Direkt vor unseren Augen - Daniel Moßbrucker - E-Book

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Daniel Moßbrucker

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Beschreibung

Ein Experte klärt darüber auf, wie Eltern ihre Kinder vor sexualisierter Gewalt im Internet schützen können Kaum ein Thema erschüttert Menschen so sehr wie sexualisierte Gewalt gegen Kinder – und kaum ein Thema wird so häufig verdrängt. Dabei schätze die UN schon 2009, dass weltweit in jeder Sekunde 750.000 Pädokriminelle online sind – Tendenz steigend. Daniel Moßbrucker ist investigativer Journalist und einer der führenden Experten zu Fragen der digitalen Überwachung und des Darknets. Mit seinem Sachbuch legt er erstmals im deutschsprachigen Raum eine systematische und datengestützte Recherche in pädokriminellen Zirkeln im Darknet vor. Er klärt darüber auf, wie Pädokriminelle im Internet vorgehen und wie Eltern ihre Kinder mit diesem Wissen bestmöglich schützen können. Denn die Gefahren lauern oft dort, wo Eltern sie am wenigsten erwarten: So werden harmlose Schnappschüsse aus dem Familien-Alltag von Kriminellen aus WhatsApp, Instagram & Co. gestohlen und im Darknet verbreitet oder auf ausländischen Plattformen im normalen Internet hochgeladen. Mit seinem Buch bietet Moßbrucker konkrete Hilfestellung und praktische Tipps, die im Alltag umsetzbar sind: - Sollte ich Fotos vom Kinder-Geburtstag auf Instagram teilen?  - Ist es gefährlich, wenn unser Sohn abends eine Stunde sein Lieblingsspiel am Laptop spielt? - Und vor allem: Ab wann ist es möglich, mit meinem Kind über diese Gefahren zu sprechen? Und wie?Moßbrucker plädiert für eine zeitgemäße Medienbildung von Kindern durch Eltern, die ein realistisches Bild von den Gefahren im Netz haben. Sein Ratgeber für Eltern bildet außerdem den Einstieg in die notwendige Debatte zur Pädokriminalität im Internet und ist zugleich ein Appell an Politik und Gesellschaft, dem Thema endlich die Aufmerksamkeit und Informiertheit zu schenken, die es verdient. Daniel Moßbrucker, geb. 1990, arbeitet als Journalist zu den Themen Überwachung, Datenschutz und Internet-Regulierung. Seine Beiträge werden regelmäßig von überregionalen Medien und dem TV-Politikmagazin Panorama veröffentlicht. Für die Recherchen und die Datenaufbereitung zum Thema Kindesmissbrauch erhielt er 2022 mit einem Team von NDR und DER SPIEGEL den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus. Daniel Moßbrucker lebt in Berlin.

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Seitenzahl: 347

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Daniel Moßbrucker

Direkt vor unseren Augen

Wie Pädokriminelle im Internet vorgehen – und wie wir Kinder davor schützen

Knaur eBooks

 

Über dieses Buch

Kaum ein Thema erschüttert Menschen so sehr wie sexualisierte Gewalt gegen Kinder – und kaum ein Thema wird so häufig verdrängt. Dabei schätze die UN schon 2009, dass weltweit in jeder Sekunde 750 000 Pädokriminelle online sind, Tendenz steigend. Mit seinem Buch legt Daniel Moßbrucker erstmals im deutschsprachigen Raum systematische und datengestützte Analysen in pädokriminellen Zirkeln im Darknet vor. Er klärt darüber auf, wie Pädokriminelle vorgehen und wie Eltern ihre Kinder mit diesem Wissen bestmöglich schützen können. Gleichzeitig ist sein Buch ein alarmierender Appell an Politik und Gesellschaft, dem Thema endlich die Aufmerksamkeit und Dringlichkeit zu schenken, die es verdient.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Triggerwarnung

Teil I

Hilfe beginnt mit Hinsehen

Mythen, Emotionen, wenige Fakten

Das Momentum Lügde

Die Analyse des Gegenübers

Lösungen für strukturelle Probleme

Mit Worten kaum zu fassen

Kann man Kinder gebrauchen?

