quer über seine Nase bildeten. Er sah plötzlich aus wie ein Fremder, bis er die Maske absetzte und wieder ihr Vater wurde.

»Versuchs mal«, sagte er.

Loos Hände waren nicht so groß wie seine, erfüllten jedoch ihren Zweck und schirmten sie vor dem Wald und ihrer eigenen Enttäuschung ab. Als wäre sie ein Pferd mit Scheuklappen. Spähte sie nach links oder rechts, verschwamm alles vor ihren Augen oder verschwand ganz.

»Wie soll ich denn so schießen?«

»Nutze die Maske, um dich auf dein Ziel zu fokussieren, und greife danach zum Gewehr.«

Loo drehte sich wieder zu dem Baum mit der weißen Markierung. Die Sonne stand inzwischen schräg am Himmel und brachte den weißen Farbtupfer zum Leuchten. Alles um den Baum herum – die Erde, der Himmel, die Äste und Zweige – war plötzlich nicht mehr da. So musste ihr Vater die Welt sehen, als würde er permanent durch ein Visier schauen.

Genau in diesem Moment gerieten hinter der Markierung die Blätter in Bewegung. Etwas rührte sich im Wald. Loo ließ die Hände sinken und hielt die Luft an. Sie hörte nur das Rauschen des Windes, das Rascheln der hin und her wogenden Birkenblätter, den fernen Widerhall des Flugzeugs in den Wolken, das Kratzen eines Eichhörnchens, das einen Baumstamm hinaufkletterte. Aber ihr Vater lauschte auf etwas anderes. Sein Kinn war gesenkt, sein Blick nach links gerichtet, sein Körper bereit.

Hawley war immer auf der Hut, immer in Erwartung. Sein Gesicht war angespannt, ob er nun in die Stadt fuhr, um die Vorräte aufzustocken, oder ob der Postbote an der Tür klingelte oder auf der Straße ein Auto direkt neben ihnen fuhr. Loo hörte ihn manchmal spätabends durchs Wohnzimmer gehen und die Fensterverschlüsse überprüfen. Wenn er am Strand Venusmuscheln ausgrub, drehte er dem Meer grundsätzlich den Rücken zu. Es waren nur Kleinigkeiten, doch sie fielen ihr auf. Und nun fiel ihr auf, dass sein ganzer Körper erstarrte. Er griff nach hinten an seinen Gürtel, und als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie den Colt.

Loo drehte sich um und hob das Gewehr vom Boden auf. Ihre Finger umklammerten fest den Griff. Sie ließ den Blick über die Bäume schweifen, konnte jedoch nichts entdecken. Ihr Vater war aufgestanden und starrte zu der Kiefer hinüber. Zu der kleinen, weißen, hundert Meter entfernten Markierung jenseits der Schlucht.

»Loo! Jetzt!«

Er rief ihren Namen, als ob ihrer beider Leben davon abhinge. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung flog der Colt nach vorn wie eine Verlängerung seines Arms und feuerte in den Wald hinein. Wieder und wieder blitzte der Lauf des Revolvers auf, und das Dröhnen der Schüsse hallte von den Hügeln wider. Loo ging in Stellung, hob das Gewehr auf Brusthöhe an, zog den Verschluss und schoss, zog den Verschluss und schoss, zog den Verschluss und schoss. Erst beim fünften Mal merkte sie, dass ihr Vater längst aufgehört hatte und dass auch ihr die Patronen ausgegangen waren. Klick, klick, klick.

Loo ließ den Gewehrlauf sinken und erwartete … nun ja, sie war sich nicht ganz sicher, was sie erwartete. Ein Monster, das ihnen zwischen den Bäumen auflauerte. Einen Schatten aus der Vergangenheit ihres Vaters. Aber da war nur die schmale Kiefer, auf der ein neuer gelber Streifen zu sehen war, als hätte Hawleys Colt die Rinde direkt vom Stamm geschält, und einen halben Meter darunter, in der Mitte des weißen aufgemalten Flecks, drei dunkle Löcher.

Loos Vater rannte zur Kiefer hinüber, um nachzusehen. Er zog sein Messer aus dem Stiefel und grub damit eine der Kugeln aus dem Stamm. Dann kam er zu Loo zurück und ließ es in ihre Hand fallen: ein kleines Stück goldglänzendes Metall. Die Kugel stammte aus ihrem Gewehr, klein, glänzend, hart und geborsten. Durch den Aufprall in eine neue Form gepresst. Hawley lächelte, mit strahlenden Augen.

Schließlich sagte er: »Genau wie deine Mutter.«

Der rutschige Mast

Loo war ihr ganzes bisheriges Leben von Ort zu Ort gezogen. Sie war es gewohnt, immer wieder alles hinter sich zu lassen. Hawley schlug für sechs Monate oder ein Jahr ihr gemeinsames Lager in irgendeiner Kleinstadt auf, und eines Tages kam Loo von der Schule, der Pick-up war gepackt und sie fuhren die Nacht durch oder sogar zwei Nächte oder sogar Wochen – stiegen in einem Motel nach dem anderen ab oder übernachteten manchmal auf dem Rücksitz unter einem alten Bärenfell, mit verriegelten Autotüren. Als Loo noch kleiner war, hatte sie sich auf jedes neue Abenteuer gefreut, aber im Laufe der Jahre wurde es zunehmend schwierig, immer wieder an einer neuen Schule anzufangen, neue Freunde zu finden, diejenige zu sein, die die Insiderwitze nicht verstand. Sie begann, die häufigen Umzüge zu fürchten. Andererseits sehnte sie den nächsten Abschied manchmal auch herbei, weil er bedeutete, dass sie sich nicht länger um Anpassung bemühen musste, sondern einfach den Platz einnehmen konnte, auf den sie gehörte: den Beifahrersitz des Pick-ups ihres Vaters, wenn sie gemeinsam den Highway hinunterrasten.

Sie nahmen jeweils nur wenige Habseligkeiten mit. Ihr Vater packte seine Waffen und den Karton mit Lilys Sachen aus dem Badezimmer ein und Loo ihre Zahnbürste und mehrere Paare saubere Socken, ein kurzes Taschenteleskop, das Hawley ihr gekauft hatte, damit sie die Sterne beobachten konnte, sowie ihre Planisphäre – eine kreisförmige, etwa esstellergroße drehbare Karte aus Plastik und Karton, anhand derer man die Sternbilder nachverfolgen konnte. Sie hatte früher ihrer Mutter gehört, und Hawley hatte sie Loo zum sechsten Geburtstag geschenkt. An jedem neuen Ort wartete sie, bis es dunkel war, und drehte die Karte dann auf das richtige Datum und die richtige Uhrzeit, woraufhin diese ihr Kassiopeia, Andromeda, Taurus und Pegasus zeigte. Selbst wenn die Straßenbeleuchtung zu hell war und nur der Große Wagen und der Gürtel des Orion zu sehen waren, fühlte sie sich sofort heimisch, wo auch immer sie sich gerade befanden.

Sobald am neuen Wohnort das spärliche Hab und Gut ausgepackt war, kaufte Hawley neue Kleidung, neue Spielsachen für seine Tochter und was immer sie sonst noch brauchten. Dieser Prozess war mit einer gewissen Vorfreude verbunden, und Loo genoss es, den steifen Rücken eines neu gekauften Buches knacken zu lassen, das sie schon dreimal gelesen hatte. Am alten Wohnort verabschiedete sie sich nie von den Nachbarn oder den Lehrern, selbst wenn diese nett zu ihr gewesen waren. Auch von ihren Freunden verabschiedete sie sich nicht – falls sie überhaupt welche gefunden hatte, was normalerweise nicht der Fall war.

