Digital lesen. Was sonst? - Andreas Gold - E-Book

Digital lesen. Was sonst? E-Book

Andreas Gold

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Beschreibung

Birgt das Lesen auf digitalen Endgeräten großartige Möglichkeiten oder ist es doch nur ein kleineres oder gar größeres Übel? Unsere Lesegewohnheiten und unser Leseverhalten ändern sich, wenn wir auf einem Bildschirm lesen – genauso wie das Verstehen und Behalten des Gelesenen. Dabei beginnt das digitale Lesen bereits mit der Verwendung elektronischer Bilderbücher. Was bedeutet es für die Lesesozialisation der 0- bis 5-Jährigen, wenn sie Bilderbücher unbegleitet oder mit ihren Eltern auf dem Tablet ansehen? Wie gut oder schlecht lernen Schüler:innen, wenn sie dafür digitale Texte nutzen? Bereiten sich Studierende auf eine Klausur besser am Laptop vor oder lohnt sich der Weg in die Bibliothek? Oder wie lässt sich ein guter Roman eher genießen – auf Papier oder auch digital? Und muss es überhaupt ein Entweder-oder sein? Andreas Gold gibt Empfehlungen für den Umgang mit digitalen Texten für das Vorschul-, Schul- und Erwachsenenalter und spart dabei auch Hörbücher und Podcasts nicht aus. Denn: Kompetentes digitales Lesen kann man lernen.

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Andreas Gold

DIGITAL LESEN.

  WAS SONST? 

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 7 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © nadezhda1906/Adobe Stock

Innenabbildungen: Kapitel 1: © manow/Adobe Stock | Kapitel 2: © Jag_cz/ Adobe Stock | Kapitel 3: © Quintanilla/Shutterstock | Kapitel 4: © leungchopan/ Adobe Stock | Kapitel 5: © nadezhda1906/Adobe Stock | Kapitel 6: © Friends Stock/Adobe Stock | Kapitel 7: © Tyler Olson/Adobe Stock

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99354-6

INHALT

Vorwort

Digital lesen. Was sonst?

1 Was, wie und wozu wir lesen

2 Womit wir lesen

3 Digital lesen 0–2: Muss das sein?

4 Digital lesen 3–5: Bringt das was?

5 Digital lesen 6–17: Wie lernt man das?

6 Digital lesen 18+: Was sonst?

7 Potenziale, Risiken und Nebenwirkungen

Anmerkungen

Literatur

Register

 

LESEWARNUNG

Sie können dieses Buch auf Papier oder als E-Book lesen. Mit dem E-Book sind Sie schneller fertig, dafür werden Sie vermutlich weniger davon behalten. Woran das liegt und wie man das ändern kann, erfahren Sie in diesem Buch. Ebenso können Sie erfahren, weshalb man mit Kindern unter zwei Jahren besser keine elektronisch animierten Bilderbücher anschauen sollte. Aber auch, dass das Lesen auf digitalen Endgeräten fantastische Möglichkeiten eröffnet. Und wo das Lesen auf Papier weiterhin seine Berechtigung hat.

VORWORT

»Man kann Äpfel nicht mit Birnen vergleichen«, heißt es in einer deutschen Redewendung. Im Englischen sind es übrigens Orangen, die man mit Äpfeln angeblich nicht vergleichen kann, auch im Spanischen und im Portugiesischen ist das so. Gemeint ist jeweils, dass man vermeintlich Unvergleichliches nicht seriös miteinander vergleichen darf.

In dieser Ausschließlichkeit stimmt das natürlich nicht. Sinnvoll vergleichen kann man gerade, was nicht ohnehin identisch ist. Sonst dürfte man kaum noch etwas vergleichen. Ob Kinder heutzutage mehr oder weniger oft draußen spielen als vor dreißig oder fünfzig Jahren? Einwände gegen solch einen »unfairen« Vergleich finden sich rasch: Heute gibt es doch viel mehr Verkehr! Weniger Spielflächen! Ängstlichere Eltern! Mehr und andere Spielmöglichkeiten zu Hause! Ganztagsunterricht in der Schule! Vergleichen kann man die Spielhäufigkeiten der Kinder trotzdem, man muss nur die unterschiedlichen Rahmenbedingungen eines Vergleichs offenlegen. In Bezug auf die spielenden Kinder bedeutet dies, dass das veränderte Draußen ebenso zu beschreiben wäre wie die veränderten Alternativen zum Draußenspiel. Und die weiteren Umstände, die eine Kindheit heute von einem Aufwachsen vor dreißig oder fünfzig Jahren unterscheiden. Dann lässt sich über die außerhäuslichen Spielhäufigkeiten schon diskutieren.1

Ebenso lässt sich sehr wohl vergleichen, ob wir auf digitalen Endgeräten, die ganz anders aussehen als ein Buch oder ein Blatt Papier und die sich auch ganz anders anfühlen, mehr oder weniger, schneller oder langsamer oder schlicht anders lesen als auf bedrucktem Papier. Nicht nur die Lesegewohnheiten lassen sich vergleichen, sondern auch, ob wir mehr oder weniger gut verstehen und behalten, was wir gelesen haben. Worauf man die Unterschiede zurückführt – wenn es denn welche gibt –, das ist eine andere Frage.

