Dinner mit Schnabels - Toni Jordan - E-Book

Dinner mit Schnabels E-Book

Toni Jordan

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Beschreibung

Die Dinge sind in letzter Zeit nicht besonders gut gelaufen für Simon Larsen. Er liebt seine reizende Frau Tansy, die mit ihren Apfelbäckchen noch immer wie ein Mädchen aussieht, und auch seine beiden wunderbaren Kinder, die ernsthafte Mia und den kleinen Raufbold Lachie. Aber seit sein Architekturbüro während der Corona-Pandemie pleite ging und die Familie aus ihrem schönen Haus in Melbourne in eine beengte Wohnung umziehen musste, ist Simon sprichwörtlich nicht mehr von der Wohnzimmercouch hochgekommen. Während Tansy wieder angefangen hat, zu arbeiten, kümmert er sich mehr recht als schlecht um die Kinder und möchte ansonsten in Ruhe gelassen werden.Nur dass die omnipräsente Familie seiner Frau ihn einfach nicht in Ruhe lässt. Die Schnabels – bestehend aus Tansys furchteinflößender Mutter Gloria, ihrer älteren Schwester Kylie und dem jüngeren Bruder Nick – wünscht er sich zum Kuckuck. Doch als die Idee an ihn herangetragen wird, den verwilderten Garten eines alten Schulfreunds seiner Frau neu zu gestalten, den dieser den Schnabels für eine Familienfeier zur Verfügung stellen will, ahnt er nicht, dass die sieben Tage, die er dafür Zeit hat, die alles entscheidende Woche in seinem Leben werden. Denn nicht nur taucht mit der nervigen und bis dato unbekannten jüngeren Halbschwester seiner Frau ein unerwarteter Hausgast auf – auch Tansy selbst scheint ihm etwas zu verheimlichen, das Simons Welt völlig auf den Kopf stellt …

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Aus dem Englischen übersetzt von Karl-Heinz Ebnet

© 2021 by Toni Jordan

Originalverlag: 2021 by Hachette Australia Pty Limited, Sydney

Titel der australischen Originalausgabe: Dinner with the Schnabels

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe: Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien

Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim a. R.

Covermotiv: Shutterstock und Rawpixel

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Montag – 1

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Dienstag –11

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Mittwoch –18

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Donnerstag –26

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Freitag33

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Samstag40

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43

44

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Margaret und Ron, die mir beigebracht haben,

mutig zu sein, selbstständig zu denken

und Quinella-Wetten zu platzieren.

Und für meine Schwestern Lee, Erin und Lauren.

Wenn ihr in der Welt seid, kann ich nie allein sein.

Prolog

In der Rezeption eines Büros, hoch oben in einem Wolkenkratzer aus Glas und Stahl, stand eine Frau am Fenster und sah auf die Stadt hinab.

Hier oben war alles so ruhig. Der Verkehrslärm, das Getöse der Baustellen, das Gedränge der Fußgänger waren aus dieser Perspektive Probleme für geringere Sterbliche. Auf dem Empfangstresen sorgte ein riesiger Blumenstrauß in Pink und Weiß für unangemessene Fröhlichkeit. In Büros wie diesen geschieht nichts Gutes, dachte die Frau. Hierher kam man nur, wenn die Dinge ziemlich schlecht standen.

Die Frau war Ende dreißig und hatte rotblonde, schulterlange Haare. Sie drehte sich um und nahm wieder auf einem der eleganten Stühle Platz, bei deren Design kein Gedanke an die Bequemlichkeit verschwendet worden war. Sie schlug die Beine übereinander, erst das linke über das rechte, dann das rechte über das linke. Seit zwanzig Minuten wartete sie nun schon. Ihre Achseln waren feucht. Hätte sie bloß ein Buch mitgenommen.

Der unbequeme Stuhl war mit grauem Leinen bezogen. Die Dot-Painting-Werke an den Wänden gehörten eigentlich in eine Galerie. Der riesige Blumenstrauß duftete nicht. Alles war äußerst geschmackvoll, ohne irgendeine geschmackliche Aussage zu treffen. Die Stühle, die Bilder, die Blumen, das alles sollte von zwei Dingen ablenken.

Von schlechten Neuigkeiten und exorbitanten Honoraren.

»Steve empfängt Sie jetzt«, sagte die Rezeptionistin.

Als Steve sie auf der anderen Seite des langen Besprechungstisches Platz nehmen hieß, wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte.

Oh, er war durchaus freundlich. Und freute sich offenbar, sie zu sehen.

»Kaum zu glauben«, sagte er und umfasste mit beiden Händen ihre Hand. »Sie sind ja mittlerweile erwachsen. Das muss zwanzig Jahre her sein.«

»Eher dreißig.« Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Er stieß einen Pfiff aus. Er war ein rundlicher Mann mit Hosenträgern, sein Gesicht aber wirkte seltsam flach, als wäre es nur die Farbfotokopie seines echten Kopfs. »Ich denke oft an Ihren Vater.«

»Das ist nett.«

»Und wie geht es Nick? Und Ihrer Schwester? Wie hieß sie noch?«

»Kylie. Nick hat mit dem Fußball aufgehört, das wissen Sie vielleicht. Kylie ist Apothekerin.«

»Und Ihre Mutter?«

»Eine Gefahr für sich und andere.«

Er lachte. »Also alles wie gehabt. Clara, ob Sie es glauben oder nicht, aber diese Frau hab ich mal auf meinen Knien geschaukelt.«

Clara, seine Partnerin, gluckste untertänig in ihrem einfarbigen Hosenanzug.

Die Frau – die einstmals Geschaukelte – hatte sich wochenlang den Kopf zerbrochen, bevor sie den Termin vereinbarte. Es wäre ein Leichtes gewesen, andere um einen Rat zu bitten – sie kannte Frauen, die sich für Expertinnen auf diesem Gebiet hielten –, aber das hätte irgendwie etwas Konkretes an sich gehabt. Etwas Verpflichtendes. Sie hätte ihre Gedanken in Worte fassen müssen. Und bald darauf hätten Gerüchte die Runde gemacht.

Also hatte sie ein bisschen gegoogelt, und Steves Kanzlei war auf dem Bildschirm aufgetaucht. Sie kannte Steve aus ihrer Kindheit: onkelhaft, geduldig mit Kindern, nach Tabak und Whiskey riechend wie ihr Vater. Natürlich war ihr klar gewesen, dass Steve mittlerweile im Ruhestand sein müsste, aber seinen Namen zu lesen, sich an seine kleine rundliche Gestalt zu erinnern und zu wissen, dass sich ein kluger Erwachsener um sie kümmern würde, hatte etwas sehr Beruhigendes gehabt.

Steve hatte sich nicht verändert. Er war nicht das Problem. Die ganze Sache war von Anfang an ein Fehler gewesen.

Sie hörte, wie Steve mit ihr redete. Sich verabschiedete. »Einer von diesen Tagen, leider«, sagte er. »Ich überlasse Sie Claras fähigen Händen.«

Und jetzt, da sie Clara gegenübersaß, kam ihr alles auf einmal sehr viel schwieriger vor. Die Wände waren aus Glas, genau wie der Tisch.

Die Rezeptionistin hatte ihr einen Latte macchiato in einem Glas gebracht, um das sie jetzt verunsichert ihre Finger legte. Sie war nicht allein, sagte sie sich. Überall im Land saßen verheiratete Frauen in gläsernen Büros wie diesem und machten sich Gedanken über Dinge, von denen sie immer gedacht hatten, sie beträfen nur andere.

»Wie gesagt, ich weiß noch gar nicht, ob ich wirklich etwas unternehmen möchte«, sagte sie.

