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Der eine fährt eine pinke Ente mit Land-Rover-Ausstattung, der andere trägt einen Hut namens Schweinepastete, beim einen wird Lara, die einstige Klosterschülerin, zum Flittchen, beim anderen zur Schubert-Liebhaberin. Ihre rastlose Suche nach Liebe findet bei Heimo ein vorläufiges Happy End, doch nach 13 Jahren meint er, ihre Beziehung sei nie etwas Gescheites gewesen. Geschockt und ernüchtert begreift Lara, was sie all die Jahre angetrieben hat: eine Bedürftigkeit so groß, dass kein Mann sie je stillen kann.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2025
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geboren 1960 | Wirtschaftskundliches Realgymnasium der Ursulinen in Innsbruck | Studium der Germanistik | Redakteurin bei Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache | Kursleiterin Deutsch als Fremdsprache | Frauen- und Pressereferentin bei den Tiroler Grünen | Pressereferentin und Geschäftsführerin bei der SPÖ Tirol
Veröffentlichungen:
Langformen: Du machst das schon (2020, BoD) | Brave neue Welt (2023, BoD) | Die Bratschistin (2024, BoD)
Kurzgeschichten: Blödsinn, sagte der Pinguin (2022, story.one) | Das dumme a (2022, story.one)
www.christinemayr.at
DAS BARBIER
WALROSSPFOTE
EIN HUT NAMENS SCHWEINEPASTETE
KELLNERIN GESUCHT steht auf einem Zettel an der Tür der Bar, in der ich ab und zu nach einer Vorlesung ein kleines Bier trinke, BEWERBUNGEN IM LOKAL. Das ist der Job, den ich brauche. Meine Eltern gehören nämlich nicht zu der Sorte, die ihre Fortpflanzen mit Geldregen überschüttet. Einmal darüber schlafen, aufwachen, und ich weiß: Die Idee ist gut.
Ich ziehe meine hautengen Jeans an, die taschenlosen, die sich unter den Knien zu Glocken weiten, schlüpfe in die weiße Bluse mit dem dezent koketten Ausschnitt und stecke mir die Haare zu einem Knoten auf dem Scheitel hoch, den ich sorgfältig schlampig arrangiere. Meine Augen mit den grünen Sprenkeln im hellen Braun betone ich mit einem grünen Kajalstrich, vertraue auf das natürliche Rot meiner Lippen und meine Bekanntheit als Gästin. Serviererfahrung habe ich. Seit ich vierzehn gewesen bin, habe ich in den Sommerferien Tourists bedient, die sich in Albruggens Prachtgasse kurz bei Kaffee und Kuchen niederlassen, um Kraft für das nächste Museum oder die Stufen auf den Burgturm zu tanken. Ich kann ein Tablett über dem Kopf zwischen engstehendem Trinkvolk durchjonglieren und mir Bestellungen in den meisten Fällen merken. Und Kopfrechnen ist sowieso meine Lieblingssportart.
Joey engagiert mich vom Fleck weg. Er ist gelernter Friseur, hat feuerrote Haare, die in ungezähmten Locken vom Kopf stehen und markiert gern den Figaro, vor allem, wenn er einen sitzen hat. Dann springt er hinter dem Tresen im Karree und intoniert Mozart. Figaro qua, Figaro là, Figaro su, Figaro giù. Die Gäste biegen sich vor Lachen und applaudieren ihm. Bravo Figaro, bravo, bravissimo.