In diesem Buch geht es um das digitale Lesen. Der Elefant im Raum stellt folgende Frage: Ist das digitale Lesen schlechter als das Lesen auf dem Papier? Der Vergleich zum Lesen auf Papier ist immer mitgedacht: Was macht das digitale Lesen aus und mit uns? Welche neuartigen Möglichkeiten eröffnet es? Gibt es unerwünschte Nebenwirkungen? Ist es zu ihrem Nutzen oder nachteilig, wenn Kinder früh digitale Endgeräte in die Hand bekommen? Man ahnt es bereits: Die Frage des Elefanten ist unterkomplex, unzulässig schlicht. Auf ein simples »Besser oder schlechter?« wird es jedenfalls keine einfache Antwort geben. Eher ein »Kommt darauf an!«. Denn was das digitale Lesen bewirkt, hängt davon ab, was wir lesen, zu welchem Zweck wir lesen und wie wir lesen. Auch davon, wie alt die Lesenden sind.

Was wir über das digitale Lesen wissen, verdanken wir empirischen Studien, in denen Personen, die Texte auf bedrucktem Papier und auf digitalen Endgeräten gelesen haben, beobachtet oder befragt wurden. Nur in Einzelfällen wird im Detail auf solche Studien eingegangen. Aber für alles, was hier berichtet wird, gibt es empirische Belege. Auf die Quellen wird in den Anmerkungen verwiesen. Sie begründen pädagogische Empfehlungen. Solche Empfehlungen für den Umgang mit digitalen Texten werden für das Vorschul-, Schul- und das Erwachsenenalter gegeben. Für eine rasche Übersicht sind die praktischen Handlungsempfehlungen unter Was tun? jeweils am Ende der entsprechenden Kapitel platziert. Zwanzig solcher Empfehlungen gibt es.

Nicht immer sind die Ergebnisse von Forschungsarbeiten leicht interpretierbar und nicht selten widersprechen sie den Resultaten anderer Studien. Kompliziert wird es vor allem dann, wenn nicht nur die beiden Lesemedien (Print oder Bildschirm) unterschiedlich sind, sondern auch weitere Aspekte variieren: Design und Technik der digitalen Endgeräte, Textart, Textschwierigkeit und Textlänge, die Leseanlässe und die Leseziele, das Ausmaß der Vorerfahrung mit dem jeweiligen Lesemedium oder mit dem Textinhalt. Werden in diesem Sinne Äpfel und Birnen noch dazu in einer Metaanalyse zusammengefasst – wie dies in der Wissenschaft oftmals geschieht –, so resultiertzwar am Ende eine globale Aussage über Vor- und Nachteile des digitalen Mediums, inhaltlich ist das aber bestenfalls Obstsalat.2

Ich schaue aus lernpsychologischer Sicht auf die Auswirkungen des digitalen Lesens – es gibt auch andere Sichtweisen. Bei der Bewertung von Nachteilen oder Vorzügen digitaler Texte ist weiter zu bedenken: Digitale Endgeräte, elektronische Bücher und Zeitschriften, Hörbücher sowie Lese- und Vorlese-Apps sind auch dort verfügbar, wo gedruckte Bücher wenig verbreitet sind oder gar gemieden werden. Ein Hörbuch oder E-Book lädt sich auch herunter, wer den Gang in die Ausleihe einer Stadtbibliothek scheut. Und in der S-Bahn lesen auch diejenigen – was auch immer – auf ihren Smartphones, die ein Buch oder eine Zeitschrift sonst niemals mit sich führen. Es wäre jedenfalls falsch, allzu kulturpessimistisch auf das digitale Lesen zu schauen. Die neuen Möglichkeiten müssen zunächst einmal in ihrem Wirkungsgrad erkannt werden, bevor das relativierende »Aber« ansetzt. So ermöglicht etwa das Lesen von Hypertexten Formen der interaktiven und nichtlinearen Lektüre, die beim Printlesen gar nicht möglich wären.

Als Leseforscher beschäftigt mich das digitale Lesen seit vielen Jahren. Wie die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen lese ich fachwissenschaftliche Texte vornehmlich digital. Aber mit Printmedien bin ich aufgewachsen. Als Wissenschaftler geht es mir um evidenzbasierte Empfehlungen für die digitale Leseförderung und um eine gelingende Lesesozialisation in einer digitalen Welt. Dazu hat die Leseforschung einiges beizutragen. An praktischen Fragen müssen sich die wissenschaftlichen Theorien und empirischen Befunde allerdings bewähren. Zwar ist nichts praktischer als eine gute Theorie, aber die wissenschaftlichen Theorien müssen auch den Weg in die pädagogische Praxis finden. Notwendig ist deshalb ein fortwährender Austausch mit Eltern, Lehrpersonen und mit Studierenden, damit es zu einem besseren Verstehen und zu einer Erweiterung unserer Handlungsmöglichkeiten kommt. Meinen Studierenden in Basel, Berlin und Frankfurt verdanke ich wertvolle Diskussionen und Anregungen beim Schreiben dieses Buches.

