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Emotionen und Leidenschaft! Toni arbeitet nahe der Ostsee. Ein Unfall lässt ihn mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen. Während seiner Genesung möchte er die Suche nach seinem Sohn ankurbeln. In dieser Zeit kommt er seiner Ärztin Flo näher. Beide lassen sich in die Liebeswelt entführen. So manches Mal ist er über Flos Reaktionen verwundert – bis zu dem Tag, an dem er zufällig dahinter kommt. Band 1 der Reihe Bernsteinfunkeln. Die Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden. Jeder Roman ist in sich abgeschlossen.
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bernsteinfunkeln
Band 1
Dieses Mal für immer?
Torine Mattutat
Bernsteinfunkeln Dieses Mal für immer?
5. Auflage, 05/2024
Weiterhin erschienen:
Bernsteinfunkeln Kopfüber 3. Auflage 06/2024
Bernsteinfunkeln Lebensplan Liebe 2. Auflage 07/2024
Bernsteinfunkeln Inselgeheimnisse der Liebe 2. Auflage 08/2024
Ich danke dem Coverdesigner Renee und seiner Virginia, Sophie, Hannah und Bea. Danke für eure Unterstützung.
Text © Copyright Torine Mattutat
Covergestaltung © Copyright Dream Design – Cover and Art
mit Motiven von www.Shutterstock.com
Lektorat Sophie Schmidt
Korrektorat Hannah Milou
www.TorineMattutat.de
Impressum Torine Mattutat
c/o Thomas Schütt, Triftstr.4, 17506 Gützkow
Distributor: Neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Dies ist das erste Buch der Reihe Bernsteinfunkeln.
Die Bernsteinfunkeln-Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Jeder Roman ist in sich abgeschlossen.
Disclaimer – Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck, auch auszugsweise, oder gleichartige Verwendung ist strengstens untersagt.
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Die Stadt Boernsteen ist fiktiv.
Etwaige €hnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufŠllig und nicht beabsichtigt.
Markennamen, sowie Warenbezeichnungen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum der rechtmЧigen Besitzer.
Refresh/Neuauflage 2024
Emotionen und Leidenschaft! Toni arbeitet an der Ostsee. Ein Unfall lässt ihn mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen. Während seiner Genesung möchte er die Suche nach seinem Sohn ankurbeln. In dieser Zeit kommt er seiner Ärztin Florentine näher. Beide lassen sich in die Liebeswelt entführen. So manches Mal ist er über Flos Reaktionen verwundert – bis zu dem Tag, an dem er zufällig dahinterkommt.
Triggerwarnung: In Kapitel 14 wird ein Kindesmissbrauchsversuch angedeutet, welcher dann missglückt. Falls du mit dieser sensiblen Thematik schlecht umgehen kannst, möchte ich dich vorher warnen, sodass du weiterblättern kannst.
1 Tonis Alltag
„Unterschreib jetzt die verdammten Adoptionspapiere!“, keift Ariane voller Wut.
„Noch einmal zum Mitschreiben: Nein“, wiederholt Toni erneut. „Welchen Teil von Nein hast du nicht verstanden?“, fügt er hinzu, „Vergiss es, es sind auch meine Kinder, ich möchte weiterhin das Sorgerecht haben.“
„Als hätte es dich in den letzten Jahren interessiert!“ Arianes Stimme geht einige Oktaven nach oben.
„Sei ein wenig leiser, die Kinder müssen dein Gezeter nicht hören. Und wenn du den Fernseher auf eine normale Lautstärke stellen würdest, müsstest du nicht schreien.“
„Hör auf mich zu belehren! Als würden dir deine Kinder etwas bedeuten! Lass uns eine glückliche Familie sein und geh du deines Weges. Vögel weiter in der Welt herum!“ Es ist, als verspritzt sie Gift. „Du hast ja anscheinend noch nicht genügend Kinder in Deutschland. Ja genau, das wäre es doch – hinterlasse deine Spermien in jedem Land! Bevölkere die Erde neu mit dem Barnes-Gen!“, unkt Ariane weiter. Toni bleibt ruhig, muss sich allerdings sehr zusammenreißen.
Er spürt, dass seine Mundwinkel verräterisch zucken. Kein schlechter Gedanke.
Er wird schnell wieder ernst – er will das Sorgerecht unter keinen Umständen für eines seiner beiden Kinder abgeben.
Er reibt sich erschöpft die Augen und überlegt, wie er das Gespräch mit Ariane in eine andere Richtung lenken kann.
Ihm steigt ein schaler Geruch in die Nase. Oder nein, es riecht nach Kamille. Auf dem Küchentisch erblickt er Finns Kindertasse, die mit einer hellgelben, dampfenden Flüssigkeit gefüllt ist. Ja klar, bei jedem Hüsterchen kümmert sie sich um den kleinen Finn, warum nicht auch um unsere Tochter Leonora?
Prompt ruft sie. „Pahpaaa!“
Toni wirft Ariane einen Blick zu, der sagt, sie braucht mich.
Er geht aus der Küche, über den abgetretenen Sisalteppich durch den Flur, zu den Kindern. Leonora sitzt, ihr Gesicht in den kleinen Händchen vergraben, am Schreibtisch, während Finn auf allen Vieren auf dem Boden herumkrabbelt und Plastikautos von links nach rechts schiebt. Leonora ist mit ihren Deutschhausaufgaben beschäftigt. Sie sollen eine Bildergeschichte malen und diese dann mit eigenen Worten im Unterricht wiedergeben.
Sie scheint den Streit ihrer Eltern gehört zu haben, und schaut ihn mit ihren großen dunkelbraunen, aber traurigen Augen an. „Papa, darfst du nicht mehr bei uns wohnen? Musst du ausziehen? Dürfen wir dich nicht mehr sehen?“, fragt sie schluchzend.
Toni nimmt sein Töchterchen auf den Arm, dabei drückt er sie ganz fest an seine Brust. Seine liebe Tochter.
Während Leonora leise zu weinen beginnt, vergräbt sie ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Sie atmet wimmernd durch die Nase. Es bricht ihm fast das Herz, den Krümel so erleben zu müssen.
Seine Eingeweide ziehen sich zusammen, er muss tief Luft holen. Finn schaut ihn ahnungslos an, er begreift es noch nicht und beschäftigt sich einfach wieder mit den Autos.
Obwohl sich sein Hals gerade zugeschnürt anfühlt, raunt Toni in Leonoras Ohr. „Ich hab dich so lieb, Nora-Mäuschen, ich verlasse euch nicht, ich bin immer für euch da! Mausi wollen wir beide ein Geheimnis haben?“
„O ja, Papi.“ Begeistert zappelt Leonora mit den Beinen.
„Psst, still, es darf doch keiner wissen“, flüstert Toni.
„Ach ja“, fiepst Leonora kaum hörbar.
„Süße, bald ist dein siebenter Geburtstag. Wenn ich von der Montage komme, bringe ich dir zu deinem Geburtstagsgeschenk zusätzlich ein Smartphone mit. Das verraten wir keinem Menschen. Ich freue mich jetzt schon darauf, einfach mal mit dir telefonieren zu können.“
Das Mädchen sieht ihren Papa mit großen Augen an. „Sobald du eine Frage oder ein Problem hast, meldest du dich.“ Leonora beginnt über das ganze Gesicht zu strahlen.
„Es kann sein, dass ich das Klingeln nicht immer höre, dann rufe ich dich später zurück.“
„Das wird bestimmt gut, aber kann ich das auch mit zur Schule nehmen?“
„Nein, das ist zu gefährlich.“ Toni schüttelt den Kopf. „Wenn ein Lehrer es entdeckt, müsste Mama es abholen. Und du musst keinem erzählen, es ist nur für uns beide. Wenn du einfach nur quatschen willst, habe ich aber bestimmt erst nach Feierabend dafür Zeit.“
Mit diesen Worten drückt er ihr einen lauten Schmatzer auf die Wange.
