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Geert Lovink

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Beschreibung

Wir sitzen alle In der Plattformfalle! Doomscrolling ist die neue Normalität des digitalisierten 24/7-Online-Lebens und scheinbar abhängig von großen Plattformen finden wir nicht mehr ins unbeschwerte Zeitalter dezentraler Netzwerke zurück: Zoom-Müdigkeit, Cancel Culture, Kryptokunst und psychische Regression bilden die zentralen Elemente einer allgemeinen Theorie der Plattformkultur. Geert Lovink zeigt auf, wie wir in dieser Kultur das Internet zu unseren Bedingungen zurückgewinnen können. Er zeichnet eine rückfallbeständige Geschichte vom Aufstieg von Plattformalternativen nach, die auf einem tiefen Verständnis des digitalen Abstiegs beruht.

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Seitenzahl: 306

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Geert Lovink ist Professor für Kunst und Netzwerkkulturen am Fachbereich Kunstgeschichte der Universiteit van Amsterdam. Der niederländische Medientheoretiker, Internetkritiker und Autor ist Gründer des Institute of Network Cultures in Amsterdam und hat zahlreiche Bücher zu Kritik und Kultur der Neuen Medien publiziert.

Geert Lovink

In der Plattformfalle

Plädoyer zur Rückeroberung des Internets

Übersetzung aus dem Englischen durch Petra Ilyes und Jennifer Sophia Theodor

Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch das Projekt EOSC Future.

The EOSC Future project is co-funded by the European Union Horizon Programme call INFRAEOSC-03-2020, Grant Agreement number 101017536

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld© Geert Lovink

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Korrektorat: Sven Kützemeier

Print-ISBN: 978-3-8376-6333-4

PDF-ISBN: 978-3-8394-6333-8

EPUB-ISBN: 978-3-7328-6333-4

Buchreihen-ISSN: 2702-8852

Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung

Einleitung: Phantome der Plattform oder die getrübte Aufklärung des Internets

Anatomie der Zoom-Müdigkeit

Requiem für das Netzwerk

Die Erschöpfung der vernetzten Psyche – Sondierung der Online-Hyper-Sensibilitäten

In der Plattformfalle – Anmerkungen zur vernetzten Regression

Minima Digitalia

Lösche dein Profil, nicht Menschen – Anmerkungen zur Cancel Culture

Anmerkungen zur Kryptokunst

Prinzipien des Stacktivismus

Schlussfolgerung: Die Rekonfiguration des Technosozialen

Bibliographie

Danksagung

Die drei Jahre seit der Veröffentlichung meines letzten Buchs, Digitaler Nihilismus, waren überschattet von der Pandemie. Alles in allem war dies eine Zeit ungenutzter Möglichkeiten. Tech-Giganten haben einen beispiellosen Zuwachs an Einnahmen, Gewinn und Macht erlebt. Staaten haben ihren digitalen Zugriff verschärft und diktieren die Bedingungen für Gesundheit und Freizügigkeit. Technikkritische Bewegungen haben es nicht geschafft, an politischer Schlagkraft zu gewinnen, was einmal mehr beweist, dass es auch in dieser »virtuellen« Arena wichtig ist, sich im wirklichen Leben zu treffen und zu verschwören, von Angesicht zu Angesicht. Während Angst und Paranoia explosionsartig zunehmen, macht sich der Mangel an echtem Dialog, an der Diskussion und am Entwerfen von Strategien massiv bemerkbar – trotz Zoom und Teams. Obwohl regelmäßige Skandale die dunkle Seite Sozialer Medien aufdecken, gab es keine grundlegenden Veränderungen. Die Nutzung des Internets hat einfach nur zugenommen. Es erscheint intellektuell verlockend, damit abzuschließen, doch keines dieser Probleme ist gelöst. Ich habe mich entschlossen, mich weiterhin mit diesem Dilemma auseinanderzusetzen, ihm nicht aus dem Weg zu gehen, und nicht auf großzügig finanzierte Themen wie Smart Cities, Künstliche Intelligenz, Big Data oder Virtuelle Realität (seit Neuestem als Metaverse vermarktet) umzuschwenken. Die gesellschaftlichen Kosten dafür, das Internetprojekt aufzugeben, werden hoch sein.

Seit 2004 bin ich am Institut für Netzkultur an der Hogeschool van Amsterdam, ein Ort, der meine Arbeit immer unterstützt hat. Während des Lockdowns 2020 vollzog sich ein Generationenwechsel. Es macht mich stolz, dass drei Mitglieder meines Produktionsteams in gute Jobs gewechselt sind: Patricia de Vries, Inte Gloerich und Miriam Rasch. Ich bin für die vielen Jahre der Zusammenarbeit mit ihnen sehr dankbar. Im Oktober 2020 konnte ich Sepp Eckenhaussen und Chloë Arkenbout als neue Mitglieder des INC-Kernteams willkommen heißen. Mein persönlicher Dank geht an John Longwalker, der die meisten Kapitel dieses Buchs gelesen und kommentiert hat. We Are Not Sick (http://www.wearenotsick.com) ist unsere Band, und mit großer Freude produzierten wir die Musiktheorie-Performance und das Album Sad By Design (das im September 2020 lanciert wurde, und daher mit den COVID-19-Restriktionen kollidierte).

Ich möchte Réka Kinga Papp und ihrem Eurozine-Team danken, die drei der Texte dieses Buchs ursprünglich in englischer Sprache veröffentlichten: The Network Psyche, Delete Your Profile und Zoom Fatigue. Requiem für das Netzwerk wurde zuerst 2020 in einer Publikation des Berliner Festivals Transmediale in deutscher Sprache veröffentlicht. Der Text profitierte von den Vorbereitungsdiskussionen mit dem Leiter Krystoffer Gansing und anderen Beitragenden. Die Zeitschrift TripleC veröffentlichte dank der Bemühungen von Christian Fuchs eine erste Version des Texts zu Stacktivism in englischer Sprache. Ich möchte auch all den Mitgliedern und dem Vorstand des MoneyLab-Netzwerks für ihre Beiträge zum Kryptokunst-Kapitel danken, besonders denjenigen, die die (virtuellen) Konferenzen in Siegen, Amsterdam, Ljubljana, Helsinki, Canberra/Hobart, Berlin und Wellington organisiert und dort vorgetragen haben. Inspiration für Online-Nachrichten kam von New Models, nettime, Hacker News, Rest of World, Cointelegraph und vom immer beunruhigenden Zerohedge.

Auch für dieses Buch waren meine Berliner Dialoge von zentraler Bedeutung, besonders mit Pit Schultz, Alexander Karschnia, Cade Diehm, Michael Seemann, Antonia Majaca, Stefan Heidenreich, Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski. Dank an all die »Chor«-Mitglieder, die meine Fragen so freundlich beantwortet haben. Ich möchte auch Franco Berardi, Mieke Gerritzen, Miriam Rasch, Tiziana Terranova, Florian Schneider und den MoneyLab-Mitgliedern Ela Kagel, Max Haiven, Jonathan Beller und Akseli Virtanen meine Dankbarkeit aussprechen. Weiter möchte ich dem Dekan des DMCI-Fachbereichs, Frank Kresin, für seine Unterstützung meiner Arbeit danken, ebenso wie allen, die am INC forschen, Praktika absolvieren und es unterstützen, u.a. Maisa Imamović, Jess Henderson, Gianmarco Cristofari und Silvio Lorusso zusammen mit Tommaso Campagna für technische Unterstützung.

Redaktionelle Unterstützung und Kommentare zu den Kapiteln erhielt ich von Tripta Chandola, Sepp Eckenhaussen, Michael Dieter, Donatella Della Ratta, Theo Ploeg und Nate Tkacz. Chloë Arkenbout und Luke Munn gingen das gesamte englische Manuskript mit mir durch. Für die Übersetzung aus dem Englischen danke ich Petra Ilyes. Dem transcript Verlag danke ich für sein editorisches Engagement und die kompetente Betreuung dieser Publikation. Besonders möchte ich meinem Freund Ned Rossiter in Sydney für seine unermüdliche Unterstützung bei der Entstehung dieses Buchs auf allen Ebenen danken, ebenso Linda und Kazimir (der währenddessen sein Abitur gemacht hat) für ihre tägliche Liebe und Unterstützung.

In der Plattformfalle ist ein Buch der Verzweiflung in Gedenken an Bernard Stiegler, der am 5. August 2020 verstarb, auf der anderen Seite des Forêt de Tronçais.

Amsterdam, Dezember 2021

Einleitung: Phantome der Plattform oder die getrübte Aufklärung des Internets

»Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat.« – Rosa Luxemburg / »Ich habe keine Theorie. Ich habe nur eine Geschichte zu erzählen.« – Elizabeth Freeman / »Neueste Studien zeigen, dass ich müde bin.« – So Sad Today / »Falsches Unbewusstsein ist das wahre Problem unserer Ära.« – BD Geoghegan / »Theorie ist die Antwort. Aber was ist die Frage?« – Johan Sjerpstra / »Das Internet ist in uns.« – Patricia Lockwood / »Hätte marxists.org eine schönere Website, hätte die Revolution schon längst stattgefunden.« – Space Cowboy / »Ich liebe den Geruch von widerspenstigen Memes am Morgen.« – Jamie King / »Auf Twitter beliebt zu sein, ist wie in einer psychiatrischen Klinik beliebt zu sein.« – Rotkill / »Ich mag deine positive Einstellung nicht.« – @ofterror.

Wir sitzen offenbar in der Falle. Während der Lockdown-Misere sind wir auf der Plattform hängen geblieben. Was geschieht, wenn dein Homeoffice sich wie ein Callcenter anfühlt, und du zu müde bist, um Facebook abzuschalten? »Wie kann man sein Telefon loswerden? Nur falsche Antworten.« Wir wollten die Pandemie nutzen, um uns auszuruhen und weiterzukommen. Das ist nicht gelungen. Die Bequemlichkeit des ewig Gleichen erwies sich als zu stark. Statt eine radikale Techno-Phantasie mit dem Ziel zu entwickeln, Alternativen hervorzubringen, wurden wir von Fake News, Cancel Culture und Cyber-Kriegsführung abgelenkt. Zum Doom-Scrolling verdammt, ertrugen wir eine endlose Bombardierung durch peinliche Memes, bizarre Verschwörungstheorien und Pandemie-Statistiken, inklusive der damit einhergehenden unvermeidlichen Flame-Wars. Zufall macht Spaß.

»Wir gaben unsere Machtlosigkeit zu – dass unser Leben unbeherrschbar geworden war.«1 Dieses Eingeständnis ist Schritt 1 der 12 Schritte von AA, und hier beginnt auch In der Plattformfalle. Da du und ich die Plattformabhängigkeit nicht überwinden können, kleben wir weiter an den alten Kanälen, wütend auf andere, weil wir uns nicht ändern können. In diesem siebten Band meiner Chroniken bleiben wir unruhig in dem, was Internet genannt wird, diagnostizieren unsere aktuelle Phase der Stagnation und fragen uns zugleich, wie wir wieder »loskommen« und die Plattformen entplattformisieren können.

Was geschieht mit der psycho-kulturellen Verfassung, wenn Nutzer:innen nirgendwohin können und in too-big-to-fail IT-Unternehmen gefangen sind? Unschön. Einige sind überzeugt, dass unser ständiger Groll, unsere Vorwürfe und unser Zorn einfach Teil der menschlichen Verfassung seien, vollkommen unabhängig von Form und Größe der Informationsökologie; andere (wie ich) sind dagegen überzeugt, dass wir die geistige Armut der Online-Milliarden ernst nehmen müssen. Wir können Depression, Wut und Verzweiflung nicht länger ignorieren und so tun, als ob sie über Nacht verschwinden werden, nachdem wir eine andere App installiert haben. Sucht ist real, tief im Körper eingeschlossen. Gewohnheiten müssen entwöhnt werden, Bewusstsein muss sich erweitern. Und all das während Godot nur dasitzt, auf den Bildschirm starrt und in der Lobby darauf wartet, dass die Politik sich ändert. Was aber niemals geschieht. Der dann folgende Rückfall und Fatalismus verwundern nicht. »Was machst du, wenn deine Welt zusammenbricht?«, fragt Anna Tsing am Anfang von The Mushroom at the End of the World.2 Es scheint so, als hätten wir die Antwort: Wir bleiben auf der Plattform.

Wo stehen wir heute?

Where are we now, um es mit David Bowie zu sagen. Mit dieser Frage beginnt der niederländische Schriftsteller Geert Mak jede Episode seiner Fernsehserien. Und das ist eine Frage, die in meinem Kopf widerhallt. Wie Mak hoffe ich, die Plattformen auf frischer Tat zu ertappen. Es gelingt mir nicht, mich an die besorgniserregenden Umstände zu erinnern, als ich Ende 2018 das Manuskript zu Sad by Design abgeschlossen hatte. Glücklicherweise fasst es Richard Seymour an meiner Stelle in Twittering Machine zusammen. 2019 schrieb er: »Der Techno-Utopismus kam umgekehrt zurück. Die Vorteile der Anonymität wurden die Grundlage für Trolling, ritualisierten Sadismus, bösartigen Frauenhass, Rassismus und alt-right-Kulturen. Kreative Autonomie wurde zu ›Fake News‹ und zu einer neuen Form von Infotainment. Multitudes wurden zu Lynch-Mobs, die oft gegenseitig aufeinander losgingen. Diktatoren und andere Vertreter autoritärer Systeme lernten, Twitter zu nutzen, und meisterten seine verführerischen Sprachspiele. Dies tat auch der sogenannte Islamische Staat, dessen geschickte Online-Medien-Professionals einen beißenden und hyper-scharfen Ton treffen. Die Vereinigten Staaten wählten den ersten ›Twitter-Präsidenten‹. Cyber-Idealismus wandelte sich zu Cyber-Zynismus.«3 Und wir waren allzu willige Follower, unfähig, dem Medium und seiner Botschaft den Rücken zu kehren.

Die hier behandelte Brexit-Trump-COVID-Periode (2019–2021) kann sowohl als Stasis wie auch als Krise charakterisiert werden: Das Alte weigert sich, zu sterben, und das Neue weigert sich, geboren zu werden. Paolo Gerbaudo zufolge »kann die aktuelle politische Ära am besten als ein ›großer Rückschlag‹ für die ökonomische Globalisierung verstanden werden. Es ist ein Moment, in dem die Koordinaten der historischen Entwicklung zu invertieren scheinen, und viele der Annahmen erschüttert werden, die die Politik und Ökonomik der letzten Jahrzehnte dominierten. Die Implosion der neoliberalen Globalisierung ist nicht einfach nur ein Moment der Regression, sondern potenziell eine Phase der Re-Internalisierung.«4 Der Mangel an invertiertem Denken wurde weit verbreitet wahrgenommen.5 Da es nicht gelang, sich die negativen Folgen des Web zu vergegenwärtigen, häuften sich die Probleme. Manager gaben Sicherheit und Kontrolle den Vorzug vor Veränderung; sie wählten PR-Spin statt Kritik. Die Folge – um mit Tyler Cowen zu sprechen – war Internet-Selbstzufriedenheit.

COVID-Restriktionen verbanden Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit von Wenigen mit Massenverzweiflung, Einsamkeit und einer Gesundheitskrise von Vielen, beschleunigten die bestehenden Ungleichheiten und trieben eine Krise der politischen Repräsentation voran. »Work from holes«6, Arbeiten an desinfizierten, gentrifizierten Orten verbreitete ein Gefühl der Benommenheit.7 Der eskalierende Verlust an Menschenleben und der erschreckende Infektionsausbruch erreichten für viele einen Höhepunkt in der Wiederholung des immer Gleichen. Emotion, Mitgefühl und Empathie zogen sich in die innere Zufluchtsstätte des unglücklichen Selbst zurück. Während des Lockdowns wurde das omnipräsente Internet die Bühne für intensive Innerlichkeit. Das Heim wurde Zufluchtsort des modernen Lebens. Die Küche wurde zum Klassenzimmer. Das Schlafzimmer wurde zum Einkaufszentrum, Arbeitsplatz, Restaurant und Entertainmentraum, alles auf einmal.

»Alle Revolutionen sind Misserfolge, aber sie sind nicht alle dieselben Misserfolge«, bemerkte George Orwell. Dies gilt auch für die Digitale Revolution. Die bevorstehende Datafizierung der Welt wird kommen. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir die Plattform als eine disziplinarische Maschine bezeichnen können, wie Krankenhaus, Schule, Fabrik und Gefängnis. Es sollte uns nicht länger erstaunen, dass diese Macht repressiv ist – nicht nur depressiv. Indem sie das Soziale in einer »kostenlosen« und reibungslosen Weise ermöglichen, werden Machtbeziehungen geformt und formatiert. Doch die kollektive Erfindung von Erklärungskonzepten, die den Kollaps des Sozialen verständlich machen, bleibt ungreifbar. Das Paradox von Versprechen und Realität – von der ermächtigenden, dezentralisierten Vision und der ironischerweise deprimierenden Abhängigkeit von Sozialen Medien – wächst unerträglich an. Können wir schonungslos ehrlich das soziale Bedürfnis nach Größe ansprechen, das zum einzigen von allen bevorzugten Produkt treibt? Warum gilt hier nicht Diversität und Unterschiedlichkeit? Sobald die Facebooks ununterscheidbar von Standard- und Protokollebene werden, haben normale Nutzer:innen, zu beschäftigt mit ihren Angelegenheiten, einfach nicht die Energie, die Situation zu hinterfragen. Der Wunsch nach kompatiblem globalen Austausch ist einfach zu groß.

Alles ist falsch, und niemanden kümmert es

Plattformen fordern ihren Tribut vom Individuum. Die meisten der kollektiven Belege bestätigen, was wir alle intuitiv oder bewusst über Datensammlung und Überwachung wussten. Wie Faine Greenwood es ausdrückt: »Facebook ist heute einem Tabakkonzern ziemlich ähnlich: Die meisten Leute wissen ganz genau, dass das Produkt schlecht für sie ist, und dass die Manager, die es verkaufen, böse sind, aber es ist – mit Absicht – sehr, sehr schwer, aufzuhören.« Was ist der Preis, den wir für Empfehlungen zahlen? Oder, um es deutlicher zu formulieren, wie es Künstlerin Gerardine Warez tut: »Es ist einfach nicht fair, dass wir uns alle mit den Folgen der furchtbaren Ideen und Produkte von Technik-Reaktionären und Anarcho-Kapitalisten auseinandersetzen müssen, nur weil die USA ein individualistischer Albtraum sind.«8 Tatsächlich läutet die Silicon-Elegie die destruktive Seite der Langweile ein. Das ist nicht die Kraft, die von gutbürgerlichen Coaches als die ideale Vorbedingung für Kreativität gepriesen wird, sondern eher eine unausgesprochene Vorbedingung für Katastrophen. Dasselbe gilt für Einsamkeit, den zurückgezogenen Geisteszustand, der als Heilkraft für Körper und Geist gepriesen wird. Unter dem Corona-Regime hat Einsamkeit ein bedeutendes Upgrade erhalten. Congratulations, you’re social disease number one. In einem von Angst, Paranoia und letztlich Hass definierten Zeitalter kann man in einem benommenen und verwirrten Geisteszustand in eine akute Gefahrenzone eintreten.

Plattformen fordern außerdem ihren Tribut von Wirtschaft und Gesellschaft. Plattformen monopolisieren nicht nur Märkte; sie besitzen und formen sie. Während der Rest der Wirtschaft stagniert und Zentralbanken den Aktienmarkt anheizen, kauft Big Tech seine eigenen Aktien zurück, statt produktive Investitionen zu tätigen. Letztlich wird es zu einem Internet kommen, das soziale und wirtschaftliche Ungleichheit exponentiell beschleunigt. »Ich fühle mich langsam wie eine Stripperin, die an diesem Substack-Newsletter-Pole tanzt, und alle jubeln, aber letztlich werfen nur wenige Leser:innen mit Geld um sich«, äußert sich Michelle Lhooq, die die gähnende Kluft zwischen »kostenloser« Kultur und fairem Einkommen für Content-Ersteller:innen skizziert. Während die letzten Markt-Gurus den Status quo mit dem Argument der Wahlfreiheit für Verbraucher:innen verteidigen, werden sich die Nutzer:innen über ihren servilen Status klar. Wir müssen die Plattform-Nutzer-Beziehung mit Hegels Herr-Sklave-Dialektik betrachten. Sobald der soziale Vertrag Nutzer:innen eingeschlossen hat, verunmöglicht eine Kombination aus Sucht und sozialem Konformismus den Nutzer:innen, die Plattform zu verlassen und anderswo hinzugehen. Dies ist, was Yannis Varoufakis, ebenso wie Jodi Dean und andere, als Techno-Feudalismus bezeichnet.9 In ähnlicher Weise sprach Bruce Schneider von »feudaler Sicherheit«, die Big Tech bietet, bei der Nutzer:innen ihre Autonomie abtreten, indem sie in die Festung eines Kriegsherren ziehen und im Gegenzug Schutz vor Banditen erhalten, die im Ödland da draußen umherschweifen.10

Doch selbst wenn der Beweis gegen die Plattform da ist, ist keine Veränderung in Sicht. Im Laufe der letzten Jahre wurde sowohl durch wissenschaftliche Studien als auch durch Enthüllungen von Tech-Arbeiter:innen der überwältigende Nachweis der Manipulation der öffentlichen Meinung und psychologischer »Verhaltensmodifikationen« erbracht. Das Problem hier ist nicht die Flut an internetkritischer Literatur, sondern ihre begrenzte Wirkung und der Mangel an einer politischen Agenda dazu, wie man die Internetarchitektur ändern kann. Internetdeutung heute ist eine getrübte Form der Aufklärung. Wie T.S. Eliot schrieb: »Die Menschheit erträgt nicht allzu viel Wirklichkeit.« Darum liebt sie Kunst, Kino, Literatur, Spiele und Kreativität. Dem fügt Jean Cocteau hinzu: »Illusion, nicht Täuschung.«

Von den Plattformen eingefangen, fragen sich viele nicht mehr, warum sie in ihrer eigenen Filterblase feststecken. Es ist ermüdend, die gemischten Empfindungen zu wiederholen; lieber überspringen wir das Thema. Techno-Sentimentalität existiert und wandert zwischen Liebe und Kritik hin und her. Warum sind meine YouTube-Empfehlungen so unwiderstehlich? Wie ist die Stimmung? Es gibt keine Spur von Schuld nach einer langen Swipe-Session, nur Erschöpfung. Warum geben wir unsere verletzlichen mentalen Zustände weiterhin preis? Wo ist die Peinlichkeit des Digitalen? Warum beginne ich, das Frageformat von Alexa und Siri zu nutzen, wenn ich mit Freund:innen chatte? Wie kann man die Trending-Themen loswerden? Wie können wir uns vor algorithmischen Empfehlungen schützen? Vorbei sind die Tage des unschuldigen Web-Surfings. Heute werden wir von mächtigen Kräften hineingezogen, bis wir eines Tages ganz aufhören, über sie nachzudenken. Um es mit Byung-Chul Hans Worten auszudrücken, das unterjochte Subjekt ist sich seiner Unterjochung nicht einmal bewusst.

In unserem pandemischen Zeitalter wiederholt sich dasselbe Muster: gesteigerte Unzufriedenheit, die sich dann ohne jegliche Veränderung auflöst. Wir sahen zunehmende Sorge aufgrund der starken Präsenz von alt-right, gemischt mit dem Raketentreibstoff der Verschwörungstheorien von 5G-Strahlung bis von Bill Gates eingesetzten Mikrochips. Desinformation war ein Problem, und ein diffuses Gefühl von Paranoia kam auf, aber es kam nie zu einer radikalen Überholung der zentralen Infrastruktur. Welchen Sinn macht in einer insgesamt misstrauischen und ängstlichen Atmosphäre ein Verständnis von »distraction by design« oder der Besuch von Kursen zur digitalen Kompetenz, die nur Zurückhaltung, Rationalismus und andere Offline-Moralitäten predigen?11 Das diskursive Vakuum würde schon eines Tages gefüllt werden. Das ist der Preis, den wir für die zögerliche Haltung einer digital gleichgültigen herrschenden Klasse zahlen, die weiterhin Internetkultur als kurzfristigen Hype herunterspielt, während sie auf die Wiederkehr von staatlichen Medien und von Konzernen regulierten Nachrichten und Unterhaltung wartet.

Diese organisierte Vernachlässigung, die die Nachteile der Internetkultur nicht ernst nimmt, kommt wie ein Bumerang zurück und führt zu einer akuten konzeptionellen Armut. Dies wäre nicht allzu schlimm, abgesehen von der Tatsache, dass über fünf Milliarden Nutzer:innen heute auf diese Infrastruktur angewiesen sind. Es ist uns bis heute nicht gelungen, eine Sprache zu entwickeln, die uns helfen könnte, die soziale Logik dieser »Medien« zu erfassen.12 Casey Newton fragt etwa, »warum bauen wir eine Welt, in der so viel zivilgesellschaftlicher Diskurs stattfindet, innerhalb einer Handvoll riesiger Einkaufszentren.«13 Die Betonung bei der Einkaufsmetapher liegt allerdings noch auf passivem Konsum. Diese Position haben wir hinter uns gelassen, doch weder Interaktivität des »Prosumers« noch die Interface-Design-Disziplinen haben es geschafft, attraktive Konzepte zu liefern, die an den Mainstream heranreichen. Was würde geschehen, wenn die Multitudes die Grammatik des Technosozialen verstehen und verkörpern könnten?

Kritische Forschung scheint unfähig zu sein, etwas anderes als verspätete, folgenlose Enthüllungen zu produzieren. Internettheorie war dazu bestimmt, zu spät zu kommen. Hegel sagte einmal, dass »die Eule der Minerva … erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug [beginnt].« Dasselbe gilt für die Netzkritik. Erst wenn wir uns in eine temporäre Außenseiterposition der Kritik begeben, können wir die Beschränkungen der früheren Perspektiven erkennen. Statt eine radikale Techno-Imagination auf die Einführung von Alternativen zu richten, werden wir von einem nie endenden Ringelspiel neuer Tech-Entwicklungen abgelenkt: Big Data, Automatisierung, Künstliche Intelligenz, Gesichtserkennung, Social Credit, Cyberkriege, Ransomware, Internet of Things, Drohnen und Roboter. Die ständig wachsende Doom-Tech-Liste hindert Nutzer:innen daran, kollektiv zu träumen und einzusetzen, was am wichtigsten ist: ihre eigenen alternativen Versionen des Technosozialen.

Lee Vinsel führte dieses Argument noch einen Schritt weiter und bemerkt, dass kritisches Schreiben selbst parasitär auf dem Hype aufsetzt und ihn sogar aufbläht.14 Die professionellen Konzern-Trolls der Technokultur drehen die Botschaften der Tech-Gurus um, nehmen Pressemitteilungen von Startups und verwandeln sie in Schreckensszenarien. Vinsel bezeichnet die Netflix-Dokumentation Social Dilemma (von über 100 Millionen Zuschauer:innen gesehen) und Shosana Zuboffs Surveillance Capitalism als »Criti-Hype«, der »die Fähigkeiten von Social-Media-Unternehmen überschätzt, unsere Gedanken direkt zu beeinflussen, aber keinerlei Belege dafür bietet.« Doom-Scrolling, unterbewusste Liking-Gewohnheiten und Selfie-Kultur sind sozialpsychologische Fakten. Mit ständig zunehmenden Beweisen für solche Manipulationen, die zu »Verhaltensmodifikationen« führen, müssen wir die überwältigende Präsenz von Smartphone-Nutzung im Alltag nicht mehr erklären.

Allesind Kritiker:innen

Der Palo-Alto-Konsens ist verabscheuungswürdig, doch nichts hat ihn bisher ersetzt.15 Wo steht die Internetkritik heute in ihrer Aufgabe, die fifty shades der Stagnation zu beschreiben, nachdem sie die einst notwendige Dekonstruktion des Disruptionsparadigmas hinter sich gelassen hat? Wie lange dauert unsere Entrüstung über ein Tweet, bevor Langeweile eintritt? Wie viel Zivilcourage braucht es, bevor man die Stagnation der eigenen Industrie angemessen untersuchen kann – einer Industrie, die stolz auf ihren revolutionären Ruf und »disruptive« Innovation ist? Der schiere Kult der Geschäftigkeit und Bedeutung verbirgt die verfaulte Situation nur weiter. Wir sprechen hier nicht von Gegenrevolution, sondern von Müdigkeit und Dopamin-Entzug. Sind alle bereit für eine Runde ernsthafter Konfrontation und Konflikt? Oder wäre es besser, dem Beispiel der Therapie zu folgen und erst einmal zuzugeben, dass wir ein Problem haben (»ja, wir sitzen fest«)?

Kommen wir zu einigen guten Nachrichten. Seit einiger Zeit explodieren sowohl populäre Sachbücher als auch wissenschaftliche Studien zu Sozialen Medien, KI, Big Data, Gesichtserkennung, Privatsphäre und Überwachung. Einige mögen die Lawine an Buchtiteln (meine eingeschlossen) als einen wichtigen Schritt hin zur öffentlichen Wahrnehmung betrachten. Forschung holt endlich die disruptive Taktik ein, sich während der ersten Internetdekaden mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Allerdings ist die Behauptung hier, dass das produzierte Wissen stets zu spät kommt, um einen Unterschied zu machen. Während also die Zunahme des Interesses begrüßenswert ist, kann Kritik an sich die Lage verschlimmern. »Krise produziert nicht länger Veränderung; Negativität zerstört das Alte, ohne jedoch das Neue hervorzubringen.«16 Wie die verstorbene bell hooks warnte: »Wenn wir die Probleme nur benennen, wenn wir uns ohne einen konstruktiven Fokus oder eine Lösung beschweren, nehmen wir Hoffnung weg. Auf diese Weise kann Kritik einfach nur tiefen Zynismus ausdrücken, der dann die herrschende Kultur stärkt«17 – ein durchgängiges Motto meiner Arbeit.

Wenigstens verändert sich die Kritik. Mit Trump und Brexit ist die Zeit des »Mansplainings des Internets« verklungen. Ein Jahrzehnt früher waren Internetkritiker noch hauptsächlich weiße, ältere Männer in den USA: Andrew Keen, Nicolas Carr, Douglas Rushkoff und Jaron Lanier. Dann betraten weibliche Technikkritikerinnen die Bühne, darunter Wissenschaftlerinnen wie Shoshana Zuboff und die KI-Ethik-Schule von Kate Crawford, Safiya Noble, Virginia Eubanks und Ruha Benjamin, die in der Netflix-Dokumentation Biased Code18 zusammenkamen. Was blieb, war die Dominanz der USA im Feld der Taschenbücher, welche die Dinge anhand nur einer Idee auf den Punkt bringen. Europa dagegen richtet noch Festivals und Konferenzen wie Re:publica und den Chaos Computer Congress aus. Doch trotz der verschwenderischen Überproduktion solcher Events schaffen sie es nicht, die europäische technische Kompetenz und Expertise ins Zentrum zu stellen. Das Wissen von Forscher:innen, deren Muttersprache Englisch ist, gewinnt spielend gegen die provinziellen Abneigungen der kontinentaleuropäischen Kaffeehaus-Intellektuellen.

Zugleich beobachten wir die Zunahme US-amerikanischer Berichte über die Arbeitsbedingungen im Silicon Valley aus erster Hand, zum Teil Journalismus, zum Teil Bekenntnisliteratur.19 Auch wenn es verlockend ist, die Übernahme durch die »Doom Industry« vorzuführen, funktioniert die PR-Maschine des US-Tech-Journalismus noch. Wir müssen uns der Interessen und der Position dieser Industrie im Allgemeinen bewusst sein, die zutiefst in einer merkwürdigen Kombination von organisiertem Optimismus und libertärer rechter techno-dystopischer Kultur verwurzelt ist. Die »Don’t be evil«-, Anti-Staat-, Pro-Markt-Ideologie der vergangenen Jahrzehnte war nicht so einfach zu löschen. Als sich nichts Grundlegendes änderte, verstärkte der verzweifelte mentale Zustand das Medium selbst. »Skandale ohne Folgen« – Cancel Culture ist das beste Beispiel – häuften sich zunehmend ebenso wie Berichte über »Tech-Bashing«. Doch diese Buschfeuer der Beunruhigung waren letztlich klein und sporadisch.

Die Flut an tech-bezogenen Studien ist so leicht zu ignorieren, weil Kritik, Diskussion und Debatte als überkommene Kategorien betrachtet werden. Ein solcher Diskurs ist ein Überbleibsel aus dem Zeitalter der öffentlichen Meinung, in dem verschiedene soziale Schichten um ideologische Vorherrschaft kämpften. Glenn Greenwald erläutert: »Der dominante Strang des US-Liberalismus ist Autoritarismus. Er betrachtet jene, die sich ihm widersetzen und seine Frömmigkeit ablehnen, nicht als Kontrahenten, mit denen man sich auseinandersetzt, sondern als Feinde, heimische Terroristen, Fanatiker, Extremisten und Gewaltaufwiegler, die gefeuert, zensiert und zum Schweigen gebracht werden müssen.«20 Diese grundlegende Haltungsänderung erklärt das Fehlen eines offenen und demokratischen »öffentlichen Forums« auf allen Plattformen, die Betonung auf Freunde und Follower und die besorgte Verwaltung von »Trolls«, die gelöscht, gefiltert, blockiert, gebannt, umerzogen, eingesperrt, ausgeliefert und letztlich getilgt werden müssen. Der Andere darf nicht länger als vielfältige und unterschiedliche »Stimme« toleriert werden, sondern wird gezwungen, wegzugehen und sich aufzulösen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Diese grundlegenden Designbedingungen haben es so schwierig, wenn nicht unmöglich, gemacht, über Soziale Medien in Bezug auf die Prinzipien der deliberativen Demokratie zu sprechen.

Wie werden wir jemals die zynische Rückkopplungsschleife von Extraktion, Prognose und Modifikation durchbrechen? Der Wille zur Optimierung der Entropie muss gestoppt werden.21 Es wird eines bisher noch unbekannten Paradigmenwechsels bedürfen, um zu verhindern, dass menschliche Erfahrung als kostenloses Rohmaterial behandelt wird. Wird Widerstandskraft, Mut, Freundlichkeit und Fürsorge genügen? Die digitale Souveränität auszurufen, wird nicht reichen. Wie können wir den ernüchternden Effekt ignorieren und überwinden und wieder einen drauf machen?

Reise aus dem Tal

Neuere Literatur hilft uns nicht, das Silicon-Valley-System zu zerlegen. Es gelingt ihr nicht, Alternativen zum von Risikokapital angetriebenen, stagnierenden Monopolmodell zu entwickeln. Nimm Anna Wieners persönliche Geschichte, die stolz den Solnit-Werbetitel »Joan Didion at a startup« trägt. Ähnlich wie Jarrett Kobeks I Hate the Internet trägt Wiener zur Gonzo-Datenbank der Sozialgeschichte des Internets der Bay Area bei, aufgebaut von ziellosen Männern – nur diesmal geschrieben von einer unbescholtenen Millennial, die aus dem Inneren des Business berichtet.22

Wiener führt uns zurück zum Geist der Jahre vor 2016: »Soziale Netzwerke, so behaupteten ihre Gründer, waren Werkzeuge, um zu verbinden, und um ungehindert Informationen zu zirkulieren. Soziale Netzwerke würden Gemeinschaften bauen und Grenzen niederreißen, würden Menschen freundlicher, fairer, empathischer machen. Soziale Netzwerke wären eine öffentliche Versorgungseinrichtung der globalen Wirtschaft, die schnell grenzenlos wurde, schrankenlos – oder sein würde. Soziale Netzwerke würden der Welt liberale Demokratie bringen, Macht neu verteilen und Menschen freier machen. Nutzer:innen würden ihr eigenes Schicksal bestimmen. Zutiefst autoritäre Regierungen hätten keine Chance gegen Designdenken und PHP-Anwendungen.«

Wieners Bericht beginnt mit dem ekstatischen Gefühl von Optimismus, als »zweihundert Millionen Menschen eine Microblogging-Plattform abonnierten, die ihnen ermöglichte, sich Prominenten und anderen Fremden nahe zu fühlen, die sie im echten Leben nicht ausstehen könnten. Künstliche Intelligenz und virtuelle Realität kamen wieder in Mode. Selbstfahrende Autos wurden als unvermeidlich betrachtet. Alles ging in eine mobile Richtung. Alles war in der Cloud.« Es war ein optimistisches Jahr »ohne Schranken, keine miesen Ideen. Der Begriff ›Disruption‹ verbreitete sich, und alles war reif dafür oder dadurch verwundbar: Musiknoten, Tuxedo-Verleiher, zu Hause gekochtes Essen, Hauskauf, Hochzeitsplanung, Banking, Rasieren, Kreditgrenzen, chemische Reinigung, die Knaus-Ogino-Methode. Eine Website, die es Leuten erlaubte, ihre ungenutzten Auffahrten zu vermieten, erzielte vier Millionen Dollar.«23

Es überrascht, wie artig Wiener sich gibt. Statt spezifische Unternehmen zu benennen, spricht sie über »die für Millennials geeigneten Plattformen, auf denen sie Schlafzimmer von Fremden mieten können«, über »einen Suchmaschinengiganten in Mountain View« und über »das von allen gehasste Soziale Netzwerk«, und weigert sich, Namen zu nennen. Während Kobek die Rolle des zornigen jungen Mannes spielt, der eine private Vendetta gegen bösartige Kräfte hinter der Gentrifizierung entfesselt, dokumentiert Wiener ihren eigenen Werdegang als pragmatische Träumerin, die von Startup zu Startup wandert, bevor sie schließlich als »Tech-Kritikerin« endet.

Letztlich lassen sowohl die Außen- als auch die Innenperspektive die Szene desillusioniert zurück. »Die jungen Männer des Silicon Valley waren erfolgreich«, schreibt sie. »Die sehnsüchtige Person war ich.« Am Ende ihres Berichts gibt Wiener zu, dass sie sich selbst wiederholt habe. »Die Arbeit im Tech-Bereich ermöglichte mir, der emotionalen, unpraktischen und ambivalenten Seite meiner Persönlichkeit zu entkommen, die bewegt werden wollte, die keinen offensichtlichen Marktwert hatte.«24 Die Jungs wollten Systeme bauen; Wiener wollte das emotionale Narrativ, die psychologische und persönliche Seite der Geschichte. »Meine Obsession mit den spirituellen, sentimentalen und politischen Möglichkeiten der unternehmerischen Klasse war ein halbherziger Versuch, mein eigenes Schuldgefühl zu mildern, weil ich an einem globalen extraktiven Projekt teilnahm.«25

Wendy Lius Memoiren Abolish Silicon Valley: How to Liberate Technology from Capitalism ähneln Anna Wieners Bericht, was den persönlichen Stil angeht, doch sie verwenden eine deutlichere Sprache und enthalten explizitere Forderungen. Ein Beispiel ist Googles Kult der Geheimhaltung, um »Lecks abzuwehren und Sicherheitsrisiken zu minimieren. Letzteres erschien mir sinnvoll, doch das erste überzeugte mich nicht. Warum hatte dieses Unternehmen so viel Angst vor öffentlicher Kritik? Technik in einer Blase zu entwickeln, schien mir alle Zutaten für eine Katastrophe zu enthalten, weil Menschen weltweit auf Googles Produkte angewiesen sind – vor allem da Googles technische Arbeitskräfte so überhaupt nicht repräsentativ für die breitere Bevölkerung sind.« Ich würde dem noch hinzufügen, dass alle Unternehmen, die aggressiv wachsen und mit neoliberalen Grundsätzen operieren, PR und Marketing als Teil ihrer persönlichen Integrität internalisieren. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem intimen Selbst und professionellen Entscheidungen. Alle Formen von Kritik, gleichgültig wie leicht oder hart, werden als unmittelbarer Angriff auf die Aura der guten Absichten betrachtet, die das Produkt umgibt.

Als Trump an der Macht war und die Vertreibungen aufgrund der US-amerikanischen Immobilienkrise ihren Höhepunkt erreichten, verließ Wendy Liu die Bay Area, um in London zu studieren, wo sie kritische Literatur recherchiert. Sie beginnt danach zu fragen, wie man es anders machen könnte, wie man Tech entwickeln könnte »ohne die Beteiligung eines multinationalen Konzerns, die Patente und Rechtsanwälte sowie Aktienpreisanalysten erfordert?«26 Auch wenn der Wunsch nach Websites für das Gemeinwohl ohne Werbung und Marketing lobenswert oder ehrenwert sein mag, fragt man sich doch auch, warum solche Ziele so gut wie verschwunden sind. Warum hat Generation nach Generation die libertäre Startup-Logik übernommen und hat nicht einmal im Traum daran gedacht, sich gegen die Logik der Extraktion und Überwachung zu wehren?

Die Plattformen des Silicon Valley haben den Unterschied zwischen Haltung und Widerstand verwischt. Es ist schwieriger geworden, zwischen der radikalen Aufrichtigkeit der Weigerung und der Lifestyle-Entscheidung des Andersseins-ohne-Folgen zu unterscheiden. Caroline Busta bemerkt, »Plattformen spiegeln die gegenkulturellen Forderungen früherer Generationen wider: die Vermeidung von Big Government und von vertikaler Unternehmenskultur sowie die Ermutigung zu persönlicher Erfüllung und flachen Organisationsstrukturen. Heute kann man Coder und DJ sein, Uber-Fahrer und Reiseblogger, Sand Hill Road-Anzugsträger und Robot Heart Burner.«27 Um wirklich gegenkulturell zu sein, »muss man zuallererst einmal die Plattform verraten, z.B. indem man sein öffentliches Online-Selbst verrät oder sich von ihm trennt.«

Berichte aus erster Hand erweisen sich als wirkmächtige Dokumente. Bekenntnisliteratur fasziniert uns, weil wir noch immer nicht das Geheimnis »Warum-gute-Menschen-böse-Dinge-tun« geknackt haben. Warum haben sie die rechte libertäre Agenda der Risikokapitalisten nicht erkannt, die weiterhin Startups finanzieren? Obwohl Belege für Vergehen zuhauf eintreffen, sehen weder neoliberale noch autoritäre politische Kräfte die Notwendigkeit für strukturelle Lösungen.

Alles kollabiert

Um uns jenseits des kapitalistischen Realismus der Bay Area zu bewegen, müssen wir die Internet-Malaise unter einer breiteren – und noch weniger beruhigenden – Perspektive betrachten: die faustische »Kollapsologie«.28 Wir könnten dies auch den »Krisenstack« nennen, in dem ökologische, ökonomische, finanzbezogene und digitale Krisen ineinandergreifen und sich gegenseitig abstoßen, was zu einer Kaskade von wechselseitigen Ereignissen führt, einem Wirbelwind von Dürren und Bränden, Fluten und Aufständen. Dazu kommt die Frage nach den Sozialen Medien, eine Frage, die die meisten lieber ignorieren. Wir möchten lieber in philosophischen Überlegungen zur Künstlichen Intelligenz schwelgen, die bei der Reparatur des Chaos stecken bleiben, das wir Netzwerkgesellschaft nennen. Die missglückte Architektur des Internets ist eine von vielen Ebenen im Krisenstack.29

In diesem Kontext ist mir wichtig, die Arbeit von Bernard Stiegler einzubeziehen, der 2020 verstarb, und der eine Schlüsselrolle in meinem Nachdenken über das vergangene Jahrzehnt spielte, indem er das noch explosionsartig wachsende Internet ins rechte Licht rückte. In einem seiner Texte kommt er zum Schluss, dass »das Wissen zerstört wurde, das notwendig ist, um die Folgen der heutigen technischen Entwicklung zu bekämpfen.« Wir müssen Soziale Medien als von Stiegler so bezeichnete Automatismen verstehen. »Dies muss zu einer Zeit getan werden, in der eine allgemeine Automatisierung deutlich auf ein neues Zeitalter der Heteronomie hinausläuft, das möglicherweise das Ende in sich trägt.«

Das Letzte, was wir brauchen, sind rechtliche und soziologische Systeme, die den aktuellen politischen Moment zugunsten einer erfundenen Denktradition ignorieren, die erhalten werden soll. Es gibt kein Vermächtnis der Medientheorie oder der Digital Humanities, das verteidigt werden muss, geschweige denn einen totgeborenen Berufsstand der »Netzkritik« mit Bedarf nach Förderung. Man sollte sich nicht in pedantischen Übungen verlieren, um akademische Territorien mit ihren Kanons und Methoden zu definieren und zu verteidigen. Bemühungen, das »Digitale« einzuhegen, werden vergeblich sein. Digitalisierung ist ein abgeschlossenes Kapitel, erledigt, finito. Bald wird auch das Internet von noch größeren wichtigen Kräften beiseitegeschoben werden.

Wir sollten die momentane Leichtigkeit annehmen und uns zum Beispiel über die Verwirrung unter denjenigen amüsieren, die versuchen, »Digitalisierung« zu kartieren. In diesem Sinn kann die konzeptionelle und institutionelle Armut in Bezug auf das Internet auch als Freiheit gelesen werden – die ursprüngliche Freiheit, die alle Nutzer:innen einst empfanden – eine, die Hannah Arendt in einer solch klaren Sprache erklärte. Vor dem Hintergrund des Plattformzeitalters, das sich durch neue Einschränkungen des Geistes auszeichnet, besteht Arendt auf das Bewahren von Verwunderung und das lebenslange Streben danach, das Unbekannte zu erkunden. In Anlehnung an Arendt sollten wir dem Schicksal sowohl des spekulativen als auch des kritischen Denkens widerstehen, zur Moralphilosophie zu werden, »bloße Unterweisung in die Kunst des Lebens. Ein How-to statt Fragen.«30 Für Arendt ist (politische) Theorie aus Verzweiflung geboren (was zufällig auch auf den aktuellen Zustand der Internetkultur zutrifft), als Antwort auf historische Erfahrungen (in unserem Fall gescheiterte Netzwerkaufstände und die Verstärkung digitaler Beschränkungen). Falls es hier etwas zu verteidigen geben sollte, warum nicht die »Erhabenheit des Internets«?

Alarmismus genügt nicht. In Inhabit-Instruction for Autonomy kann man lesen: »Richtung Hölle oder Richtung Utopie? Beide Antworten genügen uns. Endlich erreichen wir den Rand – wir fühlen die Gefahr der Freiheit, die Umarmung des Zusammenlebens, das Geheimnisvolle und das Unbekannte – und wissen, das ist Leben.«31 Dies ist der benötigte Vitalismus, um aus dem Abgrund zu klettern. Das Manifest präsentiert zwei Pfade. A: Es ist aus. Senke deinen Kopf und scrolle durch die Apokalypse. B: Atme ein und mache dich bereit für eine neue Welt. Der Fokus hier ist auf Netzwerk vs. Plattform. Inhabit-Instruction for Autonomy kann als Handbuch gelesen werden, das erläutert, wie man von A nach B kommt. Entscheidungsfreudige Gesten genügen jedoch nicht. Zunächst ist es notwendig, zu untersuchen, warum so viele in der Plattformfalle stecken. »Wir suchen nach der Macht der Organisation und finden nur schwache und zynische Institutionen.« Alles beginnt mit der Beseitigung von Isolation und der Erstellung eines Inventars kollektiver Fertigkeiten, Fähigkeiten und Beziehungen. Der vorgeschlagene Ausweg besteht weniger in der Schaffung von Netzwerken als solche, sondern im Aufbau von Treffpunkten (Achtung: nicht Plattformen). Solche Hubs und Knoten können als Aggregationspunkte designt werden, temporäre Aktivitätszentren. Die Plattform ist auf wirtschaftlichen Austausch und (Daten-)Extraktion ausgerichtet. Das Ziel des Hubs ist dagegen, Gemeinsamkeiten zu schaffen. Es kann tausend Hubs geben, aber nur ein Plateau. »Der logische nächste Schritt nach dem Zusammenfinden ist, einen Hub zu bauen. Wir brauchen spezielle Räume, um uns zu organisieren und uns Zeit füreinander zu nehmen. Hubs bringen Menschen, Ressourcen und geteilte Interessen zusammen, um das Fundament für ein gemeinsames Leben zu legen.« Betrachtet In der Plattformfalle als rückfall-resistente Geschichte vom Aufstieg der Plattformalternativen auf der Basis eines tiefen Verständnisses der digitalen Krise.

1 https://www.alcohol.org/alcoholics-anonymous/

2 Anna Lowenhaupt Tsing, The Mushroom at the End of the World, Princeton, Princeton University Press, 2015, S. 1.

3 Richard Seymour, The Twittering Machine, London, The Indigo Press, 2019, S. 27.

4 https://roarmag.org/essays/gerbaudo-great-recoil/ Sein Buch von 2021, erschienen bei Verso, trägt den Titel The Great Recoil.

5 Siehe u.a. https://medium.com/explain-this-to-me-like-im-five/what-is-inverted-thinking-81699e4066cc Dort heißt es: »Statt zu versuchen, brillante Entscheidungen zu treffen, beginne damit, dumme zu vermeiden.«

6 Aus Marcus John Henry Browns Hustetology performance, 22. Mai 2021 https://www.youtube.com/watch?v=FSzcHCw80Ik&t=194s

7»L.A. fühlt sich zunehmend wie ein dystopischer Ferienort an, wie Vermilion Sands von JG Ballard, aber ohne die ›vernachlässigten Tugenden von Hochglanz, Reißerischem und Bizzarrem‹, die SoCal zu einem solch interessanten Ort machten.« Barrett, Tweet vom 30. Dezember 2020.

8 Geposted von https://twitter.com/geraldi_nej am 28. Mai 2021.

9 https://www.aljazeera.com/program/upfront/2021/2/19/yanis-varoufakis-capitalism-has-become-techno

10 Mit Bezug auf Cory Doctorow https://twitter.com/doctorow/status/1394706771747303427 und auf Bruce Schneiers Blogbeitrag von 2012 zum Thema: https://www.schneier.com/blog/archives/2012/12/feudal_sec.html Nathan Schneider verweist auf ein weiteres Element, den vordemokratischen »impliziten Feudalismus« von Mailinglisten, Softwareprojekten, Wikipedia und anderen Gemeinschaftsprojekten, in denen Koordinatoren lebenslang berufen werden: https://hackernoon.com/online-communities-aint-got-nothing-on-my-mothers-garden-club-because-of-implicitfeudalism-gc2z34y4

11 Statt die therapeutischen Gesten des europäischen Offline-Romantizismus hart zu kritisieren, sollten wir ihm lieber mit einem Lächeln begegnen und Groucho Marx folgen: »Ich finde Fernsehen sehr bildend. Jedes Mal, wenn jemand das Gerät einschaltet, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese ein Buch.« – »Ich finde offline sehr bildend. Immer wenn jemand das Internet einschaltet, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese ein Buch.«

12 Dies bezieht sich auf die (zurecht) unhinterfragte Bedeutung von Lev Manovichs 2012 erschienener Publikation The Language of New Media. In seiner auf das Kino ausgerichteten Studie fehlt das soziale Element einfach. Genau zum Zeitpunkt des Aufstiegs des Web 2.0, als Netzwerke auf die Ebene von Plattformen teleportiert wurden, wird »Neuheit« in Begriffen der Interaktion zwischen Bild und Nutzer:innen definiert. Die Designfrage danach, wie man die Präsenz von anderen visualisiert (und administriert), wird implizit an die Verhaltenspsychologie, an IT-Expert:innen und an Data Scientists delegiert.

13 Casey Newton, Platformer N