Hawley und Loo wärmten sich Asia-Nudeln in Tassen mit heißem Wasser auf, die eigentlich für Tee gedacht waren. Sie öffneten Suppenkonserven mit Jagdmessern und erhitzten sie über Dosen mit Brenngel. Zu besonderen Anlässen bestellten sie sich chinesisches Essen. Egal, ob sie in Kalifornien oder Oklahoma waren, es gab immer irgendwo einen asiatischen Lieferdienst. Frittierte Frühlingsrollen, Wan-Tan-Suppe, Frühlingszwiebel-Pfannkuchen und Hoisin-Soße waren für Loo von Kindheit an vertraute Gerichte mit tröstender Wirkung.

An ihrem elften Geburtstag waren sie gerade in San Francisco, wo es so viele chinesische Schnellrestaurants zur Auswahl gab, dass Hawley ein Dutzend Speisekarten einsammelte und seine Tochter aussuchen ließ, was auch immer sie wollte. Als er beladen mit gebratenem Reis, Sesamnudeln und Mu-Shu-Hühnchen zurück in ihr Motelzimmer kam, hatte Loo ein Schachspiel auf dem Boden aufgebaut. Es gehörte zu einem Brettspiel-Set, das er ihr – eingewickelt in die Comic-Seite der Zeitung – am Morgen zum Geburtstag überreicht hatte. Sie hatten den ganzen Nachmittag zusammen Dame gespielt, aber das Set enthielt auch Schachfiguren.

»Was Schach angeht, muss ich leider passen«, sagte Hawley. »Ich habe keine Ahnung, wie man das spielt.«

»Es gibt doch eine Anleitung«, erwiderte Loo. »Jede Figur bewegt sich anders. Der Turm kann vor und zurück oder nach rechts und links, der Läufer diagonal versetzt werden, und die Dame geht, wohin sie will.«

»Lass uns essen, bevor alles kalt wird.«

Hawley öffnete sich ein Bier und schaltete den Fernseher ein. Sie setzten sich auf die Betten, ließen sich den Reis und die Nudeln schmecken und sahen sich einen alten Marx-Brothers-Film an. Als er zu Ende war, sammelte Hawley die Essensbehälter ein und warf sie in eine Tüte, während sich Loo wieder zu ihrem Spiel auf den Boden setzte. Normalerweise spielten sie nach dem Abendessen Karten. Gin Rommé, Mau-Mau oder Poker. Als Pokerchips benutzten sie Hawleys Kleingeld, und der Sieger durfte sich den Nachtisch aus dem Snackautomaten aussuchen. Aber Loo hatte heute Lust auf etwas Neues. Als sie am Morgen ihr Geschenk ausgepackt hatte, hatten die Schachfiguren sofort ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie las noch einmal die Spielanleitung durch.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Hawley.

»Ich möchte es selbst herauskriegen.«

»Wie du willst.« Hawley band die Mülltüte zu, steckte seinen Colt in den Gürtel und zog sein Hemd darüber. Dann nahm er den Schlüssel und schloss das Zimmer von außen ab. Loo hörte, wie sich seine Schritte Richtung Mülltonnen entfernten.

Sie wählte die Figur des Springers und führte mit ihm einen L-förmigen Spielzug aus, zwei Felder nach vorn und eins nach links. Dann stand sie auf, ging um das Brett herum und setzte sich auf die gegenüberliegende Seite. Das Spiel war für sie ein Rätsel, das es zu knacken galt. Als Nächstes bewegte sie einen Bauern. Wieder stand sie auf und ging auf die andere Seite, wo sie erneut einen Spielzug ausführte.

Der Schlüssel glitt ins Schloss. Hawley kam herein, schloss von innen ab, legte den Colt auf seinen Nachttisch, drehte sich eine Zigarette und öffnete das Fenster einen Spalt. Im Fernsehen lief eine Quizsendung, und das Publikum klatschte. Doch Loo wusste, wie man Geräusche aussperrte. Seit sie denken konnte, blendete sie ihre Umgebung aus, wenn sie sich auf etwas konzentrieren wollte, und auf diesen schwarzen und weißen Spielfeldern, auf diesem Stück Karton mit Knick in der Mitte, passierte gerade etwas Aufregendes. Sie spielte mit einer weißen Figur und heckte die raffiniertesten Spielstrategien aus, die sofort in den Hintergrund traten, sobald sie nach einer schwarzen Figur griff. Schließlich wollte diese Seite ebenfalls gewinnen.

Loo spielte, bis der Himmel vor dem Motelfenster dunkel wurde und die Neonlichter von der Straße aufs Spielbrett fielen. Am Schluss waren nur noch zwei Könige und ein schwarzer Turm übrig. Da sie es nicht schaffte, mit dem Turm den weißen König schachmatt zu setzen, benutzte sie ihn, um den Herrscher übers Spielbrett zu jagen. Beide Könige, der schwarze und der weiße, bewegten sich Schritt für Schritt in verschiedene Richtungen, bis Loo die Geduld verlor und alles mit dem Arm vom Spielbrett fegte.

Der Fernseher war immer noch an. Inzwischen lief eine andere Quizsendung, und der Kandidat versuchte, auf die richtige Antwort zu kommen, während eine große Uhr die Sekunden herunterzählte und das Publikum die Luft anhielt. Hawley widmete der Show keinerlei Aufmerksamkeit. Er blickte nicht einmal in Richtung Bildschirm. Stattdessen saß er im Sessel neben dem Fenster. Der Aschenbecher auf dem Fenstersims war bis oben hin voll mit Zigarettenstummeln, und sein Blick war die ganze Zeit auf Loo gerichtet gewesen.

»Wer hat gewonnen?«

»Niemand«, antwortete sie.

Loo ging ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie wusste auch nicht, warum sie so wütend war. Das Spiel hatte voller Möglichkeiten begonnen, doch am Ende hatte sie sich gefühlt, als wäre sie von Leerräumen umgeben und würde sich Schritt für Schritt ins Nirgendwo bewegen. Sie putzte sich die Zähne und betrachtete die Sachen ihrer Mutter. Nachdem sie die Zahnpasta ausgespuckt hatte, beugte sie sich näher an einen Fotostreifen heran, auf dem ihre Eltern zu sehen waren. Er klebte links vom Waschbecken neben dem Spiegel – eine Sequenz aus vier Aufnahmen, auf denen die beiden dicht aneinandergeschmiegt in einem Fotoautomaten saßen. Ihre Mutter schnitt Grimassen, und ihr Vater rutschte nach und nach aus dem Bild. Sie sahen aus, als würden sie ein wunderbares Geheimnis miteinander teilen, das Loo nie erfahren würde.

Als sie wieder aus dem Badezimmer kam, war der Fernseher ausgeschaltet und das Spiel zugeklappt und weggeräumt. Hawley hatte ihr Bett gemacht und es für sie aufgedeckt, wie er es immer tat, egal, wo sie gerade schliefen, und sei es hinten im Pick-up. Loo schlüpfte unter die Decke, und er stopfte sie um sie herum fest.

»Ich weiß, wo wir als Nächstes hinfahren«, verkündete er geheimnisvoll.