„Danke, mein lieber Papi!“ Leonora freut sich riesig und kneift listig die Augen zusammen. Sie überlegt laut. „Hoffentlich kann ich es immer versteckt halten.“
Toni streicht seiner Maus über die Haare, zärtlich gibt er ihr einen Kuss auf den Scheitel.
„Das schaffen wir schon.“
Leonora widmet sich wieder ihrer Hausaufgabe.
Ihr Papa fragt danach und sie erklärt ihm die Aufgabe.
„Dies Bild haben wir in der Schule angefangen. Wir sollen es zu Hause fertigmalen. Schau mal Paps, hier liegt das kleine Mädchen. Ich habe da Gras und Blumen hingemalt, dann liegt sie auf der Wiese.“
Nora zeigt es mit ihrem kleinen Zeigefinger.
„Außerdem hat sie auch noch einen Grashalm im Mund. Deshalb sieht es aus wie in den Ferien. Den Himmel mache ich blau und dazu kommt eine große Sonne. Was meinst du, ist es okay, wenn ich die Sonne lachen lasse? Oder lieber mit ohne Mund?“
Toni verzieht die Lippen. Beide müssen loslachen.
„Mit ohne? Ich kenne deine Lehrerin nicht – meinst du, sie findet das gut, obwohl es so etwas nicht in echt gibt? Außerdem, wie soll sie denn ohne Mund lachen?“
Leonora zieht eine Schnute.
„Ach ja. Aber wir dürfen so malen, ich glaube schon. Sie hat ja gesagt, dass wir ein Märchen draus machen dürfen.“
„Na dann, zeichne los. Was für eine Idee hast du noch für die Geschichte?“
„Neben ihr liegt ein Hund, der schläft.“
„Das ist gut, warum schläft der Hund?“
„Weil sie eine lange Strecke mit dem Fahrrad gefahren ist und er nebenherlaufen musste.“ Sie nickt, als sie zu ihrem Vater aufblickt. „Der Hund ist jetzt echt müde. Das Mädchen heißt Heidi.“
„Schöner Name.“
„Vom Fahrrad male ich hier in diese Ecke nur das Rad.“ Dabei legt sie ihren Kopf schief und grinst ihren Dad an. „Ich kann nämlich kein Fahrrad malen.“
Toni lacht wieder, er knuddelt und kitzelt sie liebevoll.
„Na, du bist mir eine Maus!“
Gackernd zieht sie ihre Stirn kraus und fragt, „Aber das Bild würde fürchterbar aussehen.“
„Das heißt nicht fürchterbar, sondern furchtbar.“
„Ich weiß, aber das ist mein Lieblingswort.“
„Man kann kein Lieblingswort haben, das es nicht gibt.“
„Woher willst du denn wissen, ob es das nicht gibt?“
„Wörter, die nicht im Duden stehen, gibt es nicht.“
„Bestimmt haben die es noch nicht gefunden. Und wenn ich kein Fahrrad malen kann?“ Mit bettelnden Augen guckt sie ihren Papa an.
„Ist ja in Ordnung, das finde ich ganz schön klug von dir. Wenn ich am nächsten Freitag hier bin und du eine gute Zensur hast, gehen wir zur Belohnung am Sonntag ein Eis essen. Wie findest du das?“
„Papa, ich bin doch in der ersten Klasse, da gibt es keine Zensuren fürs Malen, nur Stempel. Aber egal, ich möchte ein Schlumpfeis! Das ist mein Lieblingseis in der Eisdiele.“
„Halt, halt, nicht so eilig! Erst einen guten Stempel!“
„Ein normaler Smiley reicht?“ Sie schaut zu ihrem Papa.
„Wie viele Unterschiedliche gibt es?“
„Drei“ zeigt sie mithilfe der Finge und zählt ab. „Einen lachenden, einen mit einem Strichmund und einen weinenden Smiley. Und wenn man ganz gut ist, dann gibt es noch einen kleinen Stern extra dazu.“ Nora zählt mit ihren Fingern auf.
„Ja, einer mit Strichmund wäre in Ordnung – Kleines, du schaffst einen lachenden oder sogar einen mit Stern.“ Toni umarmt sie. „Pass auf, ich habe einen Vorschlag, bei einem lachenden Smiley bekommst du ein Schlumpfeis und sonst nur die Waffel.“
Um sein Lachen zu verbergen, gibt er ihr einen Kuss in den Nacken.
„Ha, ha, nur eine Waffel – so ein Quatsch! Nur eine Waffel kann man dort gar nicht kaufen!“, prustet Leonora los.
„Welche Eisdiele hat denn dein Lieblingseis?“
„In der Innenstadt, Venezia, da geht Oma immer mit mir hin.“
„Na, dann sei dir mal nicht so sicher! Dort war ich schon, als ich noch ein Kind war! Und bestimmt kenne ich die Bedienung. Also bekomme ich auch nur eine Waffel.“
Lächelnd erklärt er Leonora wie es, während seiner Kinderzeit gewesen ist. Sie ist erstaunt, dass es dort schon Eis gab, als ihr Papa ein Kind war. Das muss ja eine Ewigkeit her sein.
„Bist du oft da gewesen?“
„Ja, war ich. Ganz oft mit Freunden. Nun kümmere dich aber um deine Zeichenaufgabe.“
Toni schießt eine Erinnerung durch den Kopf, er möchte seiner Tochter nicht erklären, warum er auf einmal so ernst und traurig ist. Er geht zu seinem Sohn. Dieser sitzt in der anderen Zimmerecke. Er lässt ein Feuerwehrauto und ein Polizeiauto wieder und wieder gegen eine Mauer aus Bausteinen fahren. Dass die Mauer bei jedem Zusammenstoß zusammenfällt, amüsiert ihn köstlich.
Toni setzt sich zu ihm und lehnt sich für einige Minuten an die Wand. Er schließt einen kurzen Moment die Augen, dabei bemerkt er, dass sich sein Unterkiefer anspannt.
Immer, wenn das Eiscafé Venezia aufs Tapet kommt, spürt er wieder diese Schlinge in seinem Bauch. So als würde sie immer größer und fester werden. Und er denkt sofort an seine Jugendliebe Indra. Sie war beliebt bei seinen Freunden. Es war die ganze Art, die ihn faszinierte. Wie sie sich bewegte, wie sie lachte, wie sie ihn anschaute. Doch eines Tages war sie plötzlich verschwunden, niemand wusste, wo sie zu finden war. Sie war unauffindbar – wie entführt. Es kam ihm vor, als müsste er sich bei jedem im Viertel rechtfertigen, wo sie aus heiterem Himmel hin ist. Nur wenige Leute wissen, dass sich nach einigen Monaten herausstellte, dass sie nicht verloren gegangen ist, sondern dass diese beknackte Idee, sprichwörtlich zu flüchten, ganz allein von ihr stammte.
Er beißt die Zähne zusammen, öffnet die Augen und lässt den Blick durch das Kinderzimmer schweifen.
Auch hier sieht es eher karg und funktional aus. Es gibt nur einige Spielsachen. Die wenigen, die seine Kinder besitzen, sind durchweg bespielt. Die Möbel haben ihm noch nie gefallen, sie wirken schnörkellos und simpel. Dabei wünscht er sich so sehr ein sorgloses Leben für seine Kinder. Ihm ist klar, dass sie keine echten Sorgen haben, aber warmherziger sollte sich ihre Kindheit gestalten. Nicht, dass sie abends ihr Bett unter den Spielsachen suchen müssen, er wünscht es sich einfach anders, schöner. Er hilft Finn mehrmals, die Mauer wiederaufzubauen. Damit wird er sich wohl noch eine Zeit lang beschäftigen können.
Danach schaut er, wie weit Leonora mit ihren Aufgaben ist. Sie schreibt gerade das letzte Wort und er flüstert ihr ins Ohr, „Gut gemacht, ich bin stolz auf dich.“
„Du bist ja auch mein Papa.“
Toni schaut sie an.