 

Frankfurt am Main, Oktober 2022

Andreas Gold

DIGITAL LESEN. WAS SONST?

Man mag es begrüßen oder beklagen. Einfach nur feststellen oder die Augen davor verschließen: Mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit digitaler Endgeräte ändern sich unsere Lesegewohnheiten (und die Praktiken des Schreibens übrigens auch). Als digitale Schreibwerkzeuge haben die elektronischen Tastaturen den mechanischen Schreibmaschinen schon lange den Garaus gemacht. Groß aufgeregt hat sich darüber kein Mensch. Eher im Gegenteil. Dass aber das digitale Lesen dem analogen Lesen sein Tod sein könnte, löst vielerorts Verlustängste und Abwehrreflexe aus. Wo ist das Problem? Geht etwas verloren, wenn wir Texte und Bilder auf Bildschirmen betrachten, statt auf bedruckten Papierseiten? Gewinnen wir mit der Digitalisierung nicht vielmehr großartige und weiterführende Möglichkeiten hinzu, die weit über das mit den tradierten Printmedien Mögliche hinausreichen?

Wie man Smartphone, Tablet oder Laptop handhabt, braucht man Kindern nicht groß beizubringen. Auch die Nutzung von Internetdiensten und Webbrowsern, den Umgang mit Apps und den diversen Anwendungsprogrammen erlernen sie wie von selbst. Die dahinterstehende intrinsische Lernmotivation ist in aller Regel konsumorientiert: Mit digitalen Geräten lassen sich Videos und Filme ansehen, Fotos erstellen, bearbeiten und verschicken, Suchmaschinen und Social Media nutzen, E-Mails und Sprachnachrichten versenden. Man kann Spiele spielen und Musik hören. Lesen kann man damit auch. Man muss allerdings auch lesen können, um über Suchmaschinen an die gewünschten Informationen zu gelangen. Dazu später mehr.

BASISDATEN

Im Jahr 2019 lag die geschätzte tägliche Onlinenutzungsdauer für die 9- bis 11-Jährigen in Deutschland bei etwa anderthalb Stunden, bei den 12- bis 14-Jährigen waren es zweieinhalb und an den Wochenendtagen drei Stunden. Für die 15-Jährigen wird im OECD-Raum von 35 wöchentlichen Internetstunden ausgegangen, was fast der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit eines Erwachsenen entspricht. Das Internet nutzen 71 Prozent der 6- bis 13-Jährigen – so die Studie »Kindheit, Internet, Medien« des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest. Bei den 12- bis 13-Jährigen sind es 97 Prozent. Im Vordergrund steht der Medienkonsum: digitale Spiele, Filme, Videos, WhatsApp, TikTok, Snapchat, Instagram und Facebook. Pädagogisch inspirierte Lernprogramme gibt es auch.1

Der Digitalverband Bitkom berichtet im Sommer 2022 über die Ergebnisse einer repräsentativen Studie mit mehr als 900 Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren. Demnach kommen die 6- bis 9-Jährigen auf durchschnittlich 49 Minuten tägliche Internetnutzung mit Smartphone oder Tablet, die 10- bis 12-Jährigen auf eine Stunde und 27 Minuten und die 13- bis 15-Jährigen auf zwei Stunden und 20 Minuten. Chatten und Videostreaming sind dabei die Hauptaktivitäten. Aber auch »Informationen für die Schule« werden recherchiert, was – so der Verband Bitkom – »die Leistungen in Schule oder Ausbildung verbessert«.2 Ob das stimmt?

Wo für die Schule digital gelesen oder recherchiert werden muss, geht es meist um das Vorbereiten einer (wiederum digitalen) Präsentation oder um das (digitale) Schreiben von Texten. Vorträge und Hausarbeiten werden unter Zuhilfenahme von Textverarbeitungsprogrammen erstellt. Der Umgang mit solchen Programmen muss gelernt werden, wie man gut präsentiert und wie man im Internet recherchiert ebenso. Erstaunliche 89 Prozent der Eltern von 10- bis 13-Jährigen glauben, dass ihre Kinder wissen, wie sie im Internet Informationen gezielt suchen und finden. Und immerhin 60 Prozent sind der Überzeugung, dass ihr Kind Inhalte im Internet daraufhin einschätzen kann, ob die Informationen vertrauenswürdig und richtig sind – so der Kinder Medien Monitor (KiMMo) 2021.3 Chapeau! Wer hat es den Kindern beigebracht? Oder haben sie diese Kompetenzen ebenso beiläufig erworben wie die Fertigkeit zum Gebrauch einer Fernbedienung?