Gewalt als solche benennen

Von kausativen Verben

Vom ewigen Opfer und mündigen Betroffenen

Alles Pädophile – oder doch nicht?

Wellen der Aufklärung

Nacktfotos von Jungen im Treppenhaus

Kinder als Giftbehälter

Drei Wellen der Aufklärung

Ein reißender Strom durchbricht das Tabu

Digitalisierung heißt Vernetzung

Zahlen, Zahlen, Zahlen

Datenschutz versus Kinderschutz?

Die zweite Welle

Die dritte Welle

Teil II

Durch die Augen der Gegner:innen

Was steht auf dem Spiel?

Wer greift mich an?

»Gute Nacht, Liebling«

Fotos von Tom

Die Gefahr im Nahfeld

Kreislauf des Missbrauchs

Vertrauen und Macht

Die Rolle der Pädophilie

Das Smartphone als soziales Werkzeug

Zocken und nebenbei ein bisschen chatten

Plötzlich öffnet sich ein Chatfenster

Cybergrooming als Massenphänomen

Etablierte Muster auf allen Plattformen

Eine KI gegen Cybergrooming

Gepostet, geteilt, geklaut

Harmloses Foto, widerlicher Kontext

Facebook und Instagram als Quelle

Millionen Kinderfotos auf einer Plattform

Warum schiebt da niemand einen Riegel vor?

Legal, illegal – mir doch egal

Das Geschäft mit dem Missbrauch

Sexuelle Ausbeutung auf globaler Ebene

Missbrauch im Videolivestream

Wie groß ist das Geschäft?

Pädokrimineller Onlinehandel im Clearweb

Löschen statt Sperren

Ein ungesundes Ökosystem

Die finstersten Ecken im Darknet

Wie findet man etwas, das man nicht kennt?

Rosa Hintergrund, Teddys, und alle sind nett

Die Szene trifft sich in den großen Foren

Wenige Zugpferde, viele Mitläufer

Die Handschellen sollen klicken

Täter:innen fassen, Bilder lassen?

»Sie könnten ein Forum zu Tode nerven«

Das größte Forum aller Zeiten

»Andere Prioritäten«

Ein Gigant am Abgrund

Teil III

Freiheit und Sicherheit sind keine Gegensätze

Emotionen machen Politik

Mit Kanonen auf Spatzen

Dauerbrenner Vorratsdatenspeicherung

Mehr Personal, schnellere Verfahren

Der nächste Großkonflikt: Chatkontrolle

Missbrauch mit dem Missbrauch?

Senken Aufnahmen die Hemmschwelle?

»Psychologisch klar herleitbar«

Löschen! Löschen! Löschen?

»Da sind wir leider nicht zuständig«

Ein Rechtsanspruch für Betroffene auf Beratung

Schutzkonzepte für die Fläche

Ausgetrickst von der Industrie

Kinder- und Jugendschutz senkt Profite

Nicht auf die Industrie warten

Gretchenfrage Altersverifikation

Das Undenkbare denken lernen

Kinder kommunizieren auf ihre Weise

Umkehr der Schuld vermeiden

Strukturdynamiken verändern

Das Nahfeld ist digital geworden

Digitale Selbstverteidigung gegen Pädokriminelle

Ab wann ein Smartphone?

Eine App für die volle Kontrolle

Ein Set von Maßnahmen

Schutz gegen den Diebstahl von Fotos und Videos

Epilog

Informations- und Hilfsangebote

Ich danke Benny, Britta, Lutz und Robert.

Ohne Euch hätte ich nicht das Wissen erlangen können,

um dieses Buch zu schreiben.

Triggerwarnung

In diesem Buch geht es um sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.

