Dienstreise - Andrej Reder - E-Book

Dienstreise E-Book

Andrej Reder

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Beschreibung

Ein Schicksalsreport: Gabo Lewin und seine Frau Hertha, Jugendfunktionäre und Antifaschisten, gingen im Auftrag der KPD 1935 in die Sowjetunion, wo ihr Sohn geboren wurde. 1938 wurde Lewin als faschistischer Spion verurteilt und auf "Dienstreise" geschickt - die Lagerhaft sollte erst 1955 enden. Mutter und Sohn kehrten nach schweren Jahren 1948 nach Deutschland zurück. Andrej Reder hat mithilfe unzähliger privater und dienstlicher Dokumente, mit einmaligen Zeugnissen und Aufzeichnungen den Leidensweg seiner Eltern rekonstruiert. Trotz aller Bitterkeit verteidigten sie, verteidigt er sachlich und überzeugend die Sowjetunion. Seine Dokumentation wendet sich gegen den Missbrauch von Opfern der Repressalien, ohne die tragischen Schicksale und Leiden zu verschweigen.

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Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg

zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Die Abbildungen stammen aus den Archiven Andrej Reder

und Robert Allertz

ISBN E-Book 978-3-355-50013-5

ISBN Print 978-3-355-01824-1

© 2015 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von ullstein bild – Nowosti

Die Bücher des Verlags Neues Leben

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Gewidmet deutschen Kommunisten und Antifaschisten,

die zwischen den 1930er und 1950er Jahren Opfer von

Repressalien in der Sowjetunion wurden.

Gegen Instrumentalisierung

ihres tragischen Schicksals und Vermächtnisses

Hertha Lewin-Reder (1908–1997)

Inhalt

Vorbemerkung

Beginn der Recherche

Die Eltern

Entbehrungsreiche Jahre

Fern von Moskau: Wladiwostok und Magadan

Unsere Evakuierung nach Kasachstan

Nach dem Sieg über den Faschismus, die zweite Etappe

Der »wahre« Mensch

»Freilassung« meines Vaters – die dritte Etappe

Neuanfang in Deutschland: Etappe vier

Die fünfte und letzte Etappe der »Dienstreise«

Zu den Elternbriefen

Gedanken zur »Dienstreise« meiner Eltern

Was sind siebzehn Jahre?

Das Familienleben

Wo blieb ihr Mut?

In der Sowjetunion leiden und dennoch die deutsch-sowjetische Freundschaft hochhalten – wie geht das zusammen?

Wie mein Vater 1938 »Gestapoagent« wurde

Das »sibirische Steppenpferd«

Reformunfähigkeit des Sozialismus

»Stalinismus« und »Geschichtsaufarbeitung«

Das »verordnete« Schweigen

Wie konnte es geschehen?

Ist alles umsonst gewesen?

Walter Ruge: Unsterbliche Opfer – ein Nachwort

Epilog

Anlagen

Vorbemerkung

Der Entschluss, über den Aufenthalt meiner Eltern in der Sowjetunion zu berichten, fiel mir nicht leicht. Ihre Reise be­gann in Berlin, ihrer Geburtsstadt, und fand in Moskau, meiner Geburtsstadt, eine tragische Fortsetzung. 57-jährig wurde ich 1993 erstmals angehalten, über diese »Dienstreise« in der Sowjetunion zu schreiben. Damals konnte ich es nicht. Mir waren zu jenem Zeitpunkt die ungeheuerlichen Einzelheiten ihres Schicksals ebenso unbekannt wie die Gründe, warum die Eltern darüber eigentlich nur sehr zurückhaltend sprachen und später auch nichts aufschrieben. Bis zum Tod meiner Eltern erschlossen sich mir keine zwingenden Gründe, mich mit der Geschichte meiner Familie intensiv be­fassen und darüber auch noch schreiben zu müssen. Nichts Klärendes oder Neues zu unserer Geschichte hätte ich damals beitragen können, und auf den überschäumenden Wellen des »Antistalinismus« zu reiten, war ich nicht bereit und bin es auch jetzt nicht.

Vielleicht gerade deshalb habe ich mich nunmehr entschlossen, den nahezu unwirklichen Lebensabschnitt meiner Eltern nach bestem Wissen nachzuvollziehen, in den ich ebenfalls über viele Jahre involviert gewesen bin. Der Abschnitt ihres Lebens, um den es sich nachfolgend handeln soll, spielte sich in der Sowjetunion in den Jahren 1935 bis 1955 ab. Entstanden ist kein Roman, keine Novelle oder Erzählung, auch kein Tagebuch, sondern eine dokumentarisch belegte Skizzierung der Geschichte meines Vaters, in die meine Mutter von Anfang an direkt einbezogen war.

Andrej Reder mit den Eltern, 1995

Da sich meine Schilderung vor allem auf Briefe meines Vaters und auf offizielle Dokumente stützt, kann ich bisher Unbekanntes über die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie über den Umgang mit den Inhaftierten im Lager berichten. Der Kampf um Gerechtigkeit und Wiedererlangung ihrer Würde in Freiheit dominierte die elterliche Korrespondenz in all den Jahren und steht deshalb auch im Fokus meiner Darlegungen. Mir lag daran, sie als Hauptbetroffene selbst zu Wort kommen zu lassen.

Als Mitbetroffener war ich allerdings auch bemüht, meine Gedanken einzuflechten, die ich mit den Eltern leider nicht mehr beraten konnte. Mögen sich Leserinnen und Leser somit auf eine Zeitreise begeben, die im vergangenen Jahrhundert begann und erst jetzt aufgeschrieben werden konnte.

Dass dies überhaupt möglich wurde, ist meiner Mutter zu verdanken. Sie rettete über all die Jahre zahlreiche Briefe meines Vaters, die er ihr während seiner Inhaftierung geschrieben hatte.

Andrej Reder,

Berlin, im Sommer 2014

Beginn der Recherche

Erst nach dem Tod meiner Eltern begann ich im Jahre 2000 zunächst einige Briefe zu lesen. Danach wurden sie chronologisch sortiert, leserlich abgeschrieben bzw. aus dem Russischen übersetzt. Die Schriftzüge meines Vaters fesselten mich, machten mich traurig und wütend. Sie weckten meine Neugierde, weitere Spuren seiner »Dienstreise« (»Komandirowka« ist das russische Wort dafür, das mein Vater in seinem Brief an meine Mutter vom 26. August 1946 gebrauchte, als er ihr schrieb, dass nicht jede Lage und nicht jede Komandirowka einander gleichen) in der Sowjetunion nachzugehen.