An meinem ersten Arbeitsabend händigt er mir eine abgegriffene Kellnertasche aus, schwer von Münzen, vor allem Fünfer und Zehner, ein paar Scheine in den Fächern, insgesamt tausend Schilling Wechselgeld. „Vom ersten Lohn kaufst du dir dann deine eigene“, sagt er und gibt mir auch eine Schürze, ottakringergelb mit dem Namen der Bar in schwarzem Schriftzug, Das BarBier. Ich stecke die Geldbörse in die rechte Popotasche meiner Hose, für die Arbeit habe ich eine Five-Pocket-Jeans im Bootcut-Schnitt gewählt, und lasse mir ein paar Handgriffe zeigen, dir mir nicht geläufig sind. Allen voran die, mit denen es Joey schafft, einem koffeinfreien Espresso eine schöne Crema zu verpassen. Darauf ist er stolz, kaum ein Wirt kann das, schon gar nicht einer, bei dem Bier in der Beliebtheitsskala der Gäste ganz oben steht. Das Geheimnis ist, mehr Pulver in das Sieb zu geben als beim unkastrierten Kaffee – O-Ton Joey – und es mit großer Kraft festzudrücken. Bei meinem dritten Versuch kann sich der cremige Kaffeeschaum sehen lassen, ein Laie könnte keinen Unterschied zum Unkastrierten ausmachen. Joey ist zufrieden, ich bin es auch. Auch wenn davon auszugehen ist, dass dieses Getränk nur selten von mir verlangt werden wird.
Während ich meinem neuen Chef beweise, dass ich Weißbier einschenken kann, ohne dass der Schaum überläuft, und er anerkennend nickt, taxiert mich der Gast, der es bestellt hat. Er lungert mitten im Gastraum herum und kommt mir bekannt vor, besonders das Klebrige seines Blicks meine ich schon einmal gespürt zu haben. Ich bringe ihm das Glas, drücke es ihm in die Hand, eine schmale, knochige Hand, viel zu faltig für die dreißig Jahre, die der Typ vermutlich hat. Da fällt es mir ein. Das Schachbrett im Burggarten, mit den kniehohen Figuren unter einer Sonnenplane, in dessen Nähe ich als Schülerin mein Mittagsbrot aß und Fru-Fru aus einem Glas löffelte, mitgebracht aus dem Milchtrinkstüberl neben dem Souvenirladen, wo ich im Sommer für schlechtes Geld Trachtenpuppen und kitschige Polsterbezüge mit gestickten Flachweisheiten an Tourists verkaufte. Das Männchen stand bei den Spielern, die Hände vor der Hose ineinander verkrallt, fixierte mich. Immer wenn eine Figur gezogen worden war, schaute es zu mir und grinste dreckig, die Zunge im Mundwinkel. Bis ich mir eine andere Bank suchte, auf der ich während der restlichen Wochen meines Ferialjobs die Mittagspause verbrachte, ohne klebrige Blicke und leckende Zunge.
Das Früchtchen nimmt das Bier entgegen, streift mit einem Finger die meinen, ohne sich die Mühe zu machen, es absichtslos erscheinen zu lassen. Ich wende mich ab, bevor es seine Zunge in den Schaum stecken kann, der fest wie eine Kugel Eis auf der Flüssigkeit steht und geradezu danach ruft, geschleckt zu werden, von Leuten, die nicht den Anstand besitzen, das Glas manierlich an die Lippen zu setzen, das Bier in Schlucken zu trinken und sich nachher das Schaumbärtchen von der Oberlippe zu wischen. „Wart einmal, Flittchen“, sagt er zu mir, die ich mich schon drei Schritte von ihm entfernt habe, und ich drehe mich um. „Wenn du für mich hackeln würdest, könntest du mehr Kohle machen als hier.“
Ich schaue zu Joey. Er beobachtet die Szene von der Stufe aus, die hinter den Tresen führt, hat jedes Wort mitbekommen. Ich warte nicht ab, ob er einschreiten wird, mich in Schutz nehmen. „Trink dein Bier aus und verschwind.“ Ich habe mich groß vor den Tunichtgut gestellt, der mir gerade mal bis zur Nasenwurzel reicht. „Gäste wie dich brauche ich nicht.“ Dann gehe ich zur Schank. Joey sagt nichts.
Der Typ stellt das Glas auf den nächstbesten Tisch, der Schaum hat noch nicht Zeit gehabt zusammenzufallen, und zieht ab, ohne zu bezahlen oder die Tür zu schließen. Ich mache sie hinter ihm zu, hörbar aufatmend, und gieße das unberührte Weizen in die Abwasch, Joey sieht mir zu. „Die fünfzehn Schilling gehen auf mich“, sagt er. „Dieses Zniachtl hat mich immer schon genervt.“
DAS BarBier öffnet um fünf und schließt um eins. Offiziell. In Wahrheit ist es oft zwei oder halb drei, bis alle Gäste, seltener auch Gästinnen, ausgetrunken haben, zur Tür hinaus sind, der Umsatz abgerechnet ist, das Trinkgeld gezählt und alle Gläser gewaschen und verräumt. Dann bin ich meistens zu aufgedreht, um daheim ins Bett zu fallen, und kehre auf einen Absacker im Figaro zu, das bis vier offen hat. Nein, dessen Betreiber ist in seinen jungen Jahren weder Friseur noch Barbier gewesen, sondern Marketenderin.
Gestern allerdings bin ich nach der Sperrstunde direkt nach Hause gefahren und habe im Bett noch ein bisschen Musik gehört. Ich bin also nicht verkatert, habe keine zu feucht geratene lange Nacht hinter mir, und trotzdem baut sich der Tag bedrohlich vor mir auf, als ich aufwache. Zu allem Überfluss scheint auch noch die Sonne. Vielleicht hätte ich etwas Fröhlicheres auflegen sollen, aber mir ist nach Leonard Cohen gewesen. Über einem seiner anthrazitdunklen Lieder bin ich eingeschlafen. Gegen vier weckte mich ein rhythmisches Schaben. Der Plattenspieler hatte nach dem letzten Lied die Nadel nicht abgehoben und in ihre Halterung zurückgeführt, die Platte drehte sich, die Nadel hatte keine Musik mehr zum Wiedergeben. Ich hatte etwas geträumt. Von einem Fluss, den ich entlangging und der gierig an meinen Füßen leckte. Ich versuchte, die Erinnerung daran abzuschütteln und schaltete den Plattenspieler aus. Nach einer Weile schlief ich wieder ein.
Als ich wieder wach werde, lecken Sonnenstrahlen begierig an meinen Wangen. Steh auf! rufen sie, nutze den Tag! Es ist erst sieben, für mich eine nachtschlafene Zeit. Ich ziehe die Decke über den Kopf, um der penetranten Helligkeit zu entfliehen, döse noch einmal ein, aber der sonnige Sonntag lässt nicht locker. Carpe diem! brüllt er mir durch die Decke zu. Nutze den Tag! Diesen Bilderbuchtag, an dem andere ihre Ranzen packen und im Frühtau zu Berge ziehen, fallera. Sie wandern ohne Sorgen, singend in den Morgen. Ich ziehe noch einmal die Decke über den Kopf und verfluche das Lied, das in meinem Kopf wie eine steckengebliebene Schallplatte wieder und wieder abläuft.
Nach einer Weile, in der ich noch einmal eingedöst bin und von einer verlorenen Katze geträumt habe, schlage ich die Decke zurück. Vielleicht bleibt die schlechte Stimmung liegen, wenn ich nur schnell genug aus dem Bett springe. Doch im Bad wartet das düstere Monster schon auf mich und in der Küche streckt es sich zur Decke, wälzt sich auf dem Boden und macht sich auf dem Stuhl breit.
Werft ab eure Sorgen und Qual, fallera, und wandert mit uns aus dem Tal, fallera. Wir sind hinausgegangen, den Sonnenschein zu fangen, kommt mit und versucht es doch selbst einmal. Ich will es versuchen. Ich fülle eine Aluflasche mit Wasser und werfe ein paar Müsliriegel in den Rucksack. Binde mir ein Tuch um den Kopf, schnüre meine Schuhe und strecke den Rücken. Wäre doch gelacht, wenn ich es nicht schaffte, hinaus aus dem Tal, fallera, den Sonnenschein zu fangen. Ich packe meinen Ranzen, marschiere über die Straße zur Bushaltestelle und finde es wieder, das düstere Monster. Höhnisch grinsend lehnt es an dem Pfosten mit dem Fahrplan. Wo du bist, bin ich auch. Ich werfe den Rucksack auf den Boden und lasse mich auf die Bank sinken. Ich suche den Horizont nach dem Berg ab, auf den ich gehen wollte und kann vor lauter Sonne nichts sehen. Als der Bus hält, schüttle ich den Kopf, der Fahrer schließt die Tür und fährt weiter.
Die Schicht beginne ich dann nicht mit den Stones, sondern mit Vaya Con Dios. Something’s Got a Hold on Me, Don’t Cry for Louie, Heading for a Fall. Bis fast sechs bin ich allein im Lokal, Joey schaut kurz vorbei, meint aber, das würde ich locker allein schaffen, bei diesem Wetter. Da ist nicht zu erwarten, dass man mir die Bude einrennt. Die zwei Whisky-Freundinnen kommen, die sich am Sonntagabend oft mit einem Single Malt Mut für die Woche antrinken, auch der Verlängerte, aber nur auf zwei Tassen, dann drei von den Luxemburgern, die ihre Seiterln ungewohnt langsam trinken, und später das Paar, das sich nach dem Tatort ein Irokesenschnittchen teilt, diese tramezzini, für die Joey in der Barszene bekannt ist. Das Rezept des Aufstrichs hält er streng geheim, serviert werden die doppellagigen, weichen Sandwiches als aufgestellte Dreiecke, deren Spitzen in Schnittlauch getunkt sind. Am Tisch bei der Tür trinkt der Schöne im feinen Tuch, dem ich gern einmal an die Wäsche gehen würde, einen Radler, während er die Zeitung liest, und an der Bar hockt der stille Braune, der immer allein hier ist. Nach dem fünften Bier fängt er zu reden an. Von den Frauen, die er walkt und knetet, tagein tagaus, wie er sich immer ihre Geschichten anhören muss, wie er verspannte Muskeln glattstreicht und dabei immer nur an eine denke, an die nette Kellnerin, an mich. Er lässt den Kopf sinken, brabbelt etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe. Ich beginne, die Aschenbecher einzusammeln, es ist niemand mehr außer ihm im Lokal, ich würde gern zusperren, aber es ist noch nicht eins, er bettelt um ein letztes Bier, nur eines noch, dann wird er gehen, versprochen. „Ein kleines, okay?“, sage ich und stelle es ihm hin. „Du bist so gut zu mir“, lallt er. „Du bist so gut … Lara … ich liebe dich.“ Er reißt den Kopf hoch und schreit es mir laut entgegen, „ich liiiebe diiich, Lara!“ Dann sinkt sein Kopf auf den Schanktisch. „Ich muss jetzt zusperren“, sage ich und rufe ein Taxi. Der Fahrer hilft mir, den traurigen jungen Mann in den Wagen zu bugsieren, dann setze ich mich an die Bar und rauche eine Feierabendzigarette.
SONNTAGE sind mir ein Gräuel, waren es immer schon, auch als ich zur Schule ging. Sie bedeuteten, von der Schultagroutine abgeschnitten zu sein, die mir Sicherheit und Geborgenheit vermittelte, und mit meinen Eltern hinaus und hinauf zu müssen, auf Berge, auf Schipisten, an Seen, in ein Schwimmbad, oder Canasta zu spielen, bis die Karten über den Tisch flogen, weil irgendwer nicht verlieren konnte. So bin ich hinter die Bücher gekommen und habe mich so in sie vernarrt, dass ich Germanistik studieren musste. Etwas anderes kam gar nicht in Frage.
Fürs Studieren lässt mir der Job allerdings wenig Zeit. Ein Jahr, denke ich mir, ein Jahr lang mache ich ihn, höchstens eineinhalb, dann konzentriere ich mich wieder auf Seminare und Vorlesungen. Ich verdiene gut, das Trinkgeld verdoppelt locker mein offizielles Salär, vielleicht kann ich mir einen Puffer ansparen, um danach mit einer weniger zeitintensiven Arbeit das Auslangen zu finden.
Mit Joey verstehe ich mich mittlerweile blind, was auch dadurch erleichtert wird, dass die meisten Gäste Stammgäste sind und jeden Abend das Gleiche trinken. Es kommt vor, dass die Getränke schon bereitstehen, wenn ich mit der Bestellung an die Bar komme. Und ich habe auch bald heraußen, was es bedeutet, wenn einer vom Üblichen abweicht. Ein Tequila zum ersten Bier ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass Liebeskummer im Spiel ist. Was den Abend in die Länge zieht, weil der arme Verlassene seinen Kummer nicht nur seinen Kumpanen, sondern anschließend auch dem Personal vorjammern muss. Ich mache es wie Joey, schaue mitfühlend, gebe Laute von mir, die nach Verständnis klingen und räume derweil die Bude auf. Wenn ich zusperren will, lege ich dem Armen einen Arm um die Schultern, sage, „das wird schon wieder, morgen schaut die Welt wieder anders aus“ und bugsiere ihn zum Ausgang, von wo er wankend und jammernd den Heimweg antritt.
Im ersten Semester habe ich eine überraschende Entdeckung gemacht, nein, eigentlich waren es zwei. Die erste: Grammatik ist spannender als Literatur. Damit hätte ich nie gerechnet. Ich lauschte der Erklärung von Satzbauplänen mit der gleichen Begeisterung, mit der ich im Gym karierte Blätter vollgerechnet habe, während ich dem Interpretieren großer Schreibmeister wenig abgewinnen konnte, es wirkte willkürlich, politisch, subjektiv. Während sprachliche Strukturen etwas Unverrückbares, Konkretes, Objektives haben, ähnlich dem Charme mathematischer Grundgesetze. Wie sehr ich mich mit dieser Sichtweise täuschte, erlebte ich im Semester darauf, als ich im Nebenfach Mathematik inskribierte und grandios an linearer Algebra scheiterte. Deshalb korrigiere ich mich: Rechnen hatte Charme für mich, nicht die höhere Mathematik. Ähnlich erging es mir mit Latein, das ich im ersten Studienjahr nachholen musste. Ich hätte es lieben können – Überraschung Numero zwo –, wenn ich mehr Zeit dafür gehabt hätte.
So aufregend, interessant, inspirierend die ersten beiden Semester waren, so quälend öd war der Sommer, der folgte. Alle, die ich auf der Uni kennengelernt hatte, waren abgezwitschert. Sie kamen aus Südtirol, Oberösterreich, Vorarlberg oder Deutschland und verbrachten die Ferien zuhause, halfen ihren Eltern im Hotel oder auf der Alm oder knieten sich in den Dreck einer Autoproduktion, um in wenigen Wochen viel Geld zu scheffeln. Ich jobbte von Montag bis Samstag in einem Kaffeehaus, verkaufte Eis und servierte Apfelstrudel und wusste mit dem Rest der Zeit wenig anzufangen. An den lauen Abenden nach Dienstschluss setzte ich mich mit Camus oder Dostojewski in den Park und las. Noch hatte mir kein Professor geraten, für Übersetzungen keine Zeit zu haben. Der Einzige, der in Albruggen geblieben war, weil er wie ich von hier war, war Lenze.
Ich hatte mir nach dem ersten Semester eine halbe Wohnung genommen. Die andere Hälfte bewohnte ein schattenhaft huschendes Pärchen, das hauptberuflich Selbstgedrehte rauchte. Mit ihnen teilte ich den Gang und das Klo. Bad gab es keines, der Kaltwasserhahn in der Küche musste reichen. Wasser für die tägliche Katzenwäsche machte ich auf einer Herdplatte heiß, eine Dusche gönnte ich mir bei den Eltern, wenn ich dort auf Besuch war. Ich beizte Obstkisten braun und stapelte sie zu Geschirrregalen, strich die Türen mit einem matten Lack in dunklem Braunrot, das Maron hieß. Darauf notierte ich mit Tafelkreide die Dinge, die eingekauft werden mussten. Auf der Tür zur Speis hatte der eine oder andere Besuch seine Telefonnummer hingekritzelt, in der Zeit, bevor sich die sommerliche Trostlosigkeit breitgemacht hatte.
Ende Juli, als die Tage schon kürzer zu werden begannen, aber noch nichts von ihrer lähmenden Hitze eingebüßt hatten, saß ich an einem Sonntagmorgen in meinem mit Jute tapezierten Zimmer. Die Ödnis quoll eitrig aus der groben Wandbekleidung, an der ich meine Wange rieb. „Wenn deine Seele so dunkel ist wie dein Zimmer, dann gnadegott“, hatte meine Mutter bei ihrem einzigen Besuch in meiner Bude gesagt und einen Rosenkranz unter den Kopfpolster geschummelt. Ich fand ihn am nächsten Morgen und verräumte ihn so gut, dass er nie mehr wieder auftauchte.
Das grobe Tuch, das meine Tränen aufsaugte, bot keine Hilfe. Der Tag ohne Stundenplan und Dienstzeiten dehnte sich wüstenhaft vor mir, und so zündete ich mir eine Zigarette an. Obwohl ich noch nicht gefrühstückt hatte. Draußen herrschte ein gnadenlos blauer Himmel, im Schwimmbad quengelten wohl Kinder, die Flusspromenade würde von Fahrrädern bevölkert sein, und für einen Berg war es zu spät. Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, nicht erst in der Mittagsglut. Ich brütete über meinen Möglichkeiten. Lesen. In den Park gehen und lesen. Mich ans Ufer der All setzen und lesen. Jemanden anrufen. Eine Runde durch den Burggarten gehen. Im Schatten eines Baumes sitzen. Die Füße ins Wasser der All stellen. Keine dieser Möglichkeiten reizte mich. Ich hätte mich gern an eine Schulter gelehnt. Wo, das wäre nebensächlich gewesen.
Ich suchte mir die Schallplatte von Juliette Greco heraus, die sich schon des Öfteren als Balsam auf der Seele bewährt hatte, setzte die Nadel auf das dritte Lied, Je hais les dimanches. Sie sang mir aus der Seele. Ich hasse Sonntage. Sie gebärden sich wie glückliche Tage und sind doch schlimmer als die Woche. Wenn du nur bei mir wärst, Liebling. Vielleicht könnte ich dann lieben, was ich nicht liebe.
Lenzes Telefonnummer stand noch halbwegs leserlich auf der maron gestrichenen Speistür. Nicht, dass er mein Liebling gewesen wäre, aber er war in der Stadt. Zumindest theoretisch. Praktisch war er an einem Tag wie diesem bestimmt nicht zuhause. Niemand ist an einem Tag wie diesem zuhause. Während ich überlegte, ob ich zu ihm spazieren sollte, schellte das Telefon. Ich sprang auf, vom Glück gebissen, und hechtete in die Küche, wo der Apparat an der Wand hing. Atemlos nahm ich ab. Vielleicht war es ja Lenze. Den die gleiche Trostlosigkeit umtrieb wie mich. Oder der mich einfach sehen wollte. Doch der Anrufer war niemand, den ich kannte, sondern eine, die sich verwählt hatte. Ich legte den Hörer auf die Gabel und ging in mein Jutezimmer zurück. Der Stoff, an den ich meine Stirn legte, war rau wie zuvor.
Auf Albruggens Dichterbühel kauert die nackte Figur des literarischen Lokalhelden gekrümmt in der Wiese, in Marmor gehauen seine Verzweiflung, die ihn angepeitscht hat, Worte zu suchen und Sätze, die in die Hoffnung gekleidet waren, sein Elend zu vertreiben. Die Worte sprachen den Gesellen seiner Zeit aus der Seele, gesund wurde seine daran aber nicht. Ein schwarzer Engel, es könnte auch eine Krähe sein, hockt auf seiner Schulter, die Krallen in das zu Stein gewordene Fleisch gehauen, Schmerz verursachend für immer. Auch jenen, die die Skulptur betrachten. Eine morbide Attraktion für die Studenten der Stadt, lieblich umrahmt von roten Bänken in einer Wiese mit Margeriten und Rotklee, Glockenblumen und Klappertöpfen, die kleine Wildnis sorgfältig gepflegt von Jüngerinnen des Poesie-Idols, dessen Werke Pflichtlektüre an Albruggens Germanistikinstitut sind. Ich mochte den Blick über die Stadt, der sich an der Seite des Dichterdenkmals auftut, mag ihn immer noch, und hatte den Hügel als Ziel unseres Spaziergangs vorgeschlagen. Ich hatte Lenze angerufen, ein paar Tage nach dem tristen Sonntag.
Wir wanderten die Serpentinen hinauf und setzten uns auf eine der roten Bänke. Ich hätte mir gewünscht, er würde seinen Arm um mich legen. Der Bann, der seit Studienbeginn über meinen Händen lag, war noch nicht gebrochen. Sie verbogen und versteckten sich, wenn ich jemanden gern berührt hätte. Auf eine Annäherung hätten sie vielleicht nicht so abweisend reagiert, aber ich bekam keine Chance, es herauszufinden. Lenze saß entspannt auf der Bank, lobte die Wahl, die ich für unseren Spaziergang getroffen hatte, und schlug vor, einmal ins Kino zu gehen. Buñuel werde bald gespielt, wusste er, Der diskrete Charme der Bourgeoisie. Gut, damit war also noch nicht aller Tage Abend. Vielleicht gelang es mir ja in der diskreten Schummrigkeit des Kinos, Lenze näherzukommen. Doch der Sommer verging, dann kam der Herbst, mit neuen Filmen und anderen Spazierwegen, ohne dass sich meine Hoffnung erfüllte. Wir saßen auf anderen roten Bänken, sein magerer Körper in Reichweite, und ich sehnte mich nach ihm.
IM Sommer sperrt Joey das BarBier für einen Monat zu, und ich genehmige mir einen Tripp in die Bretagne. Die wenigen Gäste, die in der Stadt sind, weil sie lernen müssen oder in Albruggen daheim sind, verbringen warme Abende lieber in Gastgärten. Damit kann das BarBier nicht dienen.
Ich fahre mit dem Zug bis Paris, nehme einen Bus in die Peripherie und stelle mich mit Rucksack und erhobenem Daumen an eine Landstraße. Meiner Mutter habe ich nur erzählt, ich würde eine Rundreise machen, von Trampen habe ich nichts gesagt. Verschweige es auch, als ich wieder zuhause bin. Ich will mir nicht einmal im Nachhinein Vorträge über die Gefährlichkeit meines Unterfangens und meine grenzenlose Naivität anhören. Obwohl ich Glück hatte, drei Bretagne-Wochen lang. Die meisten Fahrer, die mich einstiegen ließen, taten dies, um eine wehrlose junge Frau vor den bösen Franzosen zu schützen, die sich in dieser Gegend manchmal herumzutreiben scheinen. Stolz deuteten sie nach hinten, wo auf der Heckscheibe ihres Wagens das bretonische Wappen mit den elf schwarzen und elf weißen Streifen klebte, mit Hermelinschwänzen im linken oberen Eck. Manch einer schwadronierte von Unabhängigkeit, fast jeder schwärmte von Cidre und Jakobsmuscheln, und alle brachten mich unbeschadet an das Ziel, das ich ihnen genannt hatte.
ALS