Nora nickt. „Das muss so sein, hat Oma mir erklärt.“
„Die Lehrerin wird deine Mühe bestimmt belohnen. Hast du noch mehr Schularbeiten, die morgen kontrolliert werden?“
„Ja leider.“
„Ach komm, wir machen sie gemeinsam, so schlimm wird es schon nicht sein.“
„Doch, es ist fürchterbar, ich finde Mathe doof.“ Sie knallt das Heft auf den Tisch. „Hier sind die Aufgaben, Nummer eins und zwei.“
Toni liest laut vor.
„Eine Mutter kauft drei Netze Orangen. Ein Netz enthält fünf Orangen. Wie viele Orangen kauft sie?“
Leonora beginnt, mit den Fingern zu zählen.
„Nein, keine Finger. Ihr habt die Holzstäbchen.“
„Papa, die heißen Rechenstäbchen!“
Sie legt dreimal fünf Stäbchen auf den Tisch, zählt sie durch und sagt die Antwort.
„Nun die nächste Aufgabe.“
Er liest wieder. „Heike holt fünf Bücher. Das macht sie drei Mal. Wie viele Bücher hat Heike geholt?“
Nora zählt die Stäbchen ab, dann muss sie lachen.
„Quatschkopf. Da kommt ja auch fünfzehn raus.“
„Richtig, aber du darfst ruhig Papa zu mir sagen. Süße, das ist doch gar nicht so schlimm gewesen?“
„Nö, aber Mama setzt sich nie mit mir hin und macht mit mir die Hausaufgaben“, schnieft sie traurig.
„Wenn ich hier bin, dann erledigen wir einfach alle Aufgaben gemeinsam.“
Kurze Zeit später küsst Toni die beiden Kinder liebevoll, wünscht ihnen beim Verabschieden eine gute Nacht. Von Ariane verabschiedet er sich nicht, er hat für sie kein Wort mehr übrig.
Über das Wochenende hütet er die Wohnung seines Freundes Martin. Eigentlich passt er eher auf den Labradorwelpen auf, weil Martin mit seiner aktuellen Flamme auf Mallorca ist.
In Martins Wohnung angekommen wird Toni sich seiner schlechten Laune bewusst. Er denkt darüber nach, ob er zurückfährt und seine Tochter holt.
Verwirft diese Idee wieder, denn er möchte weiteren Streit mit Ariane vermeiden. Er hat in diesem Moment keine große Lust, sich mit Freunden zu treffen. Na, vielleicht nachher, es ist ja noch früh für einen Freitagabend. Daher setzt er sich mit einem Bier und kalten Würstchen ins Wohnzimmer.
Gewohnheitsmäßig schaltet er den Fernseher ein, da hört er den kleinen Hund an seinem Körbchen knabbern.
Er steht auf und geht ins Badezimmer. Schwupps verschwindet das Hundchen hinter dem Wäschesammler.
Toni greift dahinter, um ihn zu holen, doch der Welpe quetscht sich förmlich in die Ecke.
Nun beginnt er auch noch zu wimmern. Toni erinnert sich, wo die Leckerlis sind. Er nimmt sich die Dose. Der Hund hört das Klappern und schon ist das Winseln weg. Toni hält ihm zwei auf seiner flachen Hand hin, der Welpe rührt sich nicht von der Stelle. Toni legt sie auf den Fliesenboden. Und siehe da, schon hat der Hund sich einen geschnappt.
Mmmm, wenn er ein Problem mit mir hat, locke ich ihn eben auf diese Art. Der Welpe tappert zu den Leckerlis, obwohl Toni sie in der Hand hält. Es dauert nicht lange und er lässt sich von Toni streicheln. Er setzt den kleinen Hund wieder in sein Körbchen und geht ins Wohnzimmer.
Dann zappt er sich eine Weile durch die Programme, findet aber auf keinem Sender etwas Interessantes.
Er schaltet den Fernseher aus und lehnt sich zurück, dann startet er seine Playlist. Da hört er dieses Lied, genau das, welches direkt mit den ersten Takten Indra in seinem Bewusstsein auftauchen lässt. Sie zu vermissen, ist vielleicht nicht das Thema, doch zu wissen, dass er sie nicht finden kann, dass sie womöglich nie zurückkehrt, das bringt ihn beinahe um. Inzwischen ist so viel Zeit ins Land gegangen.
Wäre er damals gleich am Ball geblieben, hätte er sie gewiss aufgespürt – aber wo soll er jetzt, gut zehn Jahre später, mit der aussichtslosen Suche beginnen?
Davon abgesehen werden die Gedanken zum wiederholten Male wegen des drohenden Ärgers unterbrochen. Ariane will diesen Typen heiraten!
Der will die Kinder adoptieren, weil er zeugungsunfähig ist! Meine Kinder? Nie werde ich das zulassen!
Es sind nur noch diese beiden, und er hängt an Leonora – warum auch immer – mehr als an Finn. Vielleicht, weil Ariane Finn ständig vorzieht? Vielleicht auch deshalb, weil sie ihn damals mit ihrem Geständnis, dass er wieder Vater wird, überrumpelt hat. Dabei waren sie zu diesem Zeitpunkt nicht mal mehr zusammen. Er war nur noch in der Wohnung gemeldet und zahlte die Miete.
Und er könnte sich selbst in den Hintern treten für die Dummheit, einfach seinen Trieben nachgegeben zu haben. Er war damals erst vierundzwanzig – und hatte schon zwei Kinder. Das hätte gereicht! Aber nein. Er hat keinerlei Kontakt zu seinem ältesten Sohn – kennt ihn bis heute nicht, weiß nicht einmal, wie er heißt.
Toni verschränkt die Arme hinter dem Kopf und atmet hörbar aus. Er ist wütend auf sich – selbstverständlich auch auf die Frauen, die ihn verarscht haben. Ach, praktisch auf die ganze Welt!
Aus diesem Grund versucht er sein Möglichstes für die Knirpse. Als Teilzeitvater gibt er sich viel Mühe, seine Tochter für die Schule zu interessieren. So wie heute, er macht gern mit ihr die Hausaufgaben. Wie es scheint, gelingt es ihm, sie redet nur gut vom Unterricht.
Aber ihm kommen ständig Zweifel.
Warum tut Ariane nichts? Interessiert es sie denn gar nicht? Wieso hat sie noch ein zweites Kind von mir bekommen? Es wäre viel einfacher für Leonora, wenn er und Ariane die gleichen Ziele hätten, wenn sie sich mehr um die Kleine kümmern würde.
Er fragt sich immer wieder, ob es Leonora gut geht.
Ob sie sich alleingelassen fühlt oder wie sie behandelt wird. Es ist ein großes Glück, dass wenigstens seine Mutter um sie bemüht ist. Nora tut ihm leid. Toni springt von der Couch auf und tigert durchs Zimmer. Wenn er hierbleibt, macht er sich weiter Gedanken, stellt sich immer wieder dieselben Fragen. Er muss raus und sich ablenken.
Über WhatsApp erfährt er, dass seine Freunde in der Alten Lagerhalle sind, und er macht sich zum ehemaligen Industriegebiet auf.
Schon von weitem hört er die typische Musik mit dem unverkennbaren Bass. Er fühlt sich bedrückt, vielleicht hilft die bekannte Atmosphäre bei den Kumpels.
Blöderweise wird Toni sofort von Vicky begrüßt. Vicky geht ja mal gar nicht. Angeblich möchte sie einen Sohn von ihm. Die denkt wohl, er ist vollkommen schwanzgesteuert? Sie ist eine Frau, die er in keiner Weise heiß findet.
Vicky hat eindeutig schon einige Gläser Tequila intus. Sie fällt Toni sogleich um den Hals.
„Isch hab disch sooo vermizzt, du misch auch?“
Toni versucht, Vickys Umklammerung zu lösen und ihren Kopf wegzuschieben.
„Lass das!“, erwidert er angeekelt.
So viel gebündelte Naivität ist abtörnend. Er hat sie in die Schublade der Boxenluder gesteckt und da kommt sie auch nicht mehr raus. Vicky wechselt die Typen wöchentlich, gerade ihn kann sie einfach nicht in Ruhe lassen. Egal wo sie Toni trifft, macht sie sich an ihn heran.