 

* * *

 

Personen, die von sexualisierter Gewalt im Kindes- und/oder Jugendalter betroffen sind oder waren, finden im letzten Kapitel Informationen zu Hilfsangeboten. Dort gibt es auch Hinweise für Angehörige von Betroffenen sowie Informationen für Menschen, die ein sexuelles Interesse an Kindern verspüren.

Teil I

Vorbereitung

Hilfe beginnt mit Hinsehen

Was Sie von diesem Buch erwarten können

Wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie eine der größten inneren Hürden überwunden. Sie möchten beim Begriff Pädokriminalität nicht die Augen verschließen, selbst wenn das Thema weit weg zu sein scheint, bei Ihnen Widerstand, Wut, Ekel und Angst hervorruft. Sie wollen hinsehen.

Sie möchten sich nicht dem Irrglauben hingeben, »so was« komme bei Ihnen in der Familie, in der Schule, im Verein, in der Nachbarschaft oder im Beruf per se nicht vor. Sie trauen sich, ein Buch über sexualisierte Gewalt an Kindern zu lesen, obwohl es in Ihrem Umfeld misstrauische Blicke geben könnte, weil Sie »freiwillig« zu dieser Lektüre greifen.

Ich versichere Ihnen: Dieser Schritt, sich ernsthaft mit Kindesmissbrauch in einer digitalisierten Gesellschaft befassen zu wollen, war entscheidend. Zu häufig handeln Personen leider immer noch nach der Maxime: »Es kann nicht sein, was nicht sein darf.« Bloß nicht damit beschäftigen, es wird schon gut gehen. Seit rund einem Jahrzehnt wächst bei vielen Erwachsenen jedoch endlich das Bewusstsein, wie real die Gefahr der sexualisierten Gewalt für Kinder und Jugendliche werden kann. »Sexualisierte Gewalt« meint heute nicht mehr nur den physischen Missbrauch, bei dem Kinder zu sexualisierten Handlungen bis hin zur Penetration gezwungen werden. Im digitalen Zeitalter heißt »sexualisierte Gewalt« auch das Anbahnen von Kontakten in Chats von Onlinespielen, das Klauen privater Fotos von Social-Media-Profilen der Eltern und vor allem das Festigen von Machtstrukturen mittels Smartphones, um grenzverletzendes Verhalten nicht auffliegen zu lassen.

Sie haben sich entschieden, die Augen nicht länger zu verschließen, sondern bewusst hinzusehen. Ab jetzt wird es einfacher, denn es geht »nur noch« um das Aneignen von Wissen und das Erlernen bestimmter Denktechniken zur Gefahrenabschätzung. Im Folgenden erwartet Sie keine Schilderung à la »True Crime« und auch keine Panikmache, um Ihnen Versicherungen oder Überwachungs-Apps anzudrehen. Mein Anliegen ist, dass Sie am Ende sicherer mit den möglichen Gefahren und Risiken für (Ihre) Kinder und Jugendliche umgehen können, weil Sie wissen, was Sie im Fall des Falles unternehmen können.

Dafür nimmt dieses Buch eine bestimmte Perspektive ein und bedient sich einer speziellen Denktechnik, des »Threat Modeling« (frei übersetzt: »Einschätzen von Bedrohungskontexten«).

Diese werde ich im vierten Kapitel, wenn die eigentliche Analyse startet, ausführlicher vorstellen. Im Grundsatz geht es darum, für die Erstellung von Schutzkonzepten nicht nur eigene Sicherheitsbedarfe in die Waagschale zu werfen, sondern einen großen Anteil der Ressourcen auf die Analyse der Gegner:innen zu verwenden.

Genau an dieser Analyse mangelt es beim Schutz vor Pädokriminellen – auch, weil das Thema unsere Vorstellungskraft übersteigt und uns jeder konkrete Gedanke daran, wie man »so sein kann«, mit Unverständnis erfüllt.