»Kein Problem. Betrachten Sie es als Beratungsgespräch«, sagte Clara. »Alles ganz unverbindlich.«

»Morgen wache ich vielleicht auf und sehe alles völlig anders.«

»Es ist immer klug, seine Optionen auszuloten. Und sich Zeit zu nehmen. Schließlich ist das eine wichtige Entscheidung.«

»Es geht nicht nur um mich. Es sind auch noch Kinder zu berücksichtigen.«

Clara beugte sich vor und schob ihr eine Box mit Papiertüchern hin. »Natürlich. Sind die Kinder noch minderjährig? Dann brauchen Sie einen Elternplan.«

Sie wusste nicht, was ein Elternplan war. »Vielleicht sollten wir von vorn anfangen.«

Clara lächelte schmallippig. »Natürlich. Als Erstes sollten Sie Ihre gemeinsamen Besitztümer auflisten. Vor allem das Haus – Darlehenshöhe, geschätzter Wert. Sämtliche Bankkonten mit Guthaben und Verbindlichkeiten wie Privat- und Geschäftskredite. Irgendwelche Immobilien als Wertanlage? Nein? Sie müssen aufführen, wie viel Sie und Ihr Mann in die Rentenkasse eingezahlt haben. Was Sie ursprünglich finanziell in die Ehe eingebracht haben. Und natürlich das Einkommen Ihres Mannes.«

Sie war offenbar bei einer Chirurgin gelandet. Ihr war, als würde sie bei lebendigem Leib gehäutet. Vielleicht hätte sie ihre Schwester mitbringen sollen. Schon jetzt verschwammen die Worte der Anwältin in ihrem Kopf. Vielleicht, dachte sie, sollte sie sich ein paar Notizen machen. Sie wühlte in ihrer Handtasche, bevor ihr Clara über den Tisch einen Stift und einen Notizblock mit dem Schriftzug der Kanzlei reichte: MacArthur Familienrecht.

Dann sprach Clara davon, wie wichtig eine, falls möglich, einvernehmliche Lösung sei, dadurch würden beide Seiten Anwaltskosten sparen – ein versierter Scherz, ein Ratschlag, der dem Interesse der Kanzlei eigentlich zuwiderlief. Sie sprach von Mediation, von Geben und Nehmen. Aufgrund des Alters der Kinder müsse das Sorgerecht von einem Familiengericht festgelegt werden. Clara gab ihr die Nummer für eine telefonische Beratung, falls sie jemanden zum Reden brauchte. Sie versprach, dass die Kanzlei vor jedem weiteren Schritt einen Kostenvoranschlag liefere, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Sie sprach davon, mit welchen Gerichtsentscheidungen zu rechnen sei, sollte man alles in die Wege leiten. Clara hatte diese Punkte gegenüber anderen konsternierten Frauen zigmal heruntergespult. Die konsternierte Frau in diesem Fall kritzelte wie besessen in ihren Notizblock.

»Hat Ihr Mann schon einen eigenen Anwalt beauftragt?«, fragte Clara.

»Nein. Nein, hat er nicht.« Der Himmel draußen vor dem Fenster wirkte niedriger als zu Hause. Schwere graue Wolken zogen von Westen auf. Sie widerstand dem Drang, auf die Uhr zu sehen. Sie hatte ihrer Mutter, die auf die Kinder aufpasste, gesagt, dass sie einen Mammographie-Termin hätte. »Ich habe noch nicht mit ihm darüber geredet. Er hat keine Ahnung, dass ich hier bin.«

»Das ist bei Paaren, bei denen die Kommunikation gestört ist, nichts Ungewöhnliches. Die Ehemänner fallen dann oft aus allen Wolken.«

Die Frau notierte sich auf ihrem Block: Simon fällt wahrscheinlich aus allen Wolken.

Montag1

Auf den ersten Blick sah Simon Larsen aus wie ein Mann, der nicht so recht wusste, wohin mit sich. Hängende Schultern, Fünftagebart. Er trug einen fleckigen Kapuzenpulli, und die Jogginghose, die sich über der Hüfte spannte, hatte auch schon bessere Tage gesehen. Er war irgendwie groß, ohne richtig groß zu sein, und füllig, ohne dick zu sein. Die Augen, früher mal strahlend blau, waren wässrig und verwaschen, darunter wölbten sich Tränensäcke wie kleine, haarlose, vor sich hindösende Raupen. Die graumelierten Haare waren etwas zu lang, das Gesicht aufgedunsen und fahl. Er wirkte wie jemand, der keinen Plan hat. Jedenfalls seinem Äußeren nach zu urteilen.

Aber wer das dachte, irrte sich.

Gut, Simon verfolgte nicht unbedingt ein besonderes Ziel, das seine Energien und Visionen befeuerte und ihn morgens noch vor dem Weckerklingeln aus dem Bett springen ließ. So was hatte es in der Vergangenheit gegeben, ja. Früher war er ein Getriebener gewesen, jemand mit Plänen und Projekten. Dieser Simon aus der Vergangenheit war jedoch nur noch eine schwache Erinnerung. Im Moment allerdings stand eine Sache an, die er unbedingt erledigen musste.

Er musste Naveen Patels Garten gestalten.

Nicht unbedingt eine Aufgabe, welche die Dichter in unsterblichen Versen besingen würden. Und sie würde wohl auch kaum zu einem Film mit Steve Carell in der Hauptrolle inspirieren. Aber die Sache drängte. Falls er Naveens Garten auf die Reihe brachte, könnte die Katastrophe abgewendet werden. Und Tansy – Simon musste zugeben, dass das seine eigentliche Motivation war – würde ihn dann nicht mehr piesacken. Seine Schwiegermutter Gloria würde ihn nicht mehr piesacken, seine Schwägerin Kylie, sein Schwager Nick würden ihn nicht mehr piesacken. Seine Frau und deren ganze Familie würden ihn nicht mehr piesacken, wenn er Naveens Garten neu gestaltete. Und wenn der Garten fertig war, würde Naveen ihn bezahlen. Um ehrlich zu sein, konnten sie das Geld gut gebrauchen.

Das alles war unglaublich motivierend für Simon, so sah’s aus. Er war jetzt ein Mann mit einem Ziel. Wenn er bis Samstag diesen Job erledigte, hätte er am Sonntag wieder sein normales Leben.

Trotzdem.

Es war Montagmorgen. Früher Morgen. Die Zeit lief. Simon hatte nur eine knappe Woche, um Naveens Garten zu machen, aber dort, in diesem Garten, war er jetzt nicht, er war nicht beim Schaufeln und Pflanzen und Säen. Er war mit seiner Frau Tansy am Bahnhof Southern Cross und wartete auf einen Zug.

Tansy war eine hübsche Frau mit rotblonden, schulterlangen Haaren, Apfelbäckchen und Sommersprossen auf der Nase, die aussahen, als wären sie mit einer Sprühpistole aufgetragen worden. Ihr Gesicht war herzförmig. Sie sah aus wie ein Milchmädchen aus einem Märchen, wie jemand, der jeden Tag acht Gläser Wasser trank und jede Nacht acht Stunden schlief. Simon hielt sie immer noch für die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte.

Sie saßen gerade mal drei Minuten im Bahnhofscafé, als Tansy sagte, sie müsse telefonieren. Müsse. Sie zog ihr Handy aus dem kleinen Fach an der Außenseite ihrer hellbraunen Ledertasche, wo es einquartiert war wie ein schnuckeliges Chihuahua-Baby, und tippte auf dem Display herum.

»Ich bin’s«, sagte sie. »Der Zug ist noch nicht da.«

War ein Café in einem Bahnhof überhaupt ein richtiges Café? Das Ganze war doch eher ein Food-Court in einer Bahnhofsbaracke. Die Schlange am Takeaway-Schalter zog sich zu dieser lächerlich frühen Stunde an der Glastheke mit dem Karottenkuchen und am Sushi-Laden vorbei, die Sitzplätze allerdings waren leer, mit Ausnahme der beiden, auf denen Tansy und er selbst saßen. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war laut, aber unverständlich. Tansy gab ein Aha und ein Hmm hmm und ein Verstehe von sich und nickte dazu wie eine russische Geheimagentin, die ein verschlüsseltes Briefing erhielt. Schließlich beendete sie ihr Telefonat, ohne sich zu verabschieden.