SCHULISCHE LEISTUNGEN

Dass mit der zunehmenden Nutzung digitaler Medien nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Herausforderungen und Risiken größer werden, liegt auf der Hand. Leiden die schulischen Leistungen, wenn es die Kinder und Jugendlichen mit dem (digitalen) Medienkonsum übertreiben? Das ist so einfach nicht gesagt. Beim einen ja, beim anderen nein. Die Dosis spielt natürlich auch eine Rolle. Dass Kinder und Jugendliche mit einem vergleichsweise höheren Medienkonsum die vergleichsweise schlechteren Schulnoten erzielen, beweist noch nichts. Sie unterscheiden sich nämlich auch in einer Reihe anderer (ungünstiger) Merkmale von den Kindern und Jugendlichen mit besseren Schulleistungen. Die Debatte über den Medienkonsum wird hier nicht geführt. Wissenschaftliche Studien sprechen für einen leicht negativen Zusammenhang zwischen intensiver oder gar übersteigerter Smartphone-Nutzung und schulischen Leistungen. Unstrittig ist jedenfalls das Ablenkungspotenzial elektronischer Geräte in Lern- und Leistungssituationen: Die Konzentrationsfähigkeit, die Sorgfalt und das Leistungsvermögen von Studierenden sind selbst dann beeinträchtigt, wenn sie ihr (ausgeschaltetes) Smartphone nur in der Nähe wissen.4

Aber wie sieht es aus, wenn digitale Geräte zu Unterrichtszwecken in der Schule genutzt werden? Christine Sälzer hat anhand einer Zusatzauswertung der letzten PISA-Daten aufgezeigt, dass mit einer vermehrten Nutzungsdauer digitaler Geräte für schulische Zwecke keineswegs eine Verbesserung der allgemeinen Lesekompetenz einhergeht.5 Im Gegenteil: In Deutschland, aber auch in anderen Staaten, waren die Leseleistungen der Jugendlichen umso schlechter, je höher die Nutzungsdauer digitaler Geräte in den betreffenden Schulklassen war. Aus Amerika hat Naomi Baron für Kinder aus der 4. und der 8. Klassenstufe anhand der flächendeckenden Leistungstests mit fast 300.000 Datensätzen ähnlich verstörende Befunde berichtet: Die Lesekompetenz der Kinder war umso schlechter, je häufiger im Unterricht digitale Endgeräte eingesetzt wurden.6 Natürlich muss man sich davor hüten, das eine einfach als Folge des anderen zu interpretieren. Denn es kommt darauf an, zu welchem Zweck und mit welchem Geschick die Lehrkräfte die elektronischen Geräte im Unterricht einsetzen. Festzuhalten bleibt aber: Die bloße Nutzung digitaler Medien an Schulen wirkt nicht lernförderlich.

ICT-KOMPETENZEN

Als ICT-Kompetenzen (gelegentlich auch als informationsbezogene Kompetenzen oder als »Computer and Information Literacy«, kurz: CIL) bezeichnet man die notwendigen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien. Dabei geht es nicht nur um technische Fertigkeiten, sondern vor allem um die Fähigkeit (1) zum Suchen von Informationen mithilfe digitaler Medien, (2) zum Präsentieren von Informationen mit digitalen Medien, (3) zum Erkennen, welche Informationen aus dem Internet für eine schulische Aufgabe wichtig sind, sowie (4) zum Beurteilen, ob Informationen aus dem Internet vertrauenswürdig sind.

Seit einiger Zeit werden die ICT-Kompetenzen der 14-Jährigen in Deutschland regelmäßig erfasst – zuletzt im Rahmen von ICILS 2018, der »International Computer and Information Literacy Study«. Höhere ICT-Kompetenzen besitzen demnach jene, die auf eine längere Erfahrung mit digitalen Medien zurückblicken. Mit der (in Deutschland vergleichsweise geringen) Nutzungshäufigkeit digitaler Medien im Schulunterricht haben die ICT-Kompetenzen der Jugendlichen bestenfalls nichts zu tun, eher zeigt sich ein gegenläufiger Effekt. Auch mit der Lesekompetenz von Jugendlichen ist die Nutzungshäufigkeit digitaler Medien in der Schule, wie bereits erwähnt, negativ verknüpft. Im Schulunterricht werden also die notwendigen ICT-Kompetenzen nicht vermittelt und die vorhandenen ICT-Kompetenzen befähigen noch lange nicht zum kompetenten Umgang mit digitalen Texten. Das Präsentieren und die Informationssuche im Internet trauen sich die Jugendlichen – so ihre Selbstauskünfte in ICILS 2018 – zwar noch zu. Nicht aber, darüber zu entscheiden, welche der gefundenen Informationen wichtig und vertrauenswürdig sind.7 Das passt nicht ganz zu den oben berichteten Elterneinschätzungen.