„Toni bidde, wir können schu mir gehen oder schu Martin. Ich weiß, dazch du da bischt, seine Schweschter hat es gesacht. Bidde.“
„Ich bin in meiner Wohnung. Bei meinen Kindern.“
„Dasch schtimmt nicht, du bist in Martins, bei seinem Hund!“
Toni lässt sie stehen und dreht sich zu seinen Freunden.
Er begrüßt einige gute Kumpels und setzt sich zu ihnen an den Stammtisch. Dann kommt sein ehemaliger Kollege und lässt sich neben ihn nieder.
„Na Alter, wie siehts aus?“, haut der ihm auf die Schulter.
„Bei mir ist alles in Ordnung, und bei dir?“
„Bei dir ist alles in Ordnung? Erzähl nicht so ‘n Müll! Deine Alte vögelt mit ´nem anderen und du sagst alles in Ordnung, pah!“
„Das geht dich nichts an“, pariert Toni.
„Dann schnapp dir doch Vicky!“, lacht der.
Toni wird es zu blöd.
Vicky hat schon gereicht, doch das ist jetzt wirklich zu blöd. Es hilft alles nichts, heute ist er wohl kumpeluntauglich. Es hat keinen Sinn, den Abend hier zu verbringen. Daher verabredet er sich mit seinen Freunden zum morgigen Fußballspiel – der weitere Ligaaufstieg ist geplant. Der Anhaltiner FC liegt zurzeit auf Platz 3 der Landesliga.
Er steht auf, hebt die Hand, um sich von den anderen zu verabschieden, und hält eben noch einen kurzen Schwatz mit den beiden hinterm Tresen. Ein Taxi zu bestellen ist nicht nötig, denn für gewöhnlich stehen ein oder zwei vor der Alten Lagerhalle. Sie bieten Sonderpreise für die Jugendlichen an, damit sie nicht angetrunken ihr Auto gegen einen Baum setzen.
Toni will nur noch weg hier. Das Taxi fährt ihn direkt zu Martins Wohnung.
Vicky erwartet ihn bereits vor der Haustür. Mist! Er hat nicht bemerkt, dass sie die Alte Lagerhalle vor ihm verlassen hat.
Die vielen Tequila haben ihr wohl den Rest gegeben, er ist richtig angewidert, als er sie schwankend dastehen sieht.
„Ach bidde, du brauchst mich doch auch. Bitte lass uns in Bett gehen“, lallt sie.
„Vicky, ich bin vielleicht verzweifelt, aber so verzweifelt dann auch wieder nicht“, murmelt Toni.
Während er die Tür aufschließt, gelingt es ihr, sich an ihm vorbeizuquetschen. Das Gesicht zu einer beißenden Grimasse verzogen, tritt sie zu ihm.
„Toni, isch liiiebe dich doch so“, faselt Vicky undeutlich und fällt ihm um den Hals.
„Fass mich nicht an!“
Toni ist mittlerweile nicht mehr behutsam, er stößt sie von sich. Vicky kommt ins Straucheln. Um sie vor einem Aufprall zu schützen, hält er sie dann trotz allem fest. Schon krallt sich die Tussi wieder an seinen Arm.
„Toni, ich wüll ein Kind von dir. Ein ganzsch hübsches Bähby.“
„Vicky, es reicht!“, sagt Toni ernst.
Er schiebt sie energisch durch die Haustür nach draußen und lehnt sie gegen die Hauswand, damit sie nicht wieder in die Versuchung kommt, sich bei ihm abzustützen.
„Machs gut“, raunt er ihr ins Ohr und entfernt sich zügig.
In der Wohnung lehnt er sich erleichtert von innen gegen die Tür. Er schließt die Augen, rutscht an ihr nach unten, bis er sitzt. Er atmet tief durch, da erscheint auf seinem Schirm unmittelbar seine Madonna. Indra. Wieder und wieder stellt er sich die Frage, wo er sie finden kann.
Das Hickhack mit Ariane ist ihm zu viel. Irgendwie stand die Beziehung auch noch nie unter einem wirklich guten Stern.
Es hätte Toni gleich klar sein sollen, schon während der ersten Schwangerschaft. Eigentlich waren sie beide noch viel zu jung für eine Familie. Passiert ist passiert. Toni hat sich seiner Verantwortung gestellt und nach der Geburt von Leonora eine gemeinsame Wohnung für die Drei gemietet. Ständig waren sie unterschiedlicher Meinung. Egal, ob es um Erziehung oder Ernährung ging. So ist es die gesamten vergangenen sieben Jahre gewesen. Wenn er jetzt darüber nachdenkt, die Jahre einmal Revue passieren lässt, dann ist ihr Verhältnis so richtig abgekühlt, seitdem Finn auf der Welt ist.
Ariane ist eine kleine, schlanke und hübsche Frau. Schönheit reizte Toni schon immer. Ariane wusste, dass er auf keinen Fall ein weiteres Kind haben wollte. Als er dann eines Tages von ihr erfuhr, dass sie wieder schwanger war, brach für ihn eine Welt zusammen.
Er zog aus und übernachtete wieder bei seiner Mutter. Es wohnen zu nennen, wäre übertrieben, denn man konnte auch sagen, er vegetierte. Er aß kaum, trank mehr, als gut für ihn war, und blieb den ganzen Tag im Bett. Seine Mutter stellte keine Fragen. Sie war damals sehr mit sich selbst beschäftigt.
Ihre Scheidung hatte sie noch nicht verarbeitet. Sie kam dahinter, dass ihr Mann polygam lebte und in der ganzen Umgebung Kinder hatte. Von da an war die Erde nicht mehr rund für sie und sie fiel in eine tiefe Depression. Dadurch war sie einige Jahre völlig neben der Spur.
Toni war zu dieser Zeit vierundzwanzig Stunden dauerbenebelt.
Unerwartet stand Kevin in der Tür zu seinem Schlafzimmer, es war ihm dann doch peinlich, seinen Zustand nicht vor ihm verbergen zu können. Kevin kam zuerst langen Schrittes durchs Zimmer, zog die Gardinen zur Seite und öffnete weit die Fenster.
„He Toni, hoch! Auf die Beine! Das sind die Frauen nicht wert, komm aus dem Bett und ab unter die Dusche!“
„Lass mich alleine“, brummte Toni und zog die Bettdecke über den Kopf.
„Vergiss es, in deinem Selbstmitleid zu baden!“, sagte Kevin, während er ihm freundschaftlich gegen die Schulter boxte. Nach einigen Sekunden zog er die Decke zurück und rümpfte die Nase.
„Das, was du hier machst, nimmt ein böses Ende! Du gehst ein! Ich mache dir folgendes Angebot, du springst jetzt unter die Dusche, rasierst dich, isst endlich vernünftig und trinkst mindestens drei Tassen Kaffee.“
Er fährt sich mit der Hand durchs Gesicht. „Ich hole dich um fünf Uhr ab, wir fahren zum Sportclub. Dort kannst du dich bei einer Runde Kickboxen auspowern! Keine Widerrede, ich bin in drei Stunden wieder hier!“
Damit drehte Kevin sich um und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Toni blieb nichts anderes übrig, als sich aus dem Bett zu schälen.
Kevin redete auch im Sportklub weiter auf ihn ein, also gab er sich geschlagen und erschien am nächsten Tag wieder zur Arbeit.
Das war eine beschissene Zeit, denkt Toni und schüttelt sich. Bevor er jetzt an Martins Wohnungstür einschläft, steht er auf und geht ins Wohnzimmer.
Es ist, wie inzwischen fast jede Nacht, wieder eine unruhige Nacht. Einige Male erwacht er schreckhaft, kann sich aber nicht richtig an den Traum erinnern. So langsam wird diese Vision zur Regelmäßigkeit.
Als Toni am nächsten Tag in die gemeinsame Wohnung kommt, ist Ariane mit den Kindern unterwegs.