»Wohin denn?«, fragte Loo.

»An einen Ort, an dem du nicht mehr alleine spielen musst.«

»Ich bin gern allein.«

»Ich weiß«, sagte Hawley. »So sollte es aber nicht sein.«

Im darauffolgenden Juni trafen sie in Olympus, Massachusetts, ein, dem Heimatort ihrer Mutter, wie Hawley Loo mitteilte. Lily war als Kind in den eiskalten Fluten des Atlantiks geschwommen, und Loo sollte nun die gleichen Erfahrungen sammeln: auf den Wellen dahingleiten und zum Leuchtturm wandern, mit dem Kanu den Megara hinunterfahren und von der Landspitze zur Insel Tire segeln. Ein normales Leben führen, sagte Hawley. Mit einem echten Haus, Nachbarn, Freunden in ihrem Alter und einer Schule. An einem Ort, an dem sie dazugehörte.

Sie checkten in einem Motel direkt am Meer ein und gingen zum Strand hinunter. Loo baute eine große Sandburg, grub mit dem Finger Fenster in die Türme und versiegelte die Ritzen mit nassem Sand, während Hawley eine Burgmauer errichtete, um die steigende Flut abzuwehren. Er hob einen Burggraben aus, der so tief war, dass er sich von unten mit Wasser füllte. Für die Türen der Burg nahmen sie Muscheln, und die Schutzwälle behängten sie mit Algen. Danach aßen sie Hotdogs und bewunderten den Sonnenuntergang, und als es kalt zu werden begann, taten sie so, als wären sie Monster, und zertrampelten brüllend und stampfend die Burg, begruben all die Könige, Königinnen und Dorfbewohner unter ihren Füßen.

Am nächsten Morgen fuhr Hawley mit Loo zu Mabel Ridge. Mabel Ridge war die Mutter von Loos Mutter, also ihre Großmutter. Hawley war nervös und trug sein bestes Hemd. Auch Loo musste ein Kleid anziehen und sich die Haare bürsten, etwas, was sie nur sehr selten tat. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie alle Knoten entwirrt hatte. Die verfilzten Strähnen, denen sie mit der Bürste nicht beikam, schnitt sie kurzerhand ab, bis ihre Haare zerrupft und ungleichmäßig aussahen, teils sahen sie aus, als hätte ein Tier sie angenagt.

Mabels Haus befand sich in der Nähe eines acht Kilometer langen felsendurchsetzten Waldgebiets namens Dogtown, das zwischen Olympus, Gloucester und Rockport lag. Hawley erzählte Loo, dass heutzutage niemand mehr in Dogtown lebe, das Waldgebiet jedoch vor dreihundert Jahren die Heimat puritanischer Bauern gewesen sei und später Zuflucht für Fischerwitwen, befreite Sklaven, von der Gesellschaft Verstoßene und mehrere Rudel herrenloser verwilderter Hunde, die dem Wald seinen Namen gegeben hätten. Inzwischen sei das Gebiet ein treuhänderisch verwaltetes und von Wanderwegen durchzogenes Vogelschutzgebiet, aber die ausgegrabenen Keller der alten Steinhäuser seien noch da und würden gelegentlich von Landstreichern bevölkert. Hin und wieder werde jemand im Wald erstochen oder ausgeraubt.

»Deshalb gehst du bitte nicht dort hinein«, warnte Hawley. »Versprich es mir.«

Loo versprach es. »Woher weißt du das alles?«

»Von deiner Mutter.« Hawley bog von der Straße ab und parkte den Pick-up vor einem heruntergekommenen Haus mit schiefer Eingangstreppe, abblätternder Fassadenfarbe und einem rostigen Pontiac in der Einfahrt.

»Ist sie hier aufgewachsen?«

Hawley nickte, und Loo drückte ihre Nase ans Autofenster. An der Haustür hing ein alter Messing-Türklopfer in Form einer Ananas.

»Deine Großmutter und ich müssen ein paar Dinge besprechen«, sagte Hawley. »Bleib bitte erst mal im Auto.«

»Ich will auch mit rein.«

»Darfst du ja«, beruhigte Hawley sie. »Aber zuerst muss sie uns hineinbitten.«

Er stieg aus dem Wagen und schlurfte die Verandatreppe hoch. Vorsichtig hob er den Ananas-Türklopfer an und ließ ihn wieder fallen. Der Türklopfer mit seinem Blätterbüschel, das sich wie eine Blüte entfaltete, und seiner goldenen, in der Sonne glänzenden Farbe kam Loo irgendwie bekannt vor, wie ein Gegenstand aus einem Traum, an den sie sich nur verschwommen erinnern konnte.

Eine ältere Frau mit einer Schutzbrille auf der Nase öffnete die Tür und wischte sich die Hände an der Vorderseite ihres Hemds ab. Sie wirkte ganz und gar nicht wie die Großmütter aus Loos Märchenbüchern. Eher wie eine Frau, die ohne mit der Wimper zu zucken ein Reh ausnehmen könnte.

Hawley sagte ein paar Worte zu ihr, die Mabel Ridge erwiderte. Ihre Hand wanderte zum Türgriff, aber Hawley sagte noch etwas, was sie verharren ließ. Sie beugte sich vor und spähte um ihn herum. Für einen Moment sahen sich das Mädchen und die alte Frau in die Augen. Dann berührte Loo ihre angenagten Haare, und Mabel Ridge knallte die Tür zu. Als Hawley zurück ins Auto stieg, schlug er mit der Faust aufs Armaturenbrett und zertrümmerte das Radio. Loo traute sich nicht zu fragen, was passiert war, deshalb fuhren sie schweigend zum Motel zurück, während Hawleys Fingerknöchel in die Manschette seines Hemds bluteten.

Im Motelzimmer zog Loo das Kleid aus und schlüpfte wieder in ihre Jeans, und Hawley streifte das blutige Hemd über den Kopf und warf es in eine Ecke. Sie gingen zur Strandpromenade hinunter, kauften sich ein Eis und setzten sich an derselben Stelle an den Strand, wo sie am Vortag ihre Burg zertrampelt hatten. Die Flut hatte alles überspült und nur ein paar Muschelreste zurückgelassen, doch der Burggraben war noch immer voll mit Wasser.

»Gefällt es dir hier?«, fragte ihr Vater.

»Schon«, antwortete Loo.

»Wir können auch wieder fahren, wenn du willst.«

»Wir sind doch gerade erst angekommen.«

»Ich weiß.«

Loo beobachtete, wie die aufgeplatzten Fingerknöchel ihres Vaters sich krümmten und wieder zu bluten anfingen, als er an seiner Eiswaffel leckte. Sie nahm noch einen Bissen von ihrem Eis und ließ die Schokolade auf der Zunge zerschmelzen.