Der Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man sich klarmacht, dass die Nutzung digitaler Medien allein die dafür notwendigen Kompetenzen nicht mit sich bringt. Die Eingabe von Suchbegriffen, das Aufrufen von Links und das Navigieren durch Webseiten garantieren noch lange nicht, dass die relevanten Informationen gefunden, die teils gegensätzlichen Auskünfte kohärent verknüpft und die Glaubwürdigkeit von Quellen beurteilt werden können. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass es pädagogischer Unterstützung bedarf, damit sich die notwendigen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Texten entwickeln.

Was für das Informationslesen gilt, lässt sich auf das Vergnügungslesen nicht eins zu eins übertragen. Aber auch für das Lesen von Erzähltexten haben renommierte Leseforscherinnen wie Maryanne Wolf oder Naomi Baron darauf hingewiesen, dass mit der Nutzung digitaler Lesegeräte andere Verhaltens- und Erlebensweisen verbunden sind, als dies beim Lesen auf Papier der Fall ist. In Digital lesen. Was sonst? werden wir uns sowohl mit dem Informationslesen wie auch mit dem Lesen zum Vergnügen befassen. Für alle Lebensalter, für unterschiedliche Textarten und Leseanlässe wird die Frage gestellt und beantwortet, welches die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit digitalen Texten sind und wie sich der Erwerb solcher Kompetenzen gezielt unterstützen lässt. Ein grundsätzliches Infragestellen des digitalen Lesens ist demnach keine Option. Das heißt nicht, dass mögliche Nachteile und Begrenztheiten unerwähnt bleiben.

Wenn über die Digitalisierung der Bildung bzw. der Bildungseinrichtungen oder gar über eine Digitale Bildungsrevolution gesprochen wird, geht es stets auch um das digitale Lesen. Mit dem fünf Milliarden Euro schweren DigitalPakt Schule, wie ihn Bund und Länder im Frühjahr 2019 vereinbart – und später um einen Pandemiezuschlag ergänzt – haben, werden nicht allein die digitalen Infrastrukturen finanziert, sondern auch die digitalisierten Lernmittel und Lernplattformen entwickelt, erworben und verbreitet, die Kinder und Jugendliche nutzen sollen. Umso besser, wenn es dabei mit Blick auf das digitale Lesen evidenzbasiert zugehen würde!

WARUM DIESES BUCH?

Dieses Buch wurde verfasst, um eine sachorientierte Positionierung zu einem kontrovers diskutierten Thema zu erleichtern. Digitales Lesen: Chance oder Fluch? Der Untergang des Abendlandes oder der Aufbruch in eine neue Zeit? Die Debatte über das digitale Lesen ist stets in einen Bildungszusammenhang zu stellen. Denn jenseits der Frage, was es bedeutet, wenn Erwachsene ihre Bücher und Zeitungen nicht mehr auf Papier lesen, ist der Bildungsbezug offensichtlich. Was passiert, wenn digitale Medien in der Schule zum Lernen oder sogar zum Lesen lernen genutzt werden?

Was passiert, ist dabei keineswegs alarmistisch gemeint. Sondern als Frage an die empirische Forschung, die sich mit dem Einsatz digitaler Medien im Zusammenhang mit dem Textverstehen und mit dem Erwerb von Lesekompetenzen beschäftigt. Und mit den Potenzialen, Wirkungen und Nebenwirkungen des Medieneinsatzes. Dass nicht alle Fragen zu beantworten und dass die Antworten der Wissenschaft nicht als endgültige Gewissheiten zu betrachten sind, versteht sich. Es haben sich aber in den vergangenen zwanzig Jahren belastbare Erkenntnisse herauskristallisiert, die geeignet sind, evidenzbasierte Empfehlungen zum digitalen Lesen auszusprechen und pädagogische Vorgehensweisen zu begründen. Dies soll hier geschehen.

Mehr als 130 Leseforscherinnen und Leseforscher aus ganz Europa haben 2019 in einer gemeinsamen Erklärung, die nach dem norwegischen Ort ihres Treffens »Stavanger Erklärung« genannt wird, auf weiteren dringlichen Forschungsbedarf verwiesen. Viel zu wenig, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wüssten wir derzeit über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Lesepraxis im Allgemeinen und über die langfristigen Folgen des allmählichen Ersetzens von Papier und Stift in den Schulen der Primarstufe im Besonderen. Auf der anderen Seite verweisen sie auf die großartigen Chancen, die mit einer höheren Verfügbarkeit und leichteren Zugänglichkeit digitaler Texte einhergingen.

Wer mehr als einen kompakten Überblick haben möchte, mag sich über das Lesen im Allgemeinen in den vorzüglichen Taschenbüchern von Maryanne Wolf (2010) und Stanislas Dehaene (2012)umfassender informieren oder in einer knappen zusammenfassenden Darstellung bei Gold (2018). Eher kritische Bücher zum digitalen Lesen haben Maryanne Wolf (2019) und Naomi Baron (2015, 2021) geschrieben. Maik Philipp (2020) und Gerhard Lauer (2020) widersprechen einer kulturpessimistischen Sichtweise und heben den Mehrwert eines kompetenten Umgangs mit digitalen Dokumenten und die Vielfalt des Lesens hervor. Julie Coiro (2020) hat das Wissenswerte über fast dreißig Jahre Forschung zum digitalen Lesen in einer knappen Übersicht zusammengefasst.