Mythen, Emotionen, wenige Fakten

Das Thema der sexualisierten Gewalt an Kindern ist immer noch überlagert von Mythen, unsere Maßnahmen sind getrieben von gutem Willen und Emotionen – aber leider allzu oft ohne gesicherte Faktenbasis. Unser Kampf gegen Pädokriminalität ist auch deshalb so erfolglos, weil es an einer soliden, auf Tatsachen basierenden Problembeschreibung mangelt.

Wer als Eltern glaubt, ein Teilen von Kinderfotos über WhatsApp ist »sicher«, weil man ja die Kontakte kenne, liegt damit völlig falsch. Gerade die Personen, zu denen man Vertrauen hat, sind diejenigen, die überwiegend zu Täter:innen werden.

Was für die individuelle Ebene gilt, läuft in der großen, scheinbar faktengeleiteten Politik nicht besser. Politisch Verantwortliche, die nach jedem neuen Fall von sexuellem Kindesmissbrauch in die Schublade politisch opportuner Maßnahmen greifen und beispielsweise eine Vorratsdatenspeicherung fordern, unabhängig davon, ob diese im konkreten Fall überhaupt etwas bringen würde, handeln bestenfalls naiv, meistens aber fahrlässig.

Mein Anliegen mit diesem Buch ist es, durch Schilderungen der Strategien von Täter:innen solche Grundsatzfragen konkreter beantworten zu können; dass beispielsweise viele Fotos über WhatsApp abfließen, gerade weil es dort »privater« zugeht. Täter:innen lauern erwiesenermaßen überwiegend im Nahfeld, also genau dort, wo wir es am wenigsten vermuten. Was in der analogen Welt galt, hat sich 1:1 auf die digitalisierte Gesellschaft übertragen.

Das Momentum Lügde

Ich habe mich entschlossen, Wissen weiterzugeben, damit auch andere davon profitieren können. Ich arbeite seit über 15 Jahren als Journalist und habe mich im Lauf der Jahre immer stärker mit den Themen Überwachung, Datenschutz und Internetregulierung befasst. Mittlerweile recherchiere ich schwerpunktmäßig im Darknet, worüber ich auch zum Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder gekommen bin. Ich bin mir bewusst geworden, dass es ein »Privileg« ist, dass ich als Journalist umfangreich in der pädokriminellen Szene recherchieren »durfte«. Ich wurde gewiss unzählige Male verstört und angewidert von dem, was ich lesen musste. Auf manches war ich von Fachleuten vorbereitet worden, anderes erwischte mich kalt, weil mein Gehirn sich gewisse Dinge vorher gar nicht hätte vorstellen können. Meiner Psyche ginge es besser, wenn mir gewisse Details in den Recherchen erspart geblieben wären.

Dennoch spreche ich von einem »Privileg«, dem Privileg, ein breites Wissen darüber erworben zu haben, wie es »wirklich ist«. Denn es ist anders, als viele von uns denken. Als Journalist ist es für mich eine Verpflichtung, meine Erfahrungen gefiltert mit denjenigen zu teilen, die die Wahrheit kennen sollten. Bestenfalls kann ich damit helfen, sei es in der Erziehung Ihrer eigenen Kinder, in der Arbeit mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt oder im politischen Bereich.

Meine Beschäftigung mit dem Thema begann 2020, als sich ein Team beim Norddeutschen Rundfunk entschloss, selbst in der pädokriminellen Onlineszene zu recherchieren. Es war die Zeit, in der regelmäßig Nachrichten über Missbrauchsfälle Deutschland erschütterten. Angefangen hatte es zum Jahreswechsel 2018/19 mit dem Fall »Lügde«, dessen drei Haupttätern später über 1000 Einzeltaten nachgewiesen wurden. Es folgte 2019 der Missbrauchskomplex Bergisch-Gladbach, 2020 flogen mehrere Männer in Münster auf. Es waren abscheuliche Verbrechen, die den geretteten Kindern ein Leid zufügten, das mit Worten nicht zu beschreiben ist.