»Lass uns hierbleiben«, sagte sie. »Scheiß auf die alte Schachtel.«

»So was darfst du nicht sagen«, ermahnte Hawley sie lachend. »Das würde deiner Mutter gar nicht gefallen.«

Am nächsten Morgen fingen sie an, sich nach einer Bleibe umzusehen. Statt wie sonst einen befristeten Mietvertrag zu unterschreiben, holte ihr Vater Bargeld aus einem Bankschließfach in Boston und kaufte das alte Henderson-Haus am Meer, dessen zwei Hektar großes Grundstück sich entlang der Bucht erstreckte. Zum ersten Mal wohnten sie in einem zweigeschossigen Haus. Loos Zimmer befand sich im ersten Stock und hatte zwei Fenster sowie ein kleines flaches Vordach, auf das sie hinausklettern konnte. Das Zimmer ihres Vaters war am anderen Ende des Flurs. Anfangs fiel es Loo schwer, bei der ungewohnten Stille einzuschlafen, und so lag sie mit dem Bärenfell um die Schultern in ihrem neuen Bett und lauschte auf die beruhigenden Schritte von Hawley, der seine nächtliche Runde durchs Haus drehte. Ein Lichtstrahl schien ins Zimmer, als er die Tür einen Spalt öffnete, um nach ihr zu sehen. Sie schloss rasch die Augen und versuchte, möglichst friedlich auszusehen.

»Schauspielerin«, sagte er und schloss die Tür wieder. Sie hörte, wie sich seine Schritte entfernten.

Manchmal erhaschte Loo einen flüchtigen Blick auf ihre Großmutter, wenn diese auf dem Markt einkaufte oder sonntags in die katholische Kirche ging. Wenn die alte Frau sie und ihren Vater auf der Straße entdeckte, betrat sie schnell einen Laden und wartete, bis sie vorbeigegangen waren. Von seiner Tochter darauf hingewiesen entgegnete Hawley nur, dass Loo enorme Ähnlichkeit mit ihrer Mutter habe und Mabel Ridge daher bestimmt irgendwann einlenken werde.

»Wir gehören zur Familie«, sagte er. »Ob es ihr nun passt oder nicht.«

Ein Monat verging und noch einer. Nach und nach gewöhnte sich Loo an die Stille im neuen Haus, an die Bodendielen, die mitten in der Nacht knarzten, an das Klappern der alten Sturmfenster anstelle des gewohnten lauten Highway-Verkehrs. Wenn Hawley nach Hause kam, durchbrach er die Ruhe kurzzeitig, indem er seine Stiefel abstreifte und laut ihren Namen rief. Aber er konnte auch lautlos sein. Mehr als einmal hatte er sich schon unbemerkt in der Küche an Loo herangeschlichen oder sie auf dem Flachdach vor ihrem Fenster erschreckt. Gerade noch war nichts von ihm zu sehen, und schon stand er plötzlich da und räusperte sich oder zündete ein Streichholz an und jagte ihr einen Riesenschrecken ein.

Eines Morgens wachte sie von einem Klingeln auf. Als sie nach unten rannte, sah sie Hawley auf einem neuen gelben Fahrrad vorbeirollen. Loos erstes eigenes Fahrrad! Er zeigte ihr in der Einfahrt, wie man damit fuhr, und rannte mit der Hand am Sitz neben ihr her, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte. Es dauerte fast den ganzen Tag, doch irgendwann schaffte sie es allein die Straße entlang und schließlich sogar einmal um den Block. Sie bekam überhaupt nicht mit, dass er losgelassen hatte.

Anschließend fuhren sie zusammen zum Fachgeschäft für Fischereibedarf und kauften Wathosen und sonstiges Zubehör zum Fischen und Muschelsammeln. Hawley hatte von seinem Vater gelernt, wie man Quahogs suchte und ausgrub, und Loo entging nicht, wie sehr er sich darauf freute, sein Wissen an sie weiterzugeben. Am nächsten Tag rüttelte er sie kurz vor Sonnenaufgang wach und ging mit ihr durch den Wald zum Meer hinunter. Loo hatte das Wasser noch nie so weit weg gesehen, es war nur noch ein schmaler Streifen in der Ferne. Der freiliegende feuchte Sand war voller Muscheln, Krebse und unzähliger kleiner Löcher.

»Guck mal«, forderte ihr Vater sie auf. Er beugte die Knie, sprang mit seinen über ein Meter neunzig in die Luft und zog die Beine an. Für einen kurzen Moment schwebte sein Körper wie aufgehängt über dem Boden, bevor seine Füße mit einem dumpfen Knall wieder aufkamen. Überall um ihn herum stießen die vergrabenen Muscheln Wasser aus, das wie aus kleinen versteckten Brunnen senkrecht nach oben sprudelte. Und in diesem Augenblick wusste Loo, dass sie wirklich hierbleiben würden, dass dieser Ort anders war als alle anderen: ein Ort, an dem der ganze Strand am frühen Morgen mit einem Schlag lebendig wurde, an dem ihr Vater von einem Ohr zum anderen grinste, als hätte er ihr gerade das schönste Geheimnis der Welt verraten.

Als der Sommer zu Ende ging, wurde Loo in der örtlichen Mittelschule angemeldet. Hawley kramte ihre Unterlagen für den Schulwechsel hervor – alte Zeugnisse, die letzten Prüfungsergebnisse, eine Kopie ihrer Geburtsurkunde und ihres Impfpasses – und nahm alles mit ins Büro des Schuldirektors. Loo war bisher auf sieben Schulen in sieben verschiedenen Bundesstaaten gegangen. Diese Schule war also Nummer acht.

Nach dem Einstufungstest teilte man ihnen mit, Loo habe gut genug abgeschnitten, um eine Jahrgangsstufe zu überspringen, und werde daher in die achte Klasse eingeteilt. Der Direktor war ein korpulenter, leise sprechender Schwede, dessen hellblondes Haar fast weiß wirkte und der die Angewohnheit hatte, aufzustoßen, wenn er nervös war. Er lächelte und schüttelte Loo mit seinen fleischigen Fingern die Hand.

»Deine Mutter und ich sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Hier?«, fragte Loo. »In diesem Gebäude?«

»Es wurde seither natürlich einiges erneuert, aber ja, in genau diesem Gebäude.«

Loo sah sich um und betrachtete die Dampfheizkörper, die riesigen Fenster, die Marmortreppen und die alten Metallschließfächer. Die vorbeikommenden Schüler beäugten sie neugierig, machten aber einen einigermaßen freundlichen Eindruck. Vielleicht war acht ihre Glückszahl.

»Sie kannten sie also«, sagte Hawley. »Lily.«

»Wir waren damals befreundet«, erwiderte Direktor Gunderson.

»Dann erzählen Sie doch mal.«

»Was denn?«

»Etwas über sie.« Loos Vater war dicht an den Direktor herangetreten. Er war einen guten Kopf größer als Gunderson, und Loo entging nicht, dass er den Mann nervös machte. Hawley fehlte das linke Ohrläppchen – am unteren Rand seiner Ohrmuschel war das Knorpelgewebe vernarbt –, und der Direktor bemühte sich, nicht hinzustarren.

Als Loo noch kleiner gewesen war, hatte ihr Vater ihr immer weisgemacht, ein Vogel habe ihm das Ohrläppchen abgerissen. Ein anderes Mal war es ein Pferd gewesen, dann wiederum ein Löwe, eine Kuh, ein Hund. Loo hatte sich bei jedem dieser Tiere vorgestellt, wie es seine Zähne in die Haut ihres Vaters grub. Manchmal hatte sie Hawleys Haare heruntergezogen, damit man die Verletzung nicht sah.