»War das Kylie?«, fragte Simon. »Hast du schon wieder Kylie angerufen?«

»Natürlich war das Kylie«, sagte Tansy und trank ihren Kaffee aus. »Wen sollte ich denn sonst anrufen?«

Simon wären da schon mehrere Möglichkeiten eingefallen. Vielleicht hätte dieser dringende Anruf was mit ihrer Arbeit zu tun haben können: vielleicht mit nervösen Eigentümern eines Hauses, das Tansy vermieten sollte, oder einem Mieter, der beim Aufstehen festgestellt hatte, dass es kein warmes Wasser gab. Oder sie rief vielleicht Edwina Chee an, um sich zu vergewissern, dass mit den Kindern alles in Ordnung war, dass Lachie seine Büchertasche und Mia ihre Sportsachen dabeihatte. Simon wusste, dass die Kids die Sachen hatten, weil er sie selbst zusammengepackt hatte. Die Kinder wurden nicht jeden Tag bei den Chees abgeliefert, damit sie mit deren Kindern zur Schule gebracht wurden, es wäre daher verständlich gewesen, wenn Tansy sich noch mal hätte erkundigen wollen.

Blödsinn, dachte er. Natürlich würde sie Kylie anrufen.

Er presste die Lippen zusammen. Zwölf Jahre Ehe mit Tansy waren lang genug, um ein grundlegendes Verständnis dafür zu bekommen, wann er den Mund zu halten hatte. Simon war stolz darauf, solche Sachen zu wissen. Wäre er bei den Ehe-Pfadfindern gewesen, hätte er auf seinem unbequemen paramilitärischen Hemd ein Abzeichen mit dem Slogan Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste getragen. Je weniger man sagte, desto besser. Man musste auch mal ein Ende finden können; das Geheimnis einer glücklichen Ehe lag zum Teil darin begründet, dass man nicht endlos auf Kleinkram herumritt. Simon wusste, wie man Fünfe gerade sein ließ.

»Aber du hast doch gerade erst im Auto Kylie angerufen«, sagte er.

»Das ist das Wenigste, was ich tun kann.« Tansy machte ein bekümmertes Gesicht.

Simon öffnete den Mund, um etwas zu sagen, von dem er schon jetzt wusste, dass er es bereuen würde, als Tansys Handy klingelte. Mit erhobenem Finger gebot sie ihm Einhalt und meldete sich. »Tansy Larsen.« Dann zwinkerte sie ihm zu, was mehr Sinn ergeben hätte, wenn sie gar nicht Tansy Larsen gewesen wäre.

»Noch nicht«, sprach sie ins Handy.

Diesmal hörte sich die Stimme am anderen Ende an wie jemand, der eine ganze Reihe von Heliumballons vorrätig hielt, falls kurzfristig Anweisungen für eine Lösegeldübergabe zu erteilen wären.

»Entspann dich«, sagte Tansy. »Wir tauchen in der Menge unter. Sie wird uns noch nicht mal wahrnehmen.« Sie grinste, blickte kurz zu Simon und machte einen Kussmund. Dann sang sie den Anfang der James-Bond-Melodie – duu duuduuduuduu duu duu duu –, lauschte eine ganze Weile, und als sie auflegte, lachte sie und sah wieder zu Simon. »Was?«, fragte sie ihn.

»Lass mich raten. Das war Nick.«

»Klar war das Nick«, sagte sie. »Wer soll es denn sonst gewesen sein? Er lässt dich grüßen.«

»Wenn er jetzt am Bahnhof wäre, um sieben Uhr morgens, so wie wir, dann könnte er seine Grüße ganz persönlich ausrichten.«

»Sie haben beide ein schlechtes Gewissen, weil sie es verpassen. Die arme Kylie und der arme Nick.«

Wo fängt man bei so einem Satz an? Verpassen? Dass die arme Kylie und der arme Nick es glatt verpassen, sich morgens um fünf mit Kopfschmerzen aus dem Bett zu quälen, die verschlafenen Kids ans Waschbecken zu scheuchen und mit den Augen auf Halbmast zuzusehen, wie sie sich lustlos die Zähne putzen – während er mit einer Hand Mia die Haare bürstet und mit der anderen Lachie die Schuhbänder schnürt und ihm die ganze Zeit der Schädel brummt, bevor er ihre Taschen mit Müsliriegeln und Joghurtbechern bestückt und die murrenden Kids und ihre Taschen (warum muss ein Kind in der Größe von Mia einen Rucksack in der Größe eines kleinen Ponys haben?) zum Wagen trägt, während die Gattin schon wieder mit ihrer Schwester telefoniert, schließlich die Kinder mit ihren halb geschlossenen Lidern bei den Chees abliefert, wo sie an der Tür von Edwina Chee begrüßt werden, die einen Hello-Kitty-Bademantel trägt, von dem Simon nie gedacht hätte, dass es ihn in Erwachsenengröße überhaupt gibt, und dazu Pantoffeln, die wie Zwergschnauzer aussehen? (»Dad!«, hatte Lachie gesagt, der mit einem Mal wach war und vom Rücksitz purzelte. »Wenn das richtige Hunde wären, dann steckten Edwinas Füße in ihren Hintern!«)

Oder sollte er sich denken, dass die arme Kylie und der arme Nick an diesem Morgen einen halben Arbeitstag verpassen, den Simon in Naveens Garten schon hätte hinter sich bringen können, jetzt am allerersten Tag seines Zeitplans? Rollrasen war zu verlegen! Gartenbeete anzulegen, Sträucher zu pflanzen! Die Steinplatten waren noch nicht gekommen! Es war perfektes Arbeitswetter: Temperaturen Mitte zwanzig Grad, teilweise bewölkt. Was für ein Glück für Februar. Und er war hier, begleitete seine Frau zum Southern Cross, damit sie, die eigentliche Arme, es nicht allein machen musste.

Was für eine idiotische Aktion, dachte er. Er hasste den Gedanken, dass sie sich das antat, dass sie sich grundlos aufregte.

»Es ist noch nicht zu spät, wir könnten noch nach Hause fahren«, sagte er. »Wir könnten uns ein geruhsames Frühstück gönnen, ohne die Kids. Ich könnte dir ein Omelett machen.«

»Alles gut.«

»Ich mag sie schon jetzt nicht«, sagte er. »Dabei hab ich sie noch gar nicht gesehen, trotzdem weiß ich es. Sie ist eine Nervensäge, ich weiß es.«

Tansy drückte seine Hand.

Der Kellner näherte sich ihrem Tisch.

»Einen Shiraz, bitte«, sagte Simon. »Einen doppelten Shiraz, mit einem Schuss Wodka.«

»Er meint noch mal einen Long Black«, sagte Tansy.

Simon zuckte mit den Schultern. »Wenn du es sagst.«

Tansy und Kylie und Nick. Simon war immer bewusst gewesen, dass sie nur im Paket zu haben waren. Nichts war wichtiger, erinnerte sich Simon, als die Beziehung zwischen Geschwistern. Theoretisch. In der Ecke seines Gehirns, wo alle logischen, vernünftigen und sinnvollen Gedanken zu Hause waren, verstand er vollkommen, dass Tansy eine so enge Beziehung zu ihrer älteren Schwester und ihrem jüngeren Bruder hatte. Als sie mit Gloria, ihrer alleinerziehenden Mutter, aufwuchsen, war es eine Frage des Überlebens gewesen, dass sie zusammenhielten. Er sah sie als dreiköpfige französische Résistance-Gruppe oder als Rock-Band. Rage Against the Gloria. The Surrey Hills Underground. Es war ganz wunderbar, dass Tansy eine so gute Beziehung zu Kylie und Nick hatte. Theoretisch. Und er verstand deren Beziehungen auch auf einer persönlicheren Ebene.