Wichtige Dokumente, schriftliche Überlieferungen und an­deres Material erschlossen sich mir erst nach und nach, einige davon erst vor wenigen Jahren. Schon sehr bald reifte der Entschluss, den Inhalt der zur Kenntnis gelangten Schriftstücke nicht nur für mich zu behalten, sondern Familienangehörigen und guten Freunden der Eltern in irgendeiner Form mitzuteilen. In dem Maße, wie das Material die ganze Tragweite der Tragödie offenbarte, begann ich auch meine eigenen Gedanken aufzuschreiben, die mich beim Lesen immer wieder zutiefst bewegten. So entstand Mitte November 2010 »Eine lange, zu lange Dienstreise – Komandirowka meiner Eltern in der Sowjetunion«. 2011 folgte eine Art Ergänzung »Zur Dienstreise meiner Eltern in der Sowjetunion 1935–1955«. Unter dem Titel »Von der Dienstreise meiner Eltern in die Sowjetunion zur ›Dienstreise‹ in der Sowjetunion von 1935–1955« entstand Ende 2012 schließlich eine Zusammenfassung der ersten beiden Manuskripte, denen zahlreiche Briefe und die aufgespürten Dokumente beigefügt wurden. Sie war ausschließlich Familienangehörigen vorbehalten. Nach gründlicher Überarbeitung er­folgte die Fertigstellung der jetzt vorliegenden Fassung.

Nach den ersten beiden Fassungen wurde ich mehrfach darauf hingewiesen, dass es doch richtigerweise heißen müsste: »Dienstreise meiner Eltern in die Sowjetunion«. Beim Nachdenken über diesen Einwand schienen mir beide Formulierungen ihre Berechtigung zu haben. Die Emigration in die Sowjetunion 1935 erfolgte in der Tat auf Beschluss der KPD-Führung im »Dienste der Sache«, für die sich meine Eltern entschieden hatten zu kämpfen. Unter »Sache« verstanden Kommunisten damals Werte und Ziele, die sie mit einer anderen, einer gerechten Gesellschaftsordnung in Verbindung brachten. Diese Reise dauerte bekanntlich aber nur vom September 1935 bis Februar 1938. Von da an – bis April 1955 – folgten Lager- und Verbannungsaufenthalte in der Sowjetunion, die mit dem Dienst für die »Sache« nichts mehr zu tun hatten.

Der Entschluss, dieses Schicksal einem größeren Kreis von Menschen mitzuteilen, erfolgte erst nach zahlreichen Ge­sprä­chen mit Freunden. Diese Entscheidung wurde nicht zuletzt dadurch beeinflusst, als Gesprächspartner unterschiedlichen Alters, darunter Jugendliche, ihr großes Interesse für die dargelegte Problematik zum Ausdruck brachten. So entstand dieses Buch. Es wird auch mein einziges bleiben.

Möge diese Publikation dem Leser helfen, nicht nur den Lebensabschnitt meiner Eltern, sondern auch den Erkenntnisweg mit nachzuvollziehen und nachzuempfinden, den ich in den letzten Jahren gezwungen war zu bewältigen. Weder bin ich Historiker noch Schriftsteller, sondern nicht mehr und nicht weniger als der Sohn von Gabo und Hertha, der allerdings nicht losgelöst vom Lebensverlauf seiner Eltern gelebt hat. Nicht die Schilderung dessen, was mit ihnen und Tausenden anderen in den 30er Jahren und später in der Sowjetunion geschehen ist, war entscheidend für meinen Entschluss. Denn das Geschehene wurde bereits authentisch und ausführlich geschildert von Überlebenden wie etwa Susanne Leonhard in ihrem ergreifenden Buch »Gestohlenes Leben« (1959), Werner Eberlein in seinen beeindruckenden Erinnerungen »Geboren am 9. November« (2000), Walter Ruge in den ungewöhnlichen Ge­schichten »Treibeis am Jenissei« (2006) und »Wider das Vergessen« (2008), Trude Richter in ihren Memoiren »Totgesagt« (1990), Helmut Damerius »Unter falscher Anschuldigung« (1982 abgeschlossen und 1990 erschienen), Andrej Eisenberger in der erschütternden Geschichte »Wenn ich nicht schreie, ersticke ich« (1999) oder auch Wolfgang Ruge in »Gelobtes Land« (2012). Mir lag vielmehr daran, meine Sicht als Mitbetroffener mitzuteilen, die sich von Betrachtungen unterscheiden dürfte, die heutzutage allenthalben angestellt werden.

Obwohl auch mein Werdegang bis zur Volljährigkeit ganz entscheidend vom erlittenen Schicksal tangiert war, begann ich erst sehr spät über das Leben meiner Eltern und über mein eigenes Leben gründlicher nachzudenken. Das geschah in dem Augenblick, als die Eltern starben und ich auf die bereits genannten Briefe meines Vaters stieß. Erst da setzte die Kenntnisnahme all dessen ein, worüber die Eltern, wenn überhaupt, nur sehr allgemein und bruchstückhaft sprachen. Die Briefe und später auch die Moskauer Archivunterlagen offenbarten einen nahezu unwirklichen und sich erschütternd gestaltenden Lebensabschnitt, den ich mir so nicht annähernd hätte vorstellen können, denn sonst hätte ich mit Sicherheit darauf bestanden, dass sich meine Eltern mir gegenüber öffneten. Sie taten es aber nicht, und zwar nicht wie heute leichtfertig behauptet wird, weil es »verordnet« gewesen wäre.

Je mehr Schriftzüge meines Vaters ich entzifferte (er hatte eine schwer lesbare Handschrift) und je deutlicher sich mir das Unrecht gegenüber zwei überzeugten Kommunisten und engagierten Antifaschisten offenbarte, desto größer wurde mein Verlangen, darüber mehr zu erfahren. Mit jedem Brief, mit jedem Telegramm nahmen verständlicherweise meine Wut und Empörung darüber zu, was damals geschehen war. Eines Tages reifte der Entschluss, Hintergründe für das langjährige Verschwinden meines Vaters dort zu erfahren, wo die »Dienstreise« ihren Anfang nahm, wo er verhaftet wurde.