»Sie war ein echter Freigeist«, sagte Direktor Gunderson. »Alle mochten sie.«

»Da hat mir Lily aber etwas anderes erzählt.«

»Ich meinte, na ja …« Der Direktor stieß auf, versuchte die Luft jedoch sofort wieder hinunterzuschlucken. »Ich meinte, dass ich Lily mochte. Das trifft es vielleicht besser. Ich mochte sie sogar sehr.«

Hawley rückte nicht von dem kleineren Mann ab, sondern blickte nachdenklich auf ihn hinunter, als versuchte er, eine schwierige Matheaufgabe zu lösen. Schließlich machte er einen Schritt nach hinten und streckte die Hand aus. »Danke«, sagte er. »Danke, dass Sie Loo unter Ihre Fittiche nehmen.«

»Wenn ich Ihnen irgendwie beim Einleben behilflich sein kann, melden Sie sich einfach.« Der Mann war erleichtert und redete jetzt schneller. »Sie müssen unbedingt im Sawtooth vorbeikommen, dem Restaurant meiner Familie. Bei uns gibt es das beste Fish and Chips der ganzen Stadt.«

»Wie sieht es mit Muscheln aus?«, fragte Loo. »Servieren Sie die auch?«

»Ja, Muscheln auch«, antwortete Gunderson.

Hawleys Blick wanderte zu seiner Tochter. Dann hob er die Hand und zupfte an seinem verstümmelten Ohr.

Als die einheimischen Fischer hörten, dass Samuel Hawley seinen Fang direkt an Gundersons Restaurant verkaufte, hagelte es Beschwerden, vor allem von Joe Strand und Pauly Fisk, die ihren Schellfisch auf dem örtlichen Markt anboten und weder Auswärtige noch Konkurrenz mochten. Sie waren in Olympus aufgewachsen, keiner der beiden war je von hier weggegangen. Fisk war ein stämmiger Mann, der immer dieselbe Baseballkappe mit der Aufschrift »Hong Kong« trug. Strand ließ sich unterhalb seiner Unterlippe einen kleinen Streifen struppiger Haare stehen, von dem er behauptete, dass er die Frauen anlocke. Beide waren geschieden und hatten missratene Söhne, die bei ihnen lebten.

Weder Fisk noch Strand brach einen offenen Streit mit Hawley vom Zaun. Stattdessen setzten sie Gerüchte über Gäste in die Welt, die von Hawleys Austern krank geworden seien, und gossen Bleiche über seinen Strandabschnitt, was zahlreiche Littlenecks nicht überlebten.

Über alle diese Vorgänge verlor Loos Vater kein Wort. Erst als er eines Nachmittags nach Hause kam und feststellte, dass seine Wathose fehlte und seine Ausrüstung verschmutzt war, marschierte er schnurstracks ins Flying Jib und brach Joe Strand den Kiefer. Danach machte er Fisk ausfindig, der in Hawleys Wathose am Anleger herumlungerte, und warf ihn vom Pier. Die Wathose füllte sich mit Wasser und zog den Mann unter die Oberfläche. Vielleicht wäre Fisk ertrunken, wenn Hawley nicht hinterhergesprungen wäre und die Träger durchgeschnitten hätte.

Loo beobachtete den ganzen Vorgang vom Pick-up ihres Vaters aus. Als Hawley vom Anleger zurückgewankt kam, öffnete sie die Tür für ihn, und er kletterte völlig durchnässt und triefend auf den Fahrersitz, mit Blut in den Haaren und geschwollenen Fingerknöcheln. Schwer atmend umklammerte er das Lenkrad. Sein Gesicht war merkwürdig glatt, als wären seine Altersfältchen zusammen mit seinem Gewissen verschwunden. Erst zu Hause, nachdem sich Hawley stundenlang mit den Sachen ihrer Mutter eingeschlossen hatte, später in Handtücher gewickelt aus dem Bad gekommen war und von Loo ein Glas Whiskey hingestellt bekommen hatte, sah er wieder aus wie er selbst.

Nach diesem Vorfall ließen die Fischer Hawley in Ruhe, genau wie alle anderen im Ort. Aber niemand außer Direktor Gunderson kaufte ihm seinen Fang ab, und das, obwohl Hawley an den Wochenenden seinen Stand auf dem Markt aufbaute. Noch schlimmer wurde es, als das kalte Wetter die letzten Touristen verscheuchte und die Einheimischen sich nur noch gegenseitig ihre Erzeugnisse verkauften. Den ganzen Winter und bis ins folgende Frühjahr hinein musste Hawley vier oder fünf Orte weiterfahren, um seinen Fang zu verkaufen – sogar Rockport und Newbury waren zu nah an Olympus. Und er musste Loo mitnehmen, um Kunden anzulocken. Diese Rolle beherrschte sie gut von ihrer gemeinsamen Zeit auf der Straße. Fremde weichklopfen. Um Dinge bitten, um die ihr Vater nicht bitten konnte. Loo verbrachte also die Markttage damit, Eimer zu leeren, ihr Taschenmesser zu schleifen und Muscheln in einem komplizierten Stufenmuster auszulegen, das sich über den ganzen Marktstand ausbreitete. Sobald jemand stehen blieb, um ihr Werk zu bewundern, überließ sie es Hawley, einen Preis für die Ware zu nennen.

Loo war inzwischen zwölfeinhalb Jahre alt und fast so groß wie eine erwachsene Frau. Sie hatte das etwas verwilderte Aussehen eines Kindes, das von einem Mann allein großgezogen wird, wirkte aber stets sauber, auch dann, wenn ihr Gesicht gerade schmutzig war. Das Leben in der Kleinstadt hatte ihr weder Normalität noch ein Zuhause verschafft. Es gab nach wie vor keinen Ort, an dem sie dazugehörte. Seit dem Wutausbruch ihres Vaters ermahnten die einheimischen Fischer ihre Kinder, sich von ihr fernzuhalten. Sie galt als wunderlich, wie alle Kinder, die sich in irgendeiner Weise von ihren Altersgenossen unterscheiden.

Es dauerte nicht lang, bis sie zur Zielscheibe wurde.

Die Söhne von Joe Strand und Pauly Fisk machten den Anfang. Beide gingen in Loos Klasse. Pauly junior war zum Kassenwart der Klasse gewählt worden und hatte sich von den eingesammelten Beiträgen eine Gitarre gekauft, die er anschließend während eines Talentwettbewerbs auf der Bühne zerschmetterte. Jeremy Strand saß am Fenster und roch nach Sauerkraut. Die größte Freude der beiden bestand darin, von den Felsen zu springen, die den alten Steinbruch am Stadtrand umgaben, und ihre zweitgrößte Freude, andere Kinder ebenfalls dazu zu überreden. Der ehemalige Granitsteinbruch war voll mit altem Baugerät, das die Bergarbeiter hatten zurücklassen müssen, als sie auf Wasser gestoßen waren. Hin und wieder landete jemand an der falschen Stelle im See, und eines Tages traf es Jeremy Strand. Er wurde mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus geflogen, doch sobald er wieder gehen konnte, kehrte er zurück und schubste weiter zusammen mit Pauly junior andere Kinder von den zwanzig Meter hohen Felsen.

Während eines Klassenausflugs ins Walfangmuseum bewarfen die beiden Jungen Loo mit Essen, woraufhin ihre Haare nach Fleischwurst rochen. Nachdem sie sich auf der Toilette gewaschen hatte, warteten die beiden vor der Tür und stellten ihr ein Bein. Der Rest der Klasse sah lachend zu. Niemand half Loo, ihre Bücher vom Boden aufzusammeln, oder sprang ihr bei, als Jeremy und Pauly junior ihren Rucksack die Treppe hinunterkickten. Stattdessen wandten sich ihre Mitschüler kichernd von ihr ab, um nur ja nicht die nächsten Opfer zu werden. Irgendwann erschien die begleitende Lehrerin und klatschte in die Hände, damit sich alle für die Führung durchs Museum aufstellten. Während Loo die Treppe hinunterrannte, um ihren Rucksack zu holen, hatten sich die anderen bereits um das lebensgroße Modell eines Walherzens versammelt.

