Digitalisierung als Distributivkraft - Sabine Pfeiffer - kostenlos E-Book

Digitalisierung als Distributivkraft E-Book

Sabine Pfeiffer

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Beschreibung

Nehmen uns Roboter die Arbeit weg? Wer diese Frage stellt, missversteht die Digitalisierung - sie ist keine industrielle Revolution mit anderen Mitteln. Sabine Pfeiffer sucht nach dem wirklich Neuen hinter der Digitalisierung und dem digitalen Kapitalismus. Sie stellt in ihrer Analyse dem Marx'schen Begriff der Produktivkraft die Idee der Distributivkraft zur Seite. Von der Plattformökonomie bis zur künstlichen Intelligenz wird damit verstehbar: Es geht immer weniger um die effiziente Produktion von Werten, sondern vielmehr um deren schnelle, risikolose und auf Dauer gesicherte Realisierung auf den Märkten. Neben der Untersuchung dieser Dynamik und ihrer Folgen wird auch diskutiert, warum die Digitalisierung als Distributivkraft zu einer ökologischen Destruktivkraft zu werden droht.

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In Liebe für G. – in Gedenken an R. und W.

Sabine Pfeiffer

Digitalisierung als Distributivkraft

Über das Neue am digitalen Kapitalismus

Dieses Buch wurde teils ermöglicht durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 442171541 (DFG-Schwerpunktprogramm 2267: Digitalisierung der Arbeitswelten).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext:https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Sabine Pfeiffer

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Lektorat: Jana Schrewe, Berlin

Print-ISBN 978-3-8376-5422-6

PDF-ISBN 978-3-8394-5422-0

EPUB-ISBN 978-3-7328-5422-6

https://doi.org/10.14361/9783839454220

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung

1.Einleitung

1.1Die zentrale These – in bad neighborhood?

1.2Digitaler Kapitalismus und Wert

1.3Produktivkraft und Markt

1.4Drei Distributivkräfte und ihre Entwicklung

1.5Illustrationen und Destruktionen

2.Digitaler Kapitalismus revisited – schon wieder?

2.1Dan Schiller und die Entstehung des digitalen Kapitalismus

2.2Dynamik – Transformation – Akteure

2.3Immaterielles – Arbeit – Wert

2.4Knappheit – Unknappheit – Krise

2.5Vieles gesagt – alles offen?

3.Eine erste Leerstelle: Wert im digitalen Kapitalismus

3.1Mazzucato oder die Wiederentdeckung des Werts

3.2Wer vom Wert redet …

3.3Weiter auf der Suche nach dem Neuen

4.Transformation und Produktivkraft

4.1Polanyis’ Great Transformation

4.2Marx’ Produktivkraftentwicklung

4.3Produktivkraft und digitaler Kapitalismus: Verengungen und Missverständnisse

5.Zweite Leerstelle: Wertrealisierung im (digitalen) Kapitalismus

5.1Ausdehnung und Markt

5.2Konsum und Gesellschaft

5.3Kommunikation und Krise

6.Distributivkraft und (digitaler) Kapitalismus: Das Neue

6.1Distributivkraft Werbung und Marketing

6.2Distributivkraft Transport und Lagerung

6.3Distributivkraft Steuerung und Prognose

6.4Distributivkräfte und Digitalisierung – zusammengedacht

7.Distributivkraft und (digitaler) Kapitalismus: Präzisierungen

7.1Abgrenzung: Distributionsverhältnisse und Zirkulation

7.2Transformation oder Häutung: Produktionskraft disrupted?

7.3Produktiv- und Distributivkraftentwicklung – zusammengedacht

8.Distributivkraft im digitalen Kapitalismus: Empirische Illustrationen

8.1GAFAM und Plattformökonomie

8.2Katalysatoren der Wertrealisierung

8.3Distributivkraft und Kaufmannskapital 4.0

8.4Distributivkraft und Arbeit

9.Digitalisierung: Distributivkraft oder Destruktivkraft?

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

Ich danke meinem Lebenspartner Gerald für unendliche Geduld und liebevolle Unterstützung. Ohne Dein Verständnis und Auffangen wäre ich aus mancher Sackgasse im Schreiben nicht entspannt wieder herausgekommen. Ich danke meinem Lehrstuhlteam – Amelie, Bruno, Jasmin, Manuel, Marco, Martina, Silke und Stefan – ohne Euer Engagement hätte ich mich auf manch intensive Schreibphase so nicht einlassen können. Ich danke Jana Schrewe für das schnelle und fundierte Lektorat – ohne Ihre hilfreiche Rückmeldung und das detaillierte Überprüfen wäre das Buch nicht, was es ist. Ich danke dem transcript Verlag für die konstruktive Offenheit bei Thema, Länge und Deadline und für die Möglichkeit zu einem echten Open-Access-Zugang als PDF. So hängt das Interesse am Buch nur ab vom Inhalt und nicht vom individuellen oder institutionellen Geldbeutel.

1.Einleitung

Es ist ja üblich geworden, selbst wissenschaftliche und analytische Bücher mit biografischen Anekdoten zu beginnen. Einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens ist, dass die möglichen biografischen Bezüge sich häufen und es leichter wird, da mit den individuellen und – sieht man von strukturellen und historisch-konkreten, prägenden Dynamiken ab – meist zufälligen Erfahrungen auch die Fülle der Anekdoten zunimmt. Keine Sorge, das mit den Anekdoten spare ich mir. Den biografischen Bezug aber kann ich mir nicht verkneifen, denn eines begleitet mich tatsächlich, seit ich ins Erwerbsleben eingetreten bin: das, was wir heute Digitalisierung1 nennen. Ich verwende bewusst diesen mittlerweile alltagstauglichen Begriff, der mit seiner ursprünglichen Bedeutung (technische Verfahren zur Umwandlung analoger Informationen in digitale) kaum mehr etwas zu tun hat und in unseren Zeiten sozusagen zum Meta-Tag2 der gesellschaftlichen Selbstverständigung um Reichweite, Richtung und Tiefgang der vermuteten Transformation geworden ist.

Als Soziologin habe ich mich von Anfang an mit der Digitalisierung beschäftigt. Zuvor, in meiner früheren Arbeit als Werkzeugmacherin3 hat sich die Digitalisierung dafür von Anfang an mit mir beschäftigt. Mitte der 1980er Jahre – noch während meiner Ausbildung – arbeitete ich zum ersten Mal an einem Computer. Ich sage bewusst an statt mit. Ich bediente eine Messmaschine, mit der gebogene Rohre im dreidimensionalen Raum vermessen werden konnten. Ich wusste noch nicht, dass ich in einem Anwendungsprogramm arbeitete und dass sich »dahinter« ein Betriebssystem verbarg. Ich versuchte vergeblich aus dem Anwendungsprogramm der Messmaschine mehr rauszuholen, weil ich ahnte, dass der Computer noch mehr und anderes kann.

Mein Ausbildungsbetrieb war ein familiengeführter Mittelständler, der – heute würde man das wohl diversifiziert nennen – so Unterschiedliches wie Extrudermaschinen, Turbinenschaufeln, Schneidwerkzeuge und Auspuffanlagen herstellte. CNC-Maschinen und Schweißroboter mit sogenanntem Teach-in-Verfahren waren dort in der Fertigung schon angekommen und selbst in unserer Ausbildungswerkstatt stand eine NC-Fräsmaschine4 – obwohl das vor der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe 1987 offiziell noch gar nicht zu den Ausbildungsinhalten zählte. Ich erwähne das nur, um zu zeigen: Ich arbeitete damals nicht gerade an der informationstechnologisch vordersten Front der produzierenden Branchen und trotzdem bereits als Auszubildende an einem Computer. Während zur gleichen Zeit in unseren Büros die Digitalisierung kaum eine Rolle spielte: In der Konstruktion gab es Zeichenbretter und noch kein CAD-System5, und die sogenannten Werkstattschreiberinnen (ja, alles Frauen und ja, es gab noch Büroarbeitsplätze in der Fertigung) bewegten vor allem Papier und freuten sich, wenn sie eine elektronische Schreibmaschine hatten. Mir ist diese biografische Randnotiz zum Einstieg wichtig. Denn: Bis heute übersieht die wissenschaftliche Debatte um die Digitalisierung beharrlich, dass die Produktion bzw. der Shopfloor früher, flächendeckender und integrierter digitalisiert wurde als andere Bereiche, einfach weil man dort vieles von der digitalen Technik nicht sieht. Embedded Systems etwa heißen nicht umsonst so: Sie sind eingebettet in die stoffliche Technik, deswegen aber nicht weniger digital. Und der Bildschirm an einer Maschine oder Anlage ist nicht nur eine Bedieneinheit, sondern Interface eines vollständigen Rechners.

Die Digitalisierung erreichte mich also als gewerblich-technische Auszubildende bei einem eher bodenständigen Mittelständler. Bei meinem nächsten Arbeitgeber (ein Vertrieb für CNC-Werkzeugmaschinen) hatte ich ab Ende der 1980er Jahre mit CAD/CAM6-Systemen zu tun und wurde schon beim Bewerbungsgespräch mit der Vision von CIM7 und Flexiblen Fertigungssystemen (FFS) bekannt gemacht (die Realisierung von CIM ließ dann auf sich warten, FFS aber entstanden hier und dort, wenn sich dies hinsichtlich der Stückzahlen lohnte).

Beim nächsten Arbeitgeber hatte ich endlich auch viel mit dem »Dahinter« zu tun, dem Betriebssystem (vor allem MS DOS, teils OS/2 oder Unix), richtete Computer für unsere Kunden ein, installierte Schnittstellen-Karten (IEEE) für die Verbindung zu 3D-Koordinaten-Mess-Maschinen oder Touchscreen-Vorsätze für die Bildschirme. Unsere Entwicklungsabteilung schickte uns neue Versionen der Messmaschinen-Software übers Telefonnetz und Akustikkoppler an unseren Vertriebsstandort. Auch zu Hause stand längst ein PC (der erste ein Amstrad Schneider 1512 mit Doppellaufwerk) und ratterte bald ein 9- und später ein 24-Nadel-Drucker.