Meine Reisen nach Moskau 2004 und 2009 halfen wichtige Lücken zu schließen, auch wenn bis heute nicht alle Unklarheiten beseitigt werden konnten, weil der Zugang zum Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) der Russischen Föderation bislang mit dem Hinweis verweigert wurde, dass zum Sachverhalt meines Vaters angeblich keine relevanten Unterlagen vorhanden seien.

Aber selbst das unvollständige Material ermöglichte das Mosaikbild des Schicksals meines Vaters und seiner Familie weitgehend zu rekonstruieren. Dabei machte ich einen Er­kenntnisprozess durch, der keineswegs beendet ist und auch nicht beendet sein kann. Denn Begegnungen mit anderen Betroffenen und interessierten Menschen, Interviewfragen aber auch die schier unersättliche Debatte über den »Stalinismus« regten und regen mich immer wieder an, nachzudenken und das eigene Bild zu präzisieren.

Hier soll ein Versuch unternommen werden, aus der Sicht einer Familiengeschichte Aussagen zu treffen, die zum Nachdenken über die Vergangenheit und zu Überlegungen darüber anregen, Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Meine Sicht auf diese Geschichte wurde geformt durch authentische Briefe, Dokumente jener Zeit, durch Memoiren von Zeitzeugen, durch wissenschaftliche Veröffentlichungen und kontroverse Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren und nicht zuletzt durch eigene Erfahrungen in der Sowjetunion und den eigenen politischen Standpunkt.

In dem Maße, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse wandelten, unter denen sich mein Leben jeweils vollzog, in dem Maße, wie sich mir die Briefe meiner Eltern, die sie betreffenden und mir bislang unbekannten Dokumente erschlossen, war ich bestrebt, die Wege des Schicksals unserer Familie etwas ge­nauer zu ergründen, sie zu verstehen. Seit den Enthüllungen des »Personenkultes« um Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, die mir seinerzeit zugänglich waren (die gesamte Geheimrede Nikita Chruschtschows konnte ich erst viele Jahrzehnte später zur Kenntnis nehmen), ahnte ich natürlich, dass sie durchaus auch das Leben unserer Familie tangierten. Weder meine Eltern, die sich nach langer Zwangstrennung gerade wieder in Berlin vereinten, noch mich, der ich 1956 ein sechsjähriges Studium in Moskau aufnahm, bewegten zu jenem Zeitpunkt Fragen der »Aufarbeitung« unserer Familiengeschichte. Auch in den folgenden Jahren geschah in dieser Beziehung kaum Nennenswertes.

Offensichtlich gingen wir davon aus, dass diese uns alle drei betreffende Geschichte bereits »vergangenheitsbewältigt« oder uns vordergründig nicht nachdenkenswert genug war, dass man darüber mehr Worte verlor, als unbedingt angebracht schien. Nur selten und eher am Rande spielte sie in unserem aktuellen Leben, in unseren Gesprächen deshalb eine Rolle. Erst nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Europa und im Zusammenhang mit der »Aufarbeitung« der Ge­schichte des realen Sozialismus durch Führungsgremien der SED-PDS und PDS äußerte sich mein Vater mehrfach kritisch zur Art und Weise dieser »Geschichtsbewältigung«.

Ohne die Stalinschen Repressalien zu bagatellisieren, lehnte er den Begriff »Stalinismus« als einen Kampfbegriff der Antikommunisten ab. Erst der »Nach-Wende-Zeitgeist« des Kalten Krieges, der undifferenzierte Umgang mit der Geschichte seitens einiger Funktionäre der »Nachfolgepartei der SED«, aber auch die Kenntnisnahme von Dokumenten des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten der UdSSR (NKWD), der deutschen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und nicht zuletzt des Inhaltes der Briefe meiner Eltern regten mich schließlich an, tiefer in die Einzelheiten unserer Familientragödie einzudringen.

Dabei musste ich mir selbst immer wieder vergegenwärtigen, dass bestimmte Fakten, die ich durch die Einsicht in bisher interne und strikt geheim eingestufte Dokumente zur Kenntnis nahm, meinen Eltern bis zuletzt unerschlossen blieben. Ihr Wissens- und Erkenntnisstand erklärt somit manches Verhalten von damals, was aber aus heutiger Sicht unverständlich erscheinen muss. In den letzten Jahren stellte auch ich mir wiederholt die Frage, warum sich die Eltern damals so und nicht anders verhielten, ohne dabei ihren jeweiligen Wissens- und Erkenntnisstand ausreichend berücksichtigt zu haben. Denn die Um­stände, in die sie geraten sind, waren nicht gerade angetan, um sich so zu verhalten, wie man es heute normalerweise erwarten würde. Die Emigration führte sie in eine völlig neue, ihnen unbekannte gesellschaftspolitische Realität in der Sowjetunion, die sich nach wie vor in einer sehr komplizierten und widersprüchlichen Umbruchsituation befand. Eine Atmo­sphäre von Verdächtigungen und Denunziationen, die Mos­kauer Prozesse und mehrere Verhaftungswellen fielen genau in die Zeitspanne, als die Eltern dabei waren, sich auf die Situation in der UdSSR einzustellen.

Zum einen waren ihre Kenntnisse der sowjetischen Verhältnisse begrenzt und zum anderen mit illusionären Vorstellungen und Erwartungen behaftet. Die ungenügenden Kenntnisse der russischen Sprache waren ein weiterer Hinderungsgrund, um sich gründlicher mit den neuen Gegebenheiten vertraut zu machen. Die uneingeschränkte und disziplinierte Unterordnung der KPD-Führung in Moskau unter das Reglement der Komintern dürfte ebenfalls alles andere als förderlich gewesen sein, um die sowjetische Realität allseitig zu erfassen. Eine Situation, in die man sich heute nur schwer hineinversetzen kann.

Als ich begann, mich der Vergangenheit meiner Eltern zu nähern, war ich zunächst mit den Auswirkungen der faschistischen Diktatur in Deutschland auf meine Eltern konfrontiert, die sie schließlich zwang, ihre Heimat zu verlassen. Die ge­zielte faschistische Verfolgung der kommunistisch gesinnten und entsprechend aktiv handelnden Eltern war keineswegs überraschend. Denn das einmalige Verbrechen in der Ge­schichte der Menschheit führte bekanntlich dazu, dass unzählige An­ti­faschis­ten verfolgt und verhaftet wurden, viele von ihnen bezahlten ihren Einsatz mit ihrem Leben.