So löblich die Erfolge der Ermittlungsbehörden waren, ist es für Journalist:innen aus prinzipiellen Erwägungen nie eine gute Idee, sich auf Aussagen anderer zu verlassen. Sich ein eigenes Bild zu machen, ein »gesundes Misstrauen« gegenüber allem, was uns erzählt wird, gehört schlichtweg zum Job.

Gerade bei einem so wichtigen Thema wie dem Schutz unserer Kinder braucht es unabhängige Recherche. Der Norddeutsche Rundfunk entschloss sich daher, die pädokriminelle Szene in aufwendigen Recherchen zu durchleuchten, wofür ich Lutz Ackermann, Robert Bongen, Benjamin Güldenring, Britta von der Heide und Klaus Siekmann ausdrücklich danke. Es waren und sind technisch und rechtlich anspruchsvolle Recherchen, die meiner Kenntnis nach nirgendwo sonst in Europa durchgeführt werden. Da ich mich seit einigen Jahren auf Darknetrecherchen spezialisiert hatte, fiel mir in unserem Team die Aufgabe zu, diese bis dahin auch für mich vollkommen unbekannte Parallelwelt zu erkunden.

Für dieses Buch wechsle ich nun die Perspektive. Ich bilde nicht nur ab, was ich sehe, sondern ich nutze mein Wissen, um mit Ihnen gemeinsam zu analysieren: Wie gehen Pädokriminelle vor? Und wie kann man sich bestmöglich davor schützen und dagegen wehren? Das Buch ist grob in diese zwei Metafragen unterteilt.

Die Analyse des Gegenübers

Für die erste Frage, den Hauptteil dieses Buches, skizziere ich Strukturen, Überzeugungen und Taktiken pädokrimineller Täter:innen. Dafür nutze ich das Threat Modeling als Denktechnik, die uns systematisch durch die einzelnen Themen führt. Ich analysiere verschiedene Kontexte, in denen das Threat Model besonders »ausschlägt«.

Wir beginnen bei Situationen im Alltag, beim physischen Kontakt zwischen Täter:in und betroffenem Kind oder Jugendlichen. Zwar hat das Internet neue Anknüpfungspunkte für Pädokriminelle geschaffen, sodass Kinder auch im Netz sexualisierte Gewalt erfahren, aber gerade für schwere Formen des Missbrauchs bildet der »analoge« direkte Kontakt naturgemäß das größte Risiko. Statistisch betrachtet sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind oder waren. Es ist näher, es ist realer, als die meisten denken.

In diesem Teil werden wir den Kreislauf des Missbrauchs kennenlernen, der uns immer wieder begegnen wird. Es ist verblüffend, wie scheinbar neue Formen der Pädokriminalität, beispielsweise das Anbahnen sexueller Kontakte in Onlinegames, im Grundsatz diesem Muster und seit Jahrzehnten etablierten Strategien der Täter:innen folgen. Immer wird es dabei schwerpunktmäßig auch um die digitale Komponente gehen: Wie hilft die Digitalisierung Täter:innen, im wahren Leben ihre Ziele schneller und effizienter zu erreichen und dabei noch weniger Spuren zu hinterlassen?

Wir werden dann sehen, wie sich der Einzugskreis der Täter:innen mittels Cybergrooming potenziell erweitert. Was früher der Spielplatz, das Babysitting, der Sportverein, die Nachbarschaft, die Familie war, ist nun zusätzlich das Internet. Spiele für Kinder, Chatrooms, Social-Media-Profile – natürlich lauern Täter:innen auch dort, um Kontakte anzubahnen. Wir werden sehen, wie Pädokriminelle sich mittels kryptischer Hashtags direkt vor unseren Augen vernetzen, wie sie unverblümt Kinder anschreiben, um sie zu realen Treffen zu bewegen.