Als mich mein zweiter Bildungsweg Jahre später erst ins Ingenieur- dann ins Soziologiestudium führte, blieb die digitale Technik sowohl Arbeitsmittel als auch Arbeitsgegenstand. Und schließlich saß ich (es muss 1996 gewesen sein) in einem Volkshochschul-Café zum ersten Mal vor einem Rechner mit Internetzugang und Netscape als Browser. Mit meiner eigenen Domain und meiner ersten, noch in einem einfachen HTML-Editor erstellten Webseite ging ich 1998 online. Meine erste Bestellung bei Amazon erfolgte ein Jahr später (nicht, dass ich das noch erinnern würde, aber Amazon vergisst nichts). Technik – die stoffliche wie die digitale – war für mich also in meiner Erwerbs- und schnell auch in meiner Lebenswelt eine ebenso selbstverständliche wie wichtige Komponente. Sie blieb es (für mich ebenso selbstverständlich) auch, als ich Werkbank, Maschine und CNC-Code durch Soziologiebücher, Theorien und Statistik-Syntax ersetzte.

Dieser biografische Hintergrund erklärt, warum ich dieses Buch schreibe. Aber wohl auch, wie ich es schreibe. Die Technik und ihre Möglichkeiten bleiben ein wichtiger Bezugspunkt. Zugleich hat mich meine erste (mehr als meine aktuelle) berufliche Praxis eines gelehrt: Ob Technik im Unternehmen ankommt; ob und wie sie genutzt wird, um Arbeit zu verändern oder zu ersetzen; ob dabei besser oder schlechter bezahlte Jobs entstehen oder neue Qualifikationen – all das kann abhängig von den beteiligten Akteuren und den Verhältnissen zwischen ihnen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen. Das Ergebnis aber wird nie losgelöst sein von ökonomischen Intentionen und technisch-faktischen (Un-)Möglichkeiten. Was sich im Sozialen, in der Arbeit, im Leben, in der Gesellschaft wandelt, lässt sich nur über Technik und Wirtschaft verstehen. Und über ihre jeweiligen und gemeinsamen Pfadabhängigkeiten.

Aus dieser Erkenntnis, die ich durch das konkrete Erleben von technischem Wandel in meiner ersten beruflichen Praxis gewonnen habe, folgte eine immer wiederkehrende Irritation über die Antworten meiner aktuellen beruflichen Praxis. Denn bis heute beschäftigt sich die Soziologie meist in je unterschiedlichen Nischen mit Technik, mit Arbeit, mit Wirtschaft, mit Lebenswelt. Sie meidet Theorieangebote, die zumindest versuchen, alles zusammenzudenken. Zudem nimmt die Soziologie Technik oft nicht in ihrer konkreten Erscheinungsform ernst, sondern macht sie entweder zu etwas »rein« Sozialem oder missbraucht sie als vage Metapher für große, aber nicht immer weiterführende Gesellschaftsdiagnosen. Als ich von der Technik in die Soziologie wechselte, musste ich das erst begreifen, später hat mich das manchmal geärgert, heute kann ich das entspannter nachvollziehen.

Gesellschaft und gesellschaftlicher Wandel sind und waren noch nie ohne ihre technischen Grundlagen, technologischen Realitäten und ihren Technikeinsatz zu verstehen, ebenso wenig wie Gesellschaft und Technik – vor allem in ihrem Wandel – ohne die ökonomischen Zusammenhänge, mit denen und durch die sie sich entwickeln. Wie Arbeit, Produktion und Leben sich gestalten, was sie uns ermöglichen und wie sich das individuell und kollektiv anfühlt – das ist ohne das alles verbindende Netz von Wirtschaft und Markt nicht zu durchschauen. Ob sich all dies – möglicherweise fundamental – ändert und wir uns am Anfang oder mitten in einem Prozess der Transformation oder Disruption befinden, diese Debatte bewegt unsere Gesellschaft nun seit einigen Jahren.

Schließlich wird über kaum etwas so viel diskutiert und geforscht wie über den digitalen Wandel. In Deutschland hatte dieser Diskurs mit der Erfindung des Begriffs »Industrie 4.0« im Jahre 2011 seinen bewusst inszenierten Take-off. Von Anfang an war nicht nur die engere, auf Produktions- und Automatisierungstechnik ausgerichtete Fachöffentlichkeit angesprochen, sondern vielfältige Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft. Schnell aber verließ der Diskurs diesen Industrie-Bezug, kreiste immer mehr um die digitale Transformation im Großen und rückte andere digitale Technologien in den Mittelpunkt: Wo zu Beginn der Debatte noch Roboter, mobile Geräte und Social Media im Vordergrund standen, ist heute Künstliche Intelligenz und insbesondere Machine Learning präsenter.

Mit Publikationen und Vorträgen auf zahllosen Konferenzen und Workshops, auch außerhalb des engen wissenschaftlichen Kontexts, war ich selbst Teil dieses Diskurses. Und habe bei solchen Veranstaltungen zunehmend einen großen Bedarf an fundierten Analyseangeboten gespürt, die dabei helfen, das Hier und Jetzt besser zu verstehen, und Gestaltungsoptionen wie -grenzen aufzeigen. In diesem Sinne grenzt sich dieses Buch bewusst ab von den zahlreichen utopischen oder dystopischen Prognosen.

Um die Digitalisierung reiht sich zunehmend Zeitdiagnose an Zeitdiagnose. Diese Deutungs- und Prognoseangebote – so unterschiedlich sie in Stoßrichtung, adressiertem Kreis und disziplinärem Hintergrund auch sein mögen – sind sich in drei Aspekten weitgehend einig: Erstens, dass wir es mit einer umfassenden Transformation zu tun haben, die in ihren Ausmaßen und ihrer Veränderungsdynamik mit historischen Vorläufern wie der Entstehung der Agrargesellschaft oder der industriellen Revolution vergleichbar ist. Zweitens, dass die Ursache dieser Transformation im technischen Fortschritt – insbesondere in der Robotik, der gestiegenen Rechengeschwindigkeiten und der Künstlichen Intelligenz – zu suchen ist. Und drittens, dass daraus dramatische Umwälzungen in Wirtschaft und Arbeitswelt erwachsen, die in ihren Folgen dringend gesellschaftlicher Bearbeitung bedürfen. Wohin man schaut, was immer man liest: Letztlich finden sich diese drei Annahmen in allen Diagnosen zur Digitalisierung, mal explizit formuliert, mal implizit angedeutet, mal stillschweigend vorausgesetzt. Die Einschätzungen, wohin das Ganze führt, was wo und wie und nach welchen Kriterien gestaltbar ist (oder eben nicht), mögen unterschiedlich sein, die grundlegende Annahme des technischen Fortschritts als eigentliche Ursache aber zieht sich durch; manchmal verpackt als anthropologische Konstante – der Mensch als zwanghafte Innovationsgattung, die nicht anders kann, als immer neuen technischen Fortschritt zu produzieren –, manchmal als quasi-evolutionärer Prozess, an dessen Ende der Mensch sich selbst überholt.

Dieses Buch will in diesem Sinne kein weiteres Diagnose-Angebot machen. Es wird diesen Dreischritt – Technikentwicklung entfacht Wirtschaftsdynamik mit wiederum gesellschaftlichen Folgen – nicht gehen. Dieses Buch will sich auch nicht einreihen in die immer länger werdende Liste von Publikationen, die sich an Prognosen zu diesen Folgen abarbeiten und darüber streiten, welche Jobs wann ersetzt werden und ob das Grundeinkommen eine Lösung ist. Dieses Buch wird keine weitere, an technischen Artefakten festgemachte Phaseneinteilung – von der Agrarwirtschaft bis zur Datenökonomie, von der Dampfmaschine zum Internet der Dinge, vom Buchdruck zu Social Media – vorlegen. Und dieses Buch will auch keine von der Technik inspirierte Metapher – sei es das Netzwerk, der Algorithmus, das Muster – zum neuen Gesellschaftsbegriff erheben oder als schon immer Dagewesenes entlarven. All das gibt es, all das sind wichtige und wertvolle Debattenbeiträge und ist Ausdruck des offensichtlich großen gesellschaftlichen Bedürfnisses, uns darüber auszutauschen, was gerade (mit uns? durch uns?) passiert.

Auch dieses Buch geht von einer Transformation aus und begibt sich auf die Suche nach dem Neuen und seinen Verbindungen zum Alten. Dieses Neue, seine strukturellen Ursachen und die damit verbundenen spezifischen Folgen verstehbar zu machen, ist das Ziel. Gewagt wird ein Blick hinter die Phänomene der Digitalisierung (ohne dabei die Realitäten der Technik zu vernachlässigen). Versucht wird eine analytische Perspektive, die Technikentwicklung, ökonomische Logik und gesellschaftliche Dynamik gemeinsam statt als sequenzielle Abfolge betrachtet. Verfolgt wird schwerpunktmäßig eine Diagnose jüngerer Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, verbunden mit zwei Intentionen: Verschiedene Stränge der aktuellen Digitalisierung sollen zusammengeführt, bilanziert und diese Entwicklungen analytisch-theoretisch gedeutet werden.

1.1Die zentrale These – in bad neighborhood?

Armin Nassehi fragt in seinem Buch Muster (2019), das eine Theorie der digitalen Gesellschaft vorlegt, für welches Problem die Digitalisierung eine Lösung sei (vgl. ebd.: 12). Seine Antwort lautet – sehr verkürzt und seinen Ausführungen nicht gerecht werdend –, dass die Moderne immer schon digital gewesen sei und immer schon Muster zur Komplexitätsbewältigung genutzt habe, die Digitalität der Gesellschaft also in ihrer eigenen Struktur und Komplexität begründet sei (vgl. ebd.: 321-325). Diese Antwort überzeugt mich nicht. In Nassehis Analyse bleiben ökonomische Akteure und der Markt Randfiguren, das die Moderne charakterisierende Wirtschaftssystem – der Kapitalismus – verschwindet hinter der Gesellschaft. Zwar liefert seine Analyse eine erfrischend andere Sicht auf den herrschenden Diskurs, der oft nur auf die Wirtschaft (als Feld, nicht als Struktur) blickt und der Gesellschaft lediglich die Nebenrolle zuweist, den erwarteten Scherbenhaufen des Disruptiven aufzukehren. Man kann aber weder die Moderne ohne den Kapitalismus denken noch die Digitalisierung ohne die damit verbundenen ökonomischen Strategien, Akteure und Dynamiken verstehen.