Die Repressalien und die Ermordung Tausender Kommunis­ten und anderer unschuldiger Menschen durch die Machtorgane des ersten sozialistischen Staates waren hingegen weder durch damalige innere noch äußere Umstände gerechtfertigt. So schmerzlich für mich die Einsicht auch war, aber: Die Verbrechen, die angeblich im Namen und zum Schutz des Sozialismus geschehen sind, waren und sind unentschuldbar! Wie schmerzlich mussten erst meine Eltern die von ihnen zunächst vermutete »irrtümliche« Ungerechtigkeit empfinden und in der Folgezeit die Perversion der sozialistischen Idee jahrelang ertragen? Ihr Schmerz war vielleicht ein Grund dafür, warum sie nicht gewillt waren, später über das erlittene Unrecht zu sprechen.

Den sich mir erschließenden Unterlagen konnte ich entnehmen, dass mein Vater vor seiner Dienstreise bereits Ende 1932 und Ende 1933 an zwei Plenartagungen des ZK der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) in Moskau als Delegierter mit Stimmrecht teilgenommen hat. Zur Jahreswende 1934/35 befand er sich erneut in der sowjetischen Hauptstadt auf einer Konferenz des Exekutivkomitees der KJI, dessen Mitglied er war. Auf seiner Rückreise von Moskau nach Paris wollte er über Amsterdam nach Berlin reisen, wurde aber in der niederländischen Hauptstadt von einem Polizeispitzel verraten, wegen »Benutzung eines gefälschten Passes« festgenommen und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Diese Strafe wurde später auf sechs Monate verkürzt und er nach Belgien abgeschoben. Dort unterstützte er die Arbeit des kommunistischen Jugendverbandes. Im Auftrag der KPD reiste er von Belgien aus nach Moskau, um am VI. Weltkongress der KJI teilzunehmen.

So kam am 25. September 1935 Gabriel Lewin als Holländer Jakob Rogge in der UdSSR. Im Oktober des gleichen Jahres folgte ihm Hertha Gottfeldt als Schweizer Lehrerin Martha Bren­ner nach Moskau nach.

Für meinen Vater völlig unerwartet erteilte ihm das Politbüro der KPD wegen »nichtkonspirativen Verhaltens« in Ams­terdam einen Verweis. Er wurde aus dem Sekretariat des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands (KJVD) entfernt und sollte von der Teilnahme am Weltkongress der KJI ausgeschlossen werden. Daraufhin wandte er sich am 1. Oktober 1935 an das Politbüro:

»Ich habe bis heute keine offiziellen Mitteilungen darüber, welche Anschuldigungen gegen mich vorliegen. Verschiedene unzutreffende Gerüchte über meine bereits vollzogene Entfernung aus dem Sekretariat des KJVD wegen Verletzung der Konspiration, über angebliches schlechtes Benehmen während meines Aufenthaltes im Gefängnis bzw. vor Gericht, sogar das un­geheuerliche Gerücht, ich sei zu einem Treff mit einem Mann gegangen, der mir als Gestapospitzel bekannt war, habe ich zum Teil schon vor meiner Ankunft in Moskau gehört.

Ich bin jetzt in der unmöglichen Lage, dass ich zunächst nicht am Weltkongress der KJI (auch nicht als Gast) und auch nicht an der Arbeit der deutschen Delegation und des ZK des KJVD teilnehmen kann. […] Es gibt meines Wissens keine Beschuldigungen und ganz gewiss keine Tatsachen, die meiner Teilnahme am Kongress der KJI und meiner Arbeit im ZK des KJVD im Wege stünden. Ich bitte das PB daher, unabhängig von der endgültigen Klärung der Frage, möglichst sofort einen Beschluss zu fassen, der mir die sofortige Kenntnis der konkreten Anschuldigungen gegen mich, die Teilnahme am Kongress der KJI und an der Arbeit des Verbandes ermöglicht.«

Dieses Schreiben veranlasste Wilhelm Pieck, sich am 3. Ok­tober 1935 an die Kommunistische Jugendinternationale zu wenden: »Das PB des ZK der KPD hat in seiner letzten Sitzung beschlossen, dass der Genosse Arno, ungeachtet des gegen ihn eingeleiteten Verfahrens, an den Verhandlungen des KIM-Kongresses (Kommunistitscheskij International Molodjoschij, Kommunistische Jugendinternationale – A. R.) teilnehmen soll. Wir ersuchen, ihm eine Gastkarte auszuhändigen.«

Dieser Bitte Wilhelm Piecks wurde entsprochen, mein Va­ter nahm als Gast am KIM-Kongress teil.

Gabriel bzw. Gabo Lewin trug in Moskau einen Decknamen wie alle Parteiemigranten, seiner lautete »Arno Arnold Gartigowitsch«, daher hieß er in Piecks Intervention »Arno«. Überliefert ist, dass in jener Zeit meine Eltern im Moskauer Hotel »Sojusnaja« wohnten und zunächst keine geregelte Arbeit hatten.

Der Schriftverkehr zwischen meinen Eltern und den Verantwortlichen der KPD in Moskau lässt durchaus den Schluss zu, dass die Entscheidung der Parteiführung seinerzeit zwei Ziele verfolgte. Die Eltern sollten den Klauen der Gestapo entzogen werden. Eine weitere Absicht bestand offensichtlich darin, insbesondere meinen Vater, angesichts seiner vermeintlichen linkssektiererischen Abweichungen in der Vergangenheit, in der Arbeit unter sowjetischen Bedingungen einer Prüfung zu unterziehen. Nach Eintreffen in Moskau büßte er sofort seine Funktionen im KJVD und in der KPD ein und wurde mit einer Parteistrafe belegt, ohne angehört worden zu sein. Es bestand auch keine Vorstellung, wo und welcher Tätigkeit er eigentlich in der Sowjetunion nachgehen sollte. Zunächst hieß es, Instrukteur unter ausländischen Arbeitern, dann Redakteur in der deutschsprachigen Jugendzeitung Jungsturm in Charkow.