Nachts, wenn Mia und Lachie schliefen und Simon nach ihnen sah, waren sie für ihn die vollkommenen Engel: Mia, die mit leicht geöffnetem Rosenmund leise vor sich hin schnurchelte; und Lachie, den Daumen gut zwei Zentimeter von seinen perfekten Milchzähnen entfernt. Nie lieben Eltern ihre Kinder mehr, als wenn sie schlafen. Ich werde euch immer beschützen, dachte sich Simon in diesen Momenten.

Um im nächsten Moment durchzuckte ihn eine existenzielle Angst, die ihn so sehr mitnahm, dass er sich innerlich wand, denn dann fiel ihm ein, dass er und Tansy irgendwann sterben würden. Irgendwann in der Zukunft wären sie tot, keiner von ihnen beiden wäre dann noch da, um nach Mia und Lachie zu sehen – dann müssten Mia und Lachie gegenseitig auf sich aufpassen. In diesem atemraubenden, lähmenden Moment flehte er den Gott, an den er nicht glaubte, an, dass Mia und Lachie irgendwie mitbekamen, wie sehr Mummy ihre Tante Kylie und ihren Onkel Nick liebte und wie sehr sich diese drei gegenseitig stützten. Und in diesem Moment wollte Simon nichts mehr vom Leben als eine Art himmlische Versicherung, dass Mia und Lachie Tansys Beziehung zu ihren Geschwistern für sich übernahmen und, wenn sie größer wurden, sich wirklich liebten und gegenseitig unterstützten.

Dann wiederum gab es Zeiten, in denen er sich wünschte, Kylie würde einen Job in einer anderen Apotheke antreten, die weit, weit von ihnen entfernt war. Vielleicht könnte sie Apothekerin auf der Internationalen Raumstation werden. Die armen, die Erde umkreisenden Astronauten hatten sicherlich eine Menge Probleme – ausreichender Sauerstoffvorrat, Pinkeln in Schwerelosigkeit –, da würden sie doch nicht auf die nächste Versorgungslieferung warten wollen, die ihnen eine Pilzcreme oder ein imitiertes Parfüm brachte. Und Nick könnte doch zum Schuldirektor irgendeiner Grundschule in, sagen wir, Wagga befördert werden. Wagga war nicht so weit weg wie die ISS, aber das war auch nicht nötig. Nick verfügte nicht über halb so viel Entschlossenheit wie Kylie. Selbst wenn sie auf der ISS arbeitete, dachte sich Simon, war nicht auszuschließen, dass sie zum Essen hereinplatzte, wenn man es am wenigsten erwartete.

Simons eigenes Handy klingelte. Er sah aufs Display: Es war Naveen, der sich zweifellos fragte, wo er blieb. Er wischte den Anruf weg.

»Warum kommt sie eigentlich so früh?«, fragte er. »Heute ist Montag. Die Gedenkfeier ist doch erst am Samstag.«

»Keine Ahnung«, sagte Tansy.

»Sie wird nicht annähernd so schön sein wie du«, sagte er. Er legte seine Hand auf ihre. »Das kann gar nicht sein.«

Tansy lächelte.

»Trotzdem halte ich es für einen Fehler«, sagte er.

»Ich will ja nur sehen, wie sie aussieht«, sagte Tansy. »Einen Blick auf sie werfen.« Sie tauchte einen Zipfel ihrer Serviette in ihr Wasserglas und machte sich daran, einen Fleck auf ihrer Bluse wegzureiben, den sie in der Nähe des zweiten Knopfs entdeckt hatte. »Frühstücksflocken und Joghurt«, erklärte sie seufzend. »Von Lachie – ich weiß auch nicht, wie er das immer schafft.«

Lachie gelang es, überall seinen Joghurt zu verteilen, als stapfte er mit einem Joghurtbecher durchs ganze Haus und kleckste ihn auf jede verfügbare Oberfläche. Lachie war der Jackson Pollock des Joghurts.

»Du reibst ihn bloß noch mehr rein«, sagte Simon. »Ich mach heute Abend ein Fleckenspray drauf. Im Grunde könnten wir die ganze Mission abblasen und nach Hause fahren, und du kannst dich umziehen.«

»Hör auf mit dem Genörgel. Sie weiß nicht, wie ich aussehe. Wahrscheinlich hat sie noch nicht mal meinen Namen gehört. Vielleicht weiß sie gar nicht, dass es irgendeinen von uns gibt.«

»Aber was versprichst du dir davon?«, fragte Simon.

»Ich möchte einfach vorbereitet sein. Wir veranstalten die Gedenkfeier – da will ich nicht, dass sie auftaucht und wir … aus allen Wolken fallen. Ist er weg, guck mal!« Das bezog sich auf den Fleck. Dann sagte sie: »Da kommt der Zug.«

Er war es. Hinter den mit Kopfhörern bestückten Pendlern in Turnschuhen, hinter den ältlichen Touristenpärchen, die Rollkoffer hinter sich herzerrten und zum Teil immer noch Masken trugen, hinter den schnatternden Kindern in ihren Schuluniformen fuhr vier Gleise weiter der 6 Uhr 54-Zug aus Traralgon mit nur zwanzig Minuten Verspätung ein.

Tansys Handy erschien wieder, als hinge es an einer Rollleine, und schwebte einen Zentimeter neben ihrem Ohr.

»Ich bin’s. Der Zug ist jetzt da«, sagte sie. »Gib Nick Bescheid.«

Simon verbarg das Gesicht in den Händen.

Tansy beendete den Anruf und war schon aufgesprungen, bevor Simon seinen zweiten Kaffee austrinken konnte. Bis er sich ächzend aufgerichtet, sich davon überzeugt hatte, dass er noch Brieftasche und Schlüssel hatte, stand seine Frau bereits vor der Acrylglastrennwand und sah zu, wie der Zug seine Passagiere ausspuckte. Als er hinterherging, eilte sie mit Höchstgeschwindigkeit zu den Sperren. Er folgte.

»Halt nach jemandem Ausschau, der genau so aussieht wie Kylie und Nick und ich, nur anders«, sagte sie.

Nachdem sich Tansy und Kylie überhaupt nicht ähnlich sahen und Nick ein Mann war, durfte das knifflig werden. »Aber sie ist jünger, oder?«, meinte er. »Wie viel jünger, was meinst du?«

»Aber wir sehen doch alle jung aus für unser Alter«, erwiderte Tansy augenzwinkernd. »Und sie kommt vom Land. Also.«

Simon hatte sich immer für halbwegs intelligent gehalten, bis er Tansy getroffen hatte. In der Schule und auch an der Uni war er richtig clever gewesen – doch dann hatte er seine größte Unzulänglichkeit erkannt. Er sprach nur Englisch. Einfaches, normales, australisches Englisch. Tansy jedoch war, wie er vor Jahren begriffen hatte, zweisprachig, denn sie war im Besitz einer zweiten, völlig anderen Sprache, die unter ihren Worten mitschwang. Manchmal redete Tansy viel; dann wieder bestanden ihre Sätze aus nur einem einzigen Wort. So oder so, die Wörter, die aus ihrem Mund kamen, verbargen oft eine ganze Welt an Informationen, von denen Simon keine Ahnung hatte, wie er sie entziffern sollte – so, als wären Tansys geäußerten Worte die Spitze eines riesigen, sich unter der Wasseroberfläche verbergenden Eisbergs an Bedeutung. Am besten also immer einfach nur nicken, als wäre alles, was sie sagte, vollkommen einleuchtend. Es hatte keinen Sinn, seine Unwissenheit herauszukehren. Auch das hatte er gelernt.

»Sie … sieht also älter aus, weil … es auf dem Land weniger Kosmetikerinnen gibt? Frauen, die außerhalb von Städten aufwachsen, altern also schneller?«, meinte er.