Dieses Buch startet also nicht bei der Gesellschaft, sondern beim Kapitalismus. Dass jener digital geworden ist, kann allein nicht die Antwort sein, wie zu zeigen sein wird. Im Kapitalismus an sich, der darauf angewiesen ist, immer mehr Waren auf immer neuen Märkten zu verkaufen, um am Laufen zu bleiben, muss es aktuell ein Problem geben, für dessen Lösung die Digitalisierung sich als besonders brauchbar erweist (oder zumindest gesehen wird).

Die einfache Antwort scheint zu sein: Digitalisierung ist die Technik, die (menschliche) Arbeit ersetzt. Das klingt für manche vielleicht schon kapitalismuskritisch, kapitalismusanalytisch aber ist es zu kurz und zu schlicht gedacht. Deswegen wird diese Antwort auch gern dort gegeben, wo gar keine Kapitalismusanalyse betrieben wird: bei den nicht enden wollenden Prognosen zum Ausmaß der Ersetzung von Arbeit. Wie viele Menschen ersetzt ein Roboter? Wie viel Büroarbeit schafft die KI? Wissenschaftliche Studien und um Aufmerksamkeit heischende Medien werden nicht müde, diese Fragen zu stellen und sie mit möglichst zitations-, klick- und auflagefördernden Zahlen zu untermauern. Sicher: Wie jede andere Technik vor ihr wird auch die Digitalisierung dazu genutzt, menschliche Tätigkeiten zu ersetzen. Das ist aber für den Kapitalismus nicht problematisch, dafür braucht er keine neuen Lösungen oder Antworten. Das kann er sozusagen gut (»er« kann natürlich nichts, es sind die unzähligen Rationalisierungsentscheidungen, -aushandlungen und -umsetzungen in den Unternehmen, die allerdings wegen der Struktur dieser Wirtschaftsweise in der Tendenz gar nicht anders, in der Konkretion der Ausgestaltung aber sehr unterschiedlich entscheiden und handeln können). In diesem Buch soll nicht nach den neuen technischen Optionen für die Ersetzung von Arbeit gesucht werden. Stattdessen wird gefragt, ob der Kapitalismus selbst neue – oder zumindest verschärfte – Probleme hat. Und ob sich daraus erklärt, dass bestimmte Formen der Digitalisierung und digitaler Geschäftsmodelle besonders erfolgreich sind.

Die in diesem Buch theoretisch entwickelte und empirisch untermalte These dazu lautet: Das zunehmende Problem der Unternehmen und Volkswirtschaften in einem hoch entwickelten, global agierenden Kapitalismus ist der gelingende Absatz. Was immer mehr und immer effizienter produziert (oder sogar nur kopiert) werden kann, ist nichts wert, ohne dass es auch gekauft wird. Das ist der Zielpunkt aller Aktivitäten. Auf den Weltmärkten wird weiterhin darum konkurriert, wer am billigsten produziert. Zunehmend wettbewerbsentscheidender aber wird die Konkurrenz um die immer zu wenigen Kaufwilligen. Die Rationalisierungs- und Optimierungsbemühungen der Unternehmen richten sich verstärkt auf den Markt, der immer schneller, aber auch immer geplanter bedient werden soll. Überraschungen mögen die Shareholder nicht. Der Markt und am Ende der jeweilige Kaufakt waren und sind das entscheidende Nadelöhr jeden unternehmerischen Handelns. Die darauf bezogenen Strategien aber schoben sich mehr und mehr in den Vordergrund und genau bei diesen, das wird sich im Verlauf des Buches zeigen, ist die Digitalisierung besonders hilfreich (wenn auch am Ende keine Lösung, sondern eigenständiger Beitrag zum grundsätzlichen Problem).

Die analytische Kernaussage dieses Buches lässt sich auch anders fassen: Im entwickelten Kapitalismus unserer Tage ist das zentrale Problem die Realisierung von geschaffenen Werten auf Märkten. Strategien der Marktausdehnung und des Konsums werden zum relevanter werdenden Feld für Konkurrenz. Neben den auf die Wertgenerierung gerichteten Produktivkräften gewinnen die auf die Wertrealisierung zielenden an Dominanz. Das hat ökonomische Gründe, die in der Logik unseres Wirtschaftssystems liegen, und ist nicht Folge der Digitalisierung. Um diese Bedeutungsverschiebung analytisch und empirisch exakter beleuchten zu können, erhalten diese speziellen Produktivkräfte hier einen eigenen Namen: Distributivkräfte. Diese umfassen erstens alle mit der Wertrealisierung verbundenen technologischen und organisatorischen Maßnahmen und Aktivitäten, deren Intention zweitens ist, diese Wertrealisierung möglichst garantiert immer weiter auszudehnen, auf Dauer zu sichern und dies mit möglichst geringen Zirkulationskosten. Genau hier erweisen sich dann die Digitalisierung und digitale Geschäftsmodelle als besonders erfolgversprechend.

Um noch einmal auf Nassehis Frage zurückzukommen: Das Problem steckt in der Wirtschaftsweise selbst, die Lösung ist ein Fächer technisch-organisatorischer, institutioneller und gesellschaftlicher Antworten; die Digitalisierung optimiert und beschleunigt diese Lösungen – deswegen ist sie so erfolgreich. Leider sind die Lösungen keine echten Lösungen und die Digitalisierung ändert daran nichts (sie verschärft das grundsätzliche Problem sogar). Das »Meta-Problem« besteht darin, dass es innerhalb dieser ökonomischen Logik nur punktuell, zeitlich befristet und im Sinne einzelner Akteure gelöst werden kann – nicht aber generell. Da geht es dem Kapitalismus wie Nassehis Moderne: Wie diese das Komplexitätsproblem mit der Digitalisierung nicht loswird, wird der Kapitalismus sein Problem (immer zu viel Ware für immer zu wenig Markt) mit der Digitalisierung nicht los. Im Gegenteil: Im einen wie im anderen Fall verschärft die scheinbare Lösung das je grundsätzliche Problem.

Da ich von Kapitalismus spreche – und nicht einfach von Wirtschaft – und von Produktivkräften (bzw. von deren Spezialform, den Distributivkräften), wird die wenigsten wundern, wenn ich in diesem Buch mehr und mehr bei Karl Marx lande. Nicht weil ich schon bei ihm starten wollte, sondern – das wird die Abfolge der Kapitel deutlich machen – weil die aktuellen Analysen zum digitalen Kapitalismus die entscheidenden Antworten nicht geben. Wer meiner Argumentation folgen will, kommt nicht um Karl Marx herum. Das sei schon mal warnend für die vorausgeschickt, die schon bei seiner Namensnennung zur Schnappatmung neigen oder das gar als »bad neighborhood«8 betrachten.

Aber mit der oben skizzierten Absicht, wie ich dieses Buch schreiben will, ist es unvermeidlich, auf sein Theorieangebot zurückzugreifen. Denn es ist das erste und bis heute umfangreichste, das Arbeit und Leben, Ökonomie und Gesellschaft, Technik und Soziales, Markt und Welt gemeinsam und in ihrem Wandel betrachtet. Ob dieser Werkzeugkasten auch für den digitalen Kapitalismus taugt, werden wir noch sehen. Beim Rückgriff auf Marx folge ich aber der Einsicht, »[…] dass man die aktuelle Entwicklung der modernen Gegenwartsgesellschaften ohne den Gebrauch bestimmter auf Marx zurückgehender Schlüsselbegriffe nicht nur annähernd verstehen kann – und dass dies immer mehr der Fall sein wird, je deutlicher die treibende Rolle der sich weiter entfaltenden kapitalistischen Marktwirtschaft in der entstehenden Weltgesellschaft werden wird« (Streeck 2013: 17-18).

Für alle, die mit Karl Marx Berührungsängste haben – lassen Sie sich mit mir auf ihn ein. Über die politischen Konsequenzen seiner Analysen mag man trefflich streiten, über seine Analysefähigkeit aber kaum. Selbst die Akteure, die sicher am wenigsten als Kapitalismuskritiker einzuordnen sind, kommen manchmal nicht an Marx vorbei – auch wenn man ihn dabei (ob absichtlich oder nicht) komplett missversteht: So möchte selbst das World Economic Forum (WEF)9 »some Marxism« (Bendell 2016) verordnen und meint damit das bedingungslose Grundeinkommen. Nicht, um Menschen gegen Armut abzusichern, da die Digitalisierung im großen Stile Arbeit vernichten werde, sondern, um trotzdem den für die Wirtschaft notwendigen Massenkonsum aufrechtzuerhalten. Oft scheint es schlicht davon abzuhängen, wer spricht: Wenn Marx sagt (oder kritische Stimmen, die sich auf Marx berufen), dass Unternehmen nur Profitinteressen folgen, wird das als eine zu radikale Aussage gebasht oder erst gar nicht beachtet. Wenn aber Nobelpreisträger das Konzept der sozialen Verantwortung von Unternehmen provokativ und bewusst reduzieren auf das Ziel »to increase profit« (Friedman 1970), wird das komischerweise weitgehend akzeptiert.

Weil sein Name oft missbraucht wird; weil die »Kapital«-Exegese oft mit ähnlicher Inbrunst betrieben wird wie die Bibel-Exegese (obwohl das Eine scharfe Analyse und das Andere religiöse Schrift ist); weil die Deutungsangebote zu Marx’schen Schriften Legion und die Deutenden sich allzu oft nicht einig sind; weil die wenigsten Marx im Original, sondern vor allem oder allenfalls über ihn gelesen haben – aus all diesen Gründen werde ich Karl Marx ebenso wie Friedrich Engels in den analytischen Teilen dieses Buches selbst zu Wort kommen lassen. Dafür habe ich im Original viel Neues und vieles noch mal neu gelesen. Und der erneute und ausführliche Blick in viele der sehr vielen berühmten blauen Bände hat sehr große Freude gemacht. Das Ringen um analytische Präzision, die Komplexität des Denkens, die immer wieder erstaunliche Aktualität, der prognostische Weitblick – all das liefert ein beeindruckendes Instrumentarium, auch und gerade zum Verständnis unseres in die Jahre gekommenen, sich trotzdem immer neu erfindenden Kapitalismus, auch in seiner digitalen Form. Deswegen, falls Sie solche haben: Schieben Sie Ihre Berührungsängste für einen Moment zur Seite (sie lassen sich ja ganz schnell wieder wärmend um die irritierten Schultern legen). Gerade wenn Marx-Lektüre bisher so gar nicht Ihr Ding ist, wenn Sie zwischen Wirtschaft und Kapitalismus keinen Unterschied machen und die Welt, wie sie ist, eigentlich ganz in Ordnung finden: Seien Sie mal wirklich »disruptiv«, entwickeln Sie ein wirkliches »Open Mindset« und begeben Sie sich mit mir auf Marx’sches Terrain.

