Lernen leichter machen - Andreas Gold - E-Book

Lernen leichter machen E-Book

Andreas Gold

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Beschreibung

»Lernen leichter machen« erklärt, was Lernschwierigkeiten sind, woher sie kommen und wie man sie diagnostiziert. Vor allem aber werden Erfolg versprechende und evidenzbasierte Maßnahmen individueller Förderung vorgestellt, damit das Lesen, Rechtschreiben und Rechnen besser gelingt. Auch wird eine Schneise in den Dschungel der schulrechtlichen Verordnungen und Erlasse zum Umgang mit Lernschwierigkeiten geschlagen.Etwa jedes fünfte Kind hat mit größeren Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen zu kämpfen. Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten teilen das Schicksal des Schulleistungsversagens – ganz gleich, ob bei ihnen eine »Lernbehinderung«, eine »Lernschwäche« oder eine »Lernstörung« diagnostiziert worden ist. Sie haben Anspruch auf besondere Maßnahmen individueller Förderung. Funktionsdefizite individueller Lernvoraussetzungen sind die Hauptursachen von Lernschwierigkeiten. Aber auch ungünstige außerschulische Rahmenbedingungen sowie eine mangelnde Adaptivität des schulischen Unterrichts spielen eine Rolle. Maßnahmen individueller Förderung müssen im Unterricht – und darüber hinaus – ansetzen. Auch präventive Maßnahmen der universellen, selektiven und indizierten Lernförderung haben sich bewährt. Fördermaßnahmen, die direkt an den beeinträchtigten Lese-, Rechtschreib- oder Rechenprozessen ansetzen, sind wirksamer als die symptomunspezifischen Funktionstrainings.

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Andreas Gold

Lernen leichter machen

Wie man im Unterrichtmit Lernschwierigkeiten umgehen kann

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99802-2

Umschlagabbildung: JorgeAlejandro – Fotolia

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Alles gut? Leider nicht für alle!

1Was Lernschwierigkeiten sind und woher sie kommen

2Wie man Lernschwierigkeiten diagnostiziert

3Individuelle Förderung im Unterricht

4Besondere Fördermaßnahmen

5Prävention

6Was in den Verordnungen und Erlassen steht

7Lernschwierigkeiten in der Lehrerbildung

Literatur

Testverfahren, Förderprogramme und Trainings

Register

Alles gut? Leider nicht für alle!

Lernen ist leicht. Einigen Schülerinnen und Schülern fällt das schulische Lernen aber schwer. Ob und wie man ihnen das Lernen leichter machen kann, ist Thema dieses Buches. Wenn das Lernen schwerer fällt, ist das für die betroffenen Kinder und für ihre Eltern nicht ganz einfach. Auch für die Lehrerinnen und Lehrer nicht, die sich fragen mögen, woran es liegt, dass einigen Kindern das schulische Lernen nicht so gut gelingt. Auf die möglichen Ursachen von Lernschwierigkeiten werden wir später noch zu sprechen kommen. Im Wesentlichen geht es in diesem Buch aber um etwas anderes. Nämlich darum, was wir in Schule und Unterricht, durch unterrichtsadditive Fördermaßnahmen und im Elternhaus dafür tun können, um Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten das Lernen leichter zu machen. Dass nicht alle alles gleich gut lernen können, ist gar nicht das Problem. Sondern vielmehr, dass die Kinder und Jugendlichen mit ungünstigen Lernvoraussetzungen nicht immer eine in Form und Inhalt optimale individuelle Förderung erhalten. Denn nur dann können sie ihre Lernpotenziale ausschöpfen und das für sie Mögliche erreichen.

In den letzten Jahren ist der inklusive Unterricht in den Schulen selbst und in der Bildungsöffentlichkeit ein großes Thema. Dabei sind die Inklusionskinder – also Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen – nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Kinder, die besondere Schwierigkeiten und besonderen Förderbedarf beim Lernen haben. Besondere Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben oder beim Rechnen haben nämlich – je nach den verwendeten Definitionskriterien und je nach der gewählten Betrachtungsweise – 15 bis 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen. Und das sind weitaus mehr als die 2.6 Prozent, für die im Schuljahr 2013/2014 sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen diagnostiziert wurde.1 In einer Klasse mit 25 Kindern wird es demnach vier bis sechs Kinder geben, die einen besonderen oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf in einem oder mehreren Lernfeldern haben. Darüber lässt sich nicht hinwegsehen.