Tansy blieb so abrupt stehen, dass ein Geschäftsmann im Anzug und mit einem Rucksack auf den Schultern sich um sie herumwinden musste. Sie legte den Kopf schief und runzelte die Stirn.

»Kosmetikerinnen? Darüber hab ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich glaube nicht, aber vielleicht ja doch«, sagte sie, und Simon durfte sich aussuchen, was nun wahrscheinlicher war: dass es weniger Kosmetikerinnen auf dem Land gab (empirisch offensichtlich, klar) oder dass Frauen durch Schönheitspflege jünger aussahen (was einer der Gründe sein musste, warum Frauen überhaupt zur Schönheitspflege gingen).

Tansy setzte sich wieder in Bewegung, dicht gefolgt von Simon. Vor ihnen an den Sperren ein Nadelöhr: Angestellte und Bauarbeiter stauten sich hinter einer jungen Frau mit einem Fünf-Millimeter-Buzz-Cut, die durch die Sperre wollte und sich dabei aus unerfindlichen Gründen an einem riesigen Blümchenkissen festhielt. Sie blickten hinüber, bis sich der Stau auflöste, dann blieb Tansy erneut abrupt stehen, streckte den Arm seitlich raus und verpasste ihm einen Schlag gegen die Brust.

Eine Frau hatte die Sperre passiert und kam ihnen jetzt entgegen.

»Nicht hinsehen. Das ist sie«, flüsterte Tansy.

Was hatte diese Frau, das sie – Kylie, Tansy und Nick – nicht hatten? So viele Jahre hatten sie darauf gewartet, es zu verstehen, hatten darüber sinniert. Tansy hatte nie groß darüber gesprochen, aber Simon wusste, dass ihr das manchmal durch den Kopf ging. So wie es Kylie durch den Kopf gehen musste. Und Nick. Nun würden sie es endlich herausfinden.

2

»Woher weißt du, dass sie es ist?«, fragte Simon.

Tansy drehte sich um. »Die Haare!«

Nicht hinsehen bedeutete nicht nicht hinsehen, war sich Simon sicher.

Er sah hin.

Die Frau, die Tansy entdeckt hatte, die Mögliche-Monica, trug ihre rotblonden Haare in einem Pagenschnitt; eine Kreuzung also aus Tansys Haarfarbe und Kylies Haarschnitt. (Kylie hatte glänzende schwarze Haare und sah mit ihrem Pagenkopf aus wie der Star einer deutschen Doku auf SBS über Nofretete.) Kurz, die Frau sah tatsächlich so aus wie Tansy und Kylie, nur anders. Von Nick konnte er nichts an ihr finden, aber das war vielleicht zu erwarten gewesen. Die Frau war Anfang dreißig, vielleicht, womit sie ein wenig jünger wäre als Nick – wobei Simon immer hoffnungslos überfordert war, wenn er das Alter von Frauen schätzen sollte. Sie trug weiße Marlene-Dietrich-Hosen und ein blaues ärmelloses Top aus irgendeinem seidigen Stoff, über der Schulter hatte sie eine Patchwork-Ledertasche.

»Schnell, gib mir deine Sonnenbrille«, sagte Tansy zu Simon. »Meine ist im Wagen.«

Er reichte sie ihr, und sofort drangen ihm gleißende Sonnenstrahlen durch die Augäpfel ins Hirn, wo seine dösenden Kopfschmerzen saßen und rücksichtslos geweckt wurden. Er wandte den Blick nach oben zu der seltsam geschwungenen Decke und den Rolltreppen zum Zwischengeschoss, wo die junge Frau mit den Stoppelhaaren und dem Riesenkissen jetzt einen weiteren Verkehrsstau verursacht hatte, und war mit einem Mal voller Wut auf alle Architekten öffentlicher Räume weltweit. Überbezahlte, überschätzte, maßlose Wichser. Warum musste in einem Bahnhof so viel Sonnenlicht sein? Rechneten sie damit, dass jemand direkt auf dem Bahnsteig eine OP vornahm? Außerdem hatte Monica Tansy nie getroffen. Wahrscheinlich wusste Monica noch nicht einmal, dass es Tansy überhaupt gab. Dann war die Verkleidung doch überhaupt nicht nötig, oder?

Das alles behielt er für sich. Stattdessen folgte er Tansy, die sich durch die Menge wand und der Möglichen-Monica folgte.

»Na ja, jetzt hast du sie gesehen«, sagte er. »Jetzt könnten wir doch gehen.«

»Ich möchte nur …«

Die Mögliche-Monica war stehen geblieben und wurde von einem hageren Mann in einem glänzenden Anzug mit einer schmalen Krawatte und zwei Kindern begrüßt. Sie nahm das kleinere der beiden Kinder auf den Arm und drückte sich das andere an die Hüfte. Dann gingen sie alle zusammen hinaus zur Collins Street.

»Scheiße, das ist sie nicht«, sagte Tansy und gab ihm seine Sonnenbrille zurück. »Vielleicht eine Tante, die für einen Tag zu Besuch kommt. Nur eine Handtasche, kein Gepäck. Ich hätte es ahnen müssen. Wie enttäuschend.«

Sie kehrten zum anderen Ende des Bahnhofs zurück. Es war jetzt ziemlich voll, aber fast jeder trug Kopfhörer und war, nach der Miene zu schließen, völlig in sich gekehrt. Er sah einige Hipster, manche mit Skateboards unterm Arm. Er sah ein oder zwei Studenten, die ziellos durch die Gegend schlurften, und draußen in der Spencer Street einen Richter mit einer Perücke in der einen und einem Aktenkoffer in der anderen Hand. Die Frau mit der Stoppelfrisur und dem Blümchenkissen stand aus irgendeinem Grund immer noch auf der Rolltreppe, jetzt etwa auf halber Höhe zum Zwischengeschoss, und egal, wie weit links sie sich hinstellte, wegen ihres Riesenkissens kam niemand an ihr vorbei. Es war aussichtslos, in diesem Gewühl eine bestimmte Person zu finden.

»Warte mal«, sagte er zu Tansy. Er ging zum Anfang der Rolltreppe. Als die Kissenfrau oben angelangt war, drehte sie um und fuhr auf der anderen Seite wieder hinunter.

»Das ist das größte Kissen, das ich jemals gesehen habe«, sagte Simon.

»Eine Europäerin«, sagte Tansy. »Was um alles in der Welt macht sie da?«

Wie Tansy aus der Entfernung erkennen wollte, woher die Frau stammte, war Simon ein Rätsel, aber was sie da machte, war offensichtlich: Sie fuhr die Rolltreppe rauf und wieder runter. Simon musste an die Lavalampe denken, die er mit Mitte zwanzig besessen hatte – die hatte er ebenso einlullend empfunden, aber damals hatte er auch hin und wieder Gras geraucht. Trotzdem hatte es fast etwas Hypnotisierendes, diese Frau mit ihrem Kissen hinunter und wieder hinauf fahren zu sehen. Es entspannte ihn irgendwie.

Bis zu dem Moment, als sie wieder hinunterfuhr. Aus keinem ersichtlichen Grund kreischte sie plötzlich auf. Ein schrilles Kreischen, das Tauben erschrecken konnte. Und während sie kreischte, ließ sie das Kissen los, das dem Mann unter ihr auf den Kopf fiel, worauf dieser sich abrupt umdrehte und dabei wiederum die Frau vor ihm mit seinem Aktenkoffer traf. Und dann war die ganze Rolltreppe in Aufruhr, alle Leute mit Ausnahme der jungen Frau, die den ganzen Wirbel ausgelöst hatte und nun abschätzig die sich streitenden Menschen unter sich betrachtete. Und gleich darauf erwartungsvoll und mit erhobener Hand in ihre Richtung starrte.

Falsch. Sie starrte direkt zu Tansy.