Die analytisch-theoretische Fundierung dieses Buches wird sich um den schon kurz eingeführten Begriff der Distributivkraft herum aufbauen. Diesen Begriff habe ich in Analogie zum Marx’schen Begriff der Produktivkraft geprägt. Bei Marx sind bekanntermaßen Wissenschaft und Technik ein (nicht: der) Ausdruck der Entwicklung der Produktivkräfte – die er immer in Bezug auf die Produktionsverhältnisse diskutiert. Das Buch greift diese Idee auf und entwickelt sie weiter. Ziel war dabei nicht, ein »Marx hatte immer schon recht«-Buch zu schreiben, sondern die analytische Stärke des Marx’schen Werks gerade für den Zusammenhang von technischer Entwicklung und ökonomischen wie gesellschaftlichen Verhältnissen als Instrument zu nutzen und (notfalls auch respektlos) passfähig zu machen und weiterzudenken, wo es die aktuellen Veränderungen erfordern.

Meine These der Distributivkraft versucht Digitalisierung dahingehend zu verstehen, dass ein Großteil der aktuell dadurch entfachten Aktivitäten letztlich vor allem auf eines abzielt: die Realisierung von Wert auf Märkten. Es geht also nicht mehr nur um das Schaffen neuer Werte, sondern vereinfacht gesagt darum, sicherer, schneller und möglichst garantiert auf Dauer auf dem Markt erfolgreich zu sein. Ziel ist es nicht, eine Ablösungsthese zu begründen nach dem Schema: vom Industriekapitalismus der Produktivkräfte zum Digitalkapitalismus der Distributivkräfte. Das wäre herrlich einfach, ist aber leider zu einfach. Die Sache ist komplexer. Deswegen ist es auch so wichtig, analytisch auseinanderzuhalten, was sich empirisch unentwirrbar mischt. Auch bei dieser Denkaufgabe hilft das Marx’sche Instrumentarium.

Selbst in der Wissenschaft ist das Lesen – also ein echtes Lesen von vorne bis hinten – aus der Mode gekommen. Denn auch die Wissenschaft wird längst von Kennzahlen gesteuert und ist aufgerufen, immer mehr Wachstum zu produzieren: Mehr Studierende, mehr Drittmittel, immer noch mehr! referierte! internationale! hoch gerankte! Publikationen. Wie in der Wirtschaft aber ist auch hier der Markt begrenzt. Die steigende Überproduktion an wissenschaftlichen Texten steht einer sinkenden Möglichkeit zum Lesen gegenüber (vielleicht eine Idee für einen volkswirtschaftlichen Artikel: Die Berechnung des tendenziellen Falls der Leserate … Ich schweife ab). Deswegen lesen wir alle schneller, instrumenteller, quer und mit Mut zur Lücke. Was oft auch völlig ausreichend ist.

Die Überproduktion verschärft sich, weil es mit der Marktausdehnung in der Wissenschaft besonders schwierig ist. Die Wachstumsaufforderung in Richtung Wissenschaft sagt nämlich so gut wie nie: Schreib mehr für die Gesellschaft! Tausche Dich mit vielen aus, die anderes woanders tun! Verlasse den Elfenbeinturm so oft wie möglich! Wer außer der Wissenschaft liest schon wissenschaftliche Texte? Warum auch, die meisten wissenschaftlichen Texte machen sich auch nicht die Mühe, möglichen Nutzen über die eigene Disziplin hinaus wenigstens zu benennen. Auch mein Buch ist wahrscheinlich die falsche Lektüre nach einem langen Arbeitstag, einem zu späten Abendessen mit vielleicht quengelnden pubertierenden Kindern oder mit entgrenzt arbeitenden Familien- oder WG-Angehörigen; und mein Buch ist auf jeden Fall zeitraubender und weniger spannungsreich als eine 45-minütige Folge der aktuellen Lieblingsserie im favorisierten Streamingdienst. Doch das gilt für die meisten wissenschaftlichen Bücher. Trotzdem möchte ich Sie einladen, der Argumentation Schritt für Schritt von Kapitel zu Kapitel zu folgen. Die komprimierten Zusammenfassungen hier und im abschließenden Kapitel lassen zwangsläufig einiges offen, was längere Betrachtung braucht.

1.2Digitaler Kapitalismus und Wert

Die Liste der Zeitdiagnosen rund um die Digitalisierung ist endlos. Je nach Erscheinungsjahr unterscheiden sich die technischen Phänomene und/oder die neuesten Geschäftsmodelle oder deren je protagonistische Unternehmen, die jeweils betrachtet werden. Der Ordnung und Übersicht halber wären diese zumindest einleitend alle abzugrasen. Das aber kann ich mir (und Ihnen) hier sparen. Denn so inspirierend oder debattenstiftend viele dieser Diagnosen sein mögen – mich interessiert die ökonomische Dimension hinter den digitalen Phänomenen. Mich interessiert hier nicht die Macht der großen Digitalkonzerne, die weit über die ökonomische Sphäre hinausgeht, sondern die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Und die Antwort der meisten Diagnosen darauf befriedigt mich nicht. Denn viele beschreiben letztlich das immer gleiche Cocktailrezept (ob kritisch beäugt oder beeindruckt jubelnd): Man mische innovative Forerunner der Digitalisierung mit disruptivem Geschäftsgebaren, würze mit immateriellen Produkten (mit wenigen bis keinen Grenzkosten), gieße auf mit unbeschränkten Daten als Rohstoff und erhalte nach kräftigem Shaken nicht mehr einholbare Skalen- und Netzwerkeffekte. Das stimmt natürlich alles auch. Aber ist es schon die ganze Erklärung? Hat es nicht bildhaft weitergedacht auch mit der Bar an sich zu tun und damit, dass der Barstock immer schon voller war als nötig, um die Zahl der Trinkwilligen an der Theke zufrieden zu stellen? Oder anders: Können der Kapitalismus und seine ökonomische Logik mehr erklären als die Digitalisierung und die Algorithmen?

Die Beantwortung dieser Frage nimmt im zweiten Kapitel ihren Ausgangspunkt beim Begriff des digitalen Kapitalismus. Dan Schiller (1999) hat diesen ursprünglich gestiftet und es bleibt nicht der einzige Versuch, Digitalisierung und Kapitalismus gemeinsam unter die Lupe zu nehmen – er selbst macht unter dem Eindruck der Finanzkrise von 2007/2008 einen zweiten Anlauf (2014). Schillers geopolitische und technikhistorische Perspektive wird ergänzt durch die stärker medientheoretischen Überlegungen von Michael Betancourt (2015); in der deutschen Debatte kaum beachtet, sind auch für ihn die Finanzkrise und das Finanzwesen starke Bezugspunkte und damit Antrieb wie Brennglas für seine Auseinandersetzung mit dem digitalen Kapitalismus. Schließlich und als dritter Autor, der seine Diagnose schon im Titel auf den digitalen Kapitalismus bezieht: die (wirtschafts-)soziologische Betrachtung Philipp Staabs (2019), der die Plattformökonomie als anbieterkontrollierte Märkte analysiert.

Diese drei durchaus unterschiedlichen – aber eben immer um den digitalen Kapitalismus kreisenden – Autoren lese ich kontrastierend quer, und zwar entlang dreier thematischer Zusammenhänge, die mir für meine Ausgangsfrage (was ist eigentlich mit der Bar?) am hilfreichsten erscheinen. Ich klopfe ab, ob in der Zusammenschau der drei Autoren die mir wesentlichen drei Fragen an den digitalen Kapitalismus schon beantwortet sind: Was passiert durch wen mit welcher Dynamik? Ändert das Immaterielle wirklich die zentrale Basis der Ökonomie (Arbeit und Wert)? Was ist der eigentliche Treibriemen des Ganzen? Erkennbar ist dieses Buch sehr viel länger geworden als Kapitel 2 (und übrigens auch länger als ursprünglich gedacht). Und das hat damit zu tun, dass die drei quer gebürsteten Autoren meine drei Fragen nicht befriedigend beantwortet haben. Und man den Verdacht nicht loswird, dass es doch das Digitale sei, das die Rede vom digitalen Kapitalismus antreibt, nicht aber neuartige oder zumindest relevant veränderte ökonomische Dynamiken.

Aber die Beschäftigung mit ihnen (den Autoren wie ihren Antworten zu meinen drei Fragen) legt eine erste Leerstelle frei, die im Zentrum des dritten Kapitels steht: die Frage des Werts. Hier suchen wir uns zunächst argumentative Hilfe und finden analytische Tiefe bei Mariana Mazzucato (2018). Sie setzt sich nicht nur mit dem Wert auseinander und damit, wo er entsteht. Sie zeigt auch, wie viel wirtschaftswissenschaftliche Verschleierung den Wert – eigentlich Kern aller wirtschaftlichen Aktivitäten – aus unser aller Wahrnehmung verschwinden ließ. Und dass dies nichts mit der Immaterialität des Digitalen, sondern mit sehr materiellen Interessen zu tun hat.

Nachdem der Wert und seine Bedeutung zurück ans Licht geholt wurden, kann erst gefragt werden, wie es um ihn denn nun bestellt sei im digitalen Kapitalismus. Löst sich der vorher vernebelte Begriff auch faktisch in Bits und Pixel auf? Karl Marx geht davon aus, dass Waren im Kapitalismus zwei – höchst widersprüchliche – Werte in sich vereinen: den Gebrauchswert (der ganz qualitativ gemeinte, stofflich nicht beliebige Nutzen) und den Tauschwert (ein rein quantitatives Maß, das sich vor allem auf dem Markt bewähren muss und dort sichtbar wird – nach Marx dort aber nicht entsteht).