In seinem Schlaf- und Arbeitszimmer setzt er sich an den Laptop und ruft die Mails ab. Werbung … Werbung … Gewinnspiele … Spam … Spam … Ja! Endlich etwas Brauchbares, eine Mail seines Chefs. Wie bereits in den vergangenen Wochen, soll es wieder in den Norden gehen.
Er telefoniert mit seinem Arbeitskollegen, um alles wegen der Unterkunft in der nächsten Woche abzusprechen.
Sein Kollege Reiko möchte wieder in das Apartmenthotel in Boernsteen. Die Mitarbeiter waren freundlich und die Zimmer perfekt.
„Ich finde es total in Ordnung.“
„Ach, du willst nur wieder zu Nadine!“
Kein Protest von Reiko.
Während Toni telefoniert, kommt seine Familie zurück. Sogleich wird er von dem Kleinen belagert, er turnt auf ihm rum und will spielen.
Er kümmert sich noch um die Buchung, sodass die Unterkunft sicher ist. Er ruft die Eigentümerin des Apartmenthotels an und fragt, ob sie noch zwei Zimmer für die nächste Woche hat. Die hat sie natürlich.
Finn passt es nicht, dass Toni telefoniert, er will seinen Papa und krakeelt lauthals. Das Gespräch ist schnell beendet und die Zimmer gebucht. Er nimmt seinen Sohn auf den Arm und die drei gehen ins Kinderzimmer.
Am Montag sind Reiko und Toni wieder auf der Baustelle in Anklam.
Es ist zur Angewohnheit geworden, dass sie vor dem Betreten der Baustellen ihre Straßenschuhe im Fahrzeug lassen und die Arbeitsschuhe anziehen.
Toni schaut zum Horizont, die aufgehende Sonne färbt den Himmel und die wenigen Wolken fast Terrakotta. Einige Windräder sind aufgestellt, trotz der Technik, ist es ein wunderschönes Naturschauspiel. Toni kann so weit schauen, wie das Auge reicht, die Natur bekommt langsam Frühlingsfarben, das erste Grün beginnt zu keimen.
Die beiden holen ihre Arbeitsgeräte aus dem Transporter und parken diesen dann am Rand der Baustelle.
Am späten Nachmittag ist Toni froh, dass der Arbeitstag endlich zu Ende ist. Weder ihm noch seinem Kollegen wollte die Arbeit heute leicht von der Hand gehen.
Toni war vor allem deshalb so unkonzentriert, weil er wieder unruhig geschlafen hat. Er sieht nicht einmal einen Trampelpfad, geschweige einen Weg, um alles wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Es staut sich alles so sehr auf, dass ihm jeder Ausweg recht wäre.
Auf dem kurzen Weg bis zum Apartmenthotel verhält sich sein Kollege Reiko merkwürdig unruhig. Nach einigen Minuten kann Toni es nicht mehr mit ansehen und fragt ihn, ob er irgendein Problem hat.
„Nö, wieso?“
„Du kannst nicht stillsitzen. Vor Aufregung?“
„Ja“, wird Toni angebrummt und Reiko sieht aus der Seitenscheibe seines Transporters. Sie überqueren gerade die Brücke über die Peene in Anklam, Toni bemerkt einen Schatten am Himmel und sieht hinauf. Es ist eine Schar zurückkehrender Zugvögel.
2 Im Apartmenthotel
Wie abgesprochen, kommen die beiden Männer pünktlich um dreiviertel sechs im Hotel an. Carina begrüßt sie freundlich und übergibt die Zimmerschlüssel.
Abermals kommt es Carina so vor, als hätte sie Toni schon einmal gesehen. Sie weiß nicht, in welchem Leben. Seine Mimik, das einnehmende Lächeln und die Kopfhaltung kommen ihr so vertraut vor.
Ich kenne ihn, woher auch immer. Verdammt, ich kenne ihn.
Diese Worte gehen ihr ununterbrochen durch den Kopf, sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen, und lächelt gelassen. Sie ist gegenwärtig nicht zu einer Nachforschung aufgelegt, da ihr Mann schon wieder länger arbeitet, wurde ihr Plan für heute Abend über den Haufen geworfen und sie ist sauer.
„Das Abendessen ist eine Überraschung. Es ist ein typisch pommersches Gericht. Es schmeckt euch gewiss. Oh, seid ihr gegen irgendetwas allergisch?“, fällt es Carina schreckhaft ein.
„Ich nicht“, kommt es gleichzeitig von beiden und sie müssen lachen. Dann verabreden sie sich für neunzehn Uhr im hoteleigenen Bistro und ziehen los in ihre Apartments.
Um kurz vor sieben geht Toni ins Bistro und begrüßt Nadine. Er ist der Erste der beiden Männer. Nadine freut sich, Toni zu sehen, sie schmachtet ihn gleich an. Unbeeindruckt behält Toni mühelos seine charmante Art.
Ein paar Minuten später kommt Reiko. Er begrüßt Nadine ganz überschwänglich. Sie ist gerade damit beschäftigt, Béchamelkartoffeln zu servieren, und er gibt ihr ein Bussi.
„Womit habe ich das denn verdient?“, schaut sie ihn erstaunt an.
„Einfach nur so, weil du uns so nett bewirtest.“
„Danke, aber das ist ein Punkt in der Stellenbeschreibung.“
Alle drei müssen laut lachen.
Carina kommt ins Bistro.
„Was gibt es hier denn Lustiges? Ich möchte mitlachen.“
„Ach, wir lachen nur, weil Reiko deine Nadine so überfreundlich mit Küsschen begrüßt hat, weil sie so nett ist.“
Nadines Gesicht wird von einer leichten Röte überzogen.
„Ach, Nadine weiß einfach genau, was sie in ihrem Job zu tun hat. Und scheinbar macht sie es gut“, sagt Reiko grinsend.
„Zu manchen Gästen ist sie eben besonders nett“, fügt Toni hinzu und stößt Reiko in die Seite.
Carina setzt einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf.
„So ausgesprochen nett ist sie nicht zu jedem. Doch nun ran an den Tisch, Essen fassen, bevor es kalt wird!“
Nach dem Essen trinken sie noch jeder ein Bier und unterhalten sich dabei ein wenig, bevor sie sich auf ihre Zimmer zurückziehen.
Für den nächsten Tag planen sie, um halb sieben zu frühstücken.
3 Der Albtraum
Toni schreckt mit schwerer, keuchender Atmung aus einem Traum hoch. Er erinnert sich selten an die Träume. Das Bettzeug ist verschwitzt. Sein Herz schlägt, als springt es aus dem Brustkorb. Er atmet einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Zuerst weiß er nicht, wo er sich befindet. Es dauert ein paar Sekunden, dann fällt ihm ein, dass er im Hotel ist.
Er hat wieder von den Kindern geträumt. Sie standen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Die Frauen positionierten sich um den knienden Toni und schlugen ihn mit Weidenruten. Tonis Rücken war voller blutiger Striemen. Die Mütter lachten satanisch. Urplötzlich hörten sie auf, ließen ihn auf dem Boden kauernd zurück und stolzierten mit den Kindern davon. Die Körper wurden durchsichtiger, je weiter sie sich in Richtung Wald bewegten, bis sie nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen waren.
Sein Herz rast immer, nach so einem Albtraum. Dieser Traum kehrt mit wechselnder Intensität ständig wieder. Seit einem Monat schläft er kaum noch durch.
Er bezieht das Bett neu. Er hat Carina die Sache erklärt, ohne ihr Einzelheiten über das mitzuteilen, was passiert.
Er weiß, dass weitere Bettwäsche im Wäscheschrank liegt. Er holt sie heraus und bezieht es.
Dann legt er sich wieder hin und versucht, noch einmal einzuschlafen. Da die Stille bedrückend ist, schaltet er den Fernseher an und regelt die Lautstärke runter.
Der Morgen graut, er schläft zwar ein, findet aber keinen erholsamen Schlaf. Um sechs Uhr klingelt der Wecker und Toni fühlt sich völlig verkatert.