Das Walherz bestand aus rotem und rosafarbenem Kunststoff und hatte riesige Venen und Arterien, die sich außen herumschlängelten wie die Wurzeln eines Baums. Das Modell war groß wie ein Kinderspielhaus, groß genug, um hineinzukriechen. Ein Schild forderte die jüngeren Museumsbesucher genau dazu auf, und als der Rest ihrer Klasse zum nächsten Ausstellungsstück weiterging, kroch Loo auf allen vieren durch die Aorta des Wals und schlüpfte durch eine Herzklappe in die linke Herzkammer. Die Kammer war nicht für Personen ihrer Größe gemacht, aber Loo konnte sich einigermaßen darin bewegen. Es war sogar ganz gemütlich. Sie lehnte den Rücken an die fleischfarbene Kunststoffwand, die geriffelt war und Schatten warf und Geräusche von sich gab, wenn Loo das Gewicht verlagerte.

Sie war erleichtert, sich für ein paar Minuten verstecken und die Maske ablegen zu können, die sie in der Öffentlichkeit trug. Sonst hatte sie fast immer das Gefühl, eine Rolle zu spielen. Ihr Innenleben bestand aus nichts als verschlossenen Türen. Loo klopfte mit der Faust an die Wand des Herzens. Bumm. Bumm. Sie stellte sich vor, die Muskeln um sie herum wären echt und würden heftig pulsieren, um Unmengen von Blut durch zweihundert Tonnen Wal zu pumpen. Ihre Lehrerin hatte ihnen erzählt, dass das menschliche Herz etwa so groß sei wie zwei nebeneinander gehaltene Fäuste. Loo ballte ihre Hände und presste sie zusammen. Verglich ihr eigenes Herz mit dem des Wals. Wenn je jemand versuchen wollte, in ihr Herz zu kriechen, musste er vorher auf Schachfigurengröße schrumpfen.

Von außen ertönte ein dumpfes Hämmern – eine Antwort auf ihr Klopfen. Loo steckte den Kopf durch die Herzklappe und entdeckte Jeremy und Pauly junior, die direkt neben der Hohlvene auf sie warteten. Sie hatten einen Jungen mit Zottelhaaren im Schlepptau. Er hieß Marshall Hicks und war dafür bekannt, dass er immer dann, wenn es in der Mensa Pfannkuchen gab, selbst gemachten Ahornsirup mit in die Schule brachte und flaschenweise zu verkaufen versuchte. Marshall war derjenige, der klopfte. Als er Loo sah, wirkte er verwirrt. Für einen kurzen Moment starrten sie sich an, und dann lächelte Marshall wie ein Hund, der sich nicht wohlfühlte. Jeremy und Pauly junior packten Loo, drückten sie auf den Boden und rissen ihr die Schuhe von den Füßen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, niemals zu petzen, deshalb log sie die Lehrerin an und behauptete, sie hätte ihre Schuhe verloren. Den Rest des Ausflugs musste sie mit nicht zusammenpassenden, löchrigen Socken hinter sich bringen. Auf der Busfahrt nach Hause klatschten Jeremy und Pauly junior ihr ihre eigenen Turnschuhe gegen den Kopf. Alle sahen es, und am nächsten Tag fingen auch die anderen Kinder an, auf Loo herumzuhacken.

Zuerst steckte sie alles weg, die sarkastischen Bemerkungen, die Reißzwecken auf ihrem Stuhl, die geklauten Lunchpakete, die Würmer in ihren Büchern, sogar die Erdklumpen und Steine, mit denen sie auf dem Heimweg beworfen wurde. Sie verstand den Grund für die Misshandlungen nicht wirklich, hatte jedoch das Gefühl, dass die Ursache ein persönlicher Fehler ihrerseits war, irgendein fehlender Teil ihres Ichs, den die anderen erkannt hatten, ein verwesendes, leeres Loch, aus dem es beim Gehen pfiff, so sehr sie sich auch bemühte, still zu sein.

Loo erzählte ihrem Vater nichts von den Vorgängen in der Schule. Stattdessen setzte sie sich im Klassenzimmer in die Ecke und verhielt sich unauffällig. Sie machte weiterhin ihre Hausaufgaben, hob jedoch selbst dann nicht die Hand im Unterricht, wenn sie eine Antwort wusste. Irgendwann hörten die Lehrer auf, sie dranzunehmen, als hätten sie ebenfalls ihre Merkwürdigkeit gewittert. Bald konnte sich Loo tagelang wie unsichtbar durchs Schulhaus bewegen.

Ihr Verschwinden begann an ihren Handgelenken, den einzigen Körperteilen, die Loo an sich selbst als zart erachtete. Dort spürte sie als Erstes, dass ihre Haut dünner wurde. Dieses Gefühl breitete sich zu ihren Fingern aus, wanderte ihre Arme hoch und über ihre Schultern, rann an jedem Bein hinunter bis zu ihren Zehen und wieder zurück nach oben durch ihren Bauch – das Gefühl, sich aufzulösen, zu nichts zu zerrinnen, ein Gefühl, das sich um ihren Hals wickelte, bis ihr Kopf ihr leicht und leer vorkam. Jetzt konnte sie durch die Schulflure gehen, ohne dass jemand sie ansah, konnte durch die Straßen schlendern, ohne dass die Leute die Köpfe nach ihr umdrehten, konnte zum Strand hinunterwandern und durch die Dünen streifen und sich dabei nicht mehr wie ein Mensch fühlen, sondern wie ein Geist.

Abends saß Loo in der Badewanne und starrte die Fotos ihrer Mutter an. Wie sie die klugen grünen Augen zu Schlitzen verengte, wie sie beim Lächeln die Zähne zeigte, als hätte sie keine Angst, sie auch zu gebrauchen. Die Frau, die hier im Badezimmer wohnte, trug knallroten Lippenstift, der nach Bonbons roch, schrieb ihre Träume auf die Rückseite von Strafzetteln und aß Pfirsiche direkt aus der Dose. Loos Mutter war schon seit vielen Jahren tot, aber sie war nie unsichtbar gewesen. Wenn jemand eine Reißzwecke auf ihren Stuhl gelegt hätte, hätte sie sie demjenigen kurzerhand in die Nase geschoben.

Eines Tages beschloss Marshall Hicks, dass er damit an der Reihe war, Loo die Schuhe zu klauen.

Er befand sich gerade in einer kurzen Phase der Berühmtheit. Nicht weil er neuerdings mit Jeremy und Pauly befreundet war, sondern weil sein Stiefvater, ein Umweltschützer, der sich Captain Titus nannte, regelmäßig im Fernsehen kam. Captain Titus war in den Besitz eines ausrangierten Kutters der Küstenwache gelangt, mit dem er seither Walfangschiffe am nördlichen Polarkreis rammte, begleitet von einer Dokumentarfilm-Crew. Die Dokumentation lief zwar nur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, aber immerhin. Sie hatte auch Marshall indirekt berühmt gemacht, was die Mädchen aus Loos Klasse dazu veranlasste, nervös kichernd über ihn zu tuscheln. Als die anderen Jungen das mitbekamen, wurden sie eifersüchtig und verbreiteten das Gerücht, Marshall würde heimlich Loo flachlegen und die beiden würden sich beim Sex gegenseitig mit Marshalls selbst gemachtem Sirup begießen.