Dieser Wert wird nach Marx im Produktionsprozess generiert, das Maß ist die notwendige Arbeit. Und weil im industriellen Kapitalismus das eine mit Mechanik und Stahl und das andere mit Muskeln und Kraft verbunden scheint, lassen sich so viele so leicht dazu verführen, mit den veränderten Erscheinungen auch gleich das »Dahinter« verschwinden zu sehen. Gebrauchs- und Tauschwert aber bleiben uns auch im digitalen Kapitalismus erhalten, selbst wenn die Produktionsmittel ihr Gesicht und die Arbeit ihre Qualifikation ändern. Wert und Arbeit, Gebrauchs- und Tauschwert mögen im digitalen Kapitalismus anders aussehen und in anderen Formen zusammenkommen – analytisch passen bis hierhin aber die alten Marx’schen Kategorien nach wie vor.

Wird damit das Fazit am Ende des dritten Kapitels sein: Business as usual im digitalen Kapitalismus? Alter Wein in neuen Schläuchen? Good old capitalism – goes digital? Ja und nein. Denn erstens ändert sich auch vieles, wenn sich die Formen ändern – an vielen Stellen gleichzeitig und weltweit und bis in unsere Lebenswelt hinein. Und zweitens haben wir bis dahin nur auf einen, wenn auch ganz wesentlichen Aspekt des Kapitalismus geblickt. Wenn sich an dieser Stelle nichts Grundsätzliches tut – warum gibt es dann die großen Tech-Unternehmen mit ihren gigantischen Aktienbewertungen? Haben die nur einfach besser die Digitalisierung durchschaut? Dann wären wir wieder bei unserer einleitenden Frage angelangt. Wenn Facebook oder Google, wie wir wissen (und wie wir uns auch noch im Detail anschauen werden), unglaubliche Umsätze allein aus Werbeeinnahmen generieren – dann muss es auch umgekehrt Unternehmen geben, die bereit sind, diese Gelder zu verausgaben. Ist das eine Art Medienwechsel: Weniger nationale Fernsehwerbung, mehr globale Internetwerbung? Auch das gibt es. Es erklärt aber weder die unglaublich großen Umsätze noch die gigantischen Aktienbewertungen. Zwei Thesen fangen an dieser Stelle an, sich herauszukristallisieren:

Zum einen, dass das Neue im digitalen Kapitalismus möglicherweise nicht auf der Seite der Wertgenerierung, sondern auf der Seite der Wertrealisierung zu suchen sein könnte. Zum anderen, dass wir es mit einer systematischen Unwucht zu tun haben, die in Kapitel 2 bei Philipp Staabs Unknappheit und Michael Betancourts Knappheit schon durchschimmert. Für beide sind dies Phänomene des digitalen Kapitalismus. Denkt man sich das Digitale weg, ließen sich die gleichen Prozesse aber auch mit Überproduktion, Überakkumulation und Widersprüchen zwischen Real- und Finanzwirtschaft erklären – und das findet sich auch schon alles in den Analysen von Marx zum industriellen Kapitalismus seiner Zeit. Aber dieser sich andeutenden These, dass die Antwort »hinten« (am Markt) und nicht »vorne« (in der Produktion) zu finden ist, soll nicht vorschnell gefolgt werden. Zunächst zurück zu den Ursprüngen des Kapitalismus und seiner Analyse.

1.3Produktivkraft und Markt

Im vierten Kapitel wenden wir uns den beiden Theoretikern zu, die sich mit der letzten großen Transformation – also der ersten industriellen Revolution – beschäftigt haben und dabei Analyseinstrumente vorgedacht haben, die Technik, Wirtschaft und Gesellschaft in ihrem Zusammenwirken statt als Abfolge des jeweils anderen betrachten: Karl Polanyi mit seiner historischen Analyse der Great Transformation und Karl Marx mit seiner Kapitalismusanalyse und seiner Theorie der Produktivkraftentwicklung. Mit beiden Analysebrillen gehe ich ein bisschen respektlos um. Ich denke beide Ansätze viel enger zusammen, als das üblicherweise geschieht – denn Polanyi und Marx lenken ihre Kritik teils aus unterschiedlichen Richtungen auf den gleichen Gegenstand und mit der gleichen Intention. Und auch da, wo sie in ihrem, wie man heute sagen würde, »Wording« oder »Framing« unterschiedlich erscheinen, legen sie letztlich den Finger in die gleiche Wunde. Außerdem erlaube ich mir, nur so viel Analytik von beiden Herren zu übernehmen, wie mir für meine Absicht – das wirklich Neue in der Entwicklung der Digitalisierung der letzten Jahrzehnte zu verstehen – hilfreich erscheint. Und schließlich gestatte ich es mir, mit Marx über ihn hinauszudenken und stelle seiner Produktivkraft den Begriff der Distributivkraft zur Seite. Denn genau damit – das ist wie gesagt meine zentrale These – wird das eigentlich Neue der aktuellen Digitalisierung sichtbar.

Marx und Polanyi haben sich in ihrer Analyse zur Entstehung des Kapitalismus und seiner Besonderheiten, wenn auch aus unterschiedlicher Richtung, auf den Produktionsprozess konzentriert. Beide haben – teils auch explizit begründet – bewusst die andere Seite, den Absatzmarkt bzw. die Zirkulationssphäre, zunächst weitgehend aus der Analyse herausgenommen. Natürlich ist beiden mehr als klar, dass die Schaffung von Werten auf der einen Seite (der Produktion) ökonomisch nur aufgeht, wenn sich diese Werte auf der anderen Seite (dem Absatzmarkt) auch realisieren – also verkaufen – lassen. Beide Autoren benennen dies, lenken ihre Aufmerksamkeit aber auf das, was zu ihrer Zeit die vorherrschende Dynamik antreibt. So befasst sich Marx mit dem im Produktionsprozess entstehenden Mehrwert, während er die Frage der Wertrealisierung auf dem Markt vor allem von der Konsumtionskraft und damit den Verteilungsverhältnissen her beleuchtet. Und Polanyi blickt auf die veränderte Rolle des Kaufmanns, der zuvor Fertigprodukte ein- und verkaufte, nun aber Rohstoffe und Arbeitskräfte einkaufe – hier verortet Polanyi die transformierende Qualität der Dynamik; nicht auf der Verkaufsseite der nun unter Aufsicht des zum Unternehmer mutierten Kaufmanns neu geschaffenen Produkte. Die transformierende Dynamik der damaligen Industrialisierung sehen Polanyi und Marx also in der Verbindung technischer Innovation in der Produktion mit einer neuen ökonomischen Logik des Einkaufs (Polanyi) bzw. der Mehrwertschaffung (Marx).

Polanyi glaubt, auch das wird zu zeigen sein, nicht daran, dass sich die Marktgesellschaft einhegen lasse. Da ist er Marx viel näher, als die meisten wahrhaben wollen. Und beide motiviert erkennbar etwas, was mehr ist als nur sachliche Analyse: Bei Polanyi ist es die systematische Vernutzung der eigentlichen Substanz – damit meint er den Menschen, aber auch Natur und Gemeinschaft. Bei Marx ist es die Prognose, dass bei aller Entfesselung dessen, was er Produktivkräfte nennt, der Kapitalismus letztlich den Menschen in seinem Fortschritt (als Gattung insgesamt) hemmt.

Auch der von Marx gestiftete Begriff der Produktivkraftentwicklung muss in diesem Zusammenhang angesprochen werden. Nicht nur, weil damit alles uns hier Interessierende zusammengebracht wird (Gesellschaft und Wirtschaft, Wandel und Transformation, Technik und Arbeit), sondern auch, weil in neueren Betrachtungen die Digitalisierung selbst gerne als Produktivkraftsprung gesehen wird. Zudem müssen wir uns neuere Anwendungen des Marx’schen Konzepts an dieser Stelle anschauen. Denn vielleicht liegen hier ja schon die Antworten zur Analyse des digitalen Kapitalismus bereit und wurden nur von den eingangs diskutierten drei Autoren nicht benutzt. Diese Hoffnung aber wird enttäuscht. So fruchtbar das Marx’sche Konzept der Produktivkräfte (und der Produktionsverhältnisse und der sich aus beiden ergebenden Produktionsweise) ist, so analytisch vage und unbestimmt wird es auf die aktuelle Entwicklung übertragen. Entweder wird es (akklamierend statt argumentierend) zum Produktivkraftsprung überhöht oder (missverstehend wie misslich) auf die Produktivitätsfrage verkürzt.

Neben einer ersten Leerstelle (der Wert), die in den eingangs behandelten, aktuellen Texten zum digitalen Kapitalismus ausgemacht werden konnte, finden wir also eine zweite Leerstelle (die Wertrealisierung) in den klassischen Analysen zur Entstehung des industriellen Kapitalismus. Das aber ist keine grundsätzliche Leerstelle, wie im fünften Kapitel verdeutlicht wird. Die Wertrealisierung wird im entwickelten Kapitalismus (ob digital oder nicht) immer wichtiger. Es reicht aber nicht, das nur zu behaupten. Wir werden dies auch theoretisch herausarbeiten und analytisch absichern. Mit Marx lassen sich da zunächst drei treibende Dynamiken ausmachen: Marktausdehnung, Konsum und Krise.

Diese Dynamiken sind nicht beliebig, auch vor-kapitalistische Märkte zeigen Ausdehnungstendenzen; auf jedem Markt wird nur gekauft, was auch konsumiert werden will und kann, und die gesamte Menschheitsgeschichte kennt ökonomische Krisen, auch lange vor dem Kapitalismus. Marktausdehnung, Konsum und Krise aber sind im Kapitalismus nicht nur mögliche, sondern zwingende Dynamiken. Neben die Konkurrenz der produzierenden Unternehmen um eine kostengünstigere Produktion bei gleichzeitig aufrechtzuerhaltender oder zu steigernder Wertgenerierung tritt eine verschärfte Konkurrenz um die Poleposition auf Absatzmärkten.