Ich werde in der Analyse immer digitaler, wenn ich im Anschluss beleuchte, wo Bilder und Videos von Kindern landen können, die Eltern auf Instagram in eine Story packen, bei Facebook hochladen oder per WhatsApp verschicken. Ich werde eigene, exklusiv für dieses Buch generierte Daten zeigen über das Ausmaß dieses Bilderklaus und das milliardenfache (!) Aufrufen harmloser Kinderfotos, unter denen Pädokriminelle dann zu Hunderttausenden (!) obszöne, ekelige Kommentare hinterlassen. Ebenfalls exklusiv für dieses Buch werde ich dabei aus einem Nachrichtenaustausch mit den russischen Betreibern der weltweit größten Plattform zitieren, auf der harmlose Alltagsfotos landen. So viel sei vorweggenommen: Ein schlechtes Gewissen haben diese Personen nicht.

Ich widme ein Kapitel dann dem Geschäft mit dem Missbrauch. Gerade über das Internet gibt es kommerziell vermittelte Angebote, um sexualisierte Gewalt an Kindern zu fördern, sie live mitzuerleben, Bilder und Videos der Taten zu erhalten. Oder um im echten Leben gegen Geld ein Kind sexuell zu missbrauchen – das klingt weit weg, aber wir werden sehen, dass dies auch in Deutschland gebräuchlich ist. Das Geschäft mit dem Missbrauch blüht auch deshalb, weil die Algorithmen sozialer Netzwerke wie Instagram es bei entsprechendem Interesse der Nutzer:innen belohnen, wenn nackte Haut gezeigt wird.1 Dadurch wird Interaktion auf den Plattformen gefördert und mehr Werbung geschaltet, was die Umsätze der Techkonzerne erhöht.

Ich erreiche dann mit der Analyse pädokrimineller Netzwerke das Darknet. Dort, in den letzten Winkeln des Internets, fließt alles zusammen, was wir bis dahin kennengelernt haben. Absurd große Foren mit Massen an Fotos und Videos, perfide durchdachte Anleitungen für den realen Missbrauch, Vernetzungsmöglichkeiten in Chatgruppen. Diese Foren bildeten den Schwerpunkt meiner journalistischen Arbeit, und auch hierzu werde ich neue, exklusive Daten liefern, welche die Dimension und das enorme Wachstum des pädokriminellen Darknets verdeutlichen – aber auch Hinweise darauf geben, was wir dagegen tun können.

Ich beende die Analyse mit einem Wagnis. Ich werde ein in dieser Langversion bislang unveröffentlichtes Interview mit einem der lange Zeit meistgesuchten Pädokriminellen der Welt publizieren. Ich habe es anonym mit ihm geführt, als er gerade der Administrator des bis dato größten pädokriminellen Darknetforums der Welt war. Ein Wagnis ist es deshalb, weil einem Täter – und nicht den Betroffenen – Raum gegeben wird, sich zu erklären. Das Interview ist für mich aber ein wichtiges Dokument, weil es uns hilft, das Mindset solch schwerkrimineller Menschen besser zu verstehen. Was kann es für ein Threat Modeling, für die Analyse der Gegner:innen, Besseres geben als ein authentisches Interview mit ihm? Ich werde das Interview kommentieren, um daraus die für unsere Zwecke wichtigen Schlüsse zu ziehen.

Lösungen für strukturelle Probleme

Die zweite Leitfrage widme ich dem letzten Teil des Buches: Was hilft uns dabei, die Gefahren durch pädokriminelle Täter:innen in den Griff zu bekommen?

Die politische Debatte konzentrierte sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auf die Strafverfolgung. Mit Emotionen wurden politische Vorhaben durchgedrückt, die sinnvoll und wirksam klangen, aber an den Strukturen wenig änderten. Am Beispiel der Strafrechtsverschärfung von 2021, der jahrzehntelangen Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung und neuerdings der sogenannten Chatkontrolle wird deutlich, wie durch parteitaktische Querelen kostbare Diskurszeit verschwendet wird. Die wirklich wichtigen Fragen geraten bei diesen politischen Profilierungsversuchen gar nicht erst in den Blick.