Im Laufe des Tages kommen ihm die nächtlichen Bilder immer wieder in den Sinn. Jedes Mal hält er für einige Sekunden die Luft an und versucht, die Vorstellungen zu verscheuchen.
Während der Fahrt zur Baustelle sind wieder die großen Vögel von gestern Abend auf einem Feld zu beobachten. Im Vorbeifahren sieht Toni, dass das Gefieder zum Teil richtig aufgeplustert ist. Das macht ihn stutzig, so etwas hat er noch nie gesehen.
Unweit der Baustelle ist eine große freie Fläche, auf der ebenfalls Kraniche versammelt sind. In der Morgendämmerung können die beiden Männer betrachten, wie die Vögel den sogenannten Kranichtanz aufführen.
Dazu lassen Männchen und Weibchen ihr lautes Trompeten hören und laufen mit weit ausgebreiteten Flügeln herum. Es ist interessant zu beobachten, wie sie mal in Kurven, mal in geraden Linien auf dem Acker entlangstelzen. Sie schleudern Pflanzenteile in die Luft und Toni beobachtet interessiert, wie sie in ihren Bewegungen immer mal wieder die Beine einknicken und anschließend den Oberkörper starr aufrichten. Es ertönen gurrende Laute des Weibchens, dadurch fordert es das Männchen zur Paarung auf.
Durch seinen Traum ist Toni noch immer schwermütig. Er steigt aus dem Auto und geht zu seinem Kollegen.
In der Frühstückspause setzt er sich einige Meter entfernt von seinem Kollegen Reiko, damit dieser ihn nicht beobachten kann. Wieder einmal holt er ihr Foto aus der Brieftasche. Das Bild begleitet ihn seit über elf Jahren überall hin. Er sieht Indra an, seine Madonna. Ihre blonden, kurzen Haare sind auf diesem Foto ganz schön wuschelig, es passt zu ihr, denn ihr ganzes Gesicht strahlt vor Lebensfreude. In seiner Erinnerung ist sie so unbeschreiblich schön.
In letzter Zeit passiert es häufiger, dass er wehmütig an sie denkt. Alle seine inneren Organe ziehen sich dann zusammen und er spürt regelrecht, wie eine Menge Hormone ausgeschüttet werden. Nur welche, weiß er nicht.
Wenn er das Porträt in den Händen hält, ist es, als berührt er Indra. Er fühlt tatsächlich, wie sich sein Herz dabei verkrampft.Seine Sehnsucht wird von Monat zu Monat größer, und er weiß nicht, wie er das noch länger aushalten soll.
4 Carina kümmert sich
An diesem Abend klopft Carina nach dem Essen an die Tür zu Tonis Apartment, um ihm vorsorglich frische Bettwäsche zurechtzulegen.
„Jup, herein, wenn es kein Schlagersänger ist.“, ruft Toni, der gerade aus der Dusche kommt.
Schmunzelnd tritt Carina ein. Ihr wird schnell klar, dass Toni sich seines schlanken, gut gebauten Körpers bewusst ist. Daher macht es ihm wohl auch nichts aus, nur mit einem, um die Hüften geschlungenem, Handtuch durchs Zimmer zu laufen.
Carina muss erst einmal ihre Sprache wiederfinden und verdauen, was sich ihr da für ein definierter Körper präsentiert.
Vom Duschen glitzern einige Wassertropfen auf Tonis Haut und seine Haare sind noch feucht.
Um ihn nicht anzustarren, konzentriert sie sich auf seine Tattoos. Auf der rechten Seite des Brustkorbs befindet sich ein Schriftzug. Ihr gefällt so etwas auf der Haut, sie möchte sich selbst aber nicht beschreiben lassen.
Das Tattoo auf dem rechten Schulterblatt würde sie gern unauffällig genauer betrachten. Das Motiv kommt ihr bekannt vor.
„Wow, Toni das sind ja tolle Tattoos! Sie sehen großartig aus.“
„Danke“, antwortet Toni und grient sie schief an. Dieser einnehmende, gefällige Gesichtsausdruck scheint für ihn charakteristisch zu sein.
Er wirkt auf sie erstaunlich vertraut. Woher kennt sie ihn? Aus ihrer Jugendzeit kann es nicht sein, dazu ist er zu jung.
Ich werde es herausfinden.
„Magst du ein Bier mit mir trinken?“, fragt er freundlich und dieses Mal, ohne zu flirten.
„Ja, einen Moment bitte, ich gebe mal schnell meinen beiden Töchtern Bescheid, nicht, dass ich überfallen wurde.“
„Haha, als wenn man hier überfallen wird!“
„Das kann überall passieren, aber meine Mädels warten sonst auf mich. Lass mich kurz eine Nachricht schreiben.“
„Ja, tu das, ich werde mir etwas anziehen.“
Und da ist es wieder, sein einnehmendes Lächeln – er sieht verdammt attraktiv aus.
Wäre ich nicht verheiratet, dann wäre er vielleicht eine Option, denkt Carina und rollt, verwundert über sich selbst, mit den Augen. Dann setzt sie sich, um ihren Töchtern eine kurze Nachricht zu texten.
Bereits nach kurzer Zeit kommt Toni zurück ins Zimmer. Er trägt jetzt ein weißes Poloshirt und eine anthrazitfarbene Chinohose.
Er hat zwei Bier in der Hand.
„Möchtest du ein Glas?“, fragt er Carina, sie schüttelt nur den Kopf, denn sein Anblick hat ihr die Sprache verschlagen. Sie ist hingerissen von seiner sexy männlichen Ausstrahlung.
„Wow, du siehst richtig schnucklig aus! Du kannst dich sicher nicht über fehlende Groupies beklagen?“
„Nun, so darf man das auch ausdrücken. Aber danke für das Kompliment“, sagt er mit seinem ausgemachten, unverschämten Schmunzeln, welches Carina ein weiteres Mal unwillkürlich schlucken lässt.
Dieses Mal ist es nicht nur sein Gesichtsausdruck, sondern auch seine Augen sind ihr bekannt. Woher nur?
„Ich habe neulich am Telefon ein kleines Kind gehört – du hast ein Kind?“
„Eins? Ich habe vier Kinder.“
Carina verschlägt es die Sprache, sie starrt ihn mit großen Augen und offenem Mund an.
„Habe ich dich jetzt richtig verstanden? Hast du vier gesagt?“
„Guck mich nicht so an, es ist nicht gelogen.“
„Du bist sechsundzwanzig, stimmt?“
„Jup. Mein Ältester ist im letzten Monat zehn Jahre alt geworden. Meine Tochter wird Donnerstag acht und die beiden kleinen Jungs sind eineinhalb.“
„Zehn Jahre alt? Drei Jungen und ein Mädchen?“ Carina ist fassungslos.
„Jup, ich war fünfzehn, na dann schon sechzehn, als er geboren ist. Wir haben keinen Kontakt.“
„Und deine lütten Jungs sind Zwillinge?“
„Nein.“
„Wie, nein?“
„Sie sind keine Zwillinge, sie haben verschiedene Mütter und einen Altersunterschied von dreieinhalb Monaten.“
„Ach du grüne Neune! Magst du mir erzählen, wie du zu vier Kindern gekommen bist?“, hakt sie gespannt nach.
„Ach, Carina, ich glaube kaum, dass ich dir erklären muss, wie man zu Kindern kommt!“
Lachend guckt er Carina herausfordernd an. Carinas Blick kommt ihm plötzlich wie eingefroren vor. Dann blinzelt sie und dreht ihren Kopf, als mag sie nicht, dass er ihr in die Augen schaut. „Du hast recht, das ist mir bekannt. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es für dich auch eine Belastung ist?“, fordert Carina ihn zum Reden auf.
„Denk jetzt bloß nicht, es wäre mir peinlich. Ich habe die Kinder nun mal und für irgendwelche Umstände oder Missstände sind sie nicht verantwortlich, das weiß ich!“ Seine Miene ist unverändert. „Und natürlich liebe ich meine Kinder, auch wenn ich sie nicht alle kenne. Sie sind mein eigen Fleisch und Blut.“
„Toni, sieh die Aufforderung zum Erzählen bitte ohne Wertung. Ich werde dich nicht verurteilen, es interessiert mich nur. Ja, ich meine es auch so, wie ich sage, du bist ein überaus interessanter Mann“, erwidert Carina.