Marshall war die Geschichte derart peinlich, dass er aufhörte, seine goldenen Sirupflaschen mit in die Schule zu bringen (auf die er so stolz gewesen war, zumal er den Sirup eigenhändig den einheimischen Ahornbäumen abgezapft hatte). Je vehementer er die Behauptungen abstritt, desto mehr zogen ihn die anderen Jungen damit auf. Um zu beweisen, dass er nicht mit Loo schlief, folgte Marshall ihr schließlich auf dem Nachhauseweg, stieß sie in den Sand, zog ihr die Sandalen aus und warf diese ins Meer, so weit hinaus, dass Loo hinterherschwimmen musste, bevor sie von den Wellen fortgetragen wurden. Sie wurde unter die Wasseroberfläche gezogen und über den Meeresboden geschleift und schluckte derart viel Sand und Salzwasser, dass es ihr aus den Augen wieder herauskam. Als Loo es endlich zurück ans Ufer schaffte, klebten ihr die Kleider an der Haut, wie bei ihrem Vater, als er zurück auf den Pier geklettert war. Nachdem sie sich kriechend und hustend aus den Fluten gekämpft hatte, war sie ein anderer Mensch als vor ihrem Sprung ins Wasser. Sie hatte keine Angst mehr.

Loo schnappte sich ein Stück Treibholz, machte sich wankend an die Verfolgung und schlug Marshall Hicks bewusstlos. Sie nahm seinen Zeigefinger und bog ihn nach hinten, bis er brach. Mit dem Knacken des Knochens schloss sie ihre Angst endgültig ein, als würde sie eine Abdeckung über eine Tonne schieben und sie zunageln.

Bevor sie den Strand verließ, nahm Loo einen großen, schweren Stein mit, den sie nach Hause schleppte und in eine Socke ihres Vaters steckte. Am nächsten Tag nahm sie den Stein in ihrem Rucksack mit zur Schule. Sie erwartete eine Racheaktion von Marshall oder einen Schulverweis, doch er hatte allen erzählt, er wäre von einem Baum gefallen. Sein Finger war verbunden und geschient, und jedes Mal, wenn er auf dem Flur an Loo vorbeiging, trat ein fassungsloser Ausdruck in sein Gesicht.

Im Army-Shop tauschte Loo ihre Sandalen gegen ein Paar Stiefel mit Stahlkappen ein, und an ihre Finger steckte sie Ringe, aus denen sie vorher die Steine herausgebrochen hatte, sodass die scharfen Metallzacken der Einfassung hervorstanden. Loo wusste noch alles, was ihre Mitschüler ihr angetan hatten, und schrieb sämtliche Namen auf eine Liste. Ganz oben standen Jeremy Strand und Pauly Fisk junior.

Sie behielt die Socke mit dem Stein dicht bei sich und wartete auf den richtigen Moment.

Als er schließlich gekommen war, schlich sich Loo in die Jungentoilette und versteckte sich in einer Kabine. Sobald sie Jeremys und Pauly juniors Stimmen am Pissoir hörte, wusste sie, dass die Hände der beiden Jungen anderweitig beschäftigt waren. Den Stein in der Socke schwingend stürzte sie hervor und schleuderte ihn erst dem einen, dann dem anderen Jungen ins Gesicht. Sie brach beiden die Nase, das Blut spritzte quer über die Spiegel. Jeremy und Pauly junior krümmten sich schreiend und fluchend auf den weißen Fliesen, und Loo ließ die Tür offen stehen, damit jeder Vorbeikommende sie sehen konnte. Sie ging noch einmal zurück und trat den Jungen mit ihren Stahlkappenstiefeln in den Hintern, wieder und wieder, um ganz sicher zu sein, dass sie möglichst große Schmerzen litten.

Nachdem der Vorfall gemeldet und von einem Lehrer aufgelöst worden war, wurden sie alle drei ins Büro von Direktor Gunderson geschleift, wo man den Jungen Eisbeutel zum Kühlen gab und anschließend die Eltern verständigte. Kurz darauf versammelten sich die drei Väter im Büro: Joe Strand, Pauly Fisk senior sowie Samuel Hawley. Obwohl seit dem Streit der Männer fünf Monate vergangen waren, war Strands Kiefer noch immer nicht richtig verheilt. Er war vor Kurzem erneut operiert worden, weshalb sein Mund nun mit Drähten verschlossen war. Fisk hatte umso mehr zu sagen.

»Es geht ums Prinzip!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Im Leben gibt es nun mal Prinzipien, aber das scheint diesem Mädchen völlig egal zu sein. Als hätte sie das Wort nie zuvor gehört! Ein Prinzip ist zum Beispiel, dass man anderen Leuten nicht grundlos die Nase einschlägt. Und ein anderes, dass man niemanden umbringt, nur weil er sich die Wathose von einem ausgeborgt hat.«

»Mr. Fisk«, schaltete sich Direktor Gunderson ein. »Das Mädchen ist nicht die einzige Schuldige hier. Ihre beiden Jungen haben ebenfalls ein gewisses Fehlverhalten eingestanden, und ich bin mir sicher, dass wir zu einer Verständigung kommen können.«

Strand öffnete den Mund und ächzte mit zusammengebissenen Zähnen. Er zeigte zuerst auf die Drähte an seinem Kiefer, dann auf Hawley.

»Genau«, griff Fisk den Faden auf. »Prinzipien bedeuten auch, dass man die Arztrechnung für jemanden zahlt, dem man den Kiefer gebrochen hat.«

Strand ächzte erneut. Er stellte pantomimisch dar, wie er sich ein imaginäres Glas einschenkte und es Richtung Decke hob.

»Was meint er jetzt?«, fragte Gunderson.

»Prinzipien bedeuten, dass man demjenigen zumindest einen Drink ausgibt.«

Hawley ignorierte Fisks Belehrung und Strands Grunzlaute, aber als Gunderson ihm den Stein in der Socke zeigte, mit dem Loo ihren Angriff ausgeführt hatte, wirkte er ernsthaft besorgt. Während Jeremy und Pauly junior mit Toilettenpapier in den Nasenlöchern zur Schulkrankenschwester gebracht wurden, nahm er mit einer Hand den Stein und legte die andere auf Loos Schulter, um sie zur Tür hinauszuschieben. Auf dem Flur drückte er sie auf einen Stuhl.

»Du hättest das Gleiche getan«, verteidigte sich Loo.

»Nicht so«, widersprach Hawley. »Nicht auf diese schlampige Weise. Du hast dich erwischen lassen.«

»Ja«, sagte Loo. »Wenigstens merken sie es sich jetzt.«

Ihr Vater rieb sich den Bart.

»Lass uns wegziehen«, schlug Loo vor. »Irgendwo anders hin. Dann ist das alles nicht mehr wichtig.«

Hawley betrachtete die Stiefel seiner Tochter, ihre zerrupften Haare, die Blutspritzer auf ihrem T-Shirt. Er wog den Stein in der Hand. »Es ist immer wichtig«, sagte er, ging zurück ins Büro und schloss die Tür hinter sich.