Eigene Recherchen zu der Frage, wie in den großen pädokriminellen Darknetforen Aufnahmen gelöscht werden könnten, haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass Strafverfolgungsbehörden dringend einen Paradigmenwechsel einleiten müssen. Ihre aktuellen Taktiken lassen es zu, dass die Darknetforen immer größer werden, obwohl dies durch ein proaktives Löschen eingedämmt werden könnte. Dies wären wir nicht nur den Betroffenen schuldig, deren Aufnahmen immer und immer wieder getauscht werden, wodurch ihr entwürdigender Missbrauch im Digitalen andauert. Die Dauerverfügbarkeit des illegalen Inhalts, die soziale Enthemmung in den Foren kann auch dazu führen, dass tatunentschlossene Personen eher bereit sind, in der realen Welt einem Kind sexualisierte Gewalt anzutun.

Frappierend ist, dass durch die politische Fokussierung auf die Strafverfolgung die Unterstützung der von sexuellem Kindesmissbrauch Betroffenen sowie die Prävention seit Jahrzehnten zu kurz kommen. Es gibt in Deutschland einen Kompetenzwirrwarr, sodass Fachberatungsstellen in der Regel nur kurze Projektverträge erhalten und nicht in der Breite helfen können. Es bleibt allzu häufig bei politischen Leuchtturmprojekten. Dass ein Kind in der Schule in digitaler Medienkompetenz fortgebildet wird, hängt meist vom Engagement einzelner Lehrkräfte ab und ist damit pures Glück.

Da ich so hart mit staatlichen Stellen ins Gericht gehe, mögen Sie fragen: Ist es nicht Aufgabe der Internetunternehmen, Kinder und Jugendliche besser vor pädokriminellen Gefahren zu schützen? Es ist auch ihre Aufgabe, natürlich. Wir werden aber sehen, wie die Industrie seit Jahren die föderalen Strukturen der Medienregulierung nutzt, um Zeit zu gewinnen, in der nichts passiert. Unternehmen kapern wichtige Diskurse um die »Freiheit im Netz«, um dadurch den Status quo zu erhalten. Es braucht in der Medienregulierung ein stärkeres Miteinander von Regulierungsbehörden, der Datenschutzcommunity und technisch versierten Köpfen, um Maßnahmen zu entwickeln, die dem Kinder- und Jugendschutz dienen, ohne Freiheitsrechte mehr als nötig einzuschränken. Wir werden sehen: Das muss kein frommer Wunsch bleiben.

Am Schluss bleibt das übrig an Handlungsoptionen, was kein Staat, kein Unternehmen und auch keine künstliche Intelligenz jemals übernehmen wird: die Erziehung digital mündiger Kinder. Expert:innen berichten über Best Practices, wie das gelingen kann, wie Vertrauenspersonen den Kontakt zu Kindern mit schlimmen Erfahrungen halten können. Auch braucht es fundamentale Änderungen in der Art und Weise, wie Kinder an das Internet herangeführt werden. Es braucht eine digitale Resilienz der Kinder und ihrer Eltern. Wir müssen davon ausgehen, dass wir alle irgendwann einmal mit Pädokriminellen in Kontakt kommen werden. Ich werde zeigen, wie betroffene Kinder dann möglichst handlungsfähig bleiben und welche Rolle Erziehung dabei spielt.

