Lernschwierigkeiten - Andreas Gold - E-Book

Lernschwierigkeiten E-Book

Andreas Gold

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Beschreibung

Not everybody learns alike - about every 10th child struggles with difficulties in reading, writing or calculation. The reasons for this and the remedy are topic of this work. Learners differ from one another. If and to what extent leaning is successful depends on the pedagogic measures undertaken bearing these differences in mind. This book gives the reasons for learning and achieving difficulties in school and introduces methods of enhancement. A perspective of cognitive psychology is introduced looking at individual preconditions of learning, instruction and educational institutions.

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Kohlhammer Standards Psychologie

 

Begründet von

Weitergeführt von

Herausgegeben von

Theo W. Herrmann (†)

Marcus Hasselhorn

Marcus Hasselhorn

Werner H. Tack

Herbert Heuer

Wilfried Kunde

Franz E. Weinert (†)

Frank Rösler

Silvia Schneider

 

Erschienene Bände

•  Gold, Lernschwierigkeiten, 978-3-17-032277-6

•  Hasselhorn/Gold, Pädagogische Psychologie, 978-3-17-031976-9

•  Jäncke, Methoden der Bildgebung in der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften, 978-3-17-018469-5

•  Krohne/Hock, Psychologische Diagnostik, 978-3-17-025255-4

•  Prinz (Hrsg.), Experimentelle Handlungsforschung, 978-3-17-022270-0

•  Rief/Exner/Martin, Psychotherapie, 978-3-17-017660-7

•  Rinck, Lernen, 978-3-17-026040-5

•  Rüsseler, Neuropsychologische Therapie, 978-3-17-020111-8

•  Schmalt/Langens, Motivation, 978-3-17-020109-5

•  Schmidt-Atzert/Peper/Stemmler, Emotionspsychologie, 978-3-17-020595-6

•  Schwarzer/Jovanovic, Entwicklungspsychologie der Kindheit, 978-3-17-021693-8

•  Sonntag/Stegmaier, Arbeitsorientiertes Lernen, 978-3-17-029543-8 (E-Book)

•  Stemmler/Hagemann/Amalang/Spinath, Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, 978-3-17-025721-4

•  Vollrath/Krems, Verkehrspsychologie, 978-3-17-020846-9

•  Westermann, Methoden psychologischer Forschung und Evaluation, 978-3-17-024182-4

•  Zumbach, Lernen mit neuen Medien, 978-3-17-016833-6

In Vorbereitung

•  Munzert/Raab/Strauß (Hrsg.), Sportpsychologie, 978-3-17-021436-1

Andreas Gold

Lernschwierigkeiten

Ursachen, Diagnostik, Intervention

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032277-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032278-3

epub:    ISBN 978-3-17-032279-0

mobi:    ISBN 978-3-17-032280-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung: Lernschwierigkeiten als Bildungsrisiken

Wenn Lernen und Lehren scheitern

Ausmaß und Auswirkungen des Problems

Ursachen, Diagnose, Prävention und Intervention

Mangelnde Passung

Zum Aufbau dieses Buches

20 wichtige Fragen

1 Wie Kinder lernen

1.1 Lernen als Aufbau von Wissen und Können

1.2 Kumulative Lernprozesse

1.3 Individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens

1.4 Entwicklungsvoraussetzungen erfolgreichen Lernens

1.5 Lernkontext Familie

1.6 Lernumwelt Schule

2 Bildungserfolg – wie ungleich Lernergebnisse sind

2.1 Indikatoren des Bildungserfolgs

2.2 Ungleiche Bildungsergebnisse

2.3 Bildungsgerechtigkeit

3 Ursachen – wieso Lernschwierigkeiten entstehen

3.1 Ursachen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten

3.2 Ursachen von Rechenschwierigkeiten

3.3 Domänenübergreifende Ursachen

3.4 Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung

3.5 Ungünstige familiäre Lernkontexte

3.6 Ungünstige schulische Lernumwelten

4 Diagnose – wie schwer das Lernen fällt

4.1 Schulpsychologische Diagnostik

4.2 Lesen und Rechtschreiben

4.3 Rechnen

4.4 Diagnostik kognitiver Funktionen

4.5 Lernverlaufsdiagnostik

5 Prävention – wie sich Lernschwierigkeiten vermeiden lassen

5.1 Gefährdete Kinder – schwierige Lernsituationen

5.2 Vorschulische Lernförderung

5.3 Sprachförderung

5.4 Gestaltung von Übergängen

5.5 Familie und Schule

6 Intervention – wie sich Lernschwierigkeiten behandeln lassen

6.1 Förderung des Lesens und des Rechtschreibens

6.2 Förderung des Rechnens

6.3 Förderung individueller Lernvoraussetzungen

6.4 Adaptiver Unterricht

7 Inklusiv oder nicht – wo Kinder am besten lernen

7.1 Kein Kind zurücklassen

7.2 Vor- und Nachteile der Inklusion

Lernschwierigkeiten in der Lehrerbildung

Standards und Kompetenzen

Lehre und Forschung

Fort- und Weiterbildung

Literatur

Der Autor

Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

 

 

Lernschwierigkeiten sind Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler, der Schule, der Eltern und der Gesellschaft. Lernschwierigkeiten und das mit ihnen verbundene individuelle Schulleistungsversagen gehen uns deshalb alle an.

In diesem Lehrbuch geht es um Ursachen von Lernschwierigkeiten und um pädagogische Handlungsmöglichkeiten bei einer beeinträchtigten Lernentwicklung. Lernschwierigkeiten sind Bildungsrisiken. Lernschwierigkeiten manifestieren sich in einem gravierenden schulischen Leistungsversagen. Dass dieses Leistungsversagen nach Merkmalen des Geschlechts, der Ethnie und der sozialen Herkunft ungleich verteilt ist, macht das individuelle zu einem gesellschaftlichen Problem – und damit zu einem Problem der Bildungsgerechtigkeit.

Die Bezeichnung »Lernschwierigkeiten« ist weit gefasst. Ich ziehe sie aus einer Reihe von Gründen anderen Begrifflichkeiten vor, insbesondere, weil sie die umfassendere und voraussetzungsfreiere ist. In den vergangenen Jahren sind vielversprechende Konzeptionen zur Prävention von und Intervention bei Lernschwierigkeiten entwickelt worden. Sie in ihren Grundzügen und Möglichkeiten vorzustellen ist – neben der Ursachenanalyse – ein Hauptanliegen dieses Lehrbuchs.

Dieses Buch ist für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer geschrieben, für Studierende der Psychologie und der Erziehungswissenschaft und für alle, die (beruflich) mit Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten zu tun haben. Anders als in den handbuchartigen Sammelbänden wird hier eine einheitliche Darstellung von Ursachenanalyse, Diagnostik und Interventionsplanung entlang eines inhaltlichen Leitmotivs angestrebt, dem Leitmotiv einer notwendigen unterrichtlichen Adaptivität an die individuellen Lernvoraussetzungen. Zwischen Wie Kinder lernen ( Kap. 1) auf der einen Seite und der Inklusion ( Kap. 7) auf der anderen liegt der Spannungsbogen der Ursachenforschung, Diagnostik und Prävention bei Kindern und Jugendlichen, denen das Lernen schwerer fällt.

Wer sich über das hier Präsentierte hinaus sachkundig machen will, wird in der Sonderpädagogik des Lernens (Walter & Wember, 2007), der Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen (Heimlich & Wember, 2015), dem Handlexikon Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen (Wember, Stein & Heimlich, 2014) und in den Interventionen bei Lernstörungen (Lauth, Grünke & Brunstein, 2014) gut informiert. Unter den englischsprachigen Lehrbüchern sind das Handbook of Learning Disabilities (Swanson, Harris & Graham, 2013) sowie Learning About Learning Disabilities (Wong & Butler, 2012) empfehlenswert.

Auf die folgenden Besonderheiten möchte ich noch hinweisen:

•  Dem ersten Kapitel (Wie Kinder lernen) vorangestellt ist eine Einleitung (Lernschwierigkeiten als Bildungsrisiken). Lesen Sie bitte zunächst diese Einleitung! Sie beschreibt, was Lernschwierigkeiten sind, das Ausmaß der Problematik sowie die Folgeprobleme, die mit Lernschwierigkeiten oft einhergehen.

•  Auf die Darstellung einzelner empirischer Studien wird im Text weitgehend verzichtet, um das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. In separaten Kästen werden aber ausgewählte Untersuchungen im Detail beschrieben. In ähnlicher Weise werden in separaten Kästen wichtige Begrifflichkeiten und theoretische Konzepte erklärt oder wirksame Förderprogramme vorgestellt.

•  Absichtlich wird von Kindern »mit Lernschwierigkeiten« bzw. »mit Lernstörungen oder -schwächen« sowie von Kindern »mit besonderem Förderbedarf im Bereich Lernen« gesprochen und nicht von »lernschwierigen«, »lerngestörten« oder »lernbehinderten« Kindern. Wenn gelegentlich gegen diese Regel verstoßen wird, haben stilistische Überlegungen den Ausschlag gegeben.

•  Ob geschlechtergerechte sprachliche Formulierungen zu angemesseneren mentalen Repräsentationen des Gelesenen führen und inwieweit ein solcher Vorzug mit Beeinträchtigungen bei der Textverständlichkeit erkauft wird, ist eine interessante Forschungsfrage. Sie wird in diesem Lehrbuch nicht beantwortet. Stattdessen wird eine pragmatische Linie verfolgt: Neben dem generischen Maskulinum werden Beidnennungen (Lehrerinnen und Lehrer) als Alternativen verwendet.

•  Für die 2. Auflage sind notwendige Korrekturen und Aktualisierungen vorgenommen worden sowie Umstrukturierungen, um die Lesbarkeit zu verbessern. Neu hinzugekommen ist ein eigenes Kapitel zum Thema »Inklusion«.

Ich danke Frank Borsch, Minja Dubowy und Dorothea Krampen aus meiner Arbeitsgruppe für wertvolle Hilfen und Korrekturen bei der Fertigstellung dieser Neuauflage sowie Mareike Kunter und Marcus Hasselhorn für kritische Anmerkungen zum Manuskript der 1. Auflage.

Dietzenbach, im Mai 2017Andreas Gold

Einleitung: Lernschwierigkeiten als Bildungsrisiken

 

 

Schulische Lern- und Bildungsergebnisse von Kindern und Jugendlichen bemessen sich an den Kompetenzen und Leistungen, die sie erwerben bzw. erzielen und an den Zertifikaten, die sie erreichen. Grundlegende, im Schulalter erworbene Kompetenzen sind vor allem die schriftsprachlichen und die mathematischen Kompetenzen. Auf der Performanzebene sichtbar werden solche Kompetenzen durch schriftliche oder mündliche Leistungsprüfungen mit individuellen Bewertungen, für die es einen verbindlichen Bezugsrahmen im Sinne von Leistungserwartungen gibt. In schulischen Zusammenhängen erfolgen solche Bewertungen normalerweise durch die Vergabe von Noten oder Notenpunkten. Die institutionellen Leistungserwartungen sind meist als Bildungsstandards definiert. Werden verbindliche Leistungsnormen oder -standards verfehlt, können Bildungszertifikate – also Versetzungen und Abschlüsse – nicht erreicht werden.

Die Lern- und Bildungsergebnisse von Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich. Aus den Resultaten der Kompetenz- und Leistungsmessungen, aber auch anhand von Indikatoren des Bildungsverlaufs, wie etwa den Anteilen der Klassenwiederholungen, der Schulabgänge ohne Abschluss sowie an den Absolventenquoten, ist dies leicht ersichtlich. Ursachen für die unterschiedlichen Bildungserfolge können Merkmale und Besonderheiten der Kinder und Jugendlichen selbst sein und/oder Merkmale und Besonderheiten, die mit ihren Lern- und Lebenskontexten zusammenhängen. Auf der personalen Ebene sind die allgemeine Lernfähigkeit und die individuellen Lernvoraussetzungen bedeutsame Einflussfaktoren. Zu den Lern- und Lebenskontexten der Kinder und Jugendlichen zählen insbesondere ihre familiäre Situation und die schulische Umgebung. Ein wesentlicher Teil der schulischen Lernumgebung ist die Qualität des schulischen Unterrichts.

In der pädagogisch-psychologischen Tradition hat man sich in erster Linie mit den individuellen Merkmalen und Besonderheiten – also den individuellen Lernvoraussetzungen – befasst, um die unterschiedlichen Lern- und Bildungserfolge der Kinder und Jugendlichen zu erklären. Die Grundannahme ist einfach: Ungünstige individuelle Lernvoraussetzungen gelten als individuelle Risikofaktoren, die schulische Lernschwierigkeiten und damit einen geringeren Lern- und Bildungserfolg wahrscheinlicher machen.

Es gibt auch Bildungsrisiken, die mit den individuellen Lernvoraussetzungen nichts zu tun haben. In der bildungssoziologischen Tradition spricht man von Bildungsungleichheiten oder von Disparitäten, wenn z. B. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien vergleichsweise schlechtere Bildungsergebnisse erzielen. Ungünstige Einflüsse der familiären Lernumgebung werden dafür verantwortlich gemacht. In ähnlicher Weise gilt, dass mit einer ungünstigen schulischen Lernumgebung ein höheres Risiko in Bezug auf eine (nicht) gelingende Lern- und Bildungsentwicklung verbunden ist. Natürlich können Risikofaktoren auf der kontextualen Ebene und solche auf der personalen Ebene auch in Kombination auftreten.

Im Lehrbuch Lernschwierigkeiten wird vornehmlich die personale Ebene der individuellen Lernvoraussetzungen betrachtet, um etwas über die Ursachen von Lernschwierigkeiten – und die aus ihnen resultierenden Bildungsnachteile – zu erfahren. Auch die Ausführungen zur Diagnostik, zur Prävention und zur Intervention zielen auf die Individualebene der Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen schwerer fällt. Dass kontextuelle Rahmenbedingungen beim Lernen ebenfalls eine Rolle spielen und sich bei ungünstiger Ausprägung als Risikofaktoren des Bildungserfolgs erweisen können, wird dabei beachtet. Denn ungünstige Rahmenbedingungen können das Entstehen und Aufrechterhalten von Lernschwierigkeiten mit beeinflussen.

Orientierungsfrage

 

•  Was sind Lernschwierigkeiten?

Wenn Lernen und Lehren scheitern

Die wissenschaftliche Betrachtung fordert sprachliche Präzision. Was sind Lernschwierigkeiten? Was ist genau damit gemeint? Viele unterschiedliche Wortbezeichnungen werden verwendet, wenn über Lernschwierigkeiten gesprochen wird. Am häufigsten: Lernstörung, Lernschwäche oder Lernbehinderung – seltener wird auch von Lernbeeinträchtigungen oder von Lernbenachteiligungen gesprochen. Manchmal ist mit den unterschiedlichen Worten Gleiches gemeint, manchmal Unterschiedliches. Und nicht selten wird unter jeder einzelnen dieser Wortbezeichnungen auch noch Unterschiedliches verstanden. Das ist bei den besonderen Bezeichnungen für die inhaltlich begrenzten Störungen der einzelnen Lernbereiche des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens, wie z. B. Legasthenie, Dyslexie oder Dyskalkulie, nicht anders. In diesem Buch wird der Begriff Lernschwierigkeiten als Oberbegriff für alle Formen einer beeinträchtigten schulischen Leistungsentwicklung verwendet. Es geht um Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen und im schriftlichen Ausdruck sowie beim Rechnen. Und zwar um alle Kinder und Jugendlichen mit solchen Schwierigkeiten. Das schließt ausdrücklich die vergleichsweise kleinere Gruppe der Kinder und Jugendlichen ein, bei denen die besonderen Schwierigkeiten mit einer intellektuellen Beeinträchtigung einhergehen.

Definition: Lernbehinderung, Lernstörung, Lernschwäche

Lernbehinderung. Der Begriff ist schulrechtlich definiert. Als »lernbehindert« bezeichnet man Kinder und Jugendliche, die sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen erhalten. Mittlerweile meiden viele diesen Begriff und sprechen statt von einer Lernbehinderung von den Kindern und Jugendlichen mit »sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen«. In den Verfahren zur Feststellung dieses Förderbedarfs sind die maßgeblichen Kriterien benannt: Zum einen ein erhebliches Schulleistungsversagen – meist wird von einem Leistungsrückstand von mehr als zwei Schuljahren gesprochen – und zum anderen Defizite in der allgemeinen Intelligenz. Schuladministrativ werden oft schon IQ-Werte unter 85 als Ausweis solcher intellektuellen Defizite betrachtet. In den klinisch-diagnostischen Leitlinien der psychologischen Fachgesellschaften gelten erst IQ-Werte unter 70 als Anzeichen einer Intelligenzminderung.

Lernstörung. Der Begriff ist klinisch-diagnostisch definiert. Der entscheidende Unterschied zur Lernbehinderung ist, dass Lernstörungen nicht mit Defiziten in der allgemeinen Intelligenz einhergehen. Im Gegenteil: Lernstörungen – als erhebliche Minderleistungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und/oder beim Rechnen – treten auf, obgleich man es aufgrund der »normalen« Intelligenz (IQ-Werte ≥ 70) der Kinder und Jugendlichen eigentlich nicht erwarten würde. Mehr noch: Folgt man dem international gebräuchlichen Klassifikationssystem psychischer Störungen ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2014), so wird eine Lernstörung erst dann diagnostiziert, wenn die schulischen Minderleistungen der betroffenen Kinder oder Jugendlichen und ihre »normalen« Intelligenztestleistungen besonders weit auseinanderklaffen.

Lernschwäche. Von einer Lernschwäche sprechen wir – wie bei der Lernstörung –, wenn die Minderleistungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und/oder beim Rechnen nicht mit einer Intelligenzminderung verbunden sind, also aufgrund der »normalen« Intelligenz der Betreffenden eigentlich nicht zu erwarten wären. Anders als bei der Lernstörung klaffen die schulischen Minderleistungen der Kinder und Jugendlichen und ihre Intelligenztestleistungen jedoch nicht so weit auseinander (genauer dazu:  Kap. 4.2). Von vielen Psychologinnen und Psychologen wird in Frage gestellt, ob eine solche Differenzierung überhaupt sinnvoll ist.

Es hat in der Geschichte der Lernbehindertenpädagogik immer wieder Versuche gegeben, größere begriffliche Klarheit zu schaffen. Nicht selten waren solche Bemühungen überlagert von sprachreformerischen Absichten, die vermeintlich diskriminierenden Namensgebungen wie »Hilfsschule«, »Lernbehindertenschule« oder »Sonderschule« durch weniger problematische Umschreibungen wie »Schule zur individuellen Lernförderung« zu ersetzen. Man wollte auf diese Weise den Förderaspekt anstelle des Aspekts der Minderbegabung hervorheben.

Definition: Lernschwierigkeiten

Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, wird in diesem Buch verallgemeinernd der Begriff Lernschwierigkeiten verwendet, wenn es um Kinder und Jugendliche mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen geht. Auf eine Differenzierung zwischen Lernbehinderungen, -störungen und -schwächen wird bewusst verzichtet. Mehr noch: Es wird darauf verzichtet, das Ausmaß des Schulleistungsversagens der Kinder und Jugendlichen zu ihrem Intelligenzniveau in Beziehung zu setzen. Für eine vergleichsweise kleine Gruppe der Kinder und Jugendlichen ist das Ausmaß ihres Leistungsversagens kongruent zu ihrer ebenfalls beeinträchtigten intellektuellen Befähigung, für die meisten Betroffenen hingegen diskrepant zu ihrer Intelligenz. Traditionell bezeichnet man den erstgenannten Fall als Lernbehinderung, den zweiten als Lernstörung oder -schwäche. Natürlich ist die Bezugnahme auf die Intelligenz wegen der besonderen Bedeutung des intellektuellen Leistungsvermögens für das schulische Lernen nicht gänzlich unplausibel. Sie engt aber durch ihren impliziten Erklärungsanspruch die Sichtweise auf Lernschwierigkeiten unnötig ein. Lernschwierigkeiten sind besondere Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit Lernanforderungen aller Art, die sich in minderen Schulleistungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und/oder beim Rechnen niederschlagen.

Ausmaß und Auswirkungen des Problems

Menschen unterscheiden sich. Deshalb ist es auch normal, dass nicht alle alles gleich gut lernen können. Allerdings ziehen Lernschwierigkeiten schlechte Schulleistungen nach sich und können so zu einem dringlichen Problem werden. Zunächst einmal für die Lerner selbst, aber auch für ihre Eltern und für die Lehrer und Erzieher, denen sie anvertraut sind. Lernschwierigkeiten liegen vor, wenn – aus welchen Gründen auch immer – die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen verbindliche Mindeststandards erheblich und dauerhaft unterschreiten, wenn also die bisherige Lernförderung nicht hinreichend wirksam gewesen ist. Schwierig wird das Lernen, wenn die Bildungsziele einer Institution den Bereich des für den Lerner Möglichen weit übersteigen oder wenn die zum Erreichen dieser Ziele zugestandenen Lernzeiten und Lernangebote nicht ausreichend sind. Aber auch wenn sich Lernerfolge nur unter Inkaufnahme ungünstiger Begleiterscheinungen sozialer, emotionaler oder gesundheitlicher Art erzielen lassen, also etwa mit der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten einhergehen, mit Ängsten oder mit Medikamentenmissbrauch, wird man von Lernschwierigkeiten sprechen.

Wenn aufgrund von Lernschwierigkeiten Lernerfolge ausbleiben, wird nicht nur die schulische Leistung der Betroffenen schlechter bewertet. Vielmehr können die schulischen Misserfolge Begleit- und Folgeerscheinungen auslösen, die die Problematik zusätzlich verstärken. Dieter Betz und Helga Breuninger (1982) haben dafür vor mehr als 30 Jahren die treffende Bezeichnung vom »Teufelskreis Lernstörungen« geprägt: Zu einem solchen Teufelskreis kommt es, wenn das Schulversagen zu Konflikten mit den Eltern oder im sozialen Umfeld führt, wenn überforderte Lehrerinnen und Lehrer zunächst ihre Leistungserwartungen und dann das Ausmaß der individuellen Förderung reduzieren, wenn das Selbstwertgefühl der Betroffenen und ihr Selbstkonzept eigener Fähigkeiten leidet, wenn Schul- und Versagensängste mit einem darauf folgenden Vermeidungsverhalten ausgebildet werden, wenn die Lernmotivation und die Lernfreude schwinden.

Wenn Lernschwierigkeiten dazu führen, dass das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen wird, gehen damit ökonomische Nachteile für den Einzelnen einher. Das zeigen die Statistiken bildungsökonomischer Studien. Frauen ohne Hauptschul- und ohne Berufsabschluss haben im Schnitt ein um etwa 600 Euro niedrigeres Monatseinkommen als jene mit einem Hauptschul- und einem beruflichen Abschluss. Männer ohne Hauptschul- und ohne Berufsabschluss verdienen im Mittel etwa halb so viel wie Männer mit einem Hochschulabschluss. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann schätzt die Bildungsertragsrate – das ist die Einkommensrendite für jedes zusätzliche Bildungsjahr – in Deutschland auf knapp zehn Prozent. Mehr Bildung ist also mit einem höheren Einkommen verbunden und mit einer besseren Aussicht auf eine berufliche Karriere. Fast jeder Vierte ohne Schulabschluss muss derzeit damit rechnen, keine Beschäftigung zu finden. Und die Arbeitslosenstatistik zeigt, dass etwa 20 Prozent der Arbeitslosen nicht über eine abgeschlossene Ausbildung verfügen. Bei einer beruflichen oder akademischen Ausbildung liegt das Risiko, arbeitslos zu werden, nur bei fünf bzw. drei Prozent. Bildungsökonomen rechnen im Übrigen vor, dass mit den individuellen Nachteilen auch erhebliche volkswirtschaftliche Verluste verbunden sind. Die schlechter ausgebildeten, häufiger erwerbslosen und weniger gut entlohnten Arbeitskräfte tragen in geringerem Maße zur Wirtschaftsleistung eines Staates bei. Überdies sind sie häufiger auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Daraus resultieren erhebliche Folgekosten unzureichender Bildung (Piopiunik & Wößmann, 2014; Wößmann & Piopiunik, 2012).1

Noch plakativer als Ludger Wößmann haben die Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Entorf und Siegler (2010) auf gesellschaftliche Folgekosten der Bildungsarmut hingewiesen. Folgt man ihrer Modellrechnung, die auf einer statistischen Analyse der Bildungsabschlüsse von Haftinsassen gründet, so hätten sich durch eine Halbierung des Anteils der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss allein im Jahr 2009 insgesamt 416 Morde, mehr als 13 000 räuberische Erpressungen und mehr als 300 000 Diebstähle (mit mehr als 1.4 Milliarden Euro Folgekosten) vermeiden lassen. Das Argument dahinter: Unzureichende Bildung begünstigt Kriminalität. Denn die Statistik verrät, dass die inhaftierten Straftäter mehrheitlich ohne einen Schulabschluss sind. Bei ihrer Fokussierung auf die Deliktgruppen Mord, Raub und Diebstahl erwähnen die Autoren leider nicht, dass es auch ohne Bildungsarmut zu gravierenden verbrecherischen Aktivitäten kommen kann (Stichwort: Wirtschaftskriminalität).

Wenn aus Kindern mit Lernschwierigkeiten Erwachsene ohne Bildungsabschluss werden, bleiben die Folgen nicht auf den ökonomischen Bereich begrenzt. Esser, Wyschkon und Schmitt (2002) haben 17 Jahre nach einer (schulischen) Lernstörungsdiagnose bei den mittlerweile jungen Erwachsenen häufiger als bei den Erwachsenen einer Kontrollgruppe Symptome psychischer Störungen festgestellt, wie z. B. ein höheres Suchtverhalten.

Lernschwierigkeiten und die damit einhergehenden Schulleistungsprobleme sind keine neuartigen Phänomene – auch das wissenschaftliche Interesse an der Thematik ist nicht neu. In der Sonder- und Heilpädagogik, in der Medizin und auch in der Pädagogischen Psychologie hat man sich seit den 1960er-Jahren mit Lern- und Verhaltensstörungen im Kindesalter beschäftigt. Der deutsche Sonderweg eines differenzierten Förderschulwesens entstammt einer pädagogischen Tradition, die sogar noch weiter zurückreicht. Die (Sonder-)Schule für Lernbehinderte löste erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Hilfsschule des 19. Jahrhunderts ab. Die aktuelle Entwicklung – weg von der Sonderbeschulung und hin zur Inklusion – führt wiederum zu ganz neuen Fragestellungen und Diskussionen.

Zum Ausmaß von Lernschwierigkeiten im Kindes- und Jugendalter kann es nur Schätzungen geben. Eine »Meldepflicht« oder verbindlich definierte Kriterien gibt es nämlich nicht. Je nach Betrachtungsweise haben etwa 20 bis 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen Schwierigkeiten im Bereich des Lesens, Schreibens oder Rechnens. Die Prävalenzen, d. h. die geschätzten Häufigkeiten für das Auftreten einer Störung, liegen für die Rechtschreibstörung bei etwa fünf Prozent eines Jahrgangs und für die Lesestörung sowie für die Rechenstörung bei jeweils etwa vier Prozent. Für die Lese-Rechtschreibstörung schätzt man den Anteil der Betroffenen ebenfalls auf etwa vier Prozent. Für eine kombinierte Störung des Lesens, des Rechtschreibens und des Rechnens liegt die Prävalenzrate bei etwa drei Prozent. Auf eine Prävalenzrate zwischen zwei und drei Prozent wird darüber hinaus der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung (Lernbehinderung) veranschlagt. Oft – aber nicht immer – manifestieren sich Lernschwierigkeiten in Klassenwiederholungen sowie in Schulabgängen ohne Abschluss. Auch aus kompetenzorientierten Erhebungen lassen sich Hinweise auf Lernschwierigkeiten gewinnen: Gut 16 Prozent der 15-Jährigen können so schlecht lesen, dass sie in der PISA-Studie 2015 als Risikogruppe, mithin als Jugendliche mit gravierenden Leseschwierigkeiten bezeichnet werden (Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2016). Mit 17 Prozent geringfügig höher ist der Anteil der Jugendlichen mit sehr schwachen mathematischen Fertigkeiten. Und jedes vierte bis fünfte Kind verfügt ausweislich der TIMS-Studie 2015 in der 4. Jahrgangsstufe nicht über ein zufriedenstellendes Kompetenzniveau in Mathematik (Wendt, Bos, Selter, Köller, Schwippert & Kasper, 2016).

Basis solcher Zahlen sind amtliche Statistiken (z. B. im Falle der Lernbehinderung), nationale oder internationale Vergleichsstudien (z. B. im Falle der PISA-Daten) sowie epidemiologische Studien (z. B. im Falle der Prävalenzschätzungen von Lernstörungen). In epidemiologischen Studien werden standardisierte Testverfahren eingesetzt, um die Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistungen in größeren Stichproben von Kindern und Jugendlichen zu erfassen. Höhere Prävalenzraten für Lernstörungen resultieren, wenn das Kriterium der schulischen Minderleistung dabei »liberaler«, also nicht so streng, gefasst wird, geringere bei einem strenger definierten Kriterium des Leistungsversagens.

Zunehmend differenzierter und einer breiteren Öffentlichkeit leichter zugänglich wurden in den vergangenen Jahren die amtlichen Statistiken zu Merkmalen des Bildungsverlaufs und des Bildungserfolgs. Dem 2006 erstmals vorgelegten Nationalen Bildungsbericht Bildung in Deutschland und den Folgebänden sowie den Jahrbüchern der OECD Bildung auf einen Blick sind Zahlen zum Ausmaß sonderpädagogischer Förderung, zu den Schulabgängen ohne Abschluss und zu den Klassenwiederholungen zu entnehmen. In diesen Zahlen werden die Auswirkungen von Lernschwierigkeiten deutlich. Die OECD-Berichte erscheinen seit 1992 jährlich, die nationalen Bildungsberichte alle zwei Jahre. Langfristig verspricht auch das Nationale Bildungspanel NEPS, das seit 2013 vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe verantwortet wird, wichtige Erkenntnisse zu Bildungsprozessen und zur Kompetenzentwicklung.

Im Schuljahr 2015/2016 erhielten gut 190 000 Schülerinnen und Schüler sonderpädagogische Förderung (SPF) im Förderschwerpunkt Lernen (Lernbehinderung). Das entspricht einer Quote von 2,6 Prozent ( Tab. 1). Zählt man Schülerinnen und Schüler hinzu, die in anderen Förderschwerpunkten eine sonderpädagogische Förderung erfahren haben (z. B. in den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, Sprache, körperliche und motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung), so kommt man für das Schuljahr 2015/2016 auf eine Gesamtförderquote von insgesamt 7,1 Prozent. Das sind gut 517 000 Schülerinnen und Schüler. Die Förderquoten variieren zwischen den Bundesländern. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Quote mit 9,6 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Rheinland-Pfalz (4,7%). Fast die Hälfte (45%) der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt Lernen werden mittlerweile inklusiv, d. h. an sonstigen allgemeinbildenden Schulen unterrichtet, die übrigen an Förderschulen. In der Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf liegt die Inklusionsquote bei 38 Prozent. Auch hier gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den deutschen Ländern.

Eins unter vierzehn Kindern wird mithin sonderpädagogisch gefördert, eins unter achtunddreißig im Förderschwerpunkt Lernen. In ihrer schulischen Leistungsentwicklung beeinträchtigt sind aber auch viele Kinder und Jugendliche, deren sonderpädagogischer Förderbedarf primär in einem der anderen Förderschwerpunkte gesehen wird – beispielsweise im Bereich der geistigen Entwicklung (1,2% aller Schülerinnen und Schüler) oder der Sprache (0,8%) sowie im Bereich der der emotionalen und sozialen Entwicklung (1,2%), um die neben dem Förderschwerpunkt Lernen zahlenmäßig umfangreichsten Förderschwerpunkte zu nennen. Im Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung ist es in den letzten Jahren zu einem erheblichen Anstieg der Förderquote gekommen.

Andere Indikatoren für Lernschwierigkeiten sind Klassenwiederholungen und der Schulabgang ohne Abschluss. Die Wiederholerquote in den allgemeinen Schulen lag im Schuljahr 2014/2015 in den Jahrgangsstufen 1–12 insgesamt bei 2,3 Prozent, knapp 150 000 Kinder und Jugendliche waren davon betroffen. Die Wiederholerquote ist geringer als vor zehn Jahren. Am häufigsten kommt es in den Haupt- und Realschulen sowie in den additiven Gesamtschulen zu Klassenwiederholungen, dort vor allem in den Klassen der Mittelstufe. Im Schnitt trifft es in der 7. bis 9. Klasse einen Schüler pro Schuljahr und Klasse. Der Gefahr des »Sitzenbleibens« sind die Schülerinnen und Schüler in jedem Schuljahr aufs Neue ausgesetzt. Jeder Vierte, so wird geschätzt, wiederholt im Laufe seiner Schulkarriere mindestens einmal eine Klasse.

Ohne Hauptschulabschluss haben im Jahr 2015 gut 47 000 Jugendliche die Schule verlassen, auf die Gleichaltrigen bezogen entspricht das einer Quote von 5,6 Prozent. Vor zehn Jahren lag die Quote noch bei 8,2 Prozent. Das ist ein erfreulicher Rückgang. Bereits bekannte Disparitäten blieben allerdings erhalten. Beispielsweise variieren weiterhin die Abgangsquoten zwischen den Ländern. In Bayern haben 4,5 Prozent der Jugendlichen, in Sachsen-Anhalt anteilig mehr als doppelt so viele (9,7%) die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Jungen verlassen die Schule häufiger ohne einen Abschluss und sie müssen häufiger eine Klasse wiederholen als Mädchen. Jungen werden auch häufiger als Mädchen an eine Förderschule überwiesen. Für die meisten Indikatoren des Schulversagens liegt das Jungen-Mädchen-Verhältnis bei etwa 3:2. Für Jungen aus zugewanderten Familien ist das Risiko für einen Schulabgang ohne Abschluss besonders groß.

Indikatoren des BildungsverlaufsBetroffene in Prozent eines Altersjahrgangs20052015

Tab. 1: Auswirkungen von Lernschwierigkeiten im Spiegel der Schulstatistik

Rückläufige Problemzahlen – bei den Schulabgängen ohne Abschluss wie bei den Klassenwiederholungen – sind erfreulich und sprechen für die Wirksamkeit der zwischenzeitlich eingeleiteten Maßnahmen auf der unterrichtlichen oder schulorganisatorischen Ebene. Man muss sie aber in Relation setzen zu epochalen Trends, die gegenläufig oder verstärkend wirken können, und zur Veränderungen von Rahmenbedingungen. Als verlässliche Indikatoren der Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen können sie jedenfalls nur dann gelten, wenn die günstigeren Zahlen nicht aufgrund von Niveauabsenkungen zustandegekommen sind, oder weil es zu schulrechtlichen Neuerungen kam. Ein Beispiel dafür: In einigen Bundesländern ist das »Sitzenbleiben« abgeschafft worden. Leicht einsichtig, dass dann eine rückläufige Sitzenbleiberquote nicht ohne weiteres auf eine bessere Qualität von Schule und Unterricht zurückzuführen ist.

Vorsichtig geschätzt: Bei gut zweieinhalb Prozent Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen, bei knapp sechs Prozent eines Jahrgangs, die keinen Hauptschulabschluss erreichen, bei jährlichen Klassenwiederholungen von mehr als zwei Prozent, sind es – auch wenn sich die genannten Kategorien nicht wechselseitig ausschließen – wohl um die zehn Prozent eines Altersjahrgangs, die sich mit dem Lernen so schwer tun, dass ein schwerwiegendes und anhaltendes schulisches Leistungsversagen die Folge ist. Das sind bei einer Klassengröße von 20 Kindern zwei Kinder pro Klasse. Dies sind aber nur die aus der Schulstatistik ersichtlichen Zahlen der im Bildungsverlauf manifest gewordenen Lernschwierigkeiten. Hinzu kommen Kinder mit Lernstörungen, die zwar nicht unbedingt durch Klassenwiederholungen und vorzeitige Schulabgänge auffallen, aber in ihren schulischen Leistungen im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen weit hinter dem zurückbleiben, was man aufgrund ihrer Intelligenz von ihnen erwarten würde. Je nach Berechnungsmodus wird es sich bei dieser Gruppe um weitere zehn bis 15 Prozent eines Altersjahrgangs handeln.

Auffällig ist, dass die schulischen Minderleistungen in Teilgruppen der Schülerpopulation überzufällig gehäuft auftreten, wie es die Bildungsstatistiken für die Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien und aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern seit vielen Jahren schon indizieren. Dies macht ein individuelles zusätzlich zu einem gesellschaftlichen und zu einem bildungspolitischen Problem. Denn aus dem Blickwinkel der Bildungsgerechtigkeit sind solche Ungleichheiten zu hinterfragen ( Kap. 2.3).

Hinweise auf das Ausmaß von Lernschwierigkeiten lassen sich auch aus der gestiegenen Nachfrage entsprechender Beratungs- und Unterstützungsangebote ablesen. Nicht alle, aber ein großer Teil der Beratungsanlässe in schulpsychologischen Beratungsstellen hat direkt oder indirekt mit Schulleistungsproblemen, also mit Lernschwierigkeiten, zu tun. Die Bildungspolitik nimmt das Problem inzwischen ernster als früher und reagiert mit einem personellen Ausbau von Einrichtungen der Schul- und Bildungsberatung, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie im schulpsychologischen Dienst. So ist die Anzahl der Planstellen für Psychologinnen und Psychologen an den Schulpsychologischen Beratungsstellen Baden-Württembergs auf gut 200 Vollzeitstellen in kurzer Zeit nahezu verdoppelt worden. Aber auch daraus resultiert erst ein Verhältnis von 1 : 8 000 in Bezug auf die Anzahl der von einem Schulpsychologen zu betreuenden Schülerinnen und Schüler.

Die kommerziellen Nachhilfeinstitute prosperieren. Unter den Großanbietern professioneller Nachhilfe liegen die jährlichen Wachstumsraten im zweistelligen Bereich – knapp 900 Millionen Euro im Jahr geben Eltern laut einer Schätzung des Bildungsforschers Klaus Klemm für Nachhilfestunden aus (Klemm & Hollenbach-Biele, 2016). Etwa jeder vierte Jugendliche in Deutschland bekommt Nachhilfe, meist in Mathematik oder in einer Fremdsprache. Von den Schülerinnen und Schülern aus Gymnasien und aus Gesamtschulen wird vermehrt individuelle Nachhilfe zur zusätzlichen Lernförderung in Anspruch genommen – teilweise geschieht dies präventiv, ohne dass es bereits zu Lernschwierigkeiten gekommen wäre. Sicherlich ist das auch ein Indiz für die gestiegenen Bildungsansprüche vieler Eltern.

Ursachen, Diagnose, Prävention und Intervention

Alle Voraussetzungen und Begleitumstände erfolgreichen Lernens können zugleich mögliche Ursachen für individuelle Lernschwierigkeiten sein, wenn hier Defizite vorliegen. Das sind neben den besonders wichtigen individuellen Lernvoraussetzungen auf der personalen Ebene auch die Angemessenheit der schulischen Lernangebote sowie das Ausmaß an häuslicher (familiärer) Unterstützung auf der Lernkontext- bzw. Lernumweltebene. Mit anderen Worten: Es hat zwar vor allem mit den Kindern und Jugendlichen selbst zu tun, wenn es zu Lernschwierigkeiten kommt, aber ungünstige häusliche Lernumwelten und familiäre Risikolagen sowie ein nicht angemessener Unterricht können durchaus Mitursachen von Lernschwierigkeiten sein. Strikt auseinanderhalten lassen sich die Ursachenfaktoren auf der personalen und auf der kontextualen Ebene allerdings nicht, weil sie miteinander verwoben sind. So können soziale Herkunftseffekte bereits die Entwicklung der individuellen Lernvoraussetzungen beeinflussen, die ihrerseits für die schulische Leistungsentwicklung der Kinder bedeutsam sind. Von der Ausprägung der individuellen Lernvoraussetzungen kann es abhängen, ob die eine oder die andere Schulform besucht wird, wo der Unterricht den Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger gut fördert.

Genauere Kenntnisse über die Ursachen von Lernschwierigkeiten verdanken wir einer Vielzahl empirischer Studien der vergangenen drei Dekaden. In diesem Buch liegt der Schwerpunkt auf den Studien aus der Psychologie, die sich vornehmlich mit der Prozessebene des Lernens und mit den individuellen Lernvoraussetzungen sowie mit den pädagogischen Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern beschäftigen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei den festgestellten Zusammenhängen jeweils nur um statistische Zusammenhänge handelt, die natürlich nicht für jeden Einzelfall zutreffen: Ungünstige individuelle Lernvoraussetzungen sind deshalb zunächst einmal nur Risikofaktoren für das Entstehen von Lernschwierigkeiten und damit für ein mögliches Schulversagen. Gewichtige Risikofaktoren zwar, sie müssen aber nicht zwangsläufig Lernschwierigkeiten zur Folge haben. Die Fokussierung der Risiken darf nicht den Blick auf die individuellen und institutionellen Ressourcen verstellen, die den Risiken gegenüberstehen.

Bei der Betrachtung der Ursachen ist zu fragen, inwieweit eine verallgemeinernde Sichtweise, also das Abstrahieren von den spezifischen Lerninhalten, aus Gründen der Vereinfachung zulässig ist. In den oben aufgeführten Statistiken zum Ausmaß der Problematik wurde eine solche verallgemeinernde Perspektive gewählt, denn dort ging es um das Verfehlen von Schulabschlüssen, um Klassenwiederholungen und um das Ausmaß des sonderpädagogischen Förderbedarfs, ganz gleich, ob die individuellen Schulleistungsprobleme im Deutsch- oder im Mathematikunterricht ihren Anfang nahmen oder ihren Schwerpunkt haben. Erfolgversprechende pädagogische Interventionen verlangen jedoch eine differenzierte Diagnostik der individuellen Lernschwierigkeiten sowie eine lerninhaltsbezogene Betrachtung. Im Aufbau dieses Buches wird dem Rechnung getragen, wenn sowohl bei den Ursachen ( Kap. 3), als auch bei der Diagnostik ( Kap. 4) und erst recht bei der Prävention ( Kap. 5) und bei der Intervention ( Kap. 6) jeweils zwischen Lese-Rechtschreib- und Rechenschwierigkeiten unterschieden wird.

Werner Zielinski (1980) unterscheidet in seinem wegweisenden Buch Lernschwierigkeiten zwischen internen (im Lernenden selbst liegenden), externen (der Quantität und Qualität von Schule und Unterricht geschuldeten) und moderierenden (häusliche und soziale Belange betreffenden) Bedingungen des Lern- und Leistungsversagens. Zielinski verwendet im Übrigen eine Definition von Lernschwierigkeiten, der ich mich anschließe: Lernschwierigkeiten liegen vor, wenn wichtige individuelle, soziale oder institutionelle Normanforderungen dauerhaft verfehlt werden, wenn also ein eklatantes Missverhältnis zwischen den tatsächlichen Lernleistungen und den Leistungserwartungen von Individuum und/oder Institution besteht. Unter den drei in der Definition genannten Normanforderungen ist die soziale Bezugsnormorientierung die gebräuchlichste: Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in Relation zu den Gleichaltrigen besonders schwache Leistungen erzielt, sprechen wir von Lernschwierigkeiten. Ihr Nachteil liegt in eben dieser Relativität, weil als Bezugsmaßstab der Leistungsbeurteilung eines Einzelnen stets die Leistungen der anderen dienen. Eine sachbezogen begründete institutionelle Bezugsnorm kommt ohne soziale Vergleiche aus: Lernschwierigkeiten hat, wer eine gesetzte Leistungsanforderung nicht erfüllt – ganz gleich, wie gut oder schlecht die anderen abschneiden.

Es ist ja nicht so, als ob nichts geschehe! Seit man sich mit Lernschwierigkeiten befasst, gibt es auch Maßnahmen, ihnen zu begegnen. Das deutsche Bildungswesen kennt einen bunten Strauß schulorganisatorischer Maßnahmen: Sie reichen von der verspäteten Einschulung über das ein- oder mehrmalige Wiederholen einer Jahrgangsstufe (»Sitzenbleiben« oder »Zurückstufen«) bis zum Versuch einer möglichst leistungshomogenisierenden Schulformzuweisung in der Sekundarstufe. Hinzu kommen die schuladministrativ verankerten Feststellungsverfahren sonderpädagogischen Förderbedarfs einschließlich der auf sie folgenden Fördermaßnahmen. Alle diese Maßnahmen lassen sich als schulorganisatorische Antworten auf tatsächliche oder sich abzeichnende Lernschwierigkeiten auffassen. Für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben (teilweise auch im Rechnen) sind aufgrund schulrechtlicher Bestimmungen nachteilsausgleichende Maßnahmen und Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung möglich ( Kap. 6). Zunehmend wichtiger wird darüber hinaus der schulorganisatorische Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, also die Frage der Inklusion ( Kap. 7). So viel bereits vorweg: Entscheidend ist nicht wo, sondern wie Kinder mit Lernschwierigkeiten unterrichtet werden.

Teilweise urwüchsig entstanden, teilweise wissenschaftlich fundiert und evidenzbasiert, gibt es jenseits der schulorganisatorischen Maßnahmen vielfältige inner- und außerschulisch angewandte pädagogische Maßnahmen unterschiedlicher Intensität und Professionalität. Dazu gehören der Einsatz unterrichtlicher und unterrichtsadditiver Förder- und Trainingsprogramme. Dazu gehören auch besondere Maßnahmen im Regelunterricht – meist verbunden mit einer unterrichtlichen Differenzierung und individuellen Förderung.

Die Effektivität aufwendiger Interventionsmaßnahmen wird danach bemessen, ob sie halten, was sie versprechen. Daher muss der Erfolgskontrolle der Lernförderung ein großer Stellenwert eingeräumt werden. Nur so lässt sich verlässlich beurteilen, ob die intendierten Wirkungen tatsächlich erzielt werden. Nur so lassen sich unseriöse Versprechungen von evidenzbasierten Empfehlungen unterscheiden. Viel zu selten wird im Übrigen im Umgang mit Lernschwierigkeiten auf präventive Maßnahmen gesetzt. Dabei verspricht eine frühe Förderung eine vergleichsweise »hohe Rendite«. In diesem Sinne argumentiert jedenfalls der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger James Heckman, der in seinen Modellrechnungen den anfänglichen Kosten von Bildungsinvestitionen ihren kumulierten Nutzen gegenüberstellt. Heckman zufolge versprechen öffentliche Investitionen in die frühkindliche Bildung einen besonders hohen gesamtwirtschaftlichen Ertrag (Caspi et al., 2016; Cunha & Heckman, 2007; Heckman, 2000, 2013). Der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann fordert deshalb seit langem, Krippen und Kindergärten stärker als bisher zur gezielten Bildungsförderung zu nutzen und ihren Besuch für jene verpflichtend zu machen, die der Zusatzförderung besonders bedürfen (Hanushek & Wößmann, 2008).

Mangelnde Passung

Wenn die an eine Person gestellten Anforderungen und Kompetenzerwartungen in einem deutlichen Missverhältnis zu ihren Lernvoraussetzungen und -möglichkeiten stehen, sind Lernschwierigkeiten und ein schulisches Leistungsversagen die wahrscheinliche Folge. Lernschwierigkeiten sind deshalb Bildungsrisiken. Sie werden als schulische Minderleistungen manifest, weil ein Vergleich oder ein Vergleichsmaßstab ins Spiel kommen – und weil dieser Vergleich für den Lerner besonders ungünstig ausfällt. Naheliegend sind nun die folgenden Fragen:

1.  Liegt es nicht in der Natur der Sache, dass einige, wie im sportlichen Wettkampf auch, beim schulischen Lernen scheitern müssen?

2.  Was sind die wichtigsten Ursachen für Lernschwierigkeiten?

3.  Was kann man dagegen tun?

Die erste Frage ist leicht mit einem »Nein« zu beantworten. Schulisches Lernen ist keine Konkurrenzveranstaltung. Wenn die Lernangebote und die instruktionalen Hilfen auf die individuellen Lernvoraussetzungen abgestimmt sind, und wenn bei der Festlegung der Lernziele der Rahmen des individuell Möglichen beachtet wird, kann (fast) jeder zu seinem individuellen Lernziel gelangen. Das bedeutet, dass bei einer geeigneten Förderung jede und jeder das für sie oder ihn Mögliche erreichen kann. Erfolgreiches Lernen ist also in erster Linie ein Passungsproblem. Auf die beiden anderen Fragen wird im Verlauf dieses Buches eine Antwort aus pädagogisch-psychologischer Sicht auf der Grundlage der empirischen Studien der vergangenen 30 Jahre gegeben. Im Übrigen gilt, wie bereits erwähnt, die folgende Sequenz: Zunächst müssen wir die Ursachen für Lernschwierigkeiten genauer kennen. Erst danach können fundierte präventive oder abhelfende Maßnahmen der Intervention nachhaltig greifen. Die Maßnahmen müssen möglichst passgenau gewählt werden.

Zum Aufbau dieses Buches

Lernen, unabhängig davon, ob es gelingt oder nicht, ist das beherrschende Thema der Pädagogischen Psychologie. Die Annahme, dass Lernen normalerweise gut funktioniert und dass Lernschwierigkeiten auf ein nicht triviales, aber prinzipiell durchaus lösbares Passungsproblem zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangeboten bzw. -gelegenheiten zurückzuführen sind, ist die verbindende Klammer und zugleich das Leitmotiv dieses Buches. Wichtige individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens sind beispielsweise ein funktionstüchtiges Arbeitsgedächtnis sowie Kompetenzen der kognitiven, motivationalen und volitionalen Selbstregulation ( Kap. 1). Sie sind bei unterschiedlichen Personen unterschiedlich ausgeprägt. Sie unterliegen im Kindes- und Jugendalter teilweise dramatischen Entwicklungsveränderungen. Alle individuellen Lernvoraussetzungen markieren zugleich mögliche Stolpersteine des Lernens. Nicht nur in ihren individuellen Lernvoraussetzungen unterscheiden sich Kinder und Jugendliche voneinander, sondern auch im Hinblick auf ihre soziale und ethnische Herkunft sowie ihre familiäre Situation. Es gibt familiäre Risikolagen, die in höherem Maße mit Schulleistungsproblemen einhergehen. Unterschiedlich sind auch die schulischen Lernumwelten, denen Kinder ausgesetzt sind. Das wichtigste Prinzip erfolgreichen Lehrens ist die notwendige Anpassung des Unterrichts an den individuellen Entwicklungsstand und an die Vorkenntnisse der Lerner. Für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist diese Form der unterrichtlichen Adaptivität von besonderer Bedeutung.

Bildung wird durch Lernen erworben. Weil die Lerner höchst unterschiedlich sind, ist es auch kein Wunder, dass es ungleiche Lernergebnisse gibt. Wichtige Kriterien des Bildungserfolgs sind die erworbenen Kompetenzen und die erzielten Leistungen, vor allem im Lesen, Schreiben und Rechnen, sowie die in der Schule erreichten Zertifikate ( Kap. 2). Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten sind in ihrer Kompetenz- und Leistungsentwicklung benachteiligt und erwerben weniger oft qualifizierende Zertifikate. Die soziale Herkunft und der Migrationsstatus der Kinder und Jugendlichen kovariieren mit den Kriterien des Bildungserfolgs. Familiäre Risikolagen können die Kompetenz- und Leistungsentwicklung beeinträchtigen, ohne dass die oben thematisierten ungünstigen individuellen Lernvoraussetzungen im Spiel sind. Wo aber Bildungsungleichheiten nichts mit den unterschiedlichen individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen zu tun haben, werfen sie die Frage der Bildungsgerechtigkeit auf.

Auch wenn ungünstige familiäre Rahmenbedingungen als Mitursachen von Lernschwierigkeiten eine Rolle spielen können, haben Lernschwierigkeiten in erster Linie mit defizitären individuellen Lernvoraussetzungen zu tun, bzw. mit Beeinträchtigungen in zentralen Funktionsbereichen, die für das Lernen wichtig sind ( Kap. 3). Wichtige Funktionsbereiche sind das Arbeitsgedächtnis sowie die Kompetenzen zur kognitiven, motivationalen und volitionalen Selbstregulation. Trotz dieser Fokussierung auf die individuellen Lernvoraussetzungen wird bei der Ursachenanalyse auch der Frage nachgegangen, ob der Unterricht in deutschen Klassenzimmern genügend adaptiv gestaltet ist, und ob alle notwendigen pädagogischen Anstrengungen unternommen werden, um ungünstige familiäre Lern- und Lebensbedingungen von Kindern so weit wie möglich auszugleichen.

Den Kapiteln zur Prävention von und zur Intervention bei Lernschwierigkeiten ist ein Kapitel zur Diagnostik vorangestellt ( Kap. 4). Erst der Einsatz standardisierter Testverfahren und die Durchführung regelmäßiger Leistungskontrollen ermöglichen eine zuverlässige Diagnose des Ausmaßes und der Spezifität von Lernschwierigkeiten. Testverfahren mit förderdiagnostischem Anspruch sind unverzichtbare Grundlage einer gezielten und adaptiven pädagogischen Intervention. Auf Alternativen zur klassischen Lernstörungsdiagnostik und auf die berechtigte Kritik am Kriterium der IQ-Diskrepanz wird eingegangen.

Die Tatsache, dass sich das Risiko schulischer Lern- und Leistungsprobleme durch vorbeugende Maßnahmen verringern lässt, wird in einem eigenen Abschnitt behandelt ( Kap. 5). Präventive Maßnahmen sind besonders hilfreich, wenn sie frühzeitig und mit der notwendigen Intensität angewandt und entwicklungsangemessen gestaltet werden. Wo möglich, sind sie kurativen Maßnahmen vorzuziehen. Nicht immer wird es durch präventive Maßnahmen allerdings gelingen, Lernschwierigkeiten gänzlich zu vermeiden. Frühprävention kann aber einen wichtigen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit leisten, weil sie benachteiligten Kindern und Jugendlichen Chancen eröffnet, die sonst nicht bestanden hätten.

Welche Handlungsoptionen stehen Lehrern und Erziehern im Umgang mit Lernschwierigkeiten zur Verfügung und was weiß man über deren Wirksamkeit? Die Interventionsmöglichkeiten lassen sich zusammenfassend so kennzeichnen: Vielversprechend sind vor allem symptombezogene Fördermaßnahmen, die direkt auf der Prozessebene des beeinträchtigten Lesens, Rechtschreibens oder Rechnens ansetzen. Das kann häufig im Unterricht selbst geschehen. Nicht selten wird es aber unterrichtsadditiver Anstrengungen bedürfen ( Kap. 6).

Auf den bildungspolitisch überaus kontrovers diskutierten schulsystemischen Umgang mit besonders gravierenden Lernschwierigkeiten wird ebenfalls eingegangen ( Kap. 7). Neuere Studien haben unseren Kenntnisstand über die Wirksamkeit inklusiver Bildungsangebote im Vergleich zur nicht-inklusiven Vorgehensweise erweitert. Allerdings ist der inklusive Unterricht kein Selbstläufer. Auf notwendige Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für das Gelingen inklusiven Unterrichts wird hingewiesen. Ebenso auf die Notwendigkeit, Lernschwierigkeiten im Rahmen der Lehrerbildung intensiver zu thematisieren.

Abb. 1: Aufbau des Buches

Der inhaltlichen Gliederung in die sieben Kapitel sind wiederkehrende Querstrukturen innerhalb der Kapitel unterlegt: Dazu gehören,

1.  dass die drei wichtigsten schulischen Inhaltsbereiche, in denen es zu Lernschwierigkeiten kommen kann, jeweils in der gleichen Reihenfolge angesprochen werden: zuerst das Lesen, dann das Rechtschreiben und dann das Rechnen,

2.  dass jeweils der Altersbereich benannt wird, auf den sich die Ausführungen beziehen: ob es also um Lernschwierigkeiten in der Primar- oder in der Sekundarstufe geht, oder ob – wie bei den Ausführungen zur Prävention – vor allem der Elementarbereich gemeint ist,

3.  dass jeweils die Ebene und der Ort der Intervention benannt werden: ob es sich z. B. um Maßnahmen individueller Förderung im Unterricht handelt oder um unterrichtsadditive Maßnahmen, und

4.  dass da, wo es angezeigt ist, eine differenzierende Betrachtung im Hinblick auf das Geschlecht, die Sprachbiografie oder die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen vorgenommen wird.

In Abbildung 1 ist der Aufbau dieses Buches übersichtlich skizziert ( Abb. 1).

20 wichtige Fragen

Wenn Sie noch mehr über Lernschwierigkeiten wissen wollen, sollten Sie zusätzlich weitere Informationsquellen heranziehen. Es gibt andere Lehrbücher, die ihre Schwerpunkte anders setzen und es gibt detailliertere Abhandlungen zu verschiedenen Teilbereichen von Lernschwierigkeiten – wie etwa zu den Lese-Rechtschreibstörungen oder zu den Rechenstörungen –, wie sie ein einführendes Lehrbuch nicht leisten kann.

Auch ohne zusätzliche Quellen heranzuziehen, sollte es nach der Lektüre dieses Buches möglich sein, die nachfolgenden 20 Fragen zu beantworten. Dabei ist nicht auszuschließen, dass sich aus diesen Antworten wieder neue Fragen ergeben. Die aus meiner Sicht 20 wichtigsten Fragen sind:

1.  Was sind Lernschwierigkeiten?

2.  Wie funktioniert erfolgreiches Lernen?

3.  Welche Rolle spielt der Unterricht für den Lernerfolg?

4.  Welche Indikatoren des Bildungserfolgs gibt es?

5.  Was ist Bildungsgerechtigkeit?

6.  Welches sind die Hauptursachen von Lernschwierigkeiten?

7.  Welche familiären Risikofaktoren spielen eine Rolle?

8.  Warum ist die Sprachkompetenz für den Lernerfolg so wichtig?

9.  Wie diagnostiziert man eine Lernstörung?

10.  Weshalb ist das Kriterium der IQ-Diskrepanz so umstritten?

11.  Was versteht man unter Lernverlaufsdiagnostik?

12.  Was versteht man unter sekundärer (selektiver) Prävention?

13.  Wie wirksam ist die vorschulische Lernförderung?

14.  Wie lässt sich die Schuleingangsphase weniger riskant gestalten?

15.  Was wissen wir über die Wirksamkeit symptomatischer Fördermaßnahmen?

16.  Welche Funktionstrainings sind wirksam?

17.  Wie lässt sich die Unterrichtsqualität verbessern?

18.  Was versteht man unter Nachteilsausgleich und Notenschutz?

19.  Was spricht für Inklusion und was dagegen?

20.  Was folgt daraus für die Lehrerbildung?

Eine Antwort auf die erste Frage war auf den vorangegangenen Seiten zu finden; um die restlichen Fragen beantworten zu können, müssen Sie weiterlesen!

1     Die hier und an anderen Stellen berichteten Statistiken sind Momentaufnahmen aus den Jahren 2016 und 2017. Sie basieren auf Angaben des Statistischen Bundesamtes (www.destatis.de) oder der Kultusministerkonferenz (www.kmk.org). Thematisch aufbereitete Bildungsstatistiken finden sich in den Periodika der Autorengruppe Bildungsberichterstattung (www.bildungsbericht.de) und der OECD (www.oecd.org).

1          Wie Kinder lernen

 

 

Die meisten Menschen lernen jeden Tag viel Neues. Wie das vor sich geht und welchen Gesetzmäßigkeiten das menschliche Lernen folgt, erforscht die wissenschaftliche Psychologie seit mehr als 130 Jahren empirisch, häufig in laborexperimentellen Studien. Im Alltag lernen wir allerdings meistens außerhalb des Labors und oft, ohne dass wir es merken. Das geschieht dann beiläufig und ohne Lernabsicht, in den meisten Fällen auch ohne bewusste Anstrengung. Gelernt wird vor allem durch Beobachtung und aus Erfahrung.

Das schulische Lernen ist eine besondere Form des Lernens. Es geschieht in aller Regel absichtlich und zielgerichtet und ist oft mit Anstrengungen verbunden. Schulisches Lernen wird gezielt herbeigeführt und dient dem systematischen Aufbau von Wissen und Können. Anders als im Laborexperiment vollziehen sich die schulischen Lernprozesse kumulativ, sie sind also keine isolierten Lernakte. Zuvor Gelerntes ist deshalb in aller Regel eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Neues gelernt werden kann. Der kumulative Charakter schulischer Lernprozesse bringt es auch mit sich, dass der Aufbau neuen Wissens und Könnens dann schwer fällt oder gar misslingt, wenn die dafür notwendigen (Vor-)Wissensbestände nicht oder nur unzureichend vorhanden sind. Dann kumulieren Lerndefizite rasch und Lern- und Leistungsprobleme sind die Folge.

Ob und vor allem wie erfolgreich gelernt wird, hängt von den individuellen Lernvoraussetzungen ab, also z. B. vom Vorwissen, von der Lernmotivation, von der Funktionstüchtigkeit des Arbeitsgedächtnisses und von den beim Lernen eingesetzten Strategien, aber auch davon, ob die notwendigen Entwicklungsvoraussetzungen vorhanden sind, um eine Lernanforderung zu bewältigen. Fünfjährige wird man nicht in die Bruchrechnung einführen können, sie sollten aber zählen und die Mächtigkeit von Mengen unterscheiden können. Von 18-Jährigen erwartet man, dass sie Argumente abwägen und Alternativen bedenken können, bevor sie eine Entscheidung treffen. Man kann jedoch nicht erwarten, dass sie dies, wenn es um eine wichtige Lebensentscheidung geht, mit der Weisheit und Erfahrung eines 60-Jährigen tun. Wie erfolgreich gelernt wird, hängt auch davon ab, ob genügend Lernzeit zur Verfügung steht und ob der Unterricht angemessen und auf den Vorkenntnisstand abgestimmt ist. Auch das Ausmaß und die Güte der häuslichen Lernunterstützung spielen für den schulischen Lernerfolg eine Rolle.

Orientierungsfragen

 

•  Wie funktioniert erfolgreiches Lernen?

•  Welche Rolle spielt der Unterricht für den Lernerfolg?

1.1       Lernen als Aufbau von Wissen und Können

Kinder lernen in der Regel gern. Gleichwohl lässt schon im Verlauf der Grundschuljahre die Lernfreude sichtbar nach, wie fast alle Studien, die sich mit diesem Thema befasst haben, berichten (Helmke, 1993; Pekrun, 1993). Das hat auch damit zu tun, dass beim schulischen Lernen Erfahrungen gemacht werden, die von denen des spielerischen Lernens im Vorschulalter verschieden sind. Zum einen werden in der Schule die individuellen Lernfortschritte anders und vor allem systematischer beobachtet und bewertet als zuvor. Auch legen die Lehrerinnen und Lehrer andere Vergleichsmaßstäbe an als dies im Kindergarten der Fall war: soziale, die den relativen Lernfortschritt im jeweiligen Klassenverband betreffen, und institutionelle, die an Standards oder Kompetenzen orientiert sind, die von Kindern einer Jahrgangsstufe, eines Lebensalters oder einer Schulform allgemein erwartet werden. Hinzu kommt, dass durch die Einführung externer Anreiz- und Belohnungsstrukturen die ursprünglich intrinsische kindliche Lernmotivation quasi »umgepolt« wird. In der Folge wird im Unterricht weniger aus Freude und aus Interesse an einer Sache selbst gelernt, als vielmehr funktional, um eine Belobigung, z. B. in Form einer guten Note, zu erhalten.

Die Fähigkeit zum Lernen zeichnet Menschen aus. Sie versetzt uns in die Lage, Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, um unsere Umwelt aktiv zu gestalten. In der wissenschaftlichen Psychologie ist die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des Lernens eine der zentralen Fragestellungen. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Lernen funktioniert und welchen Regelhaftigkeiten es unterliegt. Das ist auch wenig verwunderlich, weil es sehr unterschiedliche Formen des Lernens gibt. Aber es gibt in der Psychologie eine weithin geteilte Übereinstimmung, wonach es in der Folge von Lernprozessen zu einer überdauernden Veränderung des Verhaltenspotenzials eines Individuums kommt. Diese Veränderung ist das Resultat von Lernen. Der Erfolg von Lernen bemisst sich also an seinen Ergebnissen. Lernen hat auch etwas mit Gedächtnis zu tun – einer Instanz oder Funktion, in der die Ergebnisse von Lernprozessen »festgehalten« werden.

Vier einflussreiche theoretische Auffassungen über Lernen lassen sich unterscheiden:

•  Lernen als Assoziationsbildung,

•  Lernen als Verhaltensänderung auf der Grundlage operanter Konditionierung,

•  Lernen als Wissenserwerb durch Informationsverarbeitung und

•  Lernen als Wissenskonstruktion.

Marcus Hasselhorn und Andreas Gold skizzieren in Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren (2017) diese vier grundlegenden Auffassungen über das Lernen. Alle vier leisten wichtige Beiträge zur Beschreibung und Erklärung unterschiedlicher Lernphänomene. Den folgenden Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass sich erfolgreiches schulisches Lernen am besten als gute Informationsverarbeitung beschreiben lässt. Diese Annahme ist genauso hilfreich, wenn es um die Analyse von Problemen und Schwierigkeiten geht, die beim Lernen auftreten können.

Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

In den 1960er-Jahren wurden in der Psychologie erstmals Modellvorstellungen formuliert, die Lernen als symbolische Informationsverarbeitung betrachteten und die bestimmte Annahmen über innere (mentale) Strukturen und Mechanismen enthielten. Die wichtigsten dieser Annahmen betreffen die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses. Ein sehr einflussreiches Informationsverarbeitungsmodell des menschlichen Gedächtnisses formulierten Richard Atkinson und Richard Shiffrin im Jahr 1968 – es enthält in seinen Grundzügen bereits die Bestandteile, die heute noch der kognitionspsychologischen Sichtweise des Lernens zugrundeliegen. Demnach beruht Lernen auf einem Informationsfluss zwischen drei strukturellen Komponenten des Gedächtnissystems:

1.  den modalitätsspezifischen sensorischen Registern (vor allem einem auditiven und einem visuellen, um die wichtigsten zu nennen), die für die reiznahe Erstverarbeitung und für die Informationsselektion verantwortlich sind,

2.  dem Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis, in dem Informationen durch bewusste kognitive Verarbeitungs- und Kontrollprozesse für das Langzeitbehalten vorbereitet werden, und

3.  dem Langzeitgedächtnis, das der überdauernden Speicherung und Konsolidierung der neu erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten dient.

Im Langzeitgedächtnis, so die Modellannahme, ist neben dem Faktenwissen auch das Wissen über die Abläufe einfacher und komplexer motorischer Fertigkeiten überdauernd gespeichert, sowie die Erinnerung an persönliche Erfahrungen, und zwar:

•  das Faktenwissen im semantischen Teilsystem,

•  das Wissen über Bewegungs- und Handlungsabläufe im prozeduralen Teilsystem und

•  das persönliche Erinnerungs- und Erfahrungswissen im episodischen Teilsystem des Langzeitgedächtnisses.

Uneinig waren und sind sich die Wissenschaftler darüber, in welchem Format das überdauernde Wissen im Langzeitgedächtnis wohl repräsentiert ist. Weitgehend einig ist man sich aber in der Annahme, dass beim Lernen neue Wissensstrukturen und neue Fertigkeiten unter Nutzung und durch Veränderung bereits bestehender Strukturen aufgebaut und erworben werden. Beim Lernen kommt es demnach zu einer fortwährenden Umgestaltung des bereits vorhandenen Wissens und Könnens – eine Sichtweise übrigens, die die kognitionspsychologische (Lernen als Informationsverarbeitung) mit der konstruktivistischen Auffassung über das Lernen teilt. Weitgehend einig ist man auch darüber, dass sich der Wissensabruf aus dem Langzeitgedächtnis nicht einfach als Auffinden eines dort abgelegten Wissenselements beschreiben lässt, sondern als eine Rekonstruktion von Wissen, also als Wieder- und Neuzusammensetzen des schon einmal Gelernten.

Zurück zum Informationsfluss durch die drei Gedächtnisspeicher: Schon sehr früh, nämlich in der Phase der Informationsselektion, bedarf es für das absichtliche und zielgerichtete Lernen der gezielten Aufmerksamkeitszuwendung. In der Phase der Informationsorganisation werden die in den Arbeitsspeicher transferierten Informationen reduktiv verdichtet – das ist notwendig, weil die funktionale Kapazität des Arbeitsspeichers begrenzt ist. In der parallel verlaufenden Integrationsphase werden die neuen Wissenselemente oder Teilfertigkeiten mit den im Langzeitgedächtnis bereits vorhandenen elaborativ verknüpft. Lernen gelingt, wenn diese drei Phasen erfolgreich durchlaufen werden. Kompetente Lerner zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch strategische Maßnahmen, sogenannte Lernstrategien, Kontrolle über die kognitiven Prozesse des Selegierens, Organisierens und Integrierens von Informationen gewinnen.

Modell: Lernen als Informationsverarbeitung

Richard Mayer (1992) hat ein einfaches Modell der mehrstufigen Informationsverarbeitung skizziert, das in der Darstellung die strukturellen mit den prozessualen Komponenten des Gedächtnisses anschaulich verbindet. Weil als Ansatzpunkte pädagogisch-psychologischer Interventionen vor allem die kognitiven Prozesse angesehen werden, nennt man das Modell mit Bezugnahme auf die Prozesse des Selegierens, Organisierens und Integrierens das SOI-Modell ( Abb. 2).

Abb. 2: Modell der mehrstufigen Informationsverarbeitung (Mayer, 1992, S. 408).

Michael Pressley, John Borkowski und Wolfgang Schneider (1989) fassten Ende der 1980er-Jahre im GIV-Modell der Guten Informations-Verarbeitung zusammen, was nach damaligem Kenntnisstand zum erfolgreichen Lernen gehörte:

•  dass das Arbeitsgedächtnis effizient genutzt wird,

•  dass geeignete (kognitive) Lernstrategien eingesetzt werden,

•  dass das eigene Lernverhalten (metakognitiv) geplant und überwacht wird,

•  dass lernförderliche motivationale Dispositionen und Überzeugungen vorhanden sind, und

•  dass ein reichhaltiges und gut organisiertes Weltwissen bereits vorhanden ist.

Zusammengenommen sind das sicherlich die wichtigsten individuellen Voraussetzungen guter Informationsverarbeitung. Es kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu:

•  dass die notwendige Willenskraft vorhanden ist, um Lernhandlungen, Kognitionen und lernbegleitende Emotionen selbst regulieren zu können.

Und die Übung?

Übung spielt beim Lernen zweifellos eine wichtige Rolle. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen werden Informationen besser behalten, wenn sie häufiger dargeboten und wahrgenommen sowie häufiger memoriert werden. Atkinson und Shiffrin (1968) waren sogar der Meinung, dass das Ausmaß des Behaltens eine direkte Funktion der Intensität des aufrechterhaltenden Wiederholens im Kurzzeitgedächtnis sei. Auch in Alan Baddeleys Konzept des Arbeitsgedächtnisses spielt diese Vorstellung eine Rolle (Baddeley, 1986). Neben dem aufrechterhaltenden Memorieren ist das elaborierende (anreichernde) Wiederholen von großer Bedeutung für das Einprägen neuer Informationen. Zum anderen wird durch Übung das bereits Gelernte gefestigt und automatisiert, wenn nämlich das neue Wissen und Können mehrfach durchgearbeitet und wiederholt wird. Aus der laborexperimentellen Lernforschung ist bekannt, dass das wiederholte Aufsagen verbaler Inhalte und das wiederholte Ausführen motorischer Tätigkeiten zu den wirksamsten Einprägungshilfen gehören.

Interessant ist, dass der Erwerb von Fertigkeiten und Kenntnissen zwar von der für das Lernen aufgewendeten (Übungs-)Zeit abhängt, es aber durchaus einen Unterschied macht, wie man die für das Lernen aufgewendete Zeit verteilt. Hermann Ebbinghaus hat den positiven Effekt der verteilten Übung schon am Ende des 19. Jahrhunderts beim Auswendiglernen von Wort- bzw. Silbenlisten im Selbstversuch entdeckt. Alan Baddeley hat diesen Effekt in einer empirischen Studie am Beispiel des Erwerbs einer manuellen Fertigkeit (Maschinenschreiben) in den 1970er-Jahren bestätigen können (Baddeley & Longman, 1978). Katherine Rawson und Walter Kintsch (2005) replizierten in einer Stichprobe von Studentinnen und Studenten, die wissenschaftliche Texte lesen und behalten sollten, diesen Befund für das Lernen aus Texten. Vor allem für das längerfristige Behalten, so die Erkenntnis der Wissenschaftler, ist das verteilte Lernen wirksamer als das massierte. Im Wesentlichen besagt der Effekt der verteilten Übung, dass es sinnvoller ist, die insgesamt aufgewendete Lernzeit auf unterschiedliche Zeitintervalle zu verteilen und dazwischen Pausen einzulegen, als sie in einem einzigen Zeitblock zu bündeln. Konkrete Empfehlungen, wie groß die Zeitabstände zwischen diesen Intervallen sein sollten, lassen sich aus den Studien allerdings nicht ableiten.

Übung ist notwendig, weil durch das wiederholende Üben die neu gelernten Kenntnisse und Fertigkeiten automatisiert werden. Am Beispiel des verstehenden Lesens lässt sich das gut illustrieren: Ein im Lesen noch ungeübter Schüler erliest einen neuen Text nur langsam und stockend. Buchstaben für Buchstaben wird er zunächst in Laute transformieren, aus den zusammengezogenen Lauten und Silben Sinneinheiten (Wörter), aus den einzelnen Wörtern noch größere Sinneinheiten (Sätze) konstruieren. Bei der begrenzten Kapazität des Arbeitsspeichers – hier ist vor allem die phonologische Schleife gefordert, von der später noch ausführlich die Rede sein wird – kann der ungeübte Leser anfangs nur mühsam, wenn überhaupt, zu höheren Verstehensleistungen auf der Satz- und Textebene vordringen. Deshalb dürfen die Sätze und Texte anfangs nicht zu lang sein und nicht zu viele unbekannte Wörter enthalten. Mit anderen Worten: So lange die Prozesse der Worterkennung noch so viele Verarbeitungsressourcen beanspruchen, kommen die höheren Verstehensprozesse auf der Satz- und Textebene zu kurz. Erst wenn die basalen Dekodierprozesse auf der Wortebene durch vorangegangenes Üben und Wiederholen weitgehend automatisiert vonstattengehen – viele Wörter also direkt erkannt und nicht mehr lautierend erlesen werden müssen –, werden die notwendigen Ressourcen für das verstehende, sinnentnehmende Lesen frei.

Übung allein genügt aber nicht, weil es Grenzen der Übungseffizienz gibt. Das wird vor allem deutlich, wenn es um den Erwerb einer besonderen bereichsspezifischen Expertise geht. Natürlich haben herausragende Experten, sei es im Sport, in der Musik, in einem Handwerk oder in den Wissenschaften, auf dem Weg zu ihrer Expertise viel Zeit mit dem angeleiteten, später selbstständigen Einüben von Fertigkeiten verbracht. Dennoch kann nicht jeder von uns in jedem Bereich allein durch Übung zum Experten werden. Individuelle, teils dispositional-angeborene, teils in der intensiven Nutzung früher Lerngelegenheiten begründete Unterschiede zwischen den Lernerinnen und Lernern beeinflussen ebenso das spätere Leistungsvermögen, wie die investierte Anstrengung und die Übungszeit. Wichtig ist allerdings in der Tat, dass dem Wiederholen und Üben am Ende eines jeden Lernprozesses die notwendige Bedeutung und die dafür benötigte Zeit eingeräumt werden. Am Ende – und nicht zu Beginn des Lernens! Denn das Auswendiglernen und Üben darf erst nach dem Verstehen stattfinden – sonst wird behalten, was zuvor nicht verstanden wurde.

Macht Lernen intelligent?

Lernen hat auch mit Intelligenz zu tun, aber was genau? Ist Intelligenz nichts anderes als das Ausmaß der angeborenen Lernfähigkeit eines Individuums, oder wird man erst durch Lernen intelligent? Aljoscha Neubauer und Elsbeth Stern haben zwei spannende Bücher über Lernen und Intelligenz geschrieben. Intelligente Menschen, so schlussfolgern sie, können leichter, besser und schneller Wissen in komplexen Inhaltsbereichen erwerben, weil sie ihr Arbeitsgedächtnis effizienter nutzen, und weil sie Informationen schneller verarbeiten. Aber auch weniger Intelligente können, wenn sie einen größeren Aufwand betreiben, sehr gute Lernleistungen erbringen. Vor allem bei den kumulativen Lernprozessen, wie sie beim schulischen Lernen die Regel sind, ist eines nämlich noch wichtiger als die allgemeine Intelligenz: die Reichhaltigkeit und die Strukturiertheit des bereichsspezifischen Vorwissens (Neubauer & Stern, 2007; Stern & Neubauer, 2013).

Intelligenz verändert sich. Die (intraindividuellen) Entwicklungsverläufe haben mit Lernen, aber auch mit der Entwicklung und Reifung des Gehirns zu tun. Kinder, später auch Erwachsene ein- und derselben Altersstufe, unterscheiden sich aber auch untereinander (interindividuell) in ihrer Intelligenzausprägung. Die gebräuchlichen Intelligenztests sind so konstruiert, dass sie diese Unterschiede unter Zugrundelegung einer Normalverteilungsannahme abbilden. Wie bei anderen Personenmerkmalen auch, sind die Intelligenzunterschiede teilweise genetisch bedingt, teilweise gehen sie auf Lernerfahrungen zurück. Zusätzlich spielen komplexe Gen-Umwelt-Interaktionen eine Rolle. So etwa, wenn sich die aufgrund ihrer genetischen Ausstattung intelligenteren Kinder eher in intellektuell stimulierenden Lernumgebungen aufhalten (und davon zusätzlich profitieren), weil ihre Eltern, die auch intelligenter sind, solche Umwelten eher bereitstellen.

Intelligenz ist beides: als Lernfähigkeit eine wichtige Voraussetzung für künftiges Lernen und als intellektuelle Kompetenz, neuartige Aufgaben und Probleme mit Hilfe des Denkens zu lösen, das Ergebnis komplexer Lern- und Entwicklungsprozesse in mehr oder weniger anregenden schulischen und außerschulischen Lernumwelten. Vom Anbeginn seiner Entstehungsgeschichte hatte das psychologisch-psychometrische Konstrukt der Intelligenz, wie auch die Methoden ihrer Erfassung, sehr viel mit Schule und Schulleistungen (und mit Lernschwierigkeiten) zu tun (Rost, 2013). Die Franzosen Alfred Binet und Theodore Simon haben Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag des Pariser Unterrichtsministeriums den ersten Intelligenztest überhaupt entwickelt, um schwachbegabte von normalbegabten Kindern zu unterscheiden.

1.2       Kumulative Lernprozesse

Nahezu alle schulischen Leistungen sind das Ergebnis kumulativer, d. h. aufeinander aufbauender Lernprozesse. Auf den kanadischen Psychologen Robert Gagné (1973) geht die Vorstellung zurück, dass jeder Lernzuwachs in einer spezifischen Wissensdomäne auf dem Vorhandensein notwendiger Vorkenntnisse beruhe, die ihrerseits wiederum auf dafür notwendigen Vorkenntnissen aufbauten. Bereichsspezifisches Vorwissen oder bereits vorhandene Fertigkeiten erleichtern demnach ganz entscheidend den Aufbau und Erwerb nachfolgenden Wissens und Könnens. Gagné hat für das unterrichtliche Vorgehen daraus den Schluss gezogen, dass die zu vermittelnden Lernstoffe, wo möglich, im Sinne hierarchisch aufeinander aufbauender Voraussetzungsrelationen zu gliedern seien und in entsprechender Abfolge darzubieten. Auf diese Weise könne man den Lerntransfer, d. h. die Lernübertragung zwischen den einander voraussetzenden Teilkomponenten des Wissens und Könnens, maximieren. So wie Gagné haben auch andere Unterrichtsforscher in den 1960er- und 1970er-Jahren die sachlogische Hierarchie und Systematik des zu vermittelnden Wissens zur Grundlage einer kleinschrittig-expliziten Wissensdarbietung im Schulunterricht gemacht. David Ausubel, John Carroll und Benjamin Bloom sind die bekanntesten von ihnen (Ausubel, 1974; Bloom, 1976; Carroll, 1963).

Das Gegenteil des kumulativen ist das additive Lernen im isolierten Lernakt. Auch beim additiven Lernen kommt es zu einem Zuwachs des Wissens und Könnens, einem Zuwachs allerdings, der weniger gut in das bereits vorhandene Wissen und Können integriert ist – gelegentlich wird deshalb auch von unverbundenen »Wissensinseln« gesprochen, um die Isoliertheit und die mangelnde Vernetzung der additiv erworbenen Wissenselemente auszudrücken. Beim additiven Lernen werden neue Wissenselemente dem Vorhandenen nur hinzugefügt, beim kumulativen Lernen werden die neuen Lerninhalte multipel in bereits vorhandenen Wissensfundamenten verankert und systematisch mit dem bereits vorhandenen Wissen verknüpft. Unverbundene Wissensinseln, so die Vermutung, fallen dem Vergessen leichter und schneller anheim als die über Voraussetzungs- und andere Beziehungsrelationen mehrfach verknüpften Lerninhalte.

Es ist Aufgabe der Schule, den Aufbau systematischen, miteinander verknüpften Wissens gezielt zu fördern. Wo dies gelingt, wird anstelle des isolierten, trägen und nicht transferierbaren Inselwissens nachhaltig und flexibel anwendbares Wissen und Können erworben. Vor allem für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Lerninhalte – auf diesen Bereich bezogen sich auch die meisten Beispiele Robert Gagnés – lassen sich die Voraussetzungsrelationen und die Verknüpfungen der Wissensinhalte leicht in curricular-didaktische Abfolgen übersetzen.

Soweit die Theorie des kumulativen Lernens. Wie gut hält sie der empirischen Überprüfung stand? In zwei ganz unterschiedlichen Forschungstraditionen hat man sich mit der Bedeutung des bereichsspezifischen Vorwissens für das Lernen befasst. Zum einen in der vornehmlich (quasi-)experimentellen Expertiseforschung der Kognitiven Psychologie mit ihrer Blütezeit in den 1970er- und 1980er-Jahren. Vor allem die Arbeiten von Robert Glaser, Michelene Chi, Anders Ericsson und anderen Forschern aus der Pittsburgher Gruppe sind hier zu nennen. Dort hat man untersucht, auf welche Weise das bereits vorhandene Wissen den Erwerb neuen Wissens eigentlich erleichtert. Zum anderen wurden in der Pädagogischen Psychologie im Quer- und Längsschnitt korrelationsanalytische Studien zur Vorhersage schulischer Leistungen durchgeführt, die zunächst dargestellt werden. Auch in diesen Studien ging es um die Frage, wie ein bereits vorhandener Vorkenntnisstand die nachfolgenden Lernprozesse beeinflusst.

Bedingungen schulischer Leistungen

Aktuelle schulische Leistungen lassen sich am besten durch vorausgegangene schulische Leistungen vorhersagen. So lässt sich Gagnés