Bei ihren schwärmerischen Äußerungen fühlt Toni sich geschmeichelt. Er beginnt mit seiner Lebensgeschichte.
„Ich lernte Ariane kennen, als ich neunzehn war, sie war achtzehn, wir gingen eine Zeit miteinander. Ich wollte mich nicht festlegen. Ariane wurde schwanger und unsere Beziehung lief so lala weiter, nichts Halbes und nichts Ganzes.“
„Ach, und deshalb gab es nebenher weitere Frauen?“ Carina schüttelt den Kopf.
„Mmmm, immer mal wieder.“ Toni merkt, dass er zurückhaltend klingt.
„Antonio! Dich würde ich mit einem Arschtritt vor die Tür befördern!“
„So ähnlich hat Ariane sich zwar einmal verhalten, wir konnten es aber wieder einrenken“, grinst Toni.
„Wie?“, japst Carina nun, „Ihr habt noch immer was am Laufen?“
„Nein, im Moment nicht, aber wir leben gemeinsam in einer Wohnung, ich zahle die Miete. Sie hat einen neuen Freund, sie wollen heiraten. Ihr Freund will die Kinder adoptieren, weil er wohl zeugungsunfähig ist.“
„Toni!“ Carina lacht. „Soll das heißen, du vögelst in der Weltgeschichte herum und lebst eigentlich mit der Mutter deiner Kinder zusammen?!“
„Na ja, drück es bitte nicht ganz so drastisch aus.“
„Wie soll ich es sonst zum Ausdruck bringen? Es ist doch so!“
„Bei dem Jüngsten habe ich mich von Anfang an gewehrt, Peggy hat mich ausgetrickst!“, verteidigt Toni sich.
„Wie ausgetrickst? Peggy ist die dritte Mutter?“
„Peggy ist die Mutter meines Jüngsten.
Wir wohnten damals fast zusammen, jedenfalls lebte ich mehr bei ihr als in meiner Wohnung. Sie wusste, dass ich kein drittes Kind wollte.“
„Sorry, dass ich dir jetzt ins Wort falle, du sagst dein Jüngstes und wohnst mit Ariane in der gemeinsamen Wohnung? Du verwirrst mich! Was ist mit deinem Ältesten?“, erkundigt sich Carina.
„Das ist die Geschichte, die mich seit langem quält. Ich möchte sie mir bis zum Schluss aufheben“, erklärt Toni seine durcheinandergeratene Erzählung.
„Wie gesagt, Peggy und ich wohnten fast zusammen und trotz meiner Gegenwehr war sie wohl der festen Überzeugung, Samenraub begehen zu müssen, und war dann plötzlich schwanger.“
Toni hebt die Hand, um Carina zum Schweigen zu veranlassen, denn er sieht, wie sich ihre Mundwinkel nach oben bewegen.
Carina lässt sich nicht unterbrechen und spricht ihre Gedanken aus.
„Plötzlich schwanger? Das hört sich für mich immer an wie aus Versehen auf einen Penis gefallen.“
„Na schönen Dank auch!“, kommentiert Toni. „Natürlich haben wir verhütet, na ja vielleicht nicht immer, man kann ja auch rechnen. Ich habe mich dagegen gewehrt und versucht, ihr begreiflich zu machen, dass ich nicht für das Kind da sein kann. Doch egal, welches Argument ich auch hervorkramte, bei ihr ist nichts angekommen.“
Carina verfolgt seinen Monolog mit gemächlichem Kopfschütteln.
„Ich bin überhaupt nicht an sie rangekommen. Sie wollte das Kind unbedingt behalten, dann bin ich bei ihr geblieben. Ich war der Meinung, dass ich sie liebe. Sie beteuerte ständig, dass es sie kein Stück stört, dass ich bereits zwei Kinder habe und so weiter und so fort.“
„Ich sehe da immer noch keine Erklärung drin, warum es dein Jüngster ist“, stirnrunzelnd sieht Carina zu Toni.
„Mmmm, während dieser Zeit hatte ich auch Sex mit Ariane, im Grunde genommen war es doch völlig legitim, schließlich ist sie die Mutter meiner Tochter, was sollte daran verwerflich sein?“, fügt Toni schelmisch hinzu.
Carinas Augen werden groß.
„Wie bitte?“ Ihre Stimme klingt schrill.
„Soll es geben.“ Toni setzt zwar eine betroffene Miene auf, er kann sich das Grinsen aber nur schwer verkneifen.
„Und weiter?“ Carina wirft ihm einen fassungslosen Blick zu.
„Nach vier Monaten hatte Peggy eine Fehlgeburt. Sie tat mir leid, ich wollte sie nicht aufgeben und stand ihr zur Seite, trotz allem war ich innerlich froh.“ Er schämt sich bei dieser Aussage, fährt dann mit leiser Stimme fort.
„Ariane empfing mich gut ein viertel Jahr später in unserer gemeinsamen Wohnung vorwurfsvoll mit den Worten, Du wirst wieder Vater! Und mir entgleisten wahrscheinlich alle Gesichtszüge.“
Carina fragt ihn nur entsetzt, „Mann, gehts denn noch? Hast du schon mal was von Geburtenkontrolle gehört? Na und nach den zwölf Wochen war es dann ja gewiss zu spät, um es sich abnehmen zu lassen – andererseits, haut es zeitlich gesehen überhaupt hin?“
Carina stutzt und will rechnen.
„Ja, sonst wäre ich da gleich darüber gestolpert. Außerdem ist Finn ein Sieben-Monats-Kind.“
„Also bekam nun Ariane dein drittes Kind, sie hatte ja auch dein zweites – doch du warst zu der Zeit mit einer anderen Frau zusammen?“ Auf Carinas Gesicht sieht er Bestürzung und Entsetzen.
„Ja, und obwohl wir verhüteten, wurde auch Peggy einige Wochen später abermals schwanger.“
„Nimm es mir jetzt bitte nicht übel, aber wie blöd ist das denn?“ Carinas Miene spiegelt trotz der bizarren Geschichte Mitgefühl wider.
„Rede nur weiter auf mich ein, ich schaffe es auch allein, mich fertigzumachen!“, erwidert Toni mürrisch.
„Ist ja schon gut, hast du vielleicht schon mal davon gehört, dass man Kondome anstechen kann?“
„Das hat sie nicht getan“, verteidigt Toni unbewusst Peggy.
„Wie blauäugig bist du denn? Ach nee, du hast ja braune Augen. Wenn Frau will, dann kann sie auch! Es gibt da so eine gewisse Sorte von Frauen, die manipulieren nun mal gern. Du hast keinen Kontakt mehr zu ihr?“
„Nein, ich bin nur an den Wochenenden in der Stadt. Ich höre hin und wieder etwas Neues durch meine Schwester.“
„Na schön“, meint Carina. „Und, was ist mit deinem dritten Kind? Ich bekomme es noch entwirrt!“
„Finn ist im September geboren, zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich, wie immer, außerhalb“, teilt Toni ihr eher teilnahmslos mit. „Ich bin in dieser Zeit selten in der Wohnung gewesen. Irgendwie fühlte ich mich ausgeliefert, mein Leben war aus der Spur geworfen. Es gab keine Möglichkeit, mich zu wehren. Der einzige Weg, um nicht ständig darüber nachzudenken, war Arbeit.“
Toni streicht sich mit beiden Händen durch sein Gesicht.
„Doch auch dabei kamen immer wieder die Gedanken hoch. Mir gingen sämtliche Vorstellungen gegen den Strich, da mich ja zu Weihnachten ein ähnliches Päckchen erwartete“, grollt Toni vor sich hin.
„Ich hörte davon, dass es solche Geschenke wirklich in sich haben.“ Carina lächelt.