3

»Monica, die mysteriöse Frau«, sagte Simon. »Du bist ihr doch nie begegnet, oder?«

»Nie«, entgegnete Tansy. Sie war verdutzt. »Aber das kann sie doch nicht sein. Sie ist so … jung.«

»Und dich hat sie auch nie gesehen?«

»Nie begegnet, nie gesehen, nie gesprochen. Sie kann unmöglich wissen, wie ich aussehe.«

Und trotzdem hüpfte diese fremde junge Frau genau auf sie zu, während sie wie versteinert mitten auf dem Bahnhof standen.

»O mein Gott!!! Du bist es wirklich!«, quietschte sie. Dann schien ihr aufzugehen, dass sie zu laut, zu begeistert war, und sie beruhigte sich wieder. Aufgrund der kurzrasierten Haare wirkten ihre braunen Augen riesig, wie die von Bambi. Sie justierte ihr Gesicht neu, ließ die Schultern fallen. »Ich meine, hey«, sagte sie, nun ganz entspannt, als hätte sie nicht eben noch lauthals gekreischt.

Simon sah zu Tansy. Auf ihrem Gesicht war ein Lächeln aufgeklebt, als würde ein 5G-Verschwörungstheoretiker mit einem Flugblatt sie ansteuern.

Simon stellte sich vor, wie es sie in den Fingern juckte, Kylie und Nick anzurufen.

»Tansy, richtig? Du bist es, oder?«, sagte die Frau. »Ich kann’s einfach nicht glauben, du bist wirklich gekommen.«

»Wir sind gekommen«, kam es aus Tansys Mund, obwohl sich ihre Lippen kaum bewegten.

»Danke. Ich meine, wirklich, danke.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

Simon konnte nur dabeistehen und die beiden sich musternden Frauen beobachten. Das Gesicht der Jüngeren sah aus wie das Herzaugen-Emoji, so als hätten sich ihre Pupillen beim Anblick von Tansy tatsächlich in zwei Herzchen verwandelt.

Die Jüngere ergriff auch als Erste wieder das Wort. »Du bist im wirklichen Leben noch viel hübscher. Schau dich an! Eine Immobilienmaklerin. Im Ernst, Respekt.«

»Ich … ich mache nur Vermietungen«, sagte Tansy.

»Und die Schuhe! Trägst du die den ganzen Tag? Was für hohe Absätze, wow!«

Tansys Blick flog zu Simon, obwohl sich ihr restliches Gesicht nicht bewegte. »Man gewöhnt sich daran.«

Jetzt, aus der Nähe, sah Simon, dass sie sehr groß war. Eine große sehr junge Frau. Anfang zwanzig, wenn nicht sogar noch jünger, mit grell-pinkem Lidschatten, schwarzem Spitzenkleid und schweren bunten Stiefeln. Ein silbernes Piercing steckte am Ende einer Augenbraue, und über einen Arm zog, rankte sich eine … na ja, nach Stiel und Blättern hätte es eine Rose sein sollen, aber aus irgendeinem Grund waren die Blüten die einer lila Petunie. Ihre Wimpern waren so hell, dass es aussah, als gäbe es sie gar nicht, ihre Augen sanft und klar wie die eines neugierigen Kaninchens. An ihrem anderen Arm hingen drei vollgestopfte Supermarkt-Plastiktüten. Waren Einwegplastiktüten überhaupt noch erlaubt? Höchstwahrscheinlich waren es illegale, eingeschmuggelte Einwegplastiktüten. Hätte Simon auf einer Polizeidienststelle über mehrere Wochen hinweg erkennungsdienstliche Fotos von allen Personen auf der Erde durchsehen müssen, um unter ihnen Tansys, Kylies und Nicks Halbschwester zu finden, wäre diese Monica ganz unten auf der Liste aufgetaucht, hinter Edwina Chee, sogar noch hinter Christos vom Fischladen, und der war ein fünfzigjähriger Grieche, dem die Haare aus den Ohren wucherten.

»Du bist Simon, stimmt’s?«, meinte sie jetzt. »Ich bin Monica.«

»Wer sonst«, sagte Tansy.

Monica ging etwas in die Hocke, spreizte die Knie, stopfte sich das Kissen zwischen die Beine, als würde sie auf einem winzigen Pferd reiten, und streckte Simon ihre Faust hin. Kurz starrte er darauf, machte es ihr schließlich nach, und sie stießen ihre Fäuste gegeneinander. Dann beugte sie sich vor und umarmte Tansy, indem sie nur den Oberkörper abwinkelte, ihre Köpfe berührten sich, die Körper blieben wegen des Kissens getrennt.

»Wie schön, dich kennenzulernen«, meinte Tansy mit einem kaum merklichen Zögern, aber dem breitesten Lächeln der Welt – einem Lächeln, bei dem Simon immer noch das Herz aufging, selbst nach so vielen Jahren.

Manchmal, wenn Simon mitten in der Nacht wach lag, sah er zu der neben ihm schlafenden Tansy, und ihm war, als würde sie tatsächlich glühen. Sein Verstand sagte ihm, dass der Schein der Straßenlaterne von draußen durch die kaputte Lamelle der Jalousie fiel und von dort auf die Ikea-Lampe geworfen wurde, die auf dem Karton stand, den sie als Nachttisch benutzten. Simon wusste natürlich, dass seine Frau keine Aureole um sich hatte. Aber in Zeiten wie diesen dachte er, wenn irgendjemand auf der Welt eine Aureole haben sollte, dann sie. Monica gehörte nicht zur Familie. Monica war noch nicht mal eine Freundin, aber Tansy hatte beschlossen, sich als edelmütig zu erweisen. Die Liebenswürdigkeit, die sie an den Tag legte, kam von Herzen, und Simon musste nichts anderes tun, als ihrem Beispiel zu folgen.

Andererseits wäre es durchaus verlockend gewesen, dieses Geschöpf mit der Stoppelfrisur in Tansys Namen zu hassen.

Auf jeden Fall aber – und das war das Wichtigste – musste man cool bleiben. Sich nicht überrascht zeigen, schon gar nicht wegen ihres Alters.

»Verdammte Scheiße«, sagte er. »Wie alt bist du eigentlich, zwölf?«

»Lol, nein«, erwiderte Monica. »Es ist so cool, dass ihr da seid. Mum hat gesagt, dass mich bestimmt keiner sehen will, aber ich hab gewusst, ihr wollt mich sehen. Also bin ich mit der Rolltreppe rauf und runter, rauf und runter, und hab nach euch Ausschau gehalten. Die Leute in der Stadt haben kein Benehmen, weil sie so unglaublich busy sind, sagt Mum. Immer geht es nur um sie. Das sind alles Wichser, sagt sie.«

»Wir sind keine Wichser«, stellte Simon klar.

»Ich weiß! Und ihr seid auch keine Arschlöcher. Mum hat total danebengelegen«, fuhr Monica fort. »Ich hab es einfach gespürt, dass ihr kommt. Meine Geschwister würden mich doch nicht in einer fremden Stadt ankommen lassen, wo ich niemanden kenne und ganz allein den Weg zum Hostel finden muss. Sind Kylie und Nick auch hier?«

»Sie konnten sich nicht von der Arbeit freimachen«, antwortete Tansy rasch.

»Klar«, erwiderte Monica. »Zu viel zu tun. Und Kylie, die ist Apothekerin und so. Apothekerinnen sind superschlau. Und der berühmte Nick! Als Grundschullehrer, verantwortlich für Kids und so. Schon kapiert.«

»Genau«, sagte Tansy. »Du scheinst ja eine Menge über uns zu wissen.«

»Wir haben übrigens auch zu tun«, meinte Simon. »Wir sollten eigentlich in der Arbeit sein.«

»Simon!«, sagte Tansy.

Aber Monica sah nicht so aus, als ob sie gekränkt wäre. »Oh, tut mir voll leid. Ich kann auch allein zum Hostel, absolut kein Drama.« Sie zog das Kissen zwischen den Knien hervor und jonglierte mit den Plastiktüten, deren Tragegurte auf ihren Unterarmen rote Abdrücke hinterlassen hatten.

»Na dann, wenn du es selbst so willst … jetzt haben wir hallo gesagt, dann können wir ja eigentlich gehen«, sagte Simon.

Monica zog ein Handy aus einer der Tüten und schüttelte es, als wäre es die Verlängerung ihrer Hand. »Das will ich, absolut. Hab’s schon gefunden auf Google Maps. Ist nur sieben Blocks entfernt. Und eine Großstadt ist doch auch nur eine große Stadt, oder? Außerdem sieht es nicht danach aus, als ob es regnen würde. Obwohl es schon möglich wäre. Dass es regnet, meine ich. Wie auch immer, wenn es regnet, werde ich bestimmt nicht nass. Nicht sehr nass jedenfalls. Gehört alles zum Abenteuer, was?« Monica musterte sie. »War jedenfalls sehr nett, dass ihr gekommen seid.«

Simon nickte.

Das war der Vorteil einer so langen und so engen Beziehung wie der zwischen ihm und Tansy – ihr Einverständnis war stillschweigend. Sie waren in simpatico, als kommunizierten sie in Ultraschallgeschwindigkeit, wie verheiratete Fledermäuse. Simon konnte nicht den ganzen Tag in der City rumhängen. Sie kamen schon jetzt zu spät zur Arbeit. Und sie hatten alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatten: Sie hatten Monica gesehen, die Halbschwester, die Tansy nie kennengelernt hatte, mehr noch, sie hatten sich mit ihr unterhalten. Mission erfüllt, konnte Tansy an Kylie und Nick berichten, dachte sich Simon. Mehr war jetzt wirklich nicht nötig.

»Wir fahren dich hin«, sagte Tansy. »Wir bestehen darauf.«

 

Nach einigem Hin und Her – Ernsthaft, ich schaff das schon versus Ist doch überhaupt kein Problem – nahm Simon Monicas überraschend schwere Tüten, die vor allem mit Kleidung vollgestopft schienen, obwohl auch ein paar schwere, kantige Dinge gegen seine Wade schlugen. Natürlich wäre Monica durchaus selbst dazu in der Lage gewesen, die Taschen zu tragen, aber er brauchte etwas zu tun, warum war er denn sonst hier?

Seite an Seite wichen sie dem Verkehr auf der Spencer Street aus, schlängelten sich um die vor den Gebäuden kampierenden Obdachlosen, gingen an den spiegelnden Schaufensterscheiben vorbei, in denen kunstvoll Dinge arrangiert waren, die sich Simon nicht leisten konnte, bis sie schließlich um die Ecke bogen, hinter der er geparkt hatte. Es war ganz gut, dass er mit Tüten beladen war und sie diesem ausweichen und sich durch jenes durchschlängeln mussten, weil keiner so recht wusste, was er sagen sollte.

»Wie war die Zugfahrt?«, fragte Simon schließlich.

Sie gaben ein seltsames Trio ab. Tansy, frisch und strahlend in ihrem maßgeschneiderten Businesskostüm, mit Tasche und schwarzen hochhackigen Schuhen, Simon in Jogginghose und Hoodie und Arbeitsstiefeln, und Monica in … ihren Teenagerklamotten mit diesem riesigen geblümten Kissen, an das sie sich klammerte.

Monica rümpfte die Nase. »Im Bistro gab es keine Eiersandwiches mehr. Aber der Kaffee war okay.«

»Trotzdem, es ist doch wesentlich besser«, sagte Tansy. »Dass man stehen kann.«

»Wie jetzt? Man muss nicht im Ernst die ganze Strecke von Traralgon bis hierher stehen, oder?« Simon sah mit einem Mal die überfüllten Nahverkehrszüge vor sich, die er vor Jahren in den Nachrichten gesehen hatte, als über die Frankston-Line berichtet wurde. »Das ist ja entsetzlich.«

»Lol. Es ist besser, verglichen mit dem Bus, meint sie«, sagte Monica. Sie lief mit langen, selbstbewussten Schritten neben Tansy her, die auf ihren hohen Absätzen herumbalancierte und von ihrem Rock behindert wurde. »Weil man im Zug aufstehen und rumlaufen kann.«

Na toll! Jetzt übersetzte diese Fremde ihm auch noch seine Frau.

»Na, ist das ein Parkplatz?«, sagte er, als sie vor Tansys Wagen standen, einem metallic-blauen Pulsar aus dritter Hand. Es war zwar Tansys Wagen, aber er war gefahren, damit sie telefonieren konnte. »Mitten in der Innenstadt. Kaum einer kennt die Stelle. Seht ihr, kein Strafzettel.«

Er erwartete, dass eine von beiden etwas sagte, vielleicht auch donnernden Applaus, aber der kam nicht. Typisch, mangelnde Wertschätzung für die Großartigkeit dieses Parkplatzes, dachte er – und dann wurde ihm klar, er hätte Monica besser nicht darauf aufmerksam machen sollen. Er wollte nicht, dass jemand anderes hier parkte – oder, schlimmer noch, anderen davon erzählte.

Er hatte sich immer vorgestellt, dass er diesen coolen Parkplatz einmal an Mia und Lachie übergeben wolle, vielleicht in Form eines versiegelten Anhangs zu seinem Testament. Sie würden den Parkplatz dann an ihre eigenen Kinder und die Kinder von deren Kindern weitergegeben. Und im Laufe der Jahre würde er vielleicht in die Familientradition eingehen. Und einen Spitznamen erhalten. Simons Stelle. Oder Papas Parkplatz.

»In letzter Zeit bekommt man aber doch öfter mal einen Strafzettel. Einen teuren«, fügte er hinzu. »Die Polizei hat die Stelle definitiv auf dem Radar, so viel steht fest.«

Das sollte reichen.

Er öffnete für Tansy die Beifahrertür und die hintere Tür für Monica und ihre Tüten und ihr Kissen. Und Tansy öffnete eine App auf ihrem Handy und gab die Adresse ein, die Monica ihr nannte.

»Ich dachte, du wärst Architekt oder so? Hast du nicht ein eigenes Büro?« Monica deutete auf Simons Jogginghose und die Stiefel, nachdem sie losgefahren waren.

»Im Moment tu ich einem Freund von Tansy einen Gefallen«, sagte Simon und legte auf der Lonsdale eine volle 180-Grad-Wende hin. Der Motor gab ein schleifendes Geräusch von sich. Er dachte an Kebabs, um sich davon abzulenken.

»Simon hilft meinem alten Freund Naveen mit seinem Garten«, sagte Tansy.

»Ich war mal Architekt. Früher. Im Moment lote ich meine Möglichkeiten aus«, sagte Simon. »Ist nur vorübergehend.«

Monica sagte nichts.

»Bin ja nicht der Einzige, der während der ganzen Lockdowns pleitegegangen ist«, fuhr Simon fort.

Immer noch nichts.

»Im Moment hänge ich sozusagen zwischen zwei Jobs, was, wenn du die Zeitungen liest, ja nichts Ungewöhnliches ist. Und Naveen ist Tansys bester Freund seit Kindertagen, sein Landschaftsarchitekt hat ihn in letzter Sekunde versetzt, aber die Gedenkfeier für David soll dort stattfinden, in seinem Garten. Die Einladungen sind schon rausgegangen. Er braucht jemanden, der ihm hilft. Ich springe bloß ein. Es zeugt jedenfalls sicherlich nicht …«

Er hob den Kopf, um im Rückspiegel einen besseren Blick auf Monica zu haben, die, wie er nun sah, den Kopf zur Seite geneigt hatte, die Zunge rausstreckte und ein Selfie von sich machte. Den anderen Arm hatte sie nach vorn gestreckt, in der Hand hielt sie etwas in Alufolie Gewickeltes. Eine Ecke war zurückgeschlagen, und unter der Folie ragten dicke Schokoladenquadrate heraus.

»Schoko-Fudge? Mit Nüssen«, sagte Monica und sah immer noch in die Kamera ihres Handys. »Also lasst davon lieber die Finger, wenn ihr, na, nicht in die Breite gehen wollt. Meine Mum hat sie gemacht. Als ich in der Schule war, hat sie nichts mit Nüssen backen können, weil unsere Schule auf so einem Null-Nuss-Trip war. Jetzt ist in allem, was sie macht, Nüsse.« Sie zuckte mit den Schultern und hielt die Schokolade nach vorn.

»Sieht toll aus, danke.« Tansy nahm ein Stück.

Simon holte tief Luft. »Immer voll auf die Nüsse, was?«, sagte er.

»OMG, ein Dad Joke«, sagte Monica.

»Also … bist du ganz allein gekommen?«, fragte Tansy. »Ich hab Simon erst gerade erzählt, dass Mädchen, die auf dem Land aufwachsen, früher reif sind. Sie fahren früher Auto, haben Teilzeitjobs. Sie sind einfach selbständiger.«

Also nichts mit Kosmetikerinnen. Simon räusperte sich.

»Die Gedenkfeier für Dad findet im Garten deines Freundes statt«, fragte Monica, die offenbar keine Lust hatte, sich auf Tansys Theorien über die Mädchen in der Stadt und auf dem Land einzulassen. »Ist das nicht irgendwie … ein bisschen beliebig?«

»Er wollte den Garten sowieso neu gestalten lassen«, antwortete Tansy. »Der Garten ist ziemlich groß. Und er ist … weniger förmlich als ein Empfangssaal. Privater. Er hat es uns angeboten, und wir haben zugesagt.«

»Und womit verdienst du so dein Geld, Monica?«, fragte Simon.

»Mit diesem und jenem.« Ihr Blick heftete sich an die Seitenscheibe. »O mein Gott, eine richtige Tram! Wie groß die ist! Unter die will man aber nicht geraten, RIP.«

Den Soundtrack zum Rest der kurzen Strecke lieferte Monica, die aus dem Fenster sah und laufend Kommentare abgab – zu allem. Von den Läden über die Straßennamen, der Kleidung der Passanten bis zu den Frisuren. Sie hatte zu allem eine Meinung. Simon hatte keine Ahnung gehabt, dass die Straßen im Zentrum von Melbourne dermaßen faszinierend waren. Hatte sie wirklich noch nie ein Graffiti gesehen? Oder zwei Zwergdackel in aufeinander abgestimmtem Outfit? Oder einen Typen in der King Street, der als Pirat gekleidet war?

»Wir sind uns aber nie begegnet, oder?«, fragte Tansy noch mal nach. »Das würde ich ja wissen.«

»Genau«, sagte Monica und starrte mit großen Augen durch die Scheibe.

»Aber du hast uns erkannt? Wie?«

»Ich hab euch gestalkt.«

Simon wäre fast auf die Gegenfahrbahn geraten. »Du hast was?«

»Na, online. Social Media«, sagte sie obenhin.

»Oh. Du meinst Facebook?«, fragte er. »Wir posten nicht viel.«

»Facebook … yep. Und den Rest.«

»Welchen Rest?« Stirnrunzelnd sah Tansy zu Simon hinüber.

Monica zuckte mit den Schultern. »Es gibt ’ne ganze Menge, wenn man danach sucht. Nick ist überall in den sozialen Netzwerken, und ihr seid in einigen seiner Instagram-Storys. Und dein Foto ist auf der Firmen-Website, Tansy. Und von deinem Klassentreffen im letzten Jahr, Simon, gibt es ein Video, wie ihr zu Musik aus den Neunzigern tanzt. Saukomisch, o mein Gott! Und der Blog des Schulfest-Komitees hat jede Menge Bilder von euch beiden.«

»Wirklich?«, sagte Simon.

»Yep. Und die Google-Rezension, die du für deinen Zahnarzt geschrieben hast, Simon. Schmerzfrei den Zahn gezogen, wunderbare Sache. Von Kylie gibt’s nicht so viel, aber sie hat ein cooles Resting Bitch Face. Dad hat mir nie was über euch erzählt, obwohl ich ihn immer gelöchert hab. Also blieb mir keine andere Wahl, als euch im Internet zu suchen.« Abrupt beugte sie sich vor. »Halt, langsamer, es sollte jetzt kommen.«

Stirnrunzelnd sah Tansy auf ihr Handy. »Ja, wird angezeigt, aber ich sehe kein Hotel.«

»Hostel«, sagte Monica. »Tssss.«

Simon hielt an.

»Ich sehe auch kein Hostel«, erklärte Tansy.

Die Handy-App hatte sie zu einer Ladenzeile mit drei Geschäften gelotst: einer Reinigung, einem Heavy-Metal-Nachtclub und einem Sex-Toy-Laden namens The Glory Hole, der im Keller Bondage-Räume hatte.

»Cool, da ist es ja«, sagte Monica. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.«

Ja, klar, das Wort HOSTEL war in Schwarz an die Wand gesprüht, dazu ein Pfeil, der zu einer schmalen offenen Tür zwischen der Reinigung und dem Nachtclub zeigte. Links von der Tür standen zwei Männer auf dem Bürgersteig: einer mit Vollbart und Dreadlocks in einer Armeehose und ohne Hemd, der andere trug eine Art Poncho. Die beiden starrten neugierig zum Wagen, als er anhielt.

»Du bist dir sicher, dass das die Unterkunft ist?«, fragte Tansy.

Monica spähte durch die Heckscheibe. »Auf der Website hat es irgendwie anders ausgesehen.«

»Ich weiß nicht recht …«, setzte Tansy an.

»Tansy«, sagte Simon, »ich glaube, Monica kann durchaus ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

Monica sah auf ihr Handy, dann zum Hostel. »Es ist definitiv die Unterkunft. Ich werde hier ja bloß pennen. Warum Geld für ein Bett verschwenden? Außerdem hatte es gute Kritiken auf Tripadvisor. Und es ist umweltfreundlich.«

»Was heißt das genau?«, fragte Simon.

»Es werden keine Insektizide oder Pestizide oder Fungizide verwendet, noch nicht mal in den Sanitärräumen oder der Küche«, sagte Monica. »Und man spart fossile Brennstoffe, weil es kein Warmwasser und nur eingeschränkte Beleuchtung gibt.«

»Das klingt nicht sehr hygienisch«, sagte Tansy.

»Ich bin eine ziemlich erfahrene Travellerin«, erklärte Monica unbekümmert. »Ich war mal in Bondi, für ein Wochenende.«

Nach Simons Dafürhalten sah sie eine Spur blasser aus.

»Hostels sind ganz phantastisch, um Leute kennenzulernen«, fuhr Monica fort. »Sechzehn Betten pro Zimmer. Aber keine abschließbaren Fächer.« Sie hob die Plastiktüten hoch. »Deswegen hab ich auch nicht die guten Einkaufstüten genommen. Die Mehrwegtüten. Die würden sofort geklaut.«

Monica öffnete die Tür und schwang ein Bein ins Freie. Unverkennbarer Uringestank waberte von draußen in den Wagen und attackierte Simons Nase.

»Ich geh dann mal lieber zum Einchecken«, sagte Monica. »Angeblich ist immer viel los – Montagabend ist Haggis-Abend. Wie auch immer, jedenfalls danke fürs Mitnehmen.«

»War uns eine Freude«, sagte Simon unter Inanspruchnahme kostbarer Sauerstoffvorräte.

Monica schien zu zögern, sie hatte einen Fuß draußen, einen Fuß drinnen, während Simon allmählich erstickte.

»Hör zu, Tansy. Ich muss dir was erzählen.« Monica sah unumwunden zu Tansy hinüber, die sich in ihrem Sitz umgedreht hatte.

»Oh?«, sagte Tansy. Sie sah auf ihr Handgelenk, wo eine Uhr hätte sein sollen, wenn sie eine gehabt hätte. »Vielleicht könnten wir …«