Die feinsinnigen Begrifflichkeiten der besonderen Schwierigkeiten und des besonderen Förderbedarfs auf der einen Seite und des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf der anderen haben sich die Kultusminister der Länder ausgedacht, um zwei Erscheinungsformen von Lernschwierigkeiten schulrechtlich und -organisatorisch auseinanderzuhalten: die Lernstörung und die Lernbehinderung. Später wird ausgeführt, wie es dazu gekommen ist und mit welcher Begründung. Vereinfacht gesagt, scheint die Lernbehinderung (heute: der sonderpädagogische Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen) der gravierendere Fall, weil neben dem schulischen Leistungsversagen eine Intelligenzminderung vorliegt, also eine intellektuelle Beeinträchtigung. Traditionell waren die Sonder- oder Förderschulen für Lernhilfe dafür zuständig, den sonderpädagogischen Förderbedarf dieser Kinder zu decken. Bei der Lernstörung liegt eine intellektuelle Beeinträchtigung hingegen nicht vor, gehen die schulischen Minderleistungen der Kinder also nicht mit einer Intelligenzminderung einher. Dennoch oder gerade deshalb rechtfertigen die »unerwarteten« Lernschwierigkeiten dieser Kinder ebenfalls einen besonderen Förderbedarf, der traditionell im Regelschulwesen gedeckt wurde.

In der Vergangenheit ist viel Zeit darauf verwendet worden, Kinder mit einer »erwartungswidrigen« Lernstörung differenzialdiagnostisch sauber von solchen mit einer aufgrund ihrer intellektuellen Beeinträchtigung »erwartungsgemäßen« Lernbehinderung zu trennen, eben weil schulorganisatorische Entscheidungen damit verknüpft waren. Auch ab wann man überhaupt von einer Lernstörung sprechen sollte, oder ob nicht doch nur eine weniger gravierende Lernschwäche vorliegt, ist lang und breit debattiert worden. In den Legasthenie- und Dyskalkulie-Erlassen der Bundesländer und in den Verfahrensweisen zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs spiegelt sich die Variabilität der Vorschriften, die dabei zu beachten sind. Sie sind geltendes Recht, auch wenn mit zunehmender Inklusionsorientierung eine kategoriale Diagnostik zugunsten einer interventionsorientierten künftig an Bedeutung verlieren wird. Um eine bestmögliche Förderung einzuleiten, kommt es nämlich weniger darauf an, wie intelligent ein Kind ist. Sondern darauf, dass die passenden individuellen Förderpläne entwickelt werden und auch zum Einsatz kommen, und dass sich diese Förderpläne an nachweislich wirksamen Förderprinzipien orientieren. Auch darauf, dass im Unterricht Lernschwierigkeiten möglichst frühzeitig erkannt werden, und dass es dort ein adaptives Vorgehen mit gestuften Hilfen gibt, um ihnen zu begegnen. Darüber zu berichten, ist das Hauptanliegen dieses Buches. Aktuell müssen die Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer aber noch damit umgehen (können), dass Kinder mit Lernschwierigkeiten zunächst einmal kategorial diagnostiziert werden – entweder als lernschwach oder als lerngestört oder als lernbehindert. Und damit, was daraus folgt.

Warum dieses Buch?

Auf die schulrechtlichen Verordnungen und Erlasse zum Umgang mit Lernschwierigkeiten will ich erst am Ende des Buches eingehen. Wichtiger ist, dass es wirksame und vielversprechende Fördermaßnahmen gibt, die im Unterricht und über den Unterricht hinaus eingesetzt werden können, um Kindern beim Lernen zu helfen – ihnen das Lernen leichter zu machen.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Lernen leichter machen heißt natürlich nicht, Kindern die zum Lernen notwendige Eigentätigkeit abzunehmen oder ihnen Abkürzungen anzubieten, die ganz ohne Mühen zum Ziel führen. Es geht vielmehr darum, Wege und Hilfsmittel aufzuzeigen, die sich nutzen lassen, um dorthin zu gelangen, wohin andere Kinder auch ohne solche Hilfen gelangen können. Und die Kinder mit Lernschwierigkeiten dabei zu unterstützen, auf ihren Lernwegen soweit voranzukommen, wie es jeweils möglich ist. Wenn eines von fünf Kindern beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, dann ist das jedenfalls Veranlassung genug, sich den Fördermaßnahmen zuzuwenden, die hier Abhilfe versprechen.

Die Lösung aller Schulprobleme wird in Lernen leichter machen – Wie man im Unterricht mit Lernschwierigkeiten umgehen kann natürlich nicht vorgestellt. Aber es wird aus Sicht der Pädagogischen Psychologie dargelegt, dass Lernschwierigkeiten nichts Ungewöhnliches sind, weil nicht jeder alles lernen kann. Wenn wir mehr über die Ursachen von Lernschwierigkeiten wissen, können wir auch besser mit ihnen umgehen. Vorausgesetzt jedenfalls, man kennt die richtigen Förderverfahren und die Bedingungen ihrer Wirksamkeit. Die Sichtweise der Pädagogischen Psychologie auf Lernschwierigkeiten ist eine »mittlere«, zwischen einer klinisch-medizinischen und einer schulpädagogisch-didaktischen. So vermeidet sie zum einen den engen Blickwinkel der klinisch-medizinischen Tradition, die in Bezug auf die Lernstörung einem medizinischen Krankheitsbild und einer kategorialen Diagnostik verpflichtet ist. Es ist durchaus umstritten, ob eine kategoriale Diagnostik im Hinblick auf die Ursachenanalyse schulischer Minderleistungen und im Hinblick auf den Einsatz und die Wirksamkeit pädagogischer Interventionen überhaupt mit irgendwelchen Vorteilen verbunden ist. Indem sich die Pädagogische Psychologie konsequent auf die Erkenntnisse der empirischen Lehr-Lern-Forschung stützt, vermeidet sie zum anderen ein normativpräskriptives Vorgehen, wie es in großen Teilen der Allgemeinen Didaktik vorherrschend ist. Für den Umgang mit Lernschwierigkeiten wird im Folgenden also nicht auf Modelle des Unterrichts oder didaktische Standards rekurriert, sondern auf Ergebnisse der Lehr-Lern-Forschung über die Ursachen von Lernschwierigkeiten und über die Gelingensbedingungen pädagogischer Interventionen.

Die folgenden Ausführungen klammern schulstrukturelle Aspekte genauso aus wie bildungssoziologische, -politische und -ökonomische. Das stellt diese Sichtweisen keineswegs in Frage, nur ist der Blick der Pädagogischen Psychologie vornehmlich auf das Lehr-Lern-Geschehen im Klassenzimmer und auf die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder gerichtet, und weniger auf das System und auf den Gesamtzusammenhang. Viel zu oft werden nämlich vorschnell Systemfragen gestellt und systemverändernde Forderungen erhoben: Gemeinschaftsschule, Ganztagsschule, Inklusion (jeweils einführen), Hausaufgaben, Klassenwiederholungen, Nachhilfe (jeweils abschaffen bzw. entbehrlich machen), Disparitäten nach Geschlecht, Zuwanderungsstatus und Sozialschicht (möglichst verringern) und Bildungsgerechtigkeit (jedenfalls erhöhen). Stets geschieht dies mit guten Absichten und wohl begründet. Den Blick auf die Lernschwierigkeiten eines einzelnen Kindes können diese Systemfragen aber leicht verstellen. Und Antworten darauf, wie man im Unterricht konkret mit den Lernschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen umgehen soll, geben sie auch nicht.

Wie dieses Buch aufgebaut ist

Dieser Einleitung folgen sieben Kapitel. Die letzten beiden haben zum Thema, was die Schulverwaltungen der Bundesländer zum Umgang mit den Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten empfehlen, und was die Lehrerinnen und Lehrer im Studium und in der Weiterbildung eigentlich bislang über Lernschwierigkeiten erfahren haben. Um die Antworten auf diese beiden Fragen vorwegzunehmen: 1) ganz Unterschiedliches und 2) noch nicht genug. Lesen sollten Sie diese beiden Abschnitte aber trotzdem.

In den anderen fünf Kapiteln geht es um die Ursachen von Lernschwierigkeiten und darum, wie man Lernschwierigkeiten diagnostizieren kann, um unterrichtliche und über den Unterricht hinausgehende Fördermaßnahmen, die sich im Umgang mit lernschwierigen Kindern bewährt haben, sowie um Möglichkeiten der Prävention schulischer Lernschwierigkeiten. Im ersten Kapitel wird die Frage gestellt und beantwortet, was Lernschwierigkeiten eigentlich sind und woher sie kommen. Erst wenn wir uns auf eine Definition verständigt haben, ist es sinnvoll, über die Auftretenshäufigkeiten von Lernschwierigkeiten zu sprechen. Es wird deutlich werden, dass je nach Grenzwertsetzung und Ausschlusskriterien nicht nur unterschiedlich viele, sondern auch ganz unterschiedliche Kinder und Jugendliche eine Lernstörungsdiagnose erhalten, und dass es auch bei der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Lernen einen Ermessensspielraum gibt. Je nachdem, werden es folglich weniger als zehn oder fast 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sein, die eine Lernstörungsdiagnose für die Bereiche des Lesens und/oder des Rechtschreibens (Dyslexie/Legasthenie) oder des Rechnens (Dyskalkulie) erhalten. Unstrittig ist allerdings stets: Lernschwierigkeiten werden durch ein lang anhaltendes schulisches Leistungsversagen sichtbar, also durch deutliche Minderleistungen in Relation zu anderen Kindern und Jugendlichen gleichen Alters oder der gleichen Klassenstufe.

Als mögliche Ursachen von Lernschwierigkeiten kommen mehrere Faktoren in Frage, die sich, vereinfacht gesagt, in drei Bereiche gliedern lassen:

1.ungünstige individuelle Lernvoraussetzungen,

2.ungünstige Rahmenbedingungen des Lernens und Lehrens und

3.eine mangelnde Adaptivität des schulischen Unterrichts.

Dazu gibt es Risikofaktoren familiärer, sozioökonomischer und schulstruktureller Art, die das Entstehen von Lernschwierigkeiten begünstigen, ihren Schweregrad beeinflussen und sie aufrechterhalten können. Ebenso wie es Resilienzfaktoren gibt, die davor schützen, dass es zu Lernschwierigkeiten kommt. Aus pädagogisch-psychologischer Sicht sind die wahrscheinlichen Ursachen von Lernschwierigkeiten vor allem im Bereich der individuellen Lernvoraussetzungen zu finden.

Wie findet man eigentlich heraus, welche Kinder und Jugendlichen Lernschwierigkeiten haben und damit einer besonderen Förderung bedürfen? Eigentlich eine merkwürdige Frage, ist doch, wie gerade erwähnt, die manifeste schulische Minderleistung – das anhaltende Leistungsversagen – ein nicht zu übersehender Indikator dafür, dass das Lernen schwerer fällt. Dennoch bedarf es der Objektivierung des augenscheinlich leicht Sichtbaren. Dabei geht es nicht etwa darum, die Leistungsbewertungen der Lehrerinnen und Lehrer in Frage zu stellen. Sondern um eine zuverlässige Einordnung und Verortung des individuellen Leistungsversagens in einen größeren (Vergleichs-)Rahmen als in jenen der eigenen Schulklasse oder Schule: Wie schlecht sind die Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistungen eines Kindes wirklich im Vergleich zu den Leistungen in einer Normstichprobe von Kindern gleichen Alters und/oder der gleichen Klassenstufe?

Es gibt auch unter Wissenschaftlern unterschiedliche Auffassungen darüber, wie weit eine Minderleistung von einer Norm abweichen muss, bevor wir von einer Lernstörung oder gar von einer Lernbehinderung sprechen. Im zweiten Kapitel wird das behandelt. Dort wird auch ausgeführt, welche Testverfahren zur Schulleistungsdiagnostik eingesetzt werden, und dass es nicht allzu schwierig ist, sie anzuwenden. Meist tritt zur Diagnostik der Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistung noch eine Intelligenzdiagnostik hinzu. Das hat damit zu tun, dass viele Wissenschaftler (und die meisten Kultusbehörden) der Auffassung sind, dass eine unterdurchschnittliche Intelligenz zwar konstitutiv für eine Lernbehinderung (den sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich Lernen) sei, aber eben gerade nicht für eine Lernstörung (den besonderen Förderbedarf im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen). Mehr noch: Traditionell betrachtet man die Lernstörung (Dyslexie/Legasthenie/Dyskalkulie) als ein besonders unerwartetes schulisches Leistungsversagen, weil doch die (vergleichsweise gute) Intelligenz der Betroffenen so deutlich davon diskrepant ist. Diese Sichtweise ist allerdings mittlerweile umstritten. Unausgesprochen impliziert sie im Übrigen, dass es sich bei den Kindern mit einer Lernstörung – im Vergleich zu den lernbehinderten Kindern – um die »interessantere« Gruppe handelt, weil es bei ihnen »wider Erwarten« trotz einer normalen Intelligenz zu schulischen Minderleistungen gekommen ist. Es sind unzählige Debatten darüber geführt worden, wie sehr der Intelligenztestwert eines Kindes seinen Schulleistungstestwert übertreffen muss, damit eine Lernstörungsdiagnose erfolgen kann. Verständlich wird das nur, wenn man weiß, dass mit der Störungsdiagnose – wie mit der Zuschreibung einer Behinderung übrigens auch – eine Reihe von »Vorteilen« verbunden sind (→ Kap. 6).

Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten im Unterricht gerecht zu werden, erfordert eine Reihe allgemeinpädagogischer und sonderpädagogischer Basiskompetenzen für den professionellen Umgang mit Differenz. Dazu Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich der pädagogischen Diagnostik und der vielfältigen Möglichkeiten individueller Förderung und adaptiven Unterrichtens. Darauf wird im dritten Kapitel eingegangen.

Im Umgang mit Lernschwierigkeiten kommt es zunächst einmal darauf an, die grundlegenden Dimensionen der Unterrichtsqualität zu beachten, das heißt, für eine kognitiv aktivierende und zugleich emotional unterstützende Lehr-Lern-Situation zu sorgen; dabei zudem die Grundregeln einer störungspräventiven Klassenführung zu beachten und die individuellen Lernfortschritte der Kinder kontinuierlich zu verfolgen. Unterrichtsforscher betrachten dies als den Kern guten Unterrichts: Die Kinder zum Denken anregen, ihre Lernprozesse individuell unterstützen, ihre Lernfortschritte kleinteilig beobachten und ihnen sachbezogen rückmelden sowie diese Art der Lernverlaufsdiagnostik für die eigene weitere Unterrichtsplanung nutzen – unter Gewährleistung einer weitgehend störungsfreien Lernumgebung. Es ist vielfach belegt, dass gerade die lernschwächeren Kinder und Jugendlichen in besonderer Weise davon profitieren, wenn diese Qualitätsdimensionen guten Unterrichts realisiert sind. In Guter Unterricht. Was wir wirklich darüber wissen ist das Wichtigste zu den Dimensionen der Unterrichtsqualität zusammengefasst.2

Guter Unterricht ist aber nicht genug. Kinder mit Lernschwierigkeiten müssen mehr und engmaschiger gefördert werden als andere Kinder. Durch ein lernziel-, lehrmethoden- und lernzeitadaptives Vorgehen kann das erreicht werden. Gemeint ist damit, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten a) mehr Zeit bekommen als andere Kinder, um etwas zu lernen, dass b) andere methodische Zugangswege genutzt werden, und dass c) differenzierte Aufgabenanforderungen gestellt werden. Seit einigen Jahren haben sich didaktische Konzepte bewährt, die auf abgestuften Unterstützungshierarchien und kleinschrittiger Lernverlaufsdiagnostik basieren. Möglichst frühzeitig wird dabei individueller Unterstützungsbedarf erkannt und – zunächst im Regelunterricht – durch individuell angepasste Fördermaßnahmen befriedigt. Reichen solche Maßnahmen nicht aus, werden intensivere Fördermaßnahmen veranlasst. Erst ganz am Ende der Maßnahmenkette wird eine separate Förderung in besonderen Einrichtungen erwogen – also ein ganz anderes Vorgehen als es beim herkömmlichen Feststellungsverfahren sonderpädagogischen Förderbedarfs der Fall ist.

Im vierten Kapitel wird ausgeführt, dass es zwar eine große Anzahl von Förderprogrammen gibt, die Abhilfe bei Lese-Rechtschreib- oder bei Rechenschwierigkeiten versprechen, aber nur wenige, deren Wirksamkeit in kontrollierten Interventionsstudien überprüft wurde. Einige der nachweislich wirksamen Förderprogramme werden vorgestellt. Ihnen ist gemeinsam, dass sie symptomspezifisch ausgerichtet sind, also direkt an den beeinträchtigten Lese-, Rechtschreib- oder Rechenprozessen ansetzen. Das sind Lesetrainings, die auf der Phonem- oder Silbenbasis zum Erlernen des alphabetischen Prinzips beitragen, Leseflüssigkeitstrainings, regel- und lautgeleitete Rechtschreibtrainings und Rechentrainings zum Erwerb basisnumerischer Kompetenzen. Symptomunspezifische Funktionstrainings, wie z. B. Wahrnehmungs- oder Aufmerksamkeitstrainings, neuropsychologische Stimulationsverfahren unterschiedlicher Art sowie medikamentöse oder alternativmedizinische Verfahren haben sich dagegen nicht als wirksam erwiesen. Wichtig ist, dass der Einleitung individueller Fördermaßnahmen eine verlässliche Individualdiagnostik vorausgeht, und dass es eine begleitende Verlaufsdiagnostik gibt, um die Wirksamkeit der pädagogischen Interventionen kontinuierlich zu überprüfen.

Die besonderen (meist unterrichtsadditiven) Fördermaßnahmen müssen nicht notwendigerweise außerhalb der Schule durchgeführt werden, ganz im Gegenteil. Gemeint ist mit unterrichtsadditiv vielmehr, dass Umfang und Intensität der Einzel- oder Kleingruppenförderung oft den Rahmen dessen übersteigen, was innerhalb des Regelunterrichts noch möglich ist. Zusatzkurse, Intervallförderung und besondere individuelle Förderpläne sind probate Mittel schulischer Lernhilfe zusätzlich zum Regelunterricht. Hinzu kommen außerschulische Unterstützungsmaßnahmen unterschiedlicher Professionalität. Es gibt Hinweise darauf, dass die Trainingseffekte höher ausfallen, wenn die Fördermaßnahmen nicht von den Eltern der Kinder und Jugendlichen, von Mitschülerinnen und Mitschülern oder von anderen, nicht eigens dafür ausgebildeten Personen, durchgeführt werden.

Im fünften Kapitel geht es um die Prävention von Lernschwierigkeiten. Es steht fest, dass bereits in der Kindergartenzeit wichtige Vorläuferfertigkeiten des späteren mathematischen Lernens und des Schriftspracherwerbs ausgebildet werden, und dass gezielte Anregungen und systematische Anleitungen dabei hilfreich sind. Ebenso, dass es bei den Vier- bis Sechsjährigen besonders lohnend ist, besondere Fördermaßnahmen einzusetzen, um spezifischen Risiken der schriftsprachlichen und mathematischen Kompetenzentwicklung entgegenzuwirken. Hier bedarf es allerdings geeigneter diagnostischer Verfahren, die eine frühzeitige Identifikation von Risikolagen ermöglichen.

Insgesamt werden die Kindergartenjahre viel mehr als noch vor einiger Zeit unter einem schulvorbereitenden, die Schulbereitschaft fördernden, Aspekt betrachtet. In den Bildungsplänen der Bundesländer und in den dort aufgeführten Lern-, Erfahrungs- oder Entwicklungsbereichen spiegelt sich das wider – auch wenn Begrifflichkeiten wie Schulvorbereitung oder Schulfähigkeit dort weitgehend gemieden werden. Im Selbstverständnis der die Kinder betreuenden Einrichtungen ist es nämlich nicht unumstritten, welcher Stellenwert den schulvorbereitenden Aktivitäten im Vergleich zu anderen Bildungs- und Erziehungsaufgaben zukommt.

Werden Kinder eingeschult, die noch nicht schulbereit sind, können Lernschwierigkeiten die Folge sein. Nicht selten wird deshalb eine gelungene Schuleingangsphase als Qualitätsnachweis der zuvor in den Kindergärten geleisteten elementarpädagogischen Arbeit betrachtet. Wichtige Entwicklungsvoraussetzungen eines gelingenden Schulanfangs sind – neben den bereits angesprochenen Vorläuferfertigkeiten im schriftsprachlichen und im mathematischen Bereich – vor allem die sprachlichen Kompetenzen eines Kindes, seine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, seine Ausdauer und Leistungsbereitschaft, die Fähigkeit zur Selbstregulation sowie die Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft. All dies wird in der elementarpädagogischen Arbeit gefördert.

Aufgrund der zentralen Bedeutung von Sprache für das schulische Lernen gelten sprachliche Defizite als ein gravierender Risikofaktor der schulischen Leistungsentwicklung. Die Notwendigkeit einer frühen Sprachförderung ist deshalb unstrittig, auch wenn über die inhaltlichen Konzepte und im Hinblick auf die Wirksamkeit einzelner Förderprogramme wenig Einigkeit besteht. Um späteren Lernschwierigkeiten vorzubeugen, müssen Kinder mit sprachlichen Defiziten – ganz gleich, ob sie aus Sprachentwicklungsstörungen oder aus einer zu geringen Kontaktdauer mit der deutschen Sprache resultieren – möglichst früh und intensiv gefördert werden. Wo nötig, muss diese Förderung auch über den Schuleintritt hinaus fortgesetzt werden.

Wie bereits erwähnt, wird im sechsten Kapitel berichtet, was in den schulrechtlichen Verordnungen und Erlassen der 16 Bundesländer steht, die sich auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen beziehen. Die Recherchen dazu waren erstaunlich aufwendig. Dabei geht es doch um recht einfache Fragen:

1.Wie werden die besonderen Schwierigkeiten beim Lesen/Rechtschreiben und im Rechnen (sowie der sonderpädagogische Förderbedarf im Bereich Lernen) genau definiert?

2.Wie sieht das diagnostische Vorgehen aus und wer ist damit betraut?

3.Welche Fördermaßnahmen sind vorgesehen?

4.Wie weit und wie lange dürfen die Lehrerinnen und Lehrer durch (nachteils-)ausgleichende Maßnahmen den Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten im Unterricht »entgegenkommen«, und inwieweit dürfen sie dabei von allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung abweichen?

Die Sachlage ist ausgesprochen komplex und bleibt auch auf den zweiten und dritten Blick unübersichtlich. Als schlechtes Zeichen eines ausufernden Bildungsföderalismus ist das aber nicht unbedingt zu werten. Ungünstiger wäre, es existierte eine zwar einheitliche, aber nicht sachgerechte Maxime als Richtschnur pädagogischen Handelns. So ist zu erwarten, dass es unter den 16 Verordnungen und Erlassen die eine oder andere Richtlinie geben mag, die dem wissenschaftlichen Kenntnisstand über Lernschwierigkeiten zutreffend Rechnung trägt, und dass sich aus der Vielfalt der Konzeptionen die sachgemäße herausmendeln wird.

Dass sich die Bundesländer so sehr in ihren Vorgaben und Richtlinien voneinander unterscheiden, darf schon deshalb nicht überraschen, weil sich die Wissenschaftler selbst – innerhalb der beteiligten Disziplinen und erst recht disziplinübergreifend – wenig einig darin sind, was sie unter Lernschwierigkeiten verstehen wollen (→ Kap. 1) und wie mit ihnen umzugehen sei. So kommt es beispielsweise, dass in einigen Bundesländern die Rechenschwierigkeiten analog zu den Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten behandelt werden, in anderen Bundesländern aber gar keinen oder nur bis zum Ende der Grundschulzeit einen Anspruch auf besondere Förderung auslösen. Skurril mutet bisweilen an, dass sich die schulrechtlichen Verordnungen und Erlasse eines beliebig erscheinenden Sprachgebrauchs bedienen. Da ist in völligem Durcheinander innerhalb und zwischen den Verordnungen und Erlassen von besonderen Schwierigkeiten, Schwächen oder Störungen die Rede – auch von Legasthenie und Dyskalkulie – und die unterschiedlichen Begriffe können wahlweise Gleiches bezeichnen oder Verschiedenes. Und auch gleiche Begriffe bezeichnen nicht immer Gleiches, sondern gelegentlich auch Unterschiedliches. Alles klar?

Eine gewisse Unsicherheit unter den Lehrerinnen und Lehrern dürfte also eher die Regel als die Ausnahme sein, zumal sich die Verordnungen und Erlasse in den Bundesländern immer wieder ändern. Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer sollten im Laufe ihres Studiums mehr als bislang über Lernschwierigkeiten und wie man im Unterricht damit umgehen kann, erfahren. Zwar müssen sie die in ihrem Bundesland geltenden Vorschriften kennen und beachten, aber es ist nützlich, dies auf der Grundlage eines Kenntnisstandes zu tun, der auf den wichtigsten Befunden der wissenschaftlichen Lehr-Lern-Forschung gründet. Nichts ist für die praktische pädagogische Arbeit so wichtig wie eine gute Theorie, die sie begründet!

Im abschließenden siebten Kapitel wird in diesem Sinne argumentiert. Den Erscheinungsformen und Ursachen von Lernschwierigkeiten müssen in den Studienprogrammen der Lehrämter genügend viele Lehrangebote gewidmet sein, auch den Möglichkeiten der unterrichtlichen und unterrichtsadditiven Intervention. Dazu gehört, dass die angehenden Lehrerinnen und Lehrer diagnostische Kompetenzen erwerben, die sich mehr als bislang auf die Prinzipien und Verfahren der Lernverlaufsdiagnostik erstrecken. Wo das in der grundständigen Ausbildung nicht in ausreichender Weise geschehen kann, sind Veranstaltungen der Lehrerfortbildung ein geeignetes Format. Überhaupt ist die Vorstellung abwegig, in der ersten, der universitären Ausbildungsphase könnten die für das erfolgreiche Unterrichten erforderlichen Kompetenzen schon weitgehend erworben werden. Erst im Anschluss an Praxiserfahrungen wissen die Lehrerinnen und Lehrer oftmals, was sie von der Wissenschaft eigentlich noch wissen wollen, um ihr unterrichtliches Handeln reflektierend weiter zu entwickeln.

Es wird ein Kerncurriculum skizziert, das die wichtigsten Kompetenzen beschreibt, die im unterrichtlichen Umgang mit Lernschwierigkeiten (und im inklusiven Unterricht) notwendig sind. Soweit es die universitäre Ausbildung betrifft, wird es dabei im Wesentlichen um die Vermittlung deklarativen Wissens gehen. Aufgrund ihres vergleichsweise geringen Ausbildungsanteils kann die Pädagogische Psychologie die betreffenden Studienanteile natürlich nicht allein verantworten – sie müssen von der Erziehungswissenschaft und von den Fachdidaktiken mit getragen werden.

__________________

1Sonderpädagogischen Förderbedarf gibt es natürlich nicht nur im Förderschwerpunkt Lernen (Lernhilfe). Mit einem Anteil von 40 Prozent ist aber der Förderschwerpunkt Lernen der mit Abstand gewichtigste sonderpädagogische Förderschwerpunkt, gefolgt von Geistige Entwicklung (16 %), Emotionale und soziale Entwicklung (15 %) und Sprache (11 %). Für fast 500 000 Schülerinnen und Schüler ist im Schuljahr 2013/2014 sonderpädagogischer Förderbedarf in einem von insgesamt neun Förderschwerpunkten diagnostiziert worden (→ Kap. 6).

2Gold (2015a).

1Was Lernschwierigkeiten sind und woher sie kommen

Wenn Kindern und Jugendlichen – oder auch Erwachsenen, aber das bleibt in diesem Buch weitgehend ausgeklammert – das (schulische) Lernen nicht so gut gelingt, wie sie sich das selbst vorstellen oder wie es von ihnen erwartet wird, sprechen wir von Lernschwierigkeiten. Allerdings erst dann, wenn die Leistungserwartungen der Schule, die subjektiven Vorstellungen der Lerner und ihre tatsächlichen Lernleistungen nicht gänzlich im Belieben bleiben, sondern in bestimmter Weise aufeinander bezogen sind: Nur wer über längere Zeit und in erheblichem Maße Probleme beim schulischen Lernen hat, hat Lernschwierigkeiten. Wo hingegen gewöhnlich 14 oder 15 Punkte erzielt werden, einmal aber nur neun, mögen das zwar die betreffenden Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer als misslichen Leistungseinbruch wahrnehmen – die Bezeichnung Lernschwierigkeiten wäre hier aber fehl am Platz. Darum hat man sich auf den Begriff der »Minderleistung« verständigt, wenn es um Lernschwierigkeiten geht. In schulischen Zusammenhängen ist es üblich, die individuellen Minderleistungen in Relation zu (sozialen) Alters- oder Klassennormen zu betrachten.3 Also als Abweichung von den mittleren Leistungen anderer Kinder gleichen Alters oder der gleichen Klassenstufe bzw. Schulform. Wie groß muss nun der Grad der Normabweichung sein?

Vom Eigenleben der Begriffe

Lernschwierigkeiten manifestieren sich – wie gesagt – in schulischen Minderleistungen. Wo Leistungsanforderungen nicht erfüllt werden, also die Kenntnisse und Fertigkeiten unzureichend bleiben, wird sich das rasch in negativen Beurteilungen und schlechten Noten niederschlagen. Schwierig genug, sich darüber zu verständigen, ab wann wir von einer schulischen Minderleistung sprechen wollen. Noch schwieriger, wenn neben der Minderleistung im Lesen, im Rechtschreiben oder im Rechnen weitere Kriterien gefordert werden. Und wenn eigentlich unscharfe Begriffe wie Seziermesser benutzt werden, um Lerner einzugrenzen, auszuschließen und zu kategorisieren.

Am Beispiel der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten lässt sich gut illustrieren, wie mit subtil aufgeladenen Begriffen Verwirrung gestiftet werden kann. Wo die Konferenz der Kultusminister treffend und mit Bedacht schon seit vielen Jahren nur von den »besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben« spricht, ist andernorts entweder von den Lese-Rechtschreibstörungen und/oder -schwächen die Rede oder von Dyslexie und/oder Legasthenie, wenn es um jene Kinder geht, die trotz ausreichender Intelligenz größere Schwierigkeiten mit dem Lesen und in der Rechtschreibung haben. Besonders verwirrend: Manchmal werden diese Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, manchmal werden sie synonym gebraucht.

Dyslexia (Schwierigkeiten mit dem Lesen geschriebener Wörter) ist ein im englischen Sprachraum benutzter Begriff zur Kennzeichnung von Problemen mit dem Lesen und Verstehen von Wörtern und Texten – bei Personen mit einer ausreichenden Intelligenz. Wird er im Deutschen verwendet (Dyslexie), geschieht dies meist bedeutungsgleich mit dem Begriff der Legasthenie und schließt Probleme bei der Rechtschreibung mit ein. Legasthenie ist der lange Zeit ausschließlich im deutschen Sprachraum bevorzugte Begriff zur Kennzeichnung des gestörten Schriftspracherwerbs, also der Probleme mit dem Lesen und Verstehen von Wörtern und Texten und mit der Rechtschreibung – bei Personen mit einer ausreichenden Intelligenz. Von einer Asthenie (Schwäche) – man denke bei diesem Wort etwa an die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der gehobenen Gesellschaft oft diagnostizierte Nervenschwäche (Neurasthenie) – spricht man eigentlich nur in klinisch-medizinischen Zusammenhängen. So wird die Schwierigkeit mit dem Lesen und Schreiben rasch zur Krankheit.

Die Grundschulpädagogin Renate Valtin hat wiederholt und zu Recht dargelegt, weshalb man den Begriff der Legasthenie und – wichtiger noch – das dahinter stehende Konstrukt der intelligenzdiskrepanten Beeinträchtigung beim Lesen und Schreiben in schulischen Zusammenhängen tunlichst meiden sollte.4 Allerdings ohne nachhaltigen Erfolg, denn sowohl der Begriff der Legasthenie als auch das ihm zugrunde liegende Konstrukt einer intelligenzdiskrepanten schriftsprachlichen Minderleistung erwiesen sich als ausgesprochen resistent.

Ach so, heißt es dann, das Kind ist Legastheniker! Der Legasthenie-Begriff wird rasch zur medizinischen Erklärung der schwachen Lese- und Rechtschreibleistung, sofern die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine mindestens durchschnittliche Intelligenz aufweisen. Erklärt wird damit aber gar nichts. Hingegen mit einer gewissen Erleichterung konstatiert, dass es mit einer Intelligenzminderung offenbar nichts zu tun hat, dass die Betroffenen solche Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben! Die Logik dieser Argumentation ging lange Zeit einher mit der Auffassung, organische Dysfunktionen seien für die Beeinträchtigungen des Schriftspracherwerbs verantwortlich und die Legastheniker ließen sich aufgrund typischer Lese- und Schreibfehler oder anhand anderer Besonderheiten, wie einer ausgeprägten Raumlagelabilität und einer linkshemisphärischen Dominanz, von anderen lese- und rechtschreibschwachen Kindern abgrenzen. Das ist aber nicht der Fall. Legastheniker machen keine besonderen, sondern einfach besonders viele Fehler. Wie andere Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten auch. Ihren schriftsprachlichen Minderleistungen liegen keine anderen Ursachen zugrunde und für die Erfolgsaussichten therapeutischer Maßnahmen ist es ebenfalls unerheblich, ob eine Legasthenie diagnostiziert worden ist oder nicht.