„Wenigstens bin ich jetzt regelmäßiger zu Hause, vor allem, seit Leonora in der Schule ist. Sie soll es in Zukunft besser haben als ich. Anscheinend bin ich der Einzige, der mit ihr lernt. Ariane interessiert das alles kein Stück und ich bekomme immer wieder das Gefühl, als bevorzugt sie Finn. Ich wäre gern mehr für Leonora da, leider kriege ich es mit meiner Arbeit nicht in Einklang gebracht.“
Sein Gesicht drückt bedauern aus.
„Wenn ich am Wochenende, oder hin und wieder auch für ein paar Tage länger, in der Wohnung bin, dann unternehme ich regelmäßig etwas mit den beiden. So wie Ariane das macht, das kann ich nicht, zum Beispiel nimmt sie nur ein Kind mit zum Spielplatz. Und das ist dann Finn. Ich kann die beiden nicht so ungerecht behandeln!“
Toni überkreuzt seine Füße. „Das habe ich selbst auch nicht so kennengelernt. Sogar meine Stiefmutter behandelte uns alle gleich“, deutet Toni nebenbei an. „Nora ist eine ganz liebe Maus und ein bezauberndes Mädchen.“
„Was hat deine Stiefmutter jetzt damit zu tun?“, fragt Carina lächelnd.
„Nichts, ich wollte dir nur deutlich machen, dass ich es nicht von früher kenne, dass sich schlechter um mich gekümmert wurde als um meine Schwester.“
„Na, so schwer ist das bei so einem hübschen Mann nicht“, flirtet Carina jetzt.
Toni bemerkt es kaum, er ist so tief in seinen Gedanken versunken.
„Glaub mir, ich habe sie unsagbar gern. Sie ist klug, die Schule meistert sie ohne Probleme, nur Ariane zeigt sich gleichgültig und ist voller Desinteresse. Ihr scheint es egal zu sein, ob die Kleine ihre Hausaufgaben macht, regelmäßig isst oder was sie anzieht.“
Wie um Hilfe bittend schaut er zu Carina.
„Da versucht meine Mutter, zum Glück, immer ein Auge drauf zu haben. Allerdings geht sie nicht in unsere Wohnung, sondern Nora ist dann bei ihr. Meine Mutter verpackt es immer ganz geschickt; macht ihr mal hier und mal da ein kleines Geschenk und schon hat die Kleine eine neue Hose an oder etwas Ähnliches.“ Bestätigend nickt er. „Ich habe das Gefühl, dass Ariane sich nur gezwungenermaßen um Nora kümmert, und nicht, weil sie ihre Tochter liebt. Aber was soll ich machen? Ich muss arbeiten, wir brauchen das Geld. Und wie ich dir vorhin bereits erzählte, stört es Ariane überhaupt nicht, wie es Nora in der Schule geht.“
Carina sieht ihn argwöhnisch an. „Du sagtest, dass dir dein ältester Sohn unbekannt ist. Warum? Was ist passiert?“
„Carina, ich glaube nicht, dass du das wissen willst.“ Toni mustert sie.
„Natürlich will ich, sonst würde ich jetzt nicht hier sitzen und Bier mit dir trinken. Apropos Bier, wenn du noch reden magst, dann nehme ich auch noch ein zweites.“
Schmunzelnd reicht sie Toni die leere Flasche.
„Na klar, gerne.“
Dieser steht, in Gedanken vertieft, auf und geht mit beiden Flaschen zur Miniküche.
Währenddessen lässt Carina ihren Blick durch das Apartment schweifen. Es ist ordentlich, nirgendwo liegt gebrauchte Wäsche herum. Die Hygieneartikel scheinen alle im Bad zu stehen. Er benutzt kein aufdringliches Parfüm oder Deo.
Carina mag herbe Düfte bei Männern, doch zu Toni passt sein eigener Geruch.
Toni kehrt zurück.
„Danke. Gleich platze ich vor Neugier, ich möchte alles über deinen Großen wissen“, entgegnet sie, während Toni ihr die Bierflasche hinhält.
Toni wird still. Um Carina nicht anschauen zu müssen, konzentriert er sich auf die Flasche und beobachtet, wie sich der Schaum langsam auflöst.
Er erweckt den Anschein, verlegen zu sein, nahezu ein wenig betrübt.
„Da war dieses absolut irre Mädchen. Sie wirkte damals zwar schon lange nicht mehr wie ein Mädchen, sie bestach mit ihrer Makellosigkeit und ihrer Ausstrahlung.“
Toni schaut verträumt in die Ferne.
„Wie sie sich bewegte, wie sie ging und vor allem, wie sie lachte. Das Lachen war so hell und klar. Sie kam mir vor wie eine Madonna, meine Madonna mit blonden, kurzen Haaren. Ihre Augen waren grau, manchmal erschien es mir, als glitzerten sie silbern. Sie änderten, je nach Stimmung, die Intensität. Rund um die Pupille schienen sie hellgrau zu sein, die Iris wurde zum äußeren Rand immer dunkler, bis ein fast schwarzer Ring sie umrahmte.“
In Gedanken nickt er.
„Es war schön, ihr in die Augen zu schauen, und es steckte eine deutliche Gefahr darin. Ich war überwältigt und bin ihr regelrecht verfallen.“
Carina lächelt bei diesem Vergleich und blickt geistesabwesend aus dem Fenster. Da Vollmond ist, hat Toni nur die zwei Wandlampen angeschaltet.
Sie seufzt tief auf. „So eine herrliche Beschreibung. Darüber ist jede Frau glücklich. So graue Augen sind selten.“
„Ja, das stimmt, ich werde sie nie im Leben vergessen.“
„Warum solltest du auch? Ihr habt ein gemeinsames Kind!“ Verwundert sieht Carina zu Toni.
„Carina, ich weiß nichts von dem Kind. Mir ist nur der Tag der Geburt bekannt. Dieses Datum hat sich bei mir eingebrannt, nein, ich habe es sogar einbrennen lassen.“
„Wo denn? Zeig bitte mal.“
Toni zieht seinen Fuß aus dem Badelatschen und zeigt ihr am Spann sein Tattoo. 13th February – Carina bekommt das Gefühl, ihr Herz setzt einen Schlag aus! Das Datum kennt sie, sagt aber nichts dazu. Auf diesen Schreck atmet sie erst einmal tief und spürt, dass jeder sanfte Ausdruck aus ihrem Gesicht weicht. Schnell besinnt sie sich und lässt sich nichts anmerken.
Was ihre Gedanken kreuzt und torpediert, ist der Altersunterschied. Toni erzählte, dass er damals fünfzehn Jahre alt war, dann müsste Florentine zwanzig Jahre gewesen sein? Das verbietet sie sich zu glauben, denn weder Vorname noch Augenfarbe stimmen überein. Ihr wird urplötzlich klar, an wen Toni sie erinnert.
You’re going to do it, you’re a fighter!, steht neben dem Geburtstag geschrieben. Alles ist komponiert wie ein Infinityzeichen.
„Du bist der Ansicht, er ist kampfbereit?“, fragt Carina mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Wenn ich das wüsste! Vielleicht ist er auch ein Loser, aber das kann ich mir bei Indra nicht vorstellen. Oder er ist dickköpfig und eigensinnig, ich glaube, ich war nicht besser“, sinniert Toni lächelnd.
„Na komm schon, erzähl! Du hast noch Gedanken im Kopf, die du mir verheimlichst!“, versucht Carina, alles aus Toni zu quetschen.
„Jetzt klag du mich auch noch an! Hätte ich bloß nichts erzählt! Daher kommen doch meine Albträume!“
Carina verschlägt es die Sprache, sie formt ein stummes Oh mit den Lippen.
Nach einigen Minuten peinlicher Stille spricht Carina weiter.
„Wie, daher kommen deine Albträume? Willst du damit sagen, du träumst von den Kindern?“
„Ja, und den Müttern. Diese lynchen mich meist auf unterschiedlichste Art und Weise“, bestätigt Toni leise.
„Warum? Üben sie Vergeltung? Haben sie denn nicht gesunde und hübsche Kinder?“