Es bleiben zum Ende noch einige ganz praktische Tipps und Tricks übrig, die jede:r umsetzen kann. Es geht darum, welche Arten von Kinderfotos im Netz gepostet werden können, welche besser nicht. Worauf zu achten ist, wenn Kinder ein neues Onlinegame beginnen, und wie kluge Voreinstellungen in Apps Gefahren massiv senken können. Es geht also um eine Art »digitale Selbstverteidigung« gegen Pädokriminelle mithilfe von Technologie. Weniger ist dabei mehr: Nicht die Späh-App auf dem Smartphone der Kinder ist der Schlüssel zum Erfolg, sondern ein Set an Einzelmaßnahmen, mit denen Kindern ein Schutzraum eröffnet wird, in dem ihre Privatsphäre – auch gegenüber ihren eigenen Eltern – respektiert wird.

Einleitend lege ich Ihnen noch ans Herz, zwei Kapitel zu lesen, um Sie sprachlich und gedanklich auf die Analyse des Status quo vorzubereiten. Im nächsten Kapitel erkläre ich wichtige Begriffe, mit denen in diesem Buch gearbeitet wird, beispielsweise auch den Unterschied zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und sexualisierter Gewalt an Kindern. Bei diesem komplexen Thema ist es besonders wichtig, die eigene Wortwahl zu reflektieren.

Hilfreich für eine Hinführung zum Thema könnte auch das dann folgende Kapitel sein, in dem es um die Geschichte des sexuellen Kindesmissbrauchs geht. Es lässt sich nur mit einem Blick zurück erklären, weshalb wir als Gesellschaft vor diesem Scherbenhaufen stehen.

Grundsätzlich lege ich Ihnen nahe, das Buch chronologisch zu lesen und nicht zwischen den Kapiteln zu springen. Als Eltern mögen Sie versucht sein, direkt zu den Empfehlungen für Eltern am Ende des Buches zu springen, weil Sie diese selbst umsetzen können. Aber dieses Buch ist anders. Es legt seinen Schwerpunkt auf die Analyse des Gegenübers. Sie müssen erst verstehen, wie Pädokriminelle agieren, um die nicht immer intuitiven Lösungsvorschläge nachvollziehen zu können. Ich werde mich bemühen, mit der Analyse so wenig zu schockieren wie möglich – und Ihnen im besten Fall neben vielen Informationen auch eine spannende Lektüre zu bieten.

Mit Worten kaum zu fassen

Sprachgebrauch, Begriffe und Erzählhaltung

Es ist im Berliner Politikbetrieb ein seltenes Ereignis, wenn ein Politiker in der Öffentlichkeit Selbstkritik übt, ungefragt und noch bevor er zu seinem eigentlichen Thema kommt. Am 17. November 2021 wählte Horst Seehofer, zu jenem Zeitpunkt geschäftsführender Bundesinnenminister, diesen Schritt auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes. Er brachte in seinen einleitenden Worten seine Sorge über die »Verbreitung von Kinderpornografie« zum Ausdruck. »Dieser Begriff«, so fuhr er fort, »hat sich leider eingebürgert. Ich habe ihn auch lange gebraucht, aber es ist viel präziser, von den Darstellungen sexuellen Missbrauchs zu sprechen.«

Seehofer blickte damals auf eine jahrzehntelange politische Karriere zurück, in der er unter anderem vier verschiedenen Bundesregierungen angehörte. Das Ende seiner Laufbahn war längst absehbar, wenige Wochen später wurde Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt. Seehofer hätte auch bei diesem, einem seiner letzten öffentlichen Auftritte als Minister weiterhin von »Kinderpornografie« sprechen können. Dass er sich begrifflich korrigierte, zeigt, wie sehr in der Öffentlichkeit mittlerweile der routinierte Sprachgebrauch hinterfragt wird.

In diesem Kapitel werden Begriffe beschrieben, die für viele Nicht-Fachleute immer noch fremd sind. Ich werde erklären, warum »Kinderpornografie« ein No-Go geworden ist; warum es besser ist, von »Betroffenen« anstatt von »Opfern« zu sprechen, worin der Unterschied zwischen sexualisierter Gewalt und sexuellem Missbrauch liegt, warum es falsch ist, pauