Digitaler Nihilismus - Geert Lovink - E-Book

Digitaler Nihilismus E-Book

Geert Lovink

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Beschreibung

Facebook, Twitter, Instagram, Tinder und Co. - all das Klicken, Scrollen, Wischen und Liken lässt uns am Ende sinnentleert zurück. Traurigkeit ist zum Designproblem geworden, die Höhen und Tiefen der Melancholie sind längst in den Social-Media-Plattformen kodiert. Geert Lovink bietet eine kritische Analyse der aktuellen Kontroversen, die sich um Social Media, Fake News, toxische virale Meme und Online-Sucht drehen. Er zeigt: Die Suche nach einem großen Entwurf darf als gescheitert gelten - und hat zu einer entpolitisierten Internetforschung geführt, die weder radikale Kritik übt noch echte Alternativen aufzeigt. Wir sind aufgerufen, die künstliche Intimität von Social Media, Messenger-Apps und Selfies zu akzeptieren, denn Langeweile ist die erste Stufe der Überwindung des »Plattform-Nihilismus«. Und dann, wenn der Nebel sich lichtet, können wir daran arbeiten, die Datenfresser-Industrien in ihrem Kern zu treffen.

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Seitenzahl: 332

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Geert Lovink, niederländischer Medientheoretiker, Internetaktivist und Netzkritiker, ist Leiter des Institute of Network Cultures an der Hochschule von Amsterdam (networkcultures.org) und Professor für Medientheorie an der European Graduate School. Er gilt als einer der Begründer der Netzkritik. Projekte, an denen er beteiligt war, befassten sich unter anderem mit der dominanten Rolle von Suchmaschinen in unserem Alltag, mit Social-Media-Monopolen und ihren Alternativen und einer kritischen Inblicknahme der Produktion und Distribution von Online-Videos. Geert Lovink hat zahlreiche Bücher zu Kritik und Kultur der Neuen Medien publiziert.

GEERT LOVINK

Digitaler Nihilismus

Thesen zur dunklen Seite der Plattformen

Übersetzung aus dem Englischen von Petra Ilyes und Andreas Kallfelz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Übersetzung: Petra Ilyes

Übersetzung Kapitel 2, 3 und 4: Andreas Kallfelz

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Rosa Aue, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-4975-8

PDF-ISBN 978-3-8394-4975-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-4975-8

https://doi.org/10.14361/9783839449752

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung

Einleitung: Die Gesellschaft des Sozialen

Kapitel 1: Die Überwindung des desillusionierten Internets

Kapitel 2: Die Ideologie der Sozialen Medien

Kapitel 3: Epidemie der Ablenkung – Von der digitalen Utopie zur Entzauberung des technosozialen Raums

Kapitel 4: Programmierte Traurigkeit

Sad by Design: Fallstudien

Keine Melancholie für dich

So Sad Today

Trauer über den Kommunikationsverlust

Kapitel 5: Medien Netzwerk Plattform – Drei Architekturen

Die ewige Wiederkehr der Medienfrage

Netzwerke als Systeme Zweiter Ordnung

Der neue Kommunikationsstandard: Plattformen

Benjamin Brattons The Stack

Von Social-Media-Alternativen zu Stacktivismus

Kapitel 6: Von Registrierung zu Auslöschung – Über technische Gewalt

Von Registrierung zu Auslöschung

Leben ist Sabotage

Italienische und deutsche Visionen von Autonomie

IBM und die restlose Erfassung

Die Soziologie der Listen

Datenkommunismus nach der Digitalisierung

Kapitel 7: Chronischer Narzissmus – Technologien des minimalen Selfies

Kapitel 8: Maskendesign – Ästhetik des Gesichtslosen

Kapitel 9: Meme als Strategie – Europäische Ursprünge und Debatten

Die Memesis-Debatte von 1996

Tanz den Techno Viking

They Say We Can’t-Mem

Kommunikationsdesign und memetische Temporalität von Memefest

Meme als dialektische Bilder

Kapitel 10: Vor dem Aufbau der Avantgarde der Allmende

Von der Allmende zur Infrastruktur

Wer wird die Allmende bauen?

Bibliographie

Danksagung

Drei Jahre sind vergangen seit ich das Manuskript zu »Social Media Abyss« (in der deutschen Übersetzung: »Im Bann der Plattformen«) eingereicht habe. Zurückblickend ist diese Zeit durch den Brexit, Trump und Cambridge Analytica geprägt. Entsprechungen zu Wikileaks, Anonymous und Snowden (vielleicht mit der Ausnahme des kanadischen Whistleblowers Chris Wylie) fehlen. Es gab eine Menge ideologischer Regression und »multi-polarer« Stagnation, beschleunigt durch einen boomenden Aktienmarkt, Immobilienmarktexzesse, einen anhaltenden Krieg in Syrien und einen real existierenden Klimawandel. Während die »Social-Media-Debatte« den Mainstream erreichte, waren Widerstand und Alternativen so gut wie abwesend – mit der Ausnahme von Alt-Right.

Mit der Intensivierung des öffentlichen Diskurses um »Verhaltensmodifikation« und eine »alles durchdringende Überwachung« bewegte ich mich vom bevorzugten Panoramaformat meiner früheren Bücher weg. Die niederländische Kulturfinanzierung für neue Projekte an unserem Institute of Network Cultures versiegte (vor allem aufgrund einer neuen Trennung zwischen Bildung/Forschung und dem kulturellen Sektor). Die veränderte finanzielle Situation zwang uns in einen Überlebensmodus und zu Tätigkeiten außerhalb, weshalb ich an dieser Stelle nicht über die Aktivitäten unseres Netzwerkes berichte (auch wenn MoneyLab und verschiedene digitale Veröffentlichungsexperimente trotz der Schließung des PublishingLab 2018 fortbestehen).

Für die sorgfältige Übersetzung aus dem Englischen danke ich Petra Ilyes sowie Andreas Kallfelz. Dem transcript Verlag danke ich für sein editorisches Engagement und die kompetente Betreuung dieser Publikation.

Meine Berliner Dialoge im Laufe der Jahre mit Pit Schultz, Michael Seemann, Volker Grassmuck, Andreas Kallfelz, Stefan Heidenreich und Alexander Karschnia waren entscheidend für mein intellektuelles Wohl. Mein Dank gilt Steven Shapiro, Ana Peraica, Marc Tuters, Mieke Gerritzen, Franco Berardi, Letizia Chiappini, Daniel de Zeeuw, Ellen Rutten, Alex Foti, Isabel de Maurissens, Morris Kolman, Marie Lechner, Florian Cramer, Katharina Teichgräber, Michael Dieter, Tripta Chandola, Tatjana Seitz und Donatella della Ratta für ihre inspirierenden Kommentare zu verschiedenen Kapiteln.

Am Institute of Network Cultures (INC) möchte ich mich besonders bei Miriam Rasch, Inte Gloerich und Patricia de Vries für ihre detaillierten Rückmeldungen und ihre Unterstützung bedanken. Dank auch an Silvio Lorusso, Leonieke van Dipten und Margreet Riphagen, die das INC 2018 verlassen haben, und an Barbara Dubbeldam und Kelly Mostert, die neu hinzugekommen sind. Das gesamte Team ist verantwortlich für die Arbeit dieses inspirierenden, kritischen Forschungszentrums.

Besonderen Dank an Ned Rossiter für seine Freundschaft und sein engagiertes Feedback im Laufe der Jahre – und an Linda und Riddim DJ »System of Chaos« Kazimir, denen ich das Buch widme, für ihre fantastische Unterstützung.

Amsterdam, im Sommer 2019

Geert Lovink

Einleitung: Die Gesellschaft des Sozialen

»Es gibt 87.146 Meinungsführer auf LinkedIn.« – »Echte Maler malen Dinge nicht, wie sie sind … Sie malen sie so, wie sie sie fühlen.« Vincent van Gogh über gefälschte Kunst – Unload that Truck of Dislikes! (Alt-Left-Slogan) – »Web: Sie benutzen einen Adblocker. Ich: Ich stelle fest, dass Sie 32 Tracking-Dienste einsetzen.« Matt Weagle – »Neue Sicherheiten gehen mit neuen Angreifbarkeiten einher.« Lulzsec – »Truth is for suckers, Johnny Boy.« Being John Malkovich – Unser Fokus ist die Herausforderung der Kosmotechnik, die uns in direkten Kontakt mit unseren Sklaven bringt (mit Dank an Yuk Hui) – »Ich habe immer gewusst, dass ich ein guter Schriftsteller bin, aber ich dachte, ich würde Gedichte oder einen Roman schreiben, nicht die Emails, bei denen ich gelandet bin.« OH – »Das Handy und die Zuhandenheit des Virtuellen« (aus einem deutschen Aufsatz) – »Eine meiner bevorzugten Selbstbestrafungstechniken ist, Flugpreise nach Bali zu googlen.« Addie Wagenknecht – »Es geht nicht um Größe, sondern um Ausmaß.« Barnett Newman – »Warnung: Leute könnten dich nach dem hier nicht mehr mögen.« – »Smart is the new smoking.« Johanna Sjerpstra – »Bitte like unseren DNS-Giftangriff hier.« – »HEUTE BIN ICH ALLEIN ZUHAUSE! *starrt auf das Handy*« – »Das Internet ist wie der Wilde Westen. Wir dachten, wir wären die Cowboys, aber es stellte sich heraus, dass wir die Büffel sind.« AnthroPunk

Willkommen in der Neuen Normalität. Soziale Medien formatieren unser Innenleben um. Wo Plattform und Individuum nicht mehr voneinander zu trennen sind, wird Social Networking identisch mit dem »Sozialen« selbst. Nicht länger neugierig, was »das nächste Web« bringen wird, chatten wir über die Informationen, die wir an mageren Tagen abweiden dürfen. Die Zuversicht gegenüber der Zukunft ist zerbrochen – der saisonabhängige Hype ist auf eine stagnierende Zukunft reduziert. Stattdessen hat ein neuer Realismus eingesetzt, wie Evgeny Morozov tweetet: »Der Technikoptimismus der 1990er Jahre behauptete, dass Netzwerke Hierarchien schwächen oder ersetzen würden. Tatsächlich jedoch verstärken Netzwerke Hierarchien und machen sie weniger sichtbar.«1 Wie kann man eine korrekte Phänomenologie asynchroner Verbindungen und ihrer kulturellen Effekte schreiben, eine schonungslose Kritik an allem formulieren, das fest in den sozialen Körper des Netzwerks verdrahtet ist, ohne auf das zu schauen, was sich im Inneren abspielt? Könnten wir, statt eine überlegene Pose einzunehmen und ein Urteil von oben zu fällen, eine amoralische Position gegenüber der heutigen intensiven Nutzung von Sozialen Medien einnehmen und uns in die oberflächliche Zeit unserer verlorenen Seelen vertiefen? Lasst uns zu einer Reise in diesen Third Space aufbrechen, der das »Technosoziale« genannt wird.

Unser geliebtes Internet kann als eine »inverse Hydra mit hundert Arschlöchern« beschrieben werden,2 aber wir lieben es dennoch: es ist unser Brain Junk. Obwohl Kontroversen um Soziale Medien in den Mainstream getreten sind, ist das Ergebnis gleich null. Wir registrieren kaum den uns umgebenden Online-Rausch, wir können nicht einmal so tun, als würde uns die zynische Werbelogik kümmern.3 Skandale um Soziale Medien erscheinen uns, wie Franz Kafka einst schrieb, »wie ein Weg im Herbst: kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Blättern«. Von Verhaltensmanipulation zu Fake News, alles was wir lesen dreht sich um die bankrotte Glaubwürdigkeit des Silicon Valley. Doch sehr wenige haben ernste Folgen erlitten. Beweise sind offenbar nicht genug. Schmutz wird aufgewühlt, es gibt Datenlecks und Whistleblower – aber nichts verändert sich. Keine der unerledigten Fragen wird gelöst. Ein »Internexit«-Referendum ist nicht in Sicht. Egal wie viele Hacks und Privatsphärenverletzungen stattfinden, egal wie viele Bewusstseinskampagnen und öffentliche Debatten organisiert werden, es herrscht überwältigende Gleichgültigkeit.

Schaut auf die rasche Rückkehr zur Normalität nach der Demonstration zum Skandal um Cambridge Analytica im März 2018. Die Zentralisierung der Infrastruktur und Dienste, die uns so viel Bequemlichkeit bringen, wird als unumgänglich, sogar als unvermeidbar betrachtet.4 Warum gibt es denn nicht schon machbare Alternativen zu den großen Plattformen? Eines Tages werden wir den Digitalen Thermidor verstehen – doch dieses »eines Tages« wird niemals eintreffen.

Was ist das Schicksal von Kritik ohne Folgen? Wie Franco Berardi mir erklärte, als ich ihn in Bologna besuchte, um ein Buchprojekt zu besprechen, ist es eine Wahrheit, die uns traurig macht. Uns fehlt es an Vorbildern und Helden. Stattdessen haben wir paranoide Wahrheitssucher. Da unsere Reaktionen auf Alt-Right und systemische Gewalt so vorhersagbar und machtlos sind, schlug Franco vor, wir sollten zu sprechen aufhören. Keine Antworten. Sich weigern, eine Nachricht zu werden. Nicht die Trolle füttern. Die Technotraurigkeit, wie sie in diesem Buch erklärt wird, ist endlos, bodenlos. Wie können wir die Beschleunigung der Entfremdung umdrehen, eine Bewegung, die zwangsläufig im Traum endet? Statt pathetischer, leerer Gesten könnten wir eine neue Taktik des Schweigens anwenden und die befreite Energie und Ressourcen auf die Schaffung temporärer Räume der Reflexion richten.

In seinem 2018 erschienenen Buch Anti-Social Media: How Facebook Disconnects Us and Undermines Democracy kämpft Siva Vaidhyanathan mit der wachsenden Kluft zwischen guten Absichten und der hässlichen Realität. »Das schmerzliche Paradox von Facebook ist, dass das ernsthafte Engagement des Unternehmens für eine bessere Welt ruchlose Parteien einlädt, es zu kapern, um Hass und Verwirrung zu verbreiten. Zuckerbergs fester Glaube an seine Expertise, Autorität und ethischen Kern machten ihn und sein Unternehmen blind gegenüber dem Schaden, den es ermöglichte und verursachte. Wenn Facebook weniger davon besessen gewesen wäre, eine bessere Welt zu schaffen, hätte es vermeiden können, zu den Kräften beizutragen, die die Welt schlimmer gemacht haben.«5 Mit der Digitalisierung der Welt wird die real existierende Stagnation sichtbar. Wie Gramsci sagte, »das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.«

Auf Papier sehen unsere globalen Herausforderungen riesig aus; auf dem Bildschirm schaffen sie es nicht, sich in unseren Alltag zu übersetzen. Statt den titanischen Kräften ins Gesicht zu sehen, sind wir betäubt, bittersüß, zerstreut, schrullig und manchmal geradezu deprimiert. Sollten wir die intensive Nutzung Sozialer Medien als Bewältigungsstrategie verstehen? Unsere Ära ist zutiefst unheroisch, unmythologisch, geradezu flach. Letztlich sind Mythen Geschichten, die Zeit brauchen, um ein breites Publikum zu erreichen, die Spannung zu steigern und ihr Drama zu realisieren. Nein, unsere Zeit ist markiert von Mikrointeressen des fragilen Selbst. Alle haben ihre Gründe, sich abzuschließen und abzuschirmen. Während Konzerne mit ihrer befremdlichen Infrastruktur über Nacht zu kolossalen Strukturen anwachsen können, hinkt unser Verständnis von der Welt hinterher oder schrumpft sogar.

Das beschränkte Verständnis begrenzt unsere Fähigkeit, das Problem zu formulieren. Wir sind nicht krank.6 Alarmismus hat sich abgenutzt. Wenn wir den Plattformkapitalismus zerschlagen wollen, wird eine politische Wirtschaftsanalyse nicht ausreichen. Wie können wir eine kollektive Identität, eine Selbsthermeneutik konstruieren, mit der wir leben können? Ja, wie würde denn ein Selbstbild aussehen, das über maschinenlesbare Interpretationen hinausgeht? Das Selfie als Maske? »Ich finde das Bild von dir mit der Sonnenbrille toll, auf dem du stolz lächelst.« Unfähig, ein Problem zu benennen oder eine Antwort zu artikulieren, erscheint die Verlockung von »Swipes«, »Updates« und »Likes« unwiderstehlicher als je zuvor. Nutzer als Opfer des Silicon Valley zu porträtieren, erweist sich als nicht überzeugend. Mit Slavoj Žižek können wir sagen, dass wir zwar wissen, dass Soziale Medien übel sind, wir sie aber weiterhin nutzen.

»Was unsere Situation so bedrohlich macht, ist das alles durchdringende Gefühl der Blockierung. Es gibt keinen klaren Ausweg und die herrschende Elite verliert zunehmend ihre Fähigkeit zur Herrschaft.«7 Unsere Umwelt und ihre funktionierenden Bedingungen haben sich dramatisch gewandelt und doch hinkt unser Verständnis solchen Dynamiken hinterher. »Der Stacheldraht bleibt unsichtbar«, wie Evgeny Morozov es einmal ausdrückte.

Das Problem muss noch identifiziert werden: es gibt kein »Soziales« mehr außerhalb der Sozialen Medien. In italienischem Slang ist der Begriff Soziale Medien bereits abgekürzt worden: »Bist du auf den Sozialen?« Das ist unsere Gesellschaft des Sozialen.8 Wir starren eine Black Box an und staunen über die Dürftigkeit des heutigen Innenlebens. Dieses Buch will den toten Punkt überwinden, indem es versucht, eine radikale Kritik zu integrieren. Es sucht nach Alternativen, indem es eine subjektive Begegnung mit der Multitude und ihren intimen Abhängigkeiten von ihren mobilen Geräten arrangiert.

Die Internetkultur zeigt Anzeichen einer existentiellen Midlife-Crisis. Wie Julia Kristeva einmal schrieb: »Es gibt nichts Traurigeres als einen toten Gott.« Die Neuheit ist vergangen, die Innovation hat sich verlangsamt, die Nutzerbasis hat sich stabilisiert. Im Gegensatz zur Nostalgie der 1990er können wir nicht wirklich sagen, dass es je eine glückliche Zeit für junge Erwachsene gegeben hat. Wie in den meisten nicht-westlichen Kulturen heiratete man in jungem Alter mit all den Einschränkungen, die damit einhergingen. Wer wagt noch, von »neuen« Medien zu sprechen? Nur unschuldige Outsider erwähnen gelegentlich diesen vielversprechenden Begriff. Wenn überhaupt, scheint es eine zunehmende Rückwärtsgewandtheit zu geben, eine Sehnsucht nach früheren, einfacheren Tagen. Was sollen wir von dieser romantischen Nostalgie für die Anfänge der Virtuellen Realität, für die plumpen frühen Web-Interfaces und die net.art-Pioniere halten? Bei Claude Lévi-Strauss findet sich eine mögliche Erklärung: »Der Mensch schafft wahrhaft Großes nur zu Anfang; in welchem Bereich auch immer hat nur der erste Schritt uneingeschränkte Gültigkeit. Die folgenden Schritte zaudern, bereuen und versuchen, das veraltete Territorium Stück für Stück zurückzugewinnen.«9

Dieser Band, der sechste meiner Internetchroniken,10 kämpft mit einer digitalen Sphäre, die nicht nur mit dem Alltag verschmilzt, sondern zunehmend in ihn eindringt, unsere Fähigkeiten einschnürt und unsere Realitäten einschränkt. Dieses Buch beschäftigt sich mit Fragen von Sozialen Medien wie dem Selfie-Kult, der Meme-Politik, der Internetabhängigkeit und dem neuen narzisstischen Standardverhalten. Zwei Jahrzehnte nach der »Dotcom Mania« sollten wir in der Lage sein, die Frage zu beantworten, wie die »soziale Ordnung« der Sozialen Medien funktioniert – aber wir sind es nicht. Die »Soziale-Medien-Frage« mag omnipräsent sein, doch wenn wir uns gegen »[hier Ihre vom Design vorgesehene Pathologie einsetzen]« wehren wollen, müssen wir zunächst verstehen, wie sie im Innersten funktionieren, Operationen, die hier mittels des Vektors von Zerstreuung und Traurigkeit entwirrt werden. Den Mechanismen der Traurigkeit folgt ein zweiter Teil, der mehr auf Theorie und Strategie fokussiert, vom Konzept der »Plattform« bis zur Unsichtbarkeit »technischer Gewalt«. Der dritte Teil befasst sich mit der Selfie-Manie, ihrem Gegenstück, dem »Masken-Design« von Anonymous, und damit, ob progressive Meme überhaupt möglich sind. Der letzte Teil untersucht die Datengewinnungsindustrien und Überwachungssysteme, die Massenverhalten in eine neue Form sozialer Entfremdung lenken. Das Konzept der »Allmende« (commons) läuft diesen Logiken zuwider und ich schließe mit der Frage, ob es einen möglichen Ausweg bietet.

Was geschieht, wenn Theorie sich nicht mehr als großer Entwurf präsentiert und als Nachgedanke konsumiert wird? Das Internet ist kein Feld, in dem öffentliche Intellektuelle eine nennenswerte Rolle spielen. Anders als in früheren Zeiten haben intellektuelle Ambitionen bescheiden zu sein. Bevor wir Alternativen entwerfen und regulatorische Prinzipien formulieren, ist es unerlässlich, die Psychologie von Social-Media-Plattformen zu verstehen. Digitaler Nihilismus kombiniert radikale Internetkritik und eine Konfrontation mit allzu realen mentalen Hochs und Tiefs der Nutzer Sozialer Medien. Clifford Geertz stellt fest, dass »das Verständnis der Kultur eines Volkes […] die Normalität der Menschen offen[legt], ohne ihre Besonderheit zu reduzieren.« Geertz zufolge »dringt die Kulturforschung in den Körper des Objekts selbst ein, d.h. wir beginnen mit unseren eigenen Interpretationen dessen, was unsere Informanten wollen oder meinen zu wollen, und systematisieren diese dann«11. Dieses Buch nimmt Geertz’ Herausforderung an und analysiert Aspekte heutiger Onlinekulturen, die viele Nutzer erleben, von Gefühlen der Leere, Benommenheit und Gleichgültigkeit bis hin zu den widersprüchlichen Haltungen gegenüber dem Selfie und der regressiven Politik von Memen.

Wir scheinen desillusioniert von unseren de-facto-Onlinekulturen. Der britische Think Tank Nesta fasste unsere aktuelle Situation gut zusammen. »Während die dunkle Seite des Internets zunehmend sichtbar wird, wächst die öffentliche Forderung nach verantwortlicheren, demokratischeren, menschlicheren Alternativen.« Doch die Forscher sind auch ehrlich genug, zu erkennen, dass es nicht leicht sein wird, die existierenden Dynamiken herauszufordern. Wir sind in einer Sackgasse. »Das Internet sieht sich von zwei Narrativen dominiert: dem amerikanischen Narrativ, in dem Macht in den Händen nur weniger großer Akteure konzentriert ist, und dem chinesischen Narrativ, in dem staatliche Überwachung das Leitmotiv ist. Zwischen Big Tech und staatlicher Kontrolle, was heißt das für die Bürger?« Die Nutzer Sozialer Medien als »Bürger« zu bezeichnen, ist offensichtlich eine politische Formulierung, der übliche Jargon innerhalb von NGO-Kreisen, die von der »globalen Zivilgesellschaft« sprechen. Ist dies unsere einzige Option, um der Verbraucheridentität zu entkommen? Nesta legt zwei strategische Fragen auf den Tisch: Könnte Europa eine Alternative entwickeln, die die Bürger wieder zurück auf den Fahrersitz holt? Und sollte Europa, statt zu versuchen, das nächste Google zu bauen, auf den Bau dezentralisierter Infrastrukturen fokussieren, die das nächste Google verhindern würden?

Der aktuelle Zustand des Sozialen sollte kaum überraschen. Technische Medien sind seit langem sozial antagonistisch und unterhöhlen und isolieren eher, als dass sie verbinden. In Futurability markiert Franco Berardi die späten 1970er Jahre als Grenzlinie, als den Moment, in dem soziales Bewusstsein und Techno-Revolution auseinanderliefen. An diesem Punkt »betraten wir das Zeitalter der Techno-Barbarei: Innovation brachte Prekarisierung hervor, Reichtum schuf Massenelend, Solidarität wurde zu Wettbewerb, das vernetzte Gehirn wurde vom sozialen Körper entkoppelt und die Macht des Wissens losgelöst von sozialer Wohlfahrt.«12 Wie Bernard Stiegler feststellte, hat sich die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung ständig weiter erhöht und »die Entfernung zwischen technischen Systemen und sozialer Organisation dramatisch vergrößert, so dass Verhandlung unmöglich und ihre Scheidung letztlich unvermeidlich scheint«13.

Dem Invisible Committee zufolge arbeiten Soziale Medien »in Richtung der wirklichen Isolation aller. Indem sie Körper immobilisieren. Indem sie alle in ihre Bedeutungsblasen absondern. Das Machtspiel kybernetischer Herrschaft ist, allen den Eindruck zu vermitteln, dass sie Zugriff auf die ganze Welt haben, während sie tatsächlich immer mehr abgetrennt sind, dass sie immer mehr ›Freunde‹ haben, während sie immer autistischer sind.«14

Was sollen wir mit den Sozialen Medien tun? Die letzten Jahre wurden von einer tiefen Verwirrung beherrscht. Für einige scheint Nichtnutzung ein Rohrkrepierer zu sein. Evgeny Morozov zum Beispiel tweetet: »Ich will nicht, dass #Zuckerberg zurücktritt. Und wir müssen Facebook nicht löschen (#deleteFacebook): Das ist so realistisch wie Straßen zu löschen (#deleteroads). Was wir brauchen, ist ein New Deal für #data. #Europamussaufwachen!« Und, obwohl Siva Vaidhyanathan Facebook heftig kritisiert, weigert er sich, seinen Account zu löschen. Für andere ist Nichtnutzung die richtige Antwort. Ein früher Vorschlag wäre Ulises Mejias Off the Network, Disrupting the Digital World von 2013, ein Buch, das von sich behauptete, »die Netzwerklogik umzudenken«.15 Erst kürzlich hat in diesem Zusammenhang die Bewegung für das »Recht auf Vergessen« Form angenommen.16 Oder nehmen wir die Zeitschrift Disconnect, eine Anthologie von Kommentaren, Prosa und Dichtung, die nur gelesen werden kann, wenn man sein WiFi ausschaltet.17 Neben (widerwilliger) Nutzung oder Nichtnutzung könnte ein dritter Ansatz unter Zweckentfremdung verbucht werden. In einem Artikel in The Guardian mit dem Titel »Wie man aus dem Internet verschwindet« stellt Simon Parkin (online) Lesern eine Anleitung dazu bereit, wie man ein digitaler Geist wird. »Sachen zu löschen ist völlig nutzlos«, versichert er. Sein Rat? Legt Fake-Accounts an und leitet Suchanfragen fehl. Seine Schlussfolgerung steht im Kontrast zur Überschrift: verschwinden ist so gut wie unmöglich. Die Möglichkeiten sind auf das Reputation Management beschränkt, entweder akribisch von einem selbst– oder, für diejenigen mit Geld, von spezialisieren Unternehmen durchgeführt.

Was, wenn es zu spät ist, um Google, Twitter, Instagram oder WhatsApp zu verlassen, auch wenn wir noch so digital entgiftet in anderen Lebensbereichen werden? Machen wir uns nichts vor, in den Augen des Silicon Valley sind das jährliche »Offline-Burning-Man-Erlebnis« jenseits des Netzes und die unzähligen täglichen Online-Facebook-Besuche keine Gegensätze, sondern komplementäre Arrangements. Ergo sind wir sowohl offline als auch online.18 Kritik befindet sich in einem ähnlichen Widerspruch. Die Welt habe seine Argumente eingeholt, gibt Andrew Keen in seinem 2018 erschienenen Buch How to Fix the Future, Staying Human in the Digital Age zu. Keen fragt, wie wir unsere Handlungsmacht über die Technik wieder behaupten können. Wir sitzen schließlich nicht auf dem Rücksitz. Keen lehnt den Schutz der Privatsphäre ab, eine Haltung, die von vielen als eurozentrisch und bourgeois betrachtet wird. Stattdessen fordert er Datenintegrität. Die Pfriemelei mit Daten muss aufhören. »Überwachung ist schlussendlich kein gutes Geschäftsmodell. Und wenn es etwas gibt, das uns die Geschichte lehrt, dann ist es, dass schlechte Geschäftsmodelle irgendwann sterben.«19 Er führt John Borthwicks »fünf Geschosse, um die Zukunft zu reparieren« an: »offene Technologieplattformen, Anti-Trust-Regulierung, verantwortliches Design, das den Menschen in den Mittelpunkt rückt, Erhalt des öffentlichen Raums und ein neues soziales Sicherheitssystem.«20

Doch die Handlungsmacht, die zur Implementierung dieser Reparaturen benötigt wird, scheint gelähmt. Internetkritiker haben begrenzte Macht. Unfähig zu netzwerken oder dazu, den »alten Medien« zu entkommen, werden sie in die Schublade des individuellen Experten oder Kommentators gesteckt und von jedem breiteren öffentlichen Dialog darüber, was zu tun ist, ausgeschlossen. Akademiker scheinen ebenfalls eher machtlos. Getrieben von einer Peer-Review- und Ranking-Logik veröffentlichen sie innerhalb des abgeschlossenen Universums der Fachzeitschriften mit begrenztem Zugriff und noch begrenzterem Impakt. Obwohl Forscher sicherlich wertvolle Beweise zur wirtschaftlichen Macht von Social-Media-Plattformen sammeln, bleibt Technologiekritik im Allgemeinen vereinzelt – unfähig, die eigene Praxis zu institutionalisieren und kohäsive Denkschulen zu schaffen.

Seit kurzem beobachten wir die Zunahme von »Peak Data«. Wie bei der Ölförderung ist dies der theoretische Punkt, an dem die maximale Rate an (Daten-)Extraktion erreicht ist. Aus der Nutzerperspektive werden Daten nicht intentional produziert. Das Sammeln von Daten ist vielmehr allgegenwärtig, ein ständig präsentes Verfahren, getriggert durch jede Bewegung, jeden Akt, jeden Klick oder Swipe. Aus der Unternehmensperspektive scheint Datenspeicherung grenzenlos, Kapazität ist keine knappe Ressource mehr. Auch wenn die meisten (KI-)Experten etwas anderes behaupten, hat der Big Data-Hype seinen Gipfel erreicht. Gartner zum Beispiel hat Big Data bereits 2015 aus seinem Hype-Zyklus entlassen. Peak Data ist der Moment, wenn die Internetgiganten schon alles über dich wissen, der Moment, wenn zusätzliche Details das Gleichgewicht kippen und ihre Datenregimes (langsam aber sicher) implodieren. Das ist der Wendepunkt. Danach – und entgegen den Evangelisten der ewigen Wahrheit – hat jeder Wert das Potential, die gesamte Sammlung statt wertvoller weniger wertvoll zu machen. Der Wert zusätzlicher Daten verringert sich auf den Nullpunkt und läuft Gefahr, die Profile in einer Weise zu »verschmutzen«, dass sie sich auflösen.

Das Datenphantom des Selbst beginnt zu bröckeln. Das System produziert solche Mengen an Daten, dass entweder alle zu Verdächtigen werden – oder aber niemand. Wesentliche Details werden nicht mehr erkannt. Die Informationsproduktion, einst definiert als die Produktion sinnvoller Unterschiede, dreht sich um und geht gegen Null: Systemüberlastung. Die »Daten-Goldmine« wird plötzlich digitaler Müll. Unternehmen wie Google sind sich der Gefahren solcher hegelianischer Wenden bewusst und beginnen mit der Rettung wertvoller Datenvermögen.21 Es lohnt sich, anzumerken, dass eine solche Strategieverschiebung nicht aus einem Volksaufstand gegen »sozialen Raubbau« auf Grund der Übernahme durch intelligente Maschinen erfolgt. Nein, es handelt sich um eine strikt interne, auf den Selbsterhalt ausgerichtete Initiative. In der neuen Android-Version ist keine der Tracking-Funktionalitäten entfernt worden. Google sammelt einfach weniger Daten – für sein eigenes Wohl.

Plattformen sputen sich, Peak Data mit der Ankündigung neuer Maßnahmen zu begegnen. Zum ersten Mal wird Googles Android-Betriebssystem auf Zurückhaltung und Reduzierung basieren: »Statt dir alle Arten aufzuzeigen, wie du dein Telefon-Betriebssystem nutzen kannst, um mehr zu machen, erstellt es Features, die dir helfen, es weniger zu nutzen.«22 Das vorgestellte Dashboard teilt dir mit, »wie oft, wann und wie lange du jede App auf deinem Telefon nutzt. Es wird dir auch erlauben, dir selbst Grenzen zu setzen.« Man denke an den Einsatz von Quantified-Self-Dashboards wie Fitbit für die Social-Media-Apps deines Telefons, die es einfach machen, Mitteilungen abzuschalten. »Zur Schlafenszeit schaltet dein Telefon in den Do-Not-Disturb-Modus.«

Andere Produkte ziehen nach. Google Search zum Beispiel antwortet auf Peak Data mit einem neuen Plan, dir »nützlichere Werbung« zu zeigen. In ähnlicher Weise beinhaltet das neue Update für Googles YouTube-App eine Einstellung, die Nutzer daran erinnert, eine »Pause zu machen«, wenn sie Videos schauen.23 Und parallel dazu hat Google eine »Wellbeing«-Kampagne lanciert. Der Slogan? »Großartige Technik sollte das Leben verbessern, nicht davon ablenken.«24 Welche Werte werden betont, wenn wir zu einem höheren Entwicklungsstadium fortschreiten? Optimiertes Multitasking? Diese neue Verschiebung zur Selbstbeschränkung ist wirklich merkwürdig. Wird Google letztlich den Echtzeitaustausch entschleunigen, um Reflexion einzubauen? Was, wenn Optimierung nur dadurch erreicht werden kann, dass man sich gegen die herrschende (und tödliche) Kultur ausspricht? Warum sollte »Gut-genutzte-Zeit-Technik« dir dabei helfen, abzuschalten?25

Solche Reaktionen auf Peak Daten sind präventiv, sie sollen Katastrophen verhindern. Angesichts der Gefahr der Entropie, die in der (nahen) Zukunft droht, sind Datensammlungen kein Selbstzweck mehr. Für Tech-Titanen kann der nächste Schritt sein, Wert aus den gesammelten Daten herauszupressen, ohne die Nutzer zu verärgern. Dieser Plan zur Profilrettung wird den Nutzern als Beitrag zu ihrem »digitalen Wohl« verkauft, als eine Geste der »Corporate Responsibility«. Wir könnten das als »Backlash by Design« bezeichnen. Google hat bereits jede mögliche Unzufriedenheit vorweggenommen. In einer die »künftige Straftat« vorwegnehmenden Minority Report-Geste überspringt es die Phase des Widerstands und richtet die hegelianische Synthese vorbereitend ein. Wir haben die Kultur der Aneignung überwunden. Silicon Valley weiß bereits, dass wir uns nach Ruhe sehnen. Wie werden Nutzer auf den Standardmoralismus solcher Veränderungen antworten? Gegen solche Gutmensch-Gesten sollten wir eine eigene kollektive Implementierung von »Datenverhinderungs-Prinzipien« erwägen.

Angesichts dieser Bedingungen benötigen wir Internetforschung mehr denn je. Und dennoch, irgendwie ist es ihr nicht gelungen, als ernstzunehmende Disziplin anerkannt und finanziert zu werden. In Anlehnung an Habermas können wir vom »unvollendeten Projekt« der Digitalisierung als letztem Stadium der Modernisierung sprechen, das die Post-68er-Bildungselite kategorisch ausgeblendet hat, überzeugt, dass der Technik-Buzz, der die Internet-Tools hervor gebracht hat, sie nicht betreffen wird. Während wir weiterhin Film, Theater und Literatur studieren können, gilt das nicht für das Internet, das immer wieder scheiterte, sich als eigene akademische Disziplin mit ihren eigenen BA-, MA- und PhD-Studiengängen zu etablieren. Um dieses Versäumnis zu verteidigen, beten die Institutionen immer wieder denselben Satz vor, dass es »noch zu früh ist« – als ob nicht bereits genügend Leute das Internet nutzen. Wo ist unser »Kampf der Fakultäten«? Weltweit scheint niemand bereit zu sein, den ersten (wackeligen, aber wichtigen) Schritt zu machen. Künstlerische Neue-Medien-Studiengänge wurden stillschweigend geschlossen, wurden in harmlose, nach innen gerichtete akademische Unternehmungen wie »Digital Humanities« überführt oder wurden der »Rundfunk-Logik« von Medien und Kommunikation untergeordnet. In Folge haben die »weißen männlichen Geeks« aus den Ingenieurwissenschaften und die »Möchtegern-Risikokapitalisten« aus den Business Schools kulturelle Herrschaft erlangt – und replizieren endlos Silicon-Valley-Modelle, während sich diejenigen mit einem Hintergrund in den Sozial-, Geistes- und Kunstwissenschaften oder im Design beiseitegeschoben sehen.

Die italienische Arabistin und Mit-Aktivistin Donatella della Ratta, die Digital Cultures an der John Cabot Universität in Rom lehrt, fügt ein weiteres Element hinzu: »Das Online-Subjekt ist so tief verstrickt, dass es weder das Handy noch das Internet sieht. Die junge Generation interessiert sich nicht für das technische Gerät selbst, sie hat es einfach gelöscht, vergessen. Meine Studenten langweilen sich, wenn ich über Technik selbst spreche. Sie möchten über Empfindungen sprechen, ihren Körper und ihre Gefühle … Sie nehmen Technik ganz einfach nicht mehr wahr.« Was sind die Folgen dieser sich rasch verbreitenden »Technikmüdigkeit« zu einem Zeitpunkt, an dem Kontroversen endlich die traditionelle politische Arena erreicht haben?

Wenn Sozialität sich erschöpft, werden Entscheidungen zu Verpflichtung und Verbindungen durcheinander gebracht. »Man muss wissen, für was man sich verpflichtet, und sich dann verpflichten. Selbst wenn es bedeutet, dass man sich Feinde macht. Oder auch Freunde. Sobald wir wissen, was wir wollen, sind wir nicht länger allein, die Welt bevölkert sich wieder. Überall sind Verbündete, Nähe und eine endlose Abstufung möglicher Freundschaften.«26 Dieser ambitionierte, dezisionistische Traum des Invisible Commitee steht in Kontrast zu Mark Fishers Beobachtung eine Mangels an Sanktionen an Universitäten, der mit einem Mangel an Selbstmotivation bei Studierenden einhergeht. »Typischerweise reagieren sie auf diese Freiheit nicht, indem sie Projekte verfolgen, sondern indem sie in hedonistische Mattigkeit (oder Lustlosigkeit) verfallen: die sanfte Narkose, die ›Comfort Food‹-Vergessenheit von PlayStation, die ganze Nacht Fernsehen und Marihuana.« Es heißt, dass die mit permanentem Information Overload konfrontierten Millennials »allzu selbstsicher« seien und höflich ablehnen, »mehr zu lernen«. Stattdessen werden sie angezogen von »Dingen, die wichtiger sind«. Das Konzept eines »sozialen Inneren« ist kein Paradox mehr.

Bevor wir uns jetzt kopfüber in Debatten über Alternativen und Strategien stürzen, hält es Digitaler Nihilismus für notwendig, dieses eher vage, undefinierte Gebiet der Entscheidungsmüdigkeit und Ego-Auszehrung zu erkunden. Diesmal gibt es keine Reiseberichte, keine verschwenderischen Berichte über Initiativen des Institute of Network Cultures wie Unlike Us, Video Vortex und MoneyLab. Der Markt erfordert, dass ich Online-Verzweiflung in ihrer attraktivsten Form in den Blick nehme und präsentiere. In früheren Aufsätzen habe ich über nihilistisches Blogging und die Psychopathologie des Information Overload geschrieben. Dieses Buch nimmt die Fäden wieder auf und untersucht besonders das Zusammenspiel zwischen unseren seelischen Befindlichkeiten und der technischen Verfassung. Hier untersuche ich soziale Wirklichkeit aus mentalen Perspektiven wie Zerstreuung und Traurigkeit. Der Buchtitel kann gelesen werden als eine Triangulation aus »Addiction by Design«, der bekannten Studie von Natasha Dow Schüll über Las Vegas’ Spielautomaten, »Distraction by Design« von James Williams und »Privacy by Design« von Ann Cavoukian.

Und nicht zuletzt, schauen wir uns den Begriff des »Design« im englischen Originaltitel an. Ist ein anderes Design möglich?27 Es ist eine Sache, die managementgeleitete »Malen nach Zahlen«-Innovation des »Design Thinking« zu dekonstruieren. Welche Rolle kann Design (und Ästhetik im Allgemeinen) noch spielen, um die aktuelle Stagnation zu überwinden? Ein möglicher Weg wäre, real existierende Designkulturen kritisch einzuschätzen, bevor wir uns in die Bevorzugung eines radikalen Designkonzepts stürzen.

Wir können nicht einfach ein Leben leben, wir sind dazu verdammt, es zu designen. Benettons farbenfrohe Fotografien der globalen Misere aus den 1990er Jahren wurden unsere tägliche Wirklichkeit. Slums werden von Designerkleidung und -schuhen überflutet. »Versace-Flüchtlinge« sind keine Seltenheit mehr. Neid und Wettbewerb haben uns in Subjekte einer ästhetischen Verschwörung verwandelt, der man nicht entkommen kann. Die Programmatik McLuhans »Lasst uns Abfallhalden verschönern« ist heute globale Wirklichkeit. Die Zeiten sind vorbei, in denen man annahm, dass das Bauhaus-Design die Alltagsrealität der Arbeiterklasse verbessern würde. Wir sind weit von Design in unterstützender Funktion entfernt. Design ist nicht länger eine pädagogische Disziplin, darauf gerichtet, den Geschmack der »Normalos« anzuheben, um ihrem Alltagsleben Sinn und Zweck zu geben. Wir streben nach dem Lifestyle der Reichen und Berühmten. Das Gewöhnliche reicht nicht mehr, das Mantra ist weiter und nach oben. Wir, die 99 %, beanspruchen den exklusiven Lebensstil der 1 %. Das ist das Ziel von Planet H&M.

Ebenso wie zerrissen und gebleicht produzierte Jeans sind all unsere ersehnten Konsumgüter bereits gebraucht, angefasst, verändert, gemischt, geliked und geteilt, bevor wir sie kaufen. Wir sind vorkonsumiert. Mit dem radikalen Vertrieb von funky Lifestyles geht der Verlust der Semiologie einher. Es gibt keine Kontrolle über Bedeutung mehr. Brands können alles Mögliche für unterschiedliche Leute bedeuten. Das ist die Prekarisierung des Zeichens.

Unsere wundervolle Unordnung ist kein Zufall und kein tragisches Zeichen von nie endendem Verfall mehr, sondern ein integraler Teil des allgemeinen Layouts. Die heutige Designkultur ist Ausdruck unseres stark prototypischen Lebens. Wir sind die Erlebnis-Junkies, wir möchten auch noch den letzten Genuss des Lebens herauspressen, um alles auszuschöpfen. Und doch ist es bemerkenswert, wie wenig transformativen Fortschritt wir gemacht haben. Wir wollen so viel und machen so wenig. Unser prekärer Zustand ist dauerhaft geworden.

Wenn wir uns die »Sci-Fi-Prekarisierung« vor Augen halten – jene merkwürdige zukünftige Techno-Realität – kommen als erste Assoziation die konformistischen 1950er Jahre in den Sinn. Sicher, wir wünschten, in einem Blade Runner-Film zu leben, doch unsere Wirklichkeit ähnelt eher einem Roman von Victor Hugo oder einem Douglas Sirk-Film, in dem das Hyperreale die Herrschaft übernimmt. Langeweile, Ängste und Verzweiflung sind der traurige Standard. Das ist »real existierende Prekarisierung«, vergleichbar mit dem »real existierenden Sozialismus« am Ende des Kalten Krieges. Beiläufige Prekarisierung, wo immer man hinschaut. Der Terror der Bequemlichkeit treibt uns in den Wahnsinn. Die Plattitüde all dessen wird kontrastiert und beschleunigt durch den gelegentlich modernistischen IKEA-Stil, der uns, theoretisch jedenfalls, aufmuntern sollte, aber letztlich nur eine innere Revolte gegen diese angefertigte Realität provoziert. Was macht man mit Arbeitern, die außer ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen nichts zu verlieren haben? Wir können nicht auf Godot warten, nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde. Egal wie verzweifelt die Situation, ein Aufstand wird nicht stattfinden. Bestenfalls besuchen wir ein Festival, erweitern Geist und Körper – und sinken dann ins Leere zurück.

Sobald die Stille abgeklungen ist, treten wir aus unseren arty-geeky-akademischen Echo Chambers. Die aktuelle politische Lage erfordert, dass wir von »techno-solutionist«-Vorschlägen Abstand nehmen und stattdessen diese angeblich engen »Internetfragen« in größere Kontexte migrieren, z.B. Prekarisierung, postkoloniale Technologiepolitik, Geschlechterfragen, Klimawandel oder alternativen Urbanismus. Trotz allem Potential für Fatalismus und Introspektion sollten wir uns an Mark Fishers Slogan halten: »Pessimismus im Gefühl, Optimismus im Handeln.«28 Als Hommage an diesen Anspruch schließt meine Untersuchung der kritischen Internetkulturen mit einem Beitrag zur »Commons-Debatte«. Wie Noam Chomsky sagte: »Es gibt eine Menge, was wir tun können, um den Verlauf der Geschichte hin zu Gerechtigkeit zu lenken, um einen Ausdruck zu verwenden, den Martin Luther King berühmt machte. Der einfache Weg ist, der Verzweiflung zu erliegen, und dafür zu sorgen, dass das Schlimmste passieren wird. Der vernünftige und mutige Weg ist, sich denjenigen anzuschließen, die für eine bessere Welt arbeiten, und die reichlichen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen.«29

1Evgeny Morozov, Twitter, 11. Juli 2017.

2Laurie Penny, »Who Does She Think She Is?« https://longreads.com/2018/03/28/who-does-she-think-she-is/

3Mara Einstein: »Wenn uns ein Freund sagt, dass er den letzten Jurassic Park-Film gut fand, besteht kein Grund, ihm nicht zu glauben. Leider glauben wir heute auch, dass es bei der Anhäufung von Freunden auf Facebook oder Followern auf Twitter um das Teilen mit unseren Mitmenschen ginge. Das tut es nicht: es geht um die Schaffung eines Werbepublikums. Unsere Beziehungen werden also Mittel für die Ermöglichung von Markttransaktionen, oder in der Sprache des Marktes: sie wurden monetarisiert.« (Black Ops Advertising, OR Books, New York, 2016, S. 8).

4http://highscalability.com/blog/2018/8/22/what-do-you-believe-now-that-you-didnt-five-years-ago-centra.html

5Siva Vaidhyanathan, Anti-Social Media, Oxford University Press, New York, 2018, S. 10.

6In seinem Beitrag »Debunking the Biggest Myths About ›Technology Addiction‹« (https://undark.org/article/technology-addiction-myths/) behauptet Christopher Ferguson, dass, im Gegensatz zu anderen Forschungen, die »moralische Panik« verbreiten, Technologie keine Droge und keine Geisteskrankheit sei und nicht zu Selbstmord führe. Dies sind statistische Kriege zwischen Psychologen, die in den Vorannahmen ihrer eigenen empirischen Realität gefangen sind, erzeugt durch ihre Forschungsparameter. Ich möchte hier betonen, dass man sich davor hüten sollte, Alltagssprache zu medikalisieren.

7Slavoj Žižek, The Year of Living Dangerously, London, Verso, 2012, S. 127.

8Die Gesellschaft des Sozialen ist nicht nur ein unterhaltsamer Bezug auf Guy Debords Gesellschaft des Spektakels, sondern eine Herausforderung der traditionellen Soziologie, in der die Debatte um Soziale Medien nahezu fehlt. Das Konzept kann auch als eine Erweiterung eines früheren Aufsatzes »What is the Social in Social Media?«von 2012 aufgefasst werden (deutsch erschienen in: Im Bann der Plattformen, transcript, 2017).

9Claude Levi-Strauss, Traurige Tropen. Frankfurt a.M. 1978, S. 405.

10Frühere Bände: Dark Fiber (Leske und Budrich, 2004), My First Recession (V2/NAi, 2003), Zero Comments (transcript, 2008), Das halbwegs Soziale (transcript 2012), Im Bann der Plattformen (transcript, 2017).

11Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, Basic Books, 1973, S. 15.

12Franco Berardi, Futurability, The Age of Impotence and the Horizon of Possibility, Verso, London/New York, 2017, S. 172.

13Bernard Stiegler, Technics and Time, 2, Disorientation, Stanford University Press, Stanford, 2009, S. 3.

14Now: The Invisible Committee, Semiotext(e), South Pasadena, 2017, S. 48.

15Ulises Mejias, Off the Network, Disrupting the Digital World, University of Minnesota Press, Minneapolis, 2013.

16Für einen Überblick siehe Pepita Hesselberth, »Discourses on dysconnectivity and the right to disconnect«, New Media & Society, 2018, Vol. 20(50), S. 1994-2019.

17»Wir finden, dass man sich vom Internet abwenden können sollte, ohne die Möglichkeiten einer digitalen Plattform opfern zu müssen. Durch den Zwang, die Internetverbindung physisch zu unterbinden, stellt The Disconnect eine Dynamik her, die erlaubt, sich im eigenen Tempo an digitalen Inhalten zu erfreuen.« https://thedisconnect.co/

182011 argumentierte Nathan Jurgenson, wir sollten die dualistische Annahme aufgeben, online und offline seien voneinander getrennt. »Soziale Medien haben vollauf mit der physischen Welt zu tun und unser Offline-Leben ist zunehmend beeinflusst durch Soziale Medien, selbst wenn wir nicht eingeloggt sind. Wir müssen die digitale dualistische Befangenheit abschütteln, denn unsere Facebook-Seiten sind tatsächlich das ›wirkliche Leben‹ und unser Offline-Dasein ist zunehmend virtuell.« https://thesocietypages.org/cyborgology/2011/09/13/digital-dualism-and-the-fallacy-of-web-objectivity/

19Andrew Keen, How to Fix the Future, Atlantic Books, London, 2018, S. 192.

20Ebd., S. 41.

21Geschrieben als Antwort auf und inspiriert von Bernard Stiegler, Automatic Society, Volume 1: The Future of Work, Polity Press, Cambridge, 2016, S. 6-18.

22Dieter Bohn, »Google’s Most Ambitious Update in Years«, The Verge, 8. Mai 2018, https://www.theverge.com/2018/5/8/17327302/android-p-update-new-features-changes-video-google-io-2018. Dank an Michael Dieter für seinen Beitrag zur Recherche.

23https://www.androidauthority.com/youtube-take-a-break-864783/

24Slogan der Website https://www.wellbeing.google.com

25Simone Stolzoff, »Technology’s ›Time Well Spent‹ movement has lost its meaning«, https://qz.com/1347231/technologys-time-well-spent-movement-has-lost-its-meaning/

26Now: The Invisible Committee, Semiotext(e), South Pasadena, 2017, S. 16.

27»Is another design possible?« Titel der Doktorarbeit von Maja van der Velden, Universität Bergen, 2009 (www.globalagenda.org/).

28Mark Fisher, »Optimism of the Act«, www.k-punk.org/optimism-of-the-act

29»The growth of right-wing forces is ominous«, Interview mit Noam Chomsky, 22. Juni 2018, https://www.frontline.in/politics/the-growth-of-rightwing-forces-is-ominous/article10108703.ece

Kapitel 1: Die Überwindung des desillusionierten Internets

Brandslogan: Properly Distracted, Totally ExtractedTM – »Künstliche Intelligenz ist nicht die Antwort auf organisierte Dummheit.« Johan Sjerpstra – »Bitte senden Sie mir keine Email, außer Sie bezahlen dafür.« Molly Soda – »Der Spätkapitalismus ist wie dein Liebesleben: durch einen Instagram-Filter betrachtet, sieht er sehr viel weniger trostlos aus.« Laurie Penny – »Fragt ihr euch, wie viele Leute, die die Überzeugung der Notwendigkeit freier Meinungsäußerung und einer rationalen Debatte darüber vertreten, Trolls blockiert und still gestellt haben?« Nick Srnicek – »Das Postfaktische ist für den digitalen Kapitalismus, was Umweltverschmutzung für den fossilen Kapitalismus ist – ein Nebenprodukt des Betriebs.« Evgeny Morozov – »Ich habe die Troll-Armee gesehen und wir sind sie selbst.« Erin Gün Sirer

Die Entzauberung des Internets ist eine Tatsache.1 Die Aufklärung bringt uns keine Befreiung, sondern Depression. Die fantastische Aura, die unsere geliebten Apps, Blogs und Sozialen Medien einst umgab, ist verblasst. Swipen, Sharen und Liken fühlen sich an wie seelenlose Routinen, leere Gesten. Wir haben damit begonnen, uns zu entfreunden und entfollowen, doch wir können es uns nicht leisten, unsere Accounts zu löschen, weil dies sozialem Selbstmord gleichkäme. Wenn »Wahrheit ist, was am häufigsten aufgerufen wird«, wie Evgeny Morozov feststellt, dann ist ein allgemeiner Click-Streik die einzig verbleibende Option. Da dies nicht passiert, fühlen wir uns gefangen und trösten uns mit Memen.

Slavoj Žižek zufolge hat der Multi-Wahrheiten-Ansatz der Identitätspolitiken eine Kultur des Relativismus hervorgebracht.2 Lippmanns und Chomskys »Konsensfabrik« ist zum Stillstand gekommen. Wie Žižek in einem Interview mit einem britischen Fernsehsender erklärt, ist das Big Other verschwunden.3 Es gibt keinen BBC World Service mehr, die gemäßigte Radiostimme, die uns damals ausgeglichene Meinungen und verlässliche Informationen bot. Jede Information trägt den Verdacht des Selbstmarketing in sich, angefertigt von Public-Relations-Managern und Meinungsmachern – und von uns Nutzern selbst (wir sind unsere eigenen Marketing-Praktikanten). Was kollabiert, ist die Vorstellung von einem besseren Leben. Diejenigen, die protestieren, sind nicht die »Verdammten dieser Erde«, die rebellieren, weil sie nichts zu verlieren haben, sondern die stagnierende Mittelschicht und die »Young Urban Professionals«, die permanenter Prekarisierung gegenüberstehen.