WIE DIESES BUCH AUFGEBAUT IST

Dieser Einleitung folgen sieben Kapitel. Im ersten wird beschrieben, was, wie und wozu wir lesen (Kap. 1). Einen Roman, ein Sachbuch, einen wissenschaftlichen Artikel, einen Brief, eine Textnachricht, eine Fahrplanauskunft oder eine Wegbeschreibung zu lesen, sind unterschiedliche Dinge. Was haben sie gemeinsam? Wir können etwas gründlich lesen, überfliegend oder selektiv. Oft wird das langsame, tiefe und weltvergessene Lesen (Deep Reading) dem oberflächlichen, zweckorientiert informationssuchenden Lesen (Skimming oder Scanning) gegenübergestellt. Im Zuge einer zunehmenden Digitalisierung des Lesens ist die Befürchtung geäußert worden, die Nutzung digitaler Informationsträger könne eine generelle Tendenz zum oberflächlichen Lesen begünstigen und so zu einer Verflachung des Textverstehens beitragen. Damit werden wir uns auseinandersetzen. Mit den unterschiedlichen Leseformen sind meist unterschiedliche Leseziele und -absichten verbunden. Gelesen wird zum Vergnügen bzw. zur Unterhaltung oder um etwas zu lernen. Manchmal ist das gar kein Gegensatz. Kinder lernen lesen, weil sie es wollen – und weil sie lesen können müssen, um zu lernen. Besorgniserregend ist, dass etwa zwanzig Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland nicht gut genug lesen können und dass es beträchtliche Disparitäten der Lesekompetenzen mit Blick auf die Geschlechter, die soziale Herkunft und den Zuwanderungsstatus gibt. Hinzu kommt eine erschreckend große Anzahl Erwachsener, die nicht lesen können.

Womit wir lesen, wird im Folgenden behandelt (Kap. 2). Zunächst einmal mit den Augen, denn Lesen ist kognitionspsychologisch betrachtet ein Prozess der visuellen Wahrnehmung (wenn wir die von Louis Braille entwickelte Blindenschrift außer Acht lassen). Weil sprachliche Information nicht nur geschrieben und gelesen, sondern auch gesprochen und gehört werden kann, wird zusätzlich über Lesen als Hören zu sprechen sein. Also wird die auditive Wahrnehmung von Texten miteinbezogen: Hörbücher anhören, Bücher und Bilderbücher vorlesen bzw. vorgelesen bekommen. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass es für Kinder im Vorschulalter bereits ein reichhaltiges Angebot auditiv angereicherter Bilderbücher gibt und einen etablierten Markt an Hörbüchern für Erwachsene. Womit wir lesen meint aber gar nicht in erster Linie das Sinnesorgan der Informationsaufnahme, sondern vor allem das Trägermedium der Information. Hier wird eine grundlegende Unterscheidung eingeführt, die sich durch die nachfolgenden Ausführungen zieht. Wird auf oder mit einem digitalen Endgerät gelesen oder auf bedrucktem Papier? Print oder Screen? Und wenn das Trägermedium ein digitales ist: Wird auf dem Computer, dem Tablet, auf einem speziellen E-Reader oder auf dem Smartphone gelesen? Wird dabei nur visuell oder auch auditiv gelesen? Die Gebrauchseigenschaften des Trägermediums geben vor, welche Arten von Texten dargeboten werden können. Bestimmen sie auch darüber, wie gelesen wird? Einzeltexte können sowohl auf Print- als auch auf Digitalmedien gelesen werden. Auch mehrere (multiple) Texte können sowohl auf bedrucktem Papier als auch auf einem digitalen Endgerät gelesen werden. Während man beim Online-Lesen von Hypertexten allerdings über Verweise (Hyperlinks) direkt zu weiteren Text-, Bild- und Tondokumenten gelangen kann, ist das beim Lesen von Texten auf Printmedien nicht möglich.

Die Kapitel 3 bis 6 orientieren sich am Lebensalter der Lesenden. Wie in der Entwicklungspsychologie üblich, sind die Altersangaben nur als Leitplanken zu verstehen. Groß ist nämlich die Variabilität innerhalb der Altersbereiche. Ganz willkürlich sind die vier Altersbereiche der 0- bis 2-Jährigen, der 3- bis 5-Jährigen, der 6- bis 17-Jährigen sowie der jüngeren und älteren Erwachsenen (18+) allerdingsnicht gewählt. In Digital lesen 0–2 (Kap. 3) geht es um die Frage, ob das Vorlesen und gemeinsame Lesen von Kinderbüchern im Print-Format die literale Sozialisation der Kleinkinder anders prägt als die Verwendung elektronischer Kinderbücher, insbesondere solcher mit einer Vorlesefunktion und mit Animationen. In Digital lesen 3–5 (Kap. 4) wird diese Frage für das Kindergartenalter erneut gestellt. Zudem geht es um den selbstständigen und zunehmend unbegleiteten Umgang der Kinder mit elektronischen Kinderbüchern sowie mit digitalen Lese- und Lernstiften. Es gibt eine Reihe von Forschungsbefunden darüber, wie sich das digitale Vorlesen auf die sprachliche und spätere schriftsprachliche Entwicklung der Kinder auswirkt. Die provokanten Leitfragen »Muss das sein?« (für die 0- bis 2-Jährigen) sowie »Bringt das was?« (für die 3- bis 5-Jährigen) weisen darauf hin, dass der pädagogische Einsatz digitaler Medien im Vorschulalter nicht nur in der interessierten Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird.