Weil die Produktion eine Tendenz zur Maßlosigkeit hat, gilt das auch für den Absatz. Deswegen müssen immer neue Märkte erschaffen, geöffnet, erschlossen und für die Konkurrenz möglichst geschlossen werden (mit ganz unterschiedlichen Methoden). Konkurriert wird hier nämlich um ein – trotz aller Ausweitung der Märkte – systematisch immer zu kleines Gut: Konsumwillige, vor allem aber konsumfähige Marktteilnehmerinnen und Markteilnehmer. Die Konsumwilligkeit lässt sich herstellen, die Konsumfähigkeit (im ökonomischen Sinne von Kaufkraft) aber bleibt begrenzt. Deswegen wird die Wertrealisierung immer wichtiger – aber auch immer schwieriger. Dieses grundsätzliche Problem, das systematische Missverhältnis bleibt bestehen und muss auch immer wieder zu Krisen führen. Um diese zu vermeiden (so lange es geht) oder in ihren Auswirkungen zu minimieren (so gut es geht), muss dieses Missverhältnis zwischen zu viel Produktion und zu wenig Konsumtion (immer in Relation zueinander gedacht) täglich kleingearbeitet werden. Dafür wird ständig im Kleinen wie im Großen (also betriebs- wie volkswirtschaftlich sichtbar werdend) an der Schraube der Konsumwilligkeit gedreht. Konsum wird zu einem vorherrschenden und sich ausweitenden sozialen Modus, so sehr und so lange schon, dass sich zwischen Konsum und Gesellschaft nur noch schwer erlebbare Trennlinien ziehen lassen. Konsumwilligkeit muss immer neu entfacht werden – aber selbst da, wo dies gelingt, bleibt die Grenze der Konsumfähigkeit bestehen. Schon sehr früh und lange vor der Digitalisierung spielen dabei Kommunikationsmittel eine Rolle und werden eingesetzt zur Marktausdehnung, Konsumanstiftung und Minimierung des Risikos in dieser dauerhaft krisenanfälligen Veranstaltung. Diese Zusammenhänge – das lässt sich alles schon bei Marx finden – erfordern immer mehr Aufmerksamkeit; immer mehr Aufwände, Technologieeinsatz und Arbeit stecken in den Produktivkräften, die sich darauf richten.

1.4Drei Distributivkräfte und ihre Entwicklung

Das sechste Kapitel widmet sich den drei auf die Wertrealisierung ausgerichteten Produktivkräften oder – wie ich sie aufgrund ihrer Bedeutungszunahme definiere – Distributivkräften. Diese sind Werbung und Marketing (alle Anstrengungen, die direkt auf die Wertrealisierung, also auf Konsum und Markt, zielen), Transport und Lagerung (alle Anstrengungen, um den physischen Zugang zu Märkten und zur Wertrealisierung zu gewährleisten) sowie Steuerung und Prognose (alle Anstrengungen, die Wertgenerierung und Wertrealisierung verknüpfen und in allen Zirkulationsbewegungen im wahrsten Sinne des Wortes berechenbar machen). Alle drei Distributivkräfte werden im sechsten Kapitel analytisch und historisch herausgearbeitet – denn sie sind nicht Ausdruck der Digitalisierung, sondern ihre begierigsten Abnehmer. Steuerung und Prognose ist unter diesen drei Distributivkräften eine besondere, weil sie allein auftreten kann, aber sich oft und zunehmend mit den anderen verbindet. Trotz analytisch getrennter Darstellung und empirisch eindeutig zuordenbaren Einzelphänomenen: Alle drei Distributivkräfte hängen zusammen, überschneiden sich, entwickeln sich technisch-organisatorisch und in komplementärer Arbeitsteilung manchmal zusammen, fast immer aber in Wechselwirkung zueinander.

Weil diese Distributivkräfte den eigentlichen Kern meiner Distributivkraftthese untermauern, sind sie jeweils mit Marx theoretisch erarbeitet, immer aber auch mit aktuellen (aber bewusst nicht nur digitalen) empirischen Beispielen konkretisiert. Dabei werden wir so Unterschiedlichem begegnen wie dem alten »customer engineering« oder dem neuen Retargeting; wir werden uns mit der Frage beschäftigen, wie viele T-Shirts in eine Frachtladung passen und was die Ford Foundation mit dem in den Business Schools dieser Welt vermittelten Wissen zu tun hat.

Distributivkräfte sind also, wie betont, alle mit der Mehrwertrealisierung verbundenen, technologischen und organisatorischen Maßnahmen und Aktivitäten (zur Sicherung) der Wertrealisierung. Also nicht nur, was in und durch Unternehmen passiert; noch nicht einmal nur, was sich in Branchen oder einzelnen Wertschöpfungsketten abspielt. Sondern auch das damit eng zusammenhängende, stützende und ermöglichende Institutionengefüge sowie politische Rahmenbedingungen, soziale Praktiken, gesellschaftliche Normen usw. usf. Behandelt wird hier nur der Bereich der Distributivkräfte im engeren Sinne – also die von den Akteuren der Wirtschaft angewandten Strategien und Technologien sowie die damit korrespondierenden und sich entwickelnden Formen der Nutzung von Arbeit und Arbeitsvermögen. Sie bleiben aber immer Teil der Produktivkraftentwicklung und sind wie diese damit Ausdruck von und eingebettet in die gleichen Produktionsverhältnisse.

Distributivkräfte sind keine neue Erscheinung, aber je länger der Kapitalismus existiert, desto relevanter und unverzichtbarer werden sie – für das einzelne Unternehmen im Konkurrenzkampf um gelingende Wertrealisierung, für ganze Volkswirtschaften in ihrem Konkurrenzkampf, die unvermeidlich kommende, nächste Krise hinauszuzögern.

Die Digitalisierung ist dabei eine besonders passfähige Verbündete – sie greift viel effektiver auf der Distributivkraftebene als auf den anderen Ebenen der Produktivkräfte. Weil ihre Technologien und Geschäftsmodelle vor allem eines versprechen: Marktausdehnung, Konsumanstiftung, möglichst risikolose Wertrealisierung. Das hat eine neue Qualität. Wo sie rein aufseiten der Wertgenerierung an der Mehrwertschraube dreht, wird sie eingesetzt wie jede andere Produktivkraft auch. Das Neue aber, das den digitalen Kapitalismus von seinem Vorgänger unterscheidet, spielt sich aufseiten der Wertrealisierung ab. Deswegen – wenn man dieser Phase des Kapitalismus unbedingt einen Namen geben will – müssen wir vom Distributivkraftkapitalismus sprechen. Denn das eigentlich Neue verschiebt sich im Ökonomischen und nicht im Technischen. Eine Lösung für die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus sind weder die Distributivkräfte noch ihre digitalisierten und digitalisierenden Erscheinungsebenen. Denn sie selbst und die auf sie zielenden Geschäftsmodelle sind den gleichen Logiken unterworfen, auf die sie reagieren wollen. Und weil die Aufwände und der Anteil lebendiger Arbeit im Bereich der Distributivkräfte steigen, lassen sich auch hier die altbekannten Methoden zur Senkung der (Zirkulations-)Kosten beobachten.

Wer nicht nur diese stark komprimierende und viele Argumente notwendigerweise überspringende Einleitung liest, sondern auch die dazugehörigen Kapitel, wird sich dann vielleicht noch Aussagen zur Entwicklung der Distributivkräfte über die Zeit wünschen. Oder – für die Marx-Fans – noch Lust auf ein paar skeptische Fragen haben. Für beides ist Raum im siebten Kapitel. Und weil ersteres nur kurz und überleitend zum tiefergehenden empirischen nächsten Kapitel ausgeführt werden wird und letzteres nur die interessiert, die auch vorher schon fanden, dass Marx alles andere als »bad neighborhood« ist und selbst schon in dem einen oder anderen blauen Band ausführlich gestöbert haben, hier nur die Stichworte: Bei der Entwicklung über die Zeit (grob betrachtet seit den 1980er Jahren) stellt sich die Frage nach Sprung, Disruption oder Layering. Schmetterling oder Heuschrecke? Bei den Abgrenzungen zu anderen Begriffen des Marx’schen Theoriegebäudes wird es um Zusammenhänge und Abgrenzungen zu den Distributionsverhältnissen und zur Zirkulation gehen. In beiden Fällen spare ich mir hier den Spoiler und empfehle Kapitel 7.

1.5Illustrationen und Destruktionen

Nach so viel Theorie und Analyse wird es im achten Kapitel vor allem empirisch und im noch engeren Sinne als bisher digitaler. Ein einzelnes empirisches Kapitel kann natürlich die Distributivkräfte nicht in ihrer Gesamtheit, in all ihren Wechselwirkungen und ihrer Entwicklung darstellen. Dazu bräuchte es ein ganzes Forschungsprogramm. Insofern ist dieses Kapitel eher eine vertiefende Illustration und ein Prüfstein, ob Phänomene des digitalen Kapitalismus besser verstehbar werden, wenn man die Distributivkraftbrille aufsetzt. Den Ausgangspunkt bilden dabei bewusst die GAFAM-Unternehmen (Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) – Hauptdarsteller fast jeder Diagnose zur aktuellen Digitalisierung und auch wichtige, teils zentrale Bezugspunkte für die Autoren des digitalen Kapitalismus, mit denen sich dieses Buch am Anfang auseinandersetzt. Zentrale Kennzahlen auf Basis der Geschäftsberichte für 2019 und weiterer Quellen dieser fünf (und drei weiterer) Unternehmen zeigen im Vergleich viel Unterschiedliches. Erst mit der Distributivkraftperspektive wird dann aber deutlich, woher die Unterschiede rühren. Dies ist die erste empirische Illustration.

Die zweite identifiziert zwei Katalysatoren, die den zwei zentralen Motiven der Distributivkräfte (Marktausdehnung und Konsum) zu noch mehr Schubkraft verhelfen und die spezifisch sind für die aktuelle Variante des digitalen Distributivkraftkapitalismus – Venture-Capital und ubiquitärer Konsum. Risikokapitalströme ermöglichen und erliegen gleichermaßen dem Versprechen unendlicher Marktausdehnung. Und werden Digitalisierung und Neurowissenschaften miteinander verbunden, entstehen zunehmend unvermeidbare Formen der Konsumanstiftung.

Die dritte Illustration kategorisiert entlang der theoretisch entwickelten Distributivkräfte vorherrschende digitale Geschäftsmodelle und die aktuell wichtigsten digitalen Technologien und macht sichtbar, wie sehr dabei die Wertrealisierung im Vordergrund steht. Und sichtbar (im wörtlichen Sinne) wird dabei auch, dass ein Unternehmen die gesamte Klaviatur der Distributivkräfte am besten bespielt: Amazon ist als Kaufmannskapital 4.0 ein Sonderfall. Das ahnt man auch so, lässt sich aber mit der Distributivkraftbrille anders erklären.

Die vierte Illustration schließlich richtet den Blick nicht mehr auf die Unternehmen, sondern auf die konkrete Arbeit. Auf Basis quantitativer Analysen kann gezeigt werden, dass und wie sich die gestiegene Bedeutung der Distributivkräfte auch auf der Ebene von Berufen und Tätigkeiten abbildet. Zusammen verdeutlichen alle vier empirischen Illustrationen: Die Distributivkraftthese bietet einen anderen und bisher vernachlässigten Zugang zum Verständnis des Kapitalismus in seiner digitalen Form.

Das letzte Kapitel ist mehr Ausblick als Fazit. Auch begrifflich schnüren wir am Ende erst noch einmal auf statt zu: Produktiv- und Distributivkräfte, Produktions- und Reproduktionsverhältnisse. Aus ökologischer Perspektive fragen wir nach der Rolle der Digitalisierung und speziell der Künstlichen Intelligenz. Damit blicken wir im resümierenden neunten Kapitel – auch wieder anknüpfend an Marx und Polanyi – auf die Reproduktionskräfte und -verhältnisse. Beide Karls treiben schon zu ihrer Zeit Sorgen um, die auch in den aktuellen Digitalisierungsdiskursen ihren Widerhall finden, nämlich, dass ein bestimmter Einsatz von Technik zusammen mit einer bestimmten ökonomischen Logik nicht nur Produktives entfaltet, sondern unweigerlich auch Destruktives: Bei Polanyi geht es dabei um Schaden an der Substanz (Mensch, Gemeinschaft und Natur), bei Marx um die herrschenden Produktionsverhältnisse, die nicht nur – darauf sollte seine Analyse nicht reduziert werden – mit der Ausbeutung menschlicher Arbeit und natürlicher Ressourcen verbunden sind, sondern dazu führen, dass die Entwicklung von Mensch und Gesellschaft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Welche spezifischen Gefahren in der Distributivkraftentwicklung für die Reproduktion von Mensch, Gemeinschaft und Natur liegen, wird abschließend diskutiert und vor allem mit Blick auf die neueren Spielarten der Digitalisierung – Künstliche Intelligenz und Machine Learning – gefragt, ob die Digitalisierung selbst im Distributivkraftkapitalismus so genutzt werden kann, dass sie nicht zur Destruktivkraft wird.

Eines Tages in diesen pandemisch erzwungenen und für das Buchprojekt erwünschten, langen Homeoffice-Phasen dieses seltsamen Jahres 2020 wanderte mein Blick vom ewigen Bildschirm – zum echten Fenster. Und ich konnte miterleben, wie eine (klassische, nicht digitale) Litfaßsäule10 – ein in die Jahre gekommenes Distributionsmittel – sozusagen gehäutet wird. Ich muss gestehen, ich hatte vorher nie darüber nachgedacht, wie die vielen Schichten von Werbeplakaten wieder abgenommen werden. Die eigentliche Trägersäule ist ja irgendwann zentimeterdick umgeben von Plakatpapier und Tapetenkleister, die, von Regen durchnässt und von der Sonne gebleicht, eine erstaunlich feste Substanz ergeben. Und diese muss wieder entfernt werden, soll die Litfaßsäule noch für ihren Zweck weiterverwendet werden. Nun konnte ich beobachten, wie zwei Arbeiter den entstandenen Papier-Kleister-Zylinder längs aufsägten. Sie weiteten – ganz offensichtlich eine körperlich schwere Arbeit – den Radius des aufgebrochenen Zylinders, bis die Litfaßsäule unter mühseligem und wiederholtem Ziehen und Weiten davon befreit werden konnte. Die am Boden liegende, mächtige Röhre war so groß und schwer, dass sie wie ein gefällter Baum mit einer Motorsäge in kleinere Stücke zerlegt werden musste. Am Ende war die Litfaßsäule fast wie neu und kann nun wieder mit Plakaten bestückt werden, bis sie erneut von einer zu dick gewordenen Schicht befreit werden muss – oder von einer digitalen Litfaßsäule ersetzt wird.

Wie jeder Vergleich hinkt auch dieser. Er passt trotzdem in zweierlei Hinsicht zur Distributivkraft und zum digitalen Kapitalismus, also den zentralen Themen dieses Buches. Erstens haben wir, wenn wir uns die Entwicklung von der alten Litfaßsäule bis zu umfassenden DOOH-Kampagnen anschauen, ein wunderbares empirisches Beispiel für die Entfaltung der Distributivkräfte. Zweitens steht der aufwendige Prozess der Plakat-Häutung im Sinne eines »Tapetenwechsels« der Litfaßsäule bildhaft für das, was wir hier als das Neue im digitalen Kapitalismus analysieren: die Distributivkraft.

Es wird sozusagen, um im Bild zu bleiben, eine neue Plakatschicht aufgetragen und mit anderen, lauteren, bunteren und schließlich digitalen Inhalten gefüllt. Die Basis aber, die Säule – die kapitalistische Logik – bleibt bestehen. Auf ihrer Phänomenebene ändert sie sich jedoch massiv. Die Produktivkräfte werden nicht durch die Distributivkräfte ersetzt. Das ist nicht die These (weil letztere Teil der ersteren sind, ginge das schon rein logisch nicht). Die Frage ist also nicht, wann und ob die analoge Annociersäule flächendeckend von DOOH-Geräten ersetzt wird, und damit auch die Tätigkeiten des Plakateklebens und -entsorgens. Es geht um viel mehr. Denn die Ausgangsfrage war ja nicht: Was macht die Digitalisierung aus dem Kapitalismus? Sondern: Welche Mechanismen des Kapitalismus verstärken, verändern und verschieben sich (und warum) – und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung? Und da wird die digitale Ersetzung interessant, denn durch sie lässt sich die Taktzahl des Werbewechsels unendlich erhöhen und die damit verbundenen Zirkulationskosten können auf Dauer minimiert werden. Einerseits. Andererseits steigen wahrscheinlich die Kosten, weil nun mehr Werbetreibende benötigt werden, um die Investitionskosten für die digitale Variante wieder reinzuspielen. Und die Betreuung der Omni-Channel-Kundenprojekte, die die eine Litfaßsäule in ein ganzes Marketingkonzept einbinden, braucht andere Qualifikationen. Die Kosten für diese Arbeit liegen sicher deutlich über denen, die für die Gestaltung der reinen Print-Plakate und das Plakatekleben und -entsorgen anfallen. Dann tritt die Konkurrenz auf den Plan. Und auf einmal wird die Bushaltestelle neben der Litfaßsäule auch zum DOOH. Und der sowieso so schwer zu ermittelnde Werbeeffekt der Litfaßsäule sinkt.

So ist diese eine Litfaßsäule nicht nur Hilfsmittel zur Marktausdehnung und Konsumanstiftung, sie stiftet selbst neue und weitere Gründe für noch mehr Marktausdehnung und wieder andere Formen der Konsumanstiftung. Und das mit ungewissem Ausgang für das beteiligte Unternehmen – trotz aller Wirkungsmessung –, auf jeden Fall aber mit einem gesellschaftlichen und ökologischen Fußabdruck. Hier zeigt es sich wieder, das ganze Dilemma des digital verstärkten Distributivkraftkapitalismus.

1 Mit Digitalisierung wird in der aktuellen Debatte meist zweierlei adressiert: einerseits ein Bündel neuerer informationstechnologischer Artefakte und Technologien (von Künstlicher Intelligenz und Machine Learning über das Internet der Dinge bis hin zu neuen Ansätzen in der Robotik), andererseits die mit deren Nutzung erwarteten Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft.

2 Das englische Wort »tag« meint die Auszeichnung eines Datenbestandes mit zusätzlichen Informationen und ein »meta tag« wird für Informationen zum Ursprung oder Zweck einer ganzen Datenentität (Datei oder Webseite) genutzt. Verwendung finden solche Tags etwa in HTML, XML oder spezifischen XML-Varianten (wie JATS für die Auszeichnung wissenschaftlicher Journal-Artikel). Dieses Buch etwa wird, um es im Netz auffindbar zu machen oder damit Literaturprogramme wie Zotero diese Informationen direkt übernehmen können, mit Tags versehen werden wie: <title>Digitalisierung als Distributivkraft</title> <author>Sabine Pfeiffer</author> <year>2021</year>. Im Code würden diese drei Tags normalerweise untereinandergeschrieben und es gebe weitere »tags« (für Verlag, Ort, Schlagworte usw.). In der NZZ erscheint seit 2007 (und seit 2009 regelmäßig) eine Kolumne unter dem Titel »Meta-Tag«, die sich der digitalen Aufklärung verschrieben hat. Eine Sammlung der wichtigsten Texte aus zehn Jahren (Betschon 2017) lohnt das Lesen – auch deswegen, weil sich nachzeichnen lässt, wie über die Jahre dieses Ziel der digitalen Aufklärung im gleichen Maße notwendiger wie schwieriger geworden ist.

3Noch hieß der Beruf so, die erste Neuordnung der industriellen Metallberufe sollte das Berufsbild erst 1987 inhaltlich und vom Namen her ändern. Die Ausbildungsordnung der Werkzeugmacherin oder des Werkzeugmachers – wie die der meisten Metallberufe – stammte tatsächlich aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre und atmete noch den Geist des Grundlehrgangs »Eisen erzieht« (auch wenn der Name zu meiner Zeit schon in Grundlehrgang Metalltechnik geändert war) aus der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Pätzold 1989: 235-251). Mit der – bzw. zumindest meiner – damaligen betrieblichen Wirklichkeit hatten diese längst überholten Ausbildungsinhalte kaum noch etwas zu tun. Die Neuordnung 1987 integrierte die neuen, aber schon im Betrieb angekommenen Technologien in die Ausbildungsordnung: Steuerungs- und CNC-Technik, SPS (Speicherprogrammierbare Steuerungen), Elektronik und Mikroprozessortechnik, aber auch: berufliche Handlungsfähigkeit statt nur Kenntnis- und Fertigkeitserwerb; aus fast 40 Metallberufen wurden fünf mit je drei bis vier Fachrichtungen (vgl. IndMetAusbV 1987), aus »meinem« Werkzeugmacher (so steht es bis heute noch ganz un-gegendert auf meinem Zeugnis) wurde die Werkzeugmechanikerin oder der Werkzeugmechaniker.

4CNC ist die Abkürzung für Computerized Numerical Controlled und meint die rechnergestützte Steuerung von Maschinen, wobei NC (Numerical Controlled) für die technische Vorstufe noch ohne (Mikro-)Computer steht.

5CAD ist die Abkürzung für Computer-aided Design, es umfasst Software für das Konstruieren von zwei- oder dreidimensionalen Modellen auf dem Computer.

6CAM ist die Abkürzung für Computer-aided Manufacturing, solche Software stellt die Verbindung zwischen dem im CAD erzeugten Konstruktionsdaten und dem CNC-Bearbeitungsprogramm an der Maschine her. So können z.B. die gleichen Konstruktionsdaten mithilfe von CAM zu Bearbeitungsdaten verändert und dort in die verschiedenen CNC-Sprachen unterschiedlicher Steuerungshersteller umgewandelt werden.

7CIM ist die Abkürzung für Computer-integrated Manufacturing und nimmt als Vision schon vieles vorweg, was ab 2011 unter dem Namen »Industrie 4.0« und mit veränderten technischen Möglichkeiten wieder neu auftaucht, nämlich die datentechnische Vernetzung aller produktionsrelevanter Prozesse.

8Schlechte Nachbarschaften meint in der digitalen Welt: Eine Webseite begibt sich in schlechte Gesellschaft, wenn sie zu Link-Farmen, Webseiten mit Malware oder mit illegalen oder anderen von den Algorithmen von Google & Co. unterdrückten Inhalten verlinkt. Sie kann damit selbst in den Suchrankings nach unten fallen. Meist tappen Suchmaschinenoptimierungsstrategien in diese Falle, die meinen, über viele Verlinkungen ihr Ranking zu verbessern. Es kommt aber eben auch darauf an, wohin verlinkt wird.

9Seine Krisendiagnose von 2016 vergessend, ruft das WEF aktuell – nach der Great Transformation (sozusagen der Geburt des Kapitalismus) und der Great Depression (seiner ersten und wie wir wissen nicht letzten großen Krise) – nun angesichts steigender sozialer Ungleichheit und der ökologischen Katastrophe einen Great Reset aus. Dieses Mal aber ist es nicht die Digitalisierung, die Antworten erfordert, sondern COVID-19. Im (insgesamt erschreckend flach argumentierenden) Buch zum Kongress (vgl. Schwab/Malleret 2020) findet sich neben mehr globaler (vgl. ebd.: 114-119) wie nationaler Governance (vgl. ebd.: 89-95) als Antwort vor allem mehr vom Gleichen: eine weiter beschleunigte Digitalisierung (vgl. ebd.: 153-154 und 176-180) und mehr Wachstum (nur irgendwie nachhaltiger) und anders vermessen. Damit etwa polarisierte Einkommen, schief verteilte Teilhabechancen oder gesellschaftliche Resilienz volkswirtschaftlich auch sichtbarer werden (vgl. ebd.: 58-63). Eine Webseite des WEF nennt als die vier »building blocks of the Great Reset«: ein verändertes Mindset, das bessere Messen der Missstände, deren Abmilderung durch Incentivierung und: dass sich die Menschen untereinander (und auch irgendwie der Natur) wieder näherkommen.

10Die Litfaßsäule (ursprünglich Annonciersäule) gibt es seit 1855 (vgl. Reichwein 1980) und erfreut sich als »gelerntes« Medium weiterhin großer Beliebtheit, Zehntausende dieser »runden Allgemeinstellen« stehen weiterhin in deutschen Städten (vgl. FAW 2005), allerdings zahlenmäßig wie optisch längst überdeckt von (Digital) Out-of-Home-Werbung ((D)OOH), also Werbung über verschiedene digitale Formate im öffentlichen Raum wie u.a. Billboards, Video-Stelen, ÖPNV-TV oder Infoscreens. In Deutschland sind bereits über 100.000 solcher Geräte im öffentlichen Raum installiert, Werbeetats in diesem Bereich liegen für ganze Kampagnen zwischen einer und zehn Millionen Euro (vgl. FAW 2020). Zudem gilt OOH als der drittschnellst wachsende Werbemarkt (vgl. Warner 2020: 490).

2.Digitaler Kapitalismus revisited – schon wieder?

Der Begriff des digitalen Kapitalismus ist alles andere als neu. Ich habe auch nicht vor, ihn für mich zu reklamieren oder ihn neu zu erfinden. Er bildet einfach den für meine Analyse passenden Rahmen. Denn in diesem Buch geht es um den Kapitalismus in Zeiten der Digitalisierung. Es geht mir aber nicht darum, den Kapitalismus als digital zu charakterisieren oder die Digitalisierung als letztlich kapitalistisch zu entlarven. Beides ist trivial, beides wurde schon oft gemacht. Als ich 1998 meine Magisterarbeit zu Internetarbeit am Beispiel von Information-Broking schrieb (Pfeiffer 1999), war das Buch von Dan Schiller zum Digital Capitalism noch nicht erschienen. Schon damals aber war es üblich, dem Kapitalismus und/oder der Gesellschaft Adjektive oder Substantive an die Seite zu stellen, die das beschreiben, was wir heute unter Digitalisierung fassen – beginnend mit der schon seit den frühen 1970ern diskutierten Informationsgesellschaft (Crawford 1983) über die Netzwerkgesellschaft (Castells 2000) bis aktuell zum Überwachungskapitalismus (Zuboff 2019). Ich werde hier aber auch nicht alle Zeitdiagnosen referieren, die seit Erscheinen des Internets auf der Weltbühne entstanden sind und sich mit diesem aus verschiedenen Blickwinkeln auseinandersetzen. Trotzdem klärt auch die kritische Beschäftigung mit anderen Ansätzen – für einen selbst ebenso wie für die, die sich lesend darauf einlassen –, was der eigene Ansatz leisten will und leisten kann, und was nicht.

Mit diesem Ziel beschränke ich mich hier bewusst auf eine Auswahl: Zunächst lohnt es sich, bei Dan Schiller, dem Erfinder des Terminus »digitaler Kapitalismus« noch einmal kurz zu verweilen (Kapitel 2.1). Der Blick zurück ins Original ist auch notwendig, denn Schiller teilt das Schicksal vieler: Man bedient sich gerne seines Begriffs, reduziert bis verdreht aber die zentralen Aussagen. Wir werden sehen, dass einer der hier vorgestellten Ansätze mit Schiller, sagen wir mal, sportlich umgeht, während ein anderer Autor zwar den Begriff des digitalen Kapitalismus prominent verwendet, ohne aber Dan Schiller überhaupt ein einziges Mal zu erwähnen. Dan Schiller ist ein amerikanischer Wirtschafts- und Technikhistoriker, der die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien mit einer geopolitischen Perspektive verbindet. Sein Ende der 1990er Jahre erschienenes Buch (1999) zum Digital Capitalism ist eines der ersten, das das damals vergleichsweise noch junge Internet polit-ökonomisch und gleichzeitig historisch einordnend betrachtet und dabei Marktbeziehungen und (technische) Netzwerke systematisch zusammendenkt. Neben dieser Ausgangsdiagnose habe ich drei weitere Bücher ausgewählt, die meine eigene Untersuchung einrahmen:1

•Dan Schillers zweite große Analyse (2014), die rund 15 Jahre später erscheint und die aktuellen Entwicklungen der digitalen Ökonomie mit den Erfahrungen der sogenannten Finanzkrise von 2007/2008 verknüpft. Er bleibt dabei seiner ursprünglichen – historischen und geopolitischen – Perspektive auf den digitalen Kapitalismus treu. Gerade wegen ihrer analytischen Verbindung sind beide Bücher als gemeinsame Lektüre mehr als zu empfehlen.

•Michael Betancourt, ebenfalls aus den USA, mit einem disziplinären Hintergrund in der kritischen Theorie und der Film- und Medienkritik. Seine Analyse scheint direkt bei Dan Schiller anzuknüpfen, verspricht der Buchtitel doch ebenso eine Kritik des digitalen Kapitalismus wie eine polit-ökonomische Analyse der digitalen Kultur und Technologie (Betancourt 2015). Allerdings erwähnt Michael Betancourt Dan Schiller an keiner Stelle des Buches – trotz einiger Parallelen. Sein Buch, eine Sammlung verschiedener Aufsätze, stellt ebenfalls vielfältige Vergleiche mit der Finanzwelt an.

•Mit dem Soziologen Philipp Staab wird auch eine europäische Perspektive einbezogen. In dieser Auswahl ist sein Buch das aktuellste. Bei ihm stiftet der Begriff des digitalen Kapitalismus prägnant den Haupttitel (Staab 2019). Daher finden sich Bezüge zu beiden Büchern von Dan Schiller, so spielt auch bei Staab die Finanzwelt eine zentrale Rolle. Im Kern geht es ihm um die Entwicklung proprietärer,2 also anbieterkontrollierter Märkte.

Alle drei Analysen sind nicht älter als fünf Jahre. Sie beschreiben also die jüngeren Entwicklungen des digitalen Kapitalismus. Außerdem nehmen sie jeweils eine eindeutig kapitalismuskritische Perspektive ein und der Begriff des digitalen Kapitalismus spielt eine so explizite wie zentrale Rolle. Eine dritte Gemeinsamkeit ist, dass alle drei Studien einen größeren diagnostischen Anspruch haben – also Zusammenhänge und Entwicklungslinien aufzeigen, die über ein enges Verständnis der Informationswirtschaft oder der technischen Entwicklung weit hinausgehen. Neben diesen Gemeinsamkeiten sind es vor allem die disziplinären Unterschiede und daher Schwerpunkte der Analysen, die in ihrer Gesamtschau einen inspirierenden – und insgesamt breiteren – Blick auf den digitalen Kapitalismus erlauben.3

Dennoch werde ich mich hier auf drei thematische Zusammenhänge beschränken, die für meine spätere Argumentation besonders fruchtbar sind. Sie finden sich jeweils bei den drei Autoren, teils sogar mit großen inhaltlichen Überschneidungen und begrifflicher Nähe zueinander – teils aber auch mit relevanten Unterschieden.

(1) Dynamik – Transformation – Akteure (Kapitel 2.2).