Während der nächsten Stunde saß Loo auf dem Schulflur und lauschte den Stimmen der Männer. Es war die Rede von Schulausschluss oder Schulverweis, von Nachsitzen und Drohungen und Gefälligkeiten, doch nach langen Verhandlungen kamen alle drei Teenager ohne größere Strafen oder Einträge davon. Den Preis für diese schulische Milde beglichen ihre Väter. Strand, Fisk und Hawley waren nun offizielle Mitglieder von Direktor Gundersons Rutschiger-Mast-Mannschaft.

Der Rutschiger-Mast-Wettbewerb hatte in Olympus eine beinahe hundertjährige Tradition. Jedes Jahr im Juni, wenn die Fischereiflotte gesegnet wurde, wurde ein fünfzehn Meter langer, aus einer Waldkiefer geschlagener Holzmast zentimeterdick mit Schmalz und Fett bestrichen und so am städtischen Pier befestigt, dass er waagrecht übers Wasser ragte. Am hinteren Ende des Masts wurde eine kleine rote Fahne festgenagelt. Die erste Mannschaft, die es bis dorthin schaffte und sich die Fahne schnappte, erwarb sich das Recht, ein Jahr lang im Flying Jib mit ihrer Heldentat prahlen und umsonst trinken zu dürfen. Manchmal dauerte der Wettbewerb Stunden, in anderen Jahren sogar ganze Tage, aber er war erst zu Ende, wenn eine Mannschaft die Fahne erreicht hatte. War es anfangs nur um einen Wettstreit zwischen betrunkenen Seeleuten gegangen, wurden heute ernsthafte Rivalitäten zwischen einzelnen Stadtvierteln ausgetragen, während sich ganze Generationen versammelten, um zuzusehen, wie sich die Männer von Olympus beim Sturz vom Mast Gehirnerschütterungen, verstauchte Knöchel und Armbrüche zuzogen.

Loos Direktor träumte schon seit Kindertagen davon, einmal im Leben den Rutschiger-Mast-Wettbewerb zu gewinnen. Jedes Jahr teilte er seine Leidenschaft mit seinen Schülern, dozierte über die Geschichte des Wettstreits und erzählte von seinen Versuchen, eine Siegermannschaft zusammenzustellen, angetrieben durch die jahrzehntelangen Hänseleien seiner älteren Brüder. Diese jagten draußen auf dem Meer Schwertfische, mit breiter, behaarter Brust und viel Gelächter. Sie hatten weder schlechte Augen noch Plattfüße noch Frauen, die sie verlassen hatten. Und so versuchte Direktor Gunderson jeden Frühsommer aufs Neue, die Fahne zu ergattern, angefeuert von seinen Schülern und Kollegen, bis er – rülpsend – ins Meer stürzte.

Im Großen und Ganzen gab es drei verschiedene Methoden, derer sich die Teilnehmer bedienten. Die erste bestand darin, wie auf einem Schwebebalken langsam und gleichmäßig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Damit schaffte man es meist bis zur Hälfte des Masts, wo man jedoch unweigerlich abrutschte, weil sich zu viel Fett unter den Füßen angesammelt hatte. Die zweite Methode war der Kriechgang auf Händen und Knien. Er endete fast immer mit einem Mann, der sich von unten krampfhaft an den Mast klammerte und ein paar Sekunden dort baumelte, während die Zuschauer in freudiger Erwartung von zehn bis null herunterzählten. Die letzte und spektakulärste Taktik war die Schlittertaktik: Man nahm Anlauf, rannte auf den Mast zu und versuchte, auf dem Fett bis zum Mastende zu gleiten. Die Schlittermethode war beim Publikum besonders beliebt, denn sie führte nicht nur häufig zu Verletzungen – klaffenden Wunden, herausgeschlagenen Zähnen –, sondern auch zu besonders albernen Stürzen ins Hafenbecken: mit dem Gesicht voran, mit schützend vor die Leistengegend gehaltenen Händen, mit schmerzhaften Bauchklatschern.

Am Wettbewerbstag versammelte Direktor Gunderson seine Mannschaft auf dem alten hölzernen Pier und ging jede dieser Methoden mit Notizbuch und Stift sorgfältig durch. Er selbst hatte im Laufe der Jahre seinen eigenen Stil perfektioniert, eine Kombination aus Balancieren, Kriechen und verzweifeltem Ausschlittern. Strand und Fisk saßen auf der Kühlbox, die sie mitgebracht hatten, und sahen zu, wie Gunderson die verschiedenen Möglichkeiten, vom Mast zu stürzen, schematisch darstellte. Die voraussichtlichen Verletzungen ihres Körpers (und Stolzes) entmutigten sie zutiefst, was sie mit Bier zu kompensieren versuchten. Fisk kippte die Dosen eilig hinunter, während Strand grazil aus einem Strohhalm schlürfte.

Die anderen Männer hatten sich bis auf ihre Shorts ausgezogen, nur Samuel Hawley behielt Hemd und Jeans an, als wollte er jeden Moment einen Rückzieher machen. Er blieb den ganzen Tag auf dem Pier, beobachtete schweigend die anderen Wettbewerbsteilnehmer, lauschte Gunderson und trank sogar ein Bier mit Strand und Fisk, auch wenn ihm das Ganze nicht den geringsten Spaß zu machen schien. Es war offensichtlich, dass er nur aus einem einzigen Grund am Wettbewerb teilnahm: wegen seiner Tochter.

Loo war unterdessen am Strand direkt unterhalb des Piers. Sie saß allein mit ihren Stahlkappenstiefeln im Sand und stapelte Steine, kleine Denkmäler aus jeweils sechs oder sieben aufgetürmten Steinen. Um sie herum tuschelten die Zuschauer. Dass Hawley und seine alten Widersacher dort oben zusammenstanden, fachte die Gerüchteküche an, manch einer hoffte auf eine Schlägerei. Aber Loos Vater hatte an diesem Morgen fast eine Stunde im Badezimmer verbracht, in der Wanne gelegen und die Fotos von seiner Frau betrachtet. Er hatte Loo ernst dabei zugesehen, wie sie das Frühstück gemacht hatte, und ihr ins Kinn gekniffen, bevor sie aufgebrochen waren. Sie wusste, was das bedeutete: dass er nicht sauer war – nur besorgt.

Als Gundersons Mannschaft in Startposition ging, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und brannte auf die Zuschauer nieder. Das Wasser im Hafenbecken sah immer einladender aus. Inzwischen war das Fett auf dem Mast ranzig geworden und hatte sich mit dem Schweiß und der Enttäuschung Hunderter Teilnehmer vermischt. Wie um sie zu verhöhnen, wehte die kleine rote Fahne nach wie vor am Ende des Masts. Die ganze Stadt war zusammengekommen, um sich das Spektakel anzusehen – das Hafenbecken war voll mit Motor- und Segeljachten, Schlauch- und Ruderbooten, eine gewaltige Flottille aus betrunkenen Männern und Frauen, die alle mit Signalhörnern ausgestattet waren, in die sie anerkennend oder bedauernd bliesen, während ein Kandidat nach dem anderen vom fettigen Holzmast ins aufgewühlte Wasser rutschte. Die restlichen Zuschauer hatten es sich mit Klappstühlen und Kühlboxen am Strand bequem gemacht und ließen sich Krabbenküchlein, Hummerbrötchen und italienisches Eis schmecken, während sie auf einen Gewinner warteten.