Weniger kontrovers wird im Allgemeinen über den Einsatz der digitalen Lesemedien im Schulalter debattiert. In Digital lesen 6–17 (Kap. 5) geht es um die Frage, wie sich schulische Lernprozesse durch die Einbindung digitaler Angebote und Lernhilfen optimieren lassen. Großartige Potenziale für den Unterricht bergen digitale Texte und Hypertexte vor allem dann, wenn sie lernwirksam gestaltet sind – und wenn die Kinder und Jugendlichen gelernt haben, mit solchen Formaten umzugehen. Die Schule ist der richtige Ort, um die (digitalen) Lesekompetenzen zu erwerben. Dreht sich bei den 6- bis 10-Jährigen zunächst alles um das Lesen lernen und um die Ausbildung von Wortlesefähigkeit, Leseflüssigkeit und Textverstehen, so geht es bald um etwas anderes: Lesen, um zu lernen – Lesen als Mittel zum Zweck. Es braucht beim digitalen Lesen kluge Herangehensweisen, um die Möglichkeiten der digitalen Texte nutzen und die besonderen Anforderungen des Bildschirmlesens bewältigen zu können. Was passiert beim Online-Lesen und beim Lesen von Hypertexten? Worauf müssen wir beim Lesen multipler Texte besonders achten?

Aus Jugendlichen werden jüngere und später ältere Erwachsene. Digital lesen 18+ (Kap. 6) geht uns alle an. Wie lesen wir in der digitalen Welt? Wie verändern sich das Lesepensum und die Lesegewohnheitenvon Studierenden? Wie ist das analoge Unterhaltungslesen vom Aufkommen der digitalen Lese- und Höralternativen betroffen? Welche Präferenzen beim Unterhaltungslesen und beim Lesen von Sachtexten gibt es – und wie verändern sie sich? Wer Erfahrungen in allen drei medialen Lesewelten – Print, E-Book und Hörbuch – gemacht hat, kann vergleichen. Um ein Ersetzen des analogen durch das digitale Lesen kann es nicht gehen. So wie es unterschiedliche Leseanlässe und -modalitäten gibt, werden künftig unterschiedliche mediale Darbietungsformen koexistieren, mit ihren je eigenen Vorzügen und Begrenztheiten in Bezug auf diese Anlässe und Modalitäten. Von einer generellen Bildschirmunterlegenheit lässt sich deshalb genauso wenig sprechen wie vom Aussterben des bedruckten Papiers.

Digitale Potenziale, Risiken und Nebenwirkungen werden abschließend resümiert (Kap. 7). Der Spannungsbogen ist weit gesteckt. Sind die digitalen Lesemöglichkeiten großartig oder wenigstens besser als nichts – oder ist nichts gut am digitalen Lesen? Große Chance oder doch nur kleineres oder gar größeres Übel? Festzuhalten bleibt: Digitale Texte sind leichter zugänglich und ihr Bezug ist weniger kostspielig. Bezahlen wir dafür mit einem oberflächlicheren Verstehen? Wichtig ist, dass die besonderen Potenziale der digitalen Optionen klar benannt werden. Für das Online-Lesen multipler Texte sind das etwa die großartigen Recherchemöglichkeiten in die Breite. Im pädagogischen Bereich ist vor allem auf eine leichte Anpassung der digitalen Texte im Hinblick auf unterschiedliche Lernausgangslagen und -bedürfnisse zu verweisen. Allerdings müssen Risiken und Problemfelder des digitalen Lesens ebenso offen angesprochen werden. Eine leichtere Ablenkbarkeit, eine geringere Sorgfalt und ein weniger ernsthaftes Herangehen beim digitalen Lesen sind keine geringen Herausforderungen. Alles Problematiken, die eher im Kopf der Lesenden begründet scheinen als in den inhärenten Eigenschaften der elektronischen Lesemedien und in der digitalen Darbietungsform der Texte. Diese Herausforderungen lassen sich bewältigen. Verantwortungsvoll müssen allerdings Eltern und Lehrpersonen mit den Möglichkeiten der digitalen Texte in Lehr-Lernsituationen umgehen. Das Navigieren, Informationen im Internet finden, das Bewerten und Integrieren dieser Informationen – dies alles muss richtig gelernt werden. Nur dann sind Smartphone, Laptop und Tablet sowie Kindle und Tolino nicht »dem Lesen sein Tod« – sondern eine Fortsetzung des analogen Lesens mit anderen Mitteln. Und eine gelungene Transformation von Tinte und Papier in eine Welt der Flüssigkristalle.

1 WAS, WIE UND WOZU WIR LESEN

Zeitungen, Zeitschriften, Sachbücher, Romane, Nachschlagewerke oder wissenschaftliche Artikel lassen sich auf Papier oder digital lesen. Märchen und andere Geschichten kann man Kleinkindern aus einem Buch vorlesen oder von einem digitalen Endgerät. Für Hörbücher braucht man ein elektronisches Trägermedium, genauso wie für eine Fahrplanauskunft über die DB-App, eine Wegbeschreibung über Google Maps oder um eine Text- oder Bildnachricht auf Social Media zu lesen. Damit die Darlegungen nicht ausufern, wollen wir unter Lesen im Folgenden nur das Lesen von Texten verstehen, die mehr als 300 Wörter umfassen. Das entspricht in etwa der Anzahl von Wörtern auf der folgenden Druckseite. Die Texte können auch bebildert sein oder als (digitale) Hypertexte Querverweise oder Schnittstellen zu anderen Texten sowie zu eingebetteten Bild- und Tondokumenten umfassen. Sie können auch »auditiv gelesen«, also als Hörbücher oder über eine integrierte Vorlesefunktion gehört werden. Nicht behandelt werden demnach alle Lesevorgänge, bei denen es um kommunikative Kurz- oder Sprachnachrichten auf dem Smartphone geht oder um E-Mails bzw. um Briefe auf Papier (Korrespondenz), um das Lesen von Formularen, Kontoauszügen, Beipackzetteln, Warnhinweisen oder um das Lesen des Kleingedruckten auf Waren und Produkten.1Was lesen wir also?

TEXTARTEN

Wir lesen Texte. Eine erste Unterscheidung ist die zwischen narrativen Texten (Erzähltexten) und Informationstexten (Sachtexten). Der Buchhandel unterscheidet oftmals zwischen der Belletristik als Unterhaltungsliteratur (Fiction) und den Sach- oder Fachbüchern (Non-Fiction). Das Lesen erzählender Texte ist üblicherweise genüsslich konnotiert, jedenfalls unter den Buchliebhaberinnen und -liebhabern des Bildungsbürgertums. Wer einen leichten Zugang zum Lesen und Schreiben nicht gefunden hat, kann damit weniger anfangen. Zumal es auch andere Möglichkeiten der genüsslichen Freizeitgestaltung gibt.

Der letzten PISA-Studie ist zu entnehmen, dass die Hälfte aller Jugendlichen in Deutschland nur noch dann lesen, wenn sie müssen. Ein anspruchsvolles Genuss- oder Vergnügungslesen »schöner Bücher« – aus freien Stücken – zur Erbauung und zur Unterhaltung mag deshalb vielen bereits antiquiert vorkommen, als ein Stück Hochkultur aus den guten alten Zeiten. Spannend ist die Frage, ob und wie die Nutzung digitaler Medien die Rezeption narrativer Texte verändert. Die Entwicklung buchanaloger Lesegeräte wie Kindle, Tolino oder iPad wurde maßgeblich mit Blick auf den Absatzmarkt elektronischer Belletristik veranlasst. Die meisten Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es zumindest für das Textverstehen keinen großen Unterschied macht, ob ein Erzähltext auf Papier oder auf einem digitalen Endgerät gelesen wird. Elektronische Texte werden allerdings schneller gelesen – und auch rascher wieder vergessen (Kap. 5). Auch kann man sich nicht so gut merken, was wann in einer Geschichte passiert ist.

Am Lesen von Sachtexten kommt niemand vorbei. Sachtexte werden gelesen, um sich zu orientieren und um ihnen die gesuchten Informationen zu entnehmen. Das gehört in schulischen Lernumgebungen zum Alltagsgeschäft, in der Wissenschaft ebenso. All dies kann auch digital geschehen. Oft, wenn auch nicht zwingend, sind mit dem Lesen von Sachtexten andere Leseanlässe und -notwendigkeiten verbunden als mit dem Vergnügungslesen. Häufig ist auch der dabei betriebene Aufwand höher. Der Leseanlass beeinflusst, wie wir einen Sachtext lesen. Einen Textabschnitt über die Funktionsweise des Hypothalamus wird man zur Vorbereitung auf eine schulische Prüfung über das zentrale Nervensystem anders lesen als einen vergleichbaren Abschnitt in einem populärwissenschaftlichen Buch über das Gehirn, das man aus Interesse, nicht aber zu Prüfungszwecken studiert. Ein Textinhalt kann wieder vergessen werden, sobald die Information nicht mehr benötigt wird. Spannend ist die Frage, ob und wie das