Am 21. Dezember 1935 schrieb er an das Politbüro der KPD, dass »nach dem bisherigen Verlauf der Dinge nicht einmal ein Anhaltspunkt dafür besteht, wann ich mit einer geregelten Arbeit beginnen kann«. Er bat die Genossen, einen Beschluss über seine »Verwendung« zu fassen. Schließlich wur­de er Redakteur in der Deutschen Zentralzeitung (DZZ) und erhielt ein Gehalt. Am 26. Oktober 1937 schrieben meine Eltern an die Kaderabteilung der Komintern, dass ihnen seit Wochen die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung vorenthalten werde. Ohne eine Bewilligung würden sie nicht im Hotel verbleiben dürfen und von der Miliz aufgefordert werden, ihr Domizil zu verlassen.

Ein Auszug aus dem Protokoll Nr. 12 der Kleinen Kommission der KJI ohne Datum teilte der Vertretung der KPD bei der Komintern mit, dass das Exekutivkomitee der KJI ab 1. Januar 1938 die Zahlungen einstellen werde. Man hielte »den weiteren Aufenthalt der Genossen Balder, Arno (mein Vater – A. R.), Landwehr, Reder (meine Mutter – A. R.) und Dolli Wehner in Moskau nicht (für) zweckmäßig«.

Mit dieser lapidaren Mitteilung wurden ganz offensichtlich die Weichen für einen »zweckmäßigeren« Aufenthalt meiner Eltern fern von Moskaus gestellt.

So gestaltete sich die politische Situation für meinen Vater, der sich unbegründeten Vorwürfen und einer Strafe seitens der Partei gegenübersah, die ihn seinerzeit beauftragt hatte, in die Sowjetunion zu emigrieren. Dem folgten die Verhaftung und die zweimalige willkürliche Verbannung in der UdSSR. Das Unrecht mündete schließlich in ein diskriminierendes Verhalten der SED bei der lückenlosen Wiederherstellung der Parteimitgliedschaft der Eltern. Bei meinem Vater erfolgte diese erst am 9. November 1955.

Die überlieferten Briefe, Eingaben und Telegramme, die meine Eltern in der Zeit zwischen dem 22. Februar 1938 und dem 14. April 1955 verfassten sowie andere Dokumente offenbarten dennoch eine Haltung, die denen anderer verfolgter Emigranten glich. »Nicht jeder Tag war schön, aber …«, so Walter Ruge in seinem Buch »Treibeis am Jenissei«. »Wir sind aufrecht gegangen, haben viel erlebt […]. Alle Versuche, unser Leben, also auch die DDR oder UdSSR, pauschal zu ›delegitimieren‹, oder zum ›Unrechts-Staat‹ zu erklären, gehen an unserem Leben […] vorbei.«1

Dieser Aussage des im Jahre 2011 verstorbenen Kommunis­ten Ruge, der selbst Opfer jahrelanger stalinistischer Repression in der Sowjetunion geworden ist, würden meine Eltern uneingeschränkt zustimmen und, wie ich meine, hinzufügen: eine heute übliche pauschale Delegitimierung des Sozialismus ging auch an ihrer Geschichte gänzlich vorbei.

1 Walter Ruge: Treibeis am Jenissei, Schkeuditz 2006, S. 424

Die Eltern

Mein Vater Gabriel Lewin entstammte einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie und wurde am 21. Dezember 1906 in Berlin geboren. Sein Vater Hartwig Lewin besaß eine kleine Schuhkremfabrik, die 1913/14 pleite ging. Bis zu seinem Tod 1932 blieb er erwerbslos. Hulda Lewin, seine Frau und meine Großmutter, ernährte die Familie mit einem Papier- und Pa­pierartikelgeschäft, in dem sie selbst mit einem Angestellten tätig war. Sie wurde 1942 von den Nazis in das KZ Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Einen Tag vor ihrer Deportation am 17. September 1942 schrieb sie an ihre Tochter Henriette, meine Tante: »Noch will ich Dir sagen, dass meine Reise in einen Ort geht, der alle alten Menschen aufnehmen soll. Ich sage soll, weil bei allem ja doch die Frage besteht: ist es auch so? […] So leb denn wohl. Nachdem ich die ganze Nacht mit Hilfe einer Untermieterin gearbeitet habe, schreibe ich an Dich, denke in treuester Liebe an Dich und das Kind und an unseren großen Namensvetter (gemeint ist Gabo – A. R.) Deines Kindes (gemeint ist Gabi, die Tochter von Henriette – A. R.).

Oft, meine Ettele, ist mir’s ums Herz, als wäre er allem Erdenleid entrückt. Ich sitze dann so zusammengekauert und bin entsetzt über meine Gedanken, die so quälend mich bewältigen. Wann werde ich von ihm, von Euch jetzt hören? Meine Stunden hier sind jetzt gezählt. 71 Jahre alt, fast 33 Jahre in diesen Räumen, die mich so fremd gegen früher berühren! Das bleibt das Ende – oder auch nur der Übergang zu größtem Glück – zu einem Wiedersehen mit Euch! Ich will standhaft bleiben und vertrauend hoffen! Lebt wohl …«2

Hulda Lewins Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Familie erfüllte sich nicht.

Henriette, verheiratete Pickardt, emigrierte mit ihrer Tochter Gabi im April 1939 nach England und war dort als Sozialpädagogin tätig. Meine Tante besuchte später wiederholt Berlin – erstmals 1956, zum letzten Mal 1991. Sie starb am 25. Ja­nuar 1993 in London.

Joachim Pickardt, ihr Mann, war Mitglied des KJVD und der KPD. Er wurde am 11. Januar 1935 von der Gestapo verhaftet und in der Folgezeit durch die Konzentrationslager Esterwegen, Brandenburg und Sachsenhausen geschleift. Am 12. April 1941 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Von ihm sind zwei Schriften erhalten geblieben: »Streiflichter auf das Hitler-Deutschland« und das Gedicht »Niemand blickt Dir hinter das Gesicht«, das er aus einem Konzentrationslager an seine Frau schickte. In beiden Texten werden seine konsequente antifaschistische Haltung, eine tiefe humanistische Gesinnung und menschliche Größe sichtbar.

Niemand blickt Dir hinter das Gesicht.

Keiner blickt dir hinter das Gesicht,

Keiner weiß, wie arm du bist.

Deine Nachbarn haben selbst zu klagen,

Und sie haben keine Zeit zu fragen,

Wie denn dir zumute ist.

Außerdem, würd’st du es ihnen sagen?

Lächelnd legst du Leid und Last,

Und sie nicht zu sehn auf deinen Rücken.

Doch sie drücken und du musst dich bücken,

bis du ausgelächelt hast.

Und das Beste wären ein Paar Krücken.

Manchmal blickt dich einer an, als ob er dir helfen werde,

Doch er senkt den Blick zur Erde,

weil er dir nicht helfen kann

und geht weiter mit der großen Herde.

Sei trotzdem kein Pessimist,

Sondern lächle, wenn man mit dir spricht.

Keiner blickt dir hinter das Gesicht,

Keiner weiß, wie arm du bist,

Und zum Glück weißt du es selber nicht.

Keiner weiß, wie reich du bist.

Freilich mein ich keine Wertpapiere,

Keine Villen, Autos und Klaviere

Und was sonst so teuer ist,

Wenn ich hier von Reichtum referiere.

Nicht vom Reichtum, den man sieht

Und versteuert, will ich hier erzählen.

Es gibt Dinge, die kann keiner zählen.

Auch wenn er die Wurzel zieht,

Und kein Dieb kann diesen Reichtum stehlen.

Der Humor ist solch ein Schatz.

Oder auch die Güte

Und das ganze übrige Gemüte,

Denn im Herze ist viel Platz

Und es ist wie eine Wundertüte.

Arm ist nur, wer ganz vergisst,

Welchen Reichtum das Gefühl verspricht.

Keiner blickt dir hinter das Gesicht.

Keiner weiß, wie reich du bist.

Und du weißt es manchmal selber nicht.

Immer wieder las ich diese Gedanken, war ergriffen und stolz darauf, dass ein Mensch, der solches empfand und in der Lage war, diese Gefühle so beeindruckend zu artikulieren, zu unserer Familie gehörte. Mehr denn je bedauere ich, ihn nie persönlich kennengelernt zu haben.

Obwohl meine Tante als Sozialpädagogin und mein Vater als Parteiarbeiter auch charakterlich sehr verschieden waren und auch unterschiedliche Ansichten zu gesellschaftlichen und aktuellen politischen Fragen vertraten, pflegten sie ungeachtet der langjährigen Trennung, oder vielleicht gerade deshalb, eine Beziehung, die ich bewunderte. So schrieb »Ette« an ihren Bruder am 21. April 1947: »Nach zehn Jahren höre ich heute, dass Du irgendwo in der Welt lebst, ich weiß nicht einmal wo, aber ich bin schrecklich glücklich. Ich habe es durch eine fremde Frau gehört … Ach, ist das schön! […] Wo bist Du? Was tust Du? Wie geht es Hertha, Andre? Hast Du mehr Kinder? Wo warst Du die letzten zehn Jahre? Den letzten Brief bekam ich von Dir 1937! Und 1938 erzählte mir Jo (d.i. ihr Mann Joachim Pickardt – A. R.), als ich ihn das letzte Mal sah, dass Du eine andere Arbeit hast.«

Und in einer Geburtstagskarte an meinen Vater am 13. De­zember 1991 hieß es: »Liebes Brüderchen, das hätten wir uns nicht vorgestellt, dass wir so alt werden würden. Und uns immer noch so gut leiden können. Und sogar noch Grund dazu haben!

Du bist, seit wir erwachsen sind, für mich immer ein Vorbild gewesen an Hingabe an eine Sache, eine Idee und deren Verwirklichung. Dass Du am Ende des Weges so viel Zerstörung sehen musstest und musst, ist eine große Ungerechtigkeit des Schicksals. Ich wünsche Dir, dass Du die Kraft der Hoffnung behältst und sie warm hältst …«

Nach dem letzten Besuch Henriette Pickardts mit ihrer Tochter Gabi in Berlin schrieb mein Vater 1991: »Schön, dass Du, dass Ihr hier wart. In der kurzen Zeit haben wir das Töchterlein liebgewonnen. Habt Dank.

Es hat sich viel geändert in der letzten Zeit, noch vieles wird sich ändern. Aber im Grunde ist es so, wie ich Dir damals zum 80. schrieb: … das Gemeinsame ist – denke ich – so geblieben, und das bindet stärker als Blutsverwandtschaft. […]

Und jetzt? Es hat sich bestätigt. Und als es hart auf hart ging […], da stand sie als Antifaschistin standhaft nicht nur auf Seiten ihres Kameraden, des Kommunisten Jo, und ihres Bruders und ihres Vetters Mani Bruck, da waren deren Genossen auch ihre Genossen.«

Sehr viel später entdeckte ich einen sehr aufschlussreichen Brief meiner Tante Henriette wieder, den sie mir am 12. D­e­zember 1954 geschrieben hatte, als ich in der Internatsschule im thüringischen Wickersdorf die 11. Klasse besuchte.

»Lieber Andrej,

Du kennst mich nicht und hast wohl auch nicht viel von mir gehört, und ich muss leider dasselbe von Dir sagen, aber ich denke oft an Dich und stelle mir vor, wie Du bist.

Dein Vater und ich haben uns sehr lieb gehabt, und ich hätte nie gedacht, dass ich seinen Sohn nicht kennen würde. Mein Mann ist, wie Dir vielleicht Deine Mutter erzählt hat, von den Nazis im Konzentrationslager ermordet worden, eben­so wie meine Mutter.

Ich habe eine Tochter, die Gabriele heißt, Du wirst Dir denken können, warum. Sie wird … Gabi genannt.

Als ich ein Schulmädchen war, hatte ich keinen größeren Wunsch, als nach Wickersdorf in die Schulgemeinde zu kommen. Ich war unglücklich zu Hause und in der autoritativen deutschen Staatsschule, und als ich 14 Jahre war, schrieb ich selbst an den damaligen Leiter von Wickersdorf, Wyneken, ob er mich aufnehmen würde, aber ich hatte kein Geld, und es wurde nichts daraus. Du hast es besser, Du bist dort. Wie es dort wohl jetzt ist? Ich war, schon als 14-Jährige, eine ›Schulreformerin‹ und interessiert an all diesen Landschulheimen.«

Obwohl wir uns später relativ selten sahen und nur unzureichend kennenlernen konnten, bestand zwischen Henriette und mir ein sehr herzliches Verhältnis. Als Sozialpädagogin musste sie eine gute Psychologin gewesen sein und eine sich um mich sorgende Tante allemal. Das bestätigen anschaulich auch einige Briefe aus dem Jahre 1949, die ich in den Ostertagen 2011 erstmals lesen konnte. Ohne mich zu kennen, machte sie sich große und berechtigte Sorgen darüber, dass meine Mutter nach unserer Rückkehr aus der Sowjetunion neben vielen anderen Problemen, denen sie sich ausgesetzt sah, als Alleinerziehende absolut überfordert war. In ihrem und in meinem Interesse riet sie ihr, sich Rat zu holen.

Die Schuld für mein damaliges schwieriges Verhalten sei, wie sie im Brief vom 28. Fe­bruar 1949 schrieb, nicht allein bei mir zu suchen, denn: »Andrej ist ein sehr beraubtes Kind: kein Vater, keine richtige Mutterliebe, keine Heimat, kein Heim, keine eigene Sprache, scheinbar keine Freunde. Er reagiert daraus mit allen Symptomen eines schwierigen Kindes. Geh zu einem Psychologen, versuche Be­handlung oder Landerziehungsheim oder beides. […]

Ich wollte ja auch gern mit Andrej korrespondieren, der auch einen Platz in meinem Herzen hat (das Gummiwände hat), aber die Korrespondenz ist einseitig.«

Diese Zeilen beeindruckten mich sehr, weil aus ihnen eine tiefe menschliche Wärme für einen Heranwachsenden sprach, den sie, ohne ihn zu kennen, ganz offensichtlich in ihr Herz geschlossen hatte.

Gabriel Lewin, ihr Bruder, lernte von 1912 bis 1921 im Schiller-Realgymnasium in Charlottenburg und von 1921 bis 1923 in der Otto-Berthold-Schule in Lichterfelde. Aus finanziellen Gründen konnte er jedoch die Schule nicht bis zur Abschlussprüfung besuchen. Hinzu kamen noch andere Probleme. »Differenzen in der Schule mit den reaktionären Gym­nasialprofessoren, die verlogene Moral, die ich im Elternhaus kennenlernte, gaben schon früh mit den Anstoß zu einer zu­nächst ziellosen mit pazifistischen Illusionen verknüpften Op­position. So kam ich in Berührung mit den entschiedenen Schulreformern, mit allen möglichen Grüppchen der nach der Revolution sich stärker entwickelnden bürgerlichen und Arbeiterjugendbewegung.«3

Aus Interesse an Sport und Wandern schloss sich mein Vater 1919 dem Jüdischen Zionistischen Wanderbund »Blau-Weiß« an. Die politischen Ziele dieser Organisation teilte er nicht, weshalb er nach einem Jahr wieder austrat. 1922 begann er Gruppenabende der kommunistischen Jugend in Berlin-Lichtenrade und in Charlottenburg zu besuchen und machte sich dort erstmals mit marxistischer Literatur vertraut. Am 11. Mai 1924 beteiligte er sich an Aktionen der KPD gegen den »Deutschen Tag« in Halle und wurde vorübergehend verhaftet.

1925 wurde er Mitglied im Zentralverband der Angestellten (ZdA) und engagierte sich in Charlottenburg in der Gewerkschaftsjugendbewegung. 1926 trat er als KJV-Mitglied der KPD bei. Wegen Rädelsführerschaft und Landfriedensbruchs bei Zu­sammenstößen mit Faschisten wurde er 1930 festgenommen und nach vierwöchiger Untersuchungshaft wegen Mangel an Beweisen freigelassen.

1932 nahm er an der Antikriegskonferenz in Amsterdam teil. Ende 1932, mit gerade mal 26 Jahren, wurde er politischer Leiter (Pol.-Leiter) des Berliner Jugendverbandes, Mitglied des Sekretariats des ZK des KJVD und des Sekretariats der Berliner KPD-Organisation. In jener Zeit nahm er am Plenum der Kommunistischen Jugendinternationale in Mos­kau teil, dort wählte man ihn ins Präsidium der KJI, dem er bis 1935 an­gehörte.

Im März 1933, wenige Wochen nach Errichtung der Nazidiktatur in Deutschland, wurde Gabo Lewin in den Preußischen Landtag gewählt. Aber wie alle gewählten kommunistischen Abgeordneten konnte er sein Mandat nicht ausüben. Am 31. März 1933 war mit dem »Vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich« sämtlichen KPD-Abgeordneten das Mandat aberkannt worden.

Im Dezember 1934 nahm er an der ersten illegalen Reichskonferenz des KJVD teil. Dort wurde er erneut in das ZK des Jugendverbandes und vom Zentralkomitee in dessen Sekretariat gewählt. Fünf Jahrzehnte nach der letzten legalen ZK-Tagung erinnerte er sich. »Wer sich vorstellt, dass das in der Mehrzahl marxistisch gebildete Jungen und Mädchen waren, der irrt. Die meisten kamen in den KJVD und die KPD aufgrund eigener Erfahrungen. Und die waren mannigfaltig. Für die meisten stand im Vordergrund, wie die Reichen und Mächtigen immer offensichtlicher und maßloser prassten und ihren Reichtum mehrten, während sie selbst von Kindheit an unter unwürdigen Bedingungen schuften mussten und oft keine Lehrstelle, später keine Arbeit bekamen […]. Manche konnten sich mit der damaligen Schule, mit den das wahre Leben entstellenden, zum Krieg und Völker- und Rassenhass hetzenden reaktionären Lehrern nicht abfinden. Zu denen gehörte ich auch. Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, war für viele – auch für mich damals Dreizehnjährigen – eine tiefe Erschütterung.

Wir wollten – oftmals zunächst noch unbewusst –, dass es anders, gerechter, besser und schöner zugehen soll. Wir wollten das Leben verändern. Viele Jugendverbände kannten wir, die sich zwar fortschrittlich gebärdeten, die uns aber nicht gefielen, weil da nur geredet, aber nichts getan wurde. Da waren die Kommunisten anders. Die wollten etwas verändern und taten etwas dafür, dass es wirklich anders wird.«4

Meine Mutter Hertha Lewin-Reder war eine geborene Gottfeldt und kam ebenfalls aus einer armen, kleinbürgerlichen jüdischen Familie. Sie wurde am 8. Juni 1908 in Berlin-Fried­richshain geboren. Ihre Mutter Rosa Gottfeldt starb, als Hertha sechs war. Vater Walter Gottfeldt, Buchhalter von Beruf, wurde 1941 in das KZ Theresienstadt deportiert und aller Wahrscheinlichkeit nach dort ermordet.

In Berlin besuchte meine Mutter zunächst ein Lyzeum, anschließend eine Oberrealschule. 1924 folgte sie der Einladung zu einer Fahrt, die von der jüdischen Jugendbewegung »Kameraden« organisiert wurde. Dort schloss sie sich nach eigenen Aussagen einem »besonders radikal jugendbewegten Kreis« an. Dieser lehnte das Rauchen, Trinken von Alkohol und alle Formen bürgerlichen Daseins ab – und suchte für sich selbst nach alternativen Lebensformen. Folgerichtig schloss sie sich 21-jäh­rig einem »radikalsozialistischen Kreis« an und nahm dort erstmals einige marxistische Rundbriefe zur Kenntnis. Mit anderen gelangte sie zunächst gefühlsmäßig zur Überzeugung, dass sie »ein Stück Wegs gemeinsam mit den Kommunisten gehen müssten; wenigstens bis zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaft. Damit glaubten wir das Ziel des Kommunismus erreicht, während dann unsere Arbeit, nämlich der Neuaufbau einer anderen Gesellschaft beginnen würde.«5

Die Kommunisten hielt sie für radikaler als die sozialdemokratische Jugendbewegung. Sie »begeisterte« sich für das Radikalste, wie sie meinte.

Aus unseren Gesprächen weiß ich, dass sie eine gute Schülerin gewesen war, dennoch brach sie die Schule ab. »Nachdem ich in der Jugendbewegung war, hatte ich gegen die Schule eine solche Abneigung, dass ich zwei Jahre vor dem Abitur abging und das Studium aufgab.«6

1926/27 besuchte sie ein Hortnerinnen-Seminar, bekam jedoch nach dem Examen keine Anstellung, da sie inzwischen als Kommunistin verschrien war. Sie arbeitete in einem Kindergarten, später als Hortnerin bei der Arbeiterwohlfahrt in der Danziger Straße, wo sie 1928 entlassen wurde, weil »sie sich den sozialdemokratischen Erziehungsmethoden« nicht fügte.

1927 verließ sie die Wohnung des Vaters und bezog ein Zim­mer, nunmehr war sie auf sich allein gestellt. 1928 arbeitete sie als Packerin in der Albumfabrik Wübben, dann in einer Krawattenfabrik als Näherin im Akkord und schließlich in der Registratur in einer Elektrowerkstatt.

Zwischendurch war sie immer mal wieder arbeitslos und gezwungen, von geringen Zuwendungen ihrer Verwandten zu leben. Gewerkschaftlich war sie im Bekleidungsarbeiter- dann im Buchbinderverband organisiert. Ende 1927/Anfang 1928 traten viele von ihren »radikalen« Freunden in den Jugendverband der KPD ein. Am 7. Februar 1928 beantragte auch sie die Mitgliedschaft im KJVD. Dort trafen sich Gabriel Lewin und Hertha Gottfeldt. Aus einer Jugendfreundschaft wurde Liebe, die ihr Leben lang hielt. 1966 wurde sie mit der Trauung auch offiziell dokumentiert.

Am 3. Januar 1929 wurde meine Mutter im Rahmen eines Parteiaufgebot in die Kommunistische Partei Deutschlands aufgenommen. Als junge Kommunistin übernahm sie verschiedene Aufgaben. So war sie als Instrukteurin in verschiedenen Siemenswerken im Unterbezirk Nordwest eingesetzt, später auch als Zeitungsobmann tätig. Bei Demonstrationen wurde sie wiederholt verhaftet, so auch am 1. Mai 1929. Bei einem Prozess vor dem Jugendgericht wurde sie wegen Gefangenenbefreiung, Widerstand und Körperverletzung zu vier Tagen Gefängnis und 50 Reichsmark Strafe verurteilt.

Von August 1930 bis Februar 1934 war sie halbtags als Stenotypistin in der Handelsvertretung der Sowjetunion in Berlin tätig. Am 7. November 1932 bekam sie als Prämie für ihre Arbeit eine goldene Armbanduhr, die für uns später in Kasachstan lebensrettend sein sollte.

Als die Nazis die Macht ergriffen und die Partei verboten wurde, war sie Agitpropleiterin in einem Unterbezirk der KPD und erledigte technische Arbeiten für den Jugendverband. Bereits 1932 wurde ihr von der Polizei die Ausstellung eines Passes verweigert. Im Februar 1934 wurde meine Mutter von der Partei nach Paris entsandt. In Frankreich arbeitete sie als tech­nische Kraft in der Jugendvertretung bei der Auslandsleitung der Partei. Nach der Verhaftung meines Vaters in den Niederlanden durfte sie aus Sicherheitsgründen erst im April 1935 nach Deutschland reisen. Im Juni erhielt sie die Anweisung, sich nach Prag zu begeben. Auf Beschluss des ZK des KJVD fuhr sie im Oktober weiter in die Sowjetunion.

Im November 1936 kam ich in Moskau zur Welt. Auch nach meiner Geburt galt die Aufmerksamkeit meiner Eltern keineswegs nur ihrem von Rachitis befallenen Sohn, sondern weiterhin der Verwirklichung der Idee von einer gerechten, ausbeutungsfreien und von Nazis freien Gesellschaft in Deutschland.

Die Zeit in Moskau begann nicht leicht. Doch die engagierte 28-jährige Jungkommunistin und der 30 Jahre alte Kommunist waren der festen Überzeugung, dass sie nunmehr die Grundlage für ihr Familienglück schaffen könnten.

2 Brief Hulda Lewins an ihre Tochter Henriette vom 16. September 1942. Dieser wie alle anderen nachfolgenden Dokumente im Original bzw. als Kopie im Besitz des Autors

3 Lebenslauf von Gabo Lewin vom 27. April 1955, Kopie im Besitz des Autors

4 Gabo Lewin in der Zeitschrift Junge Generation 5/1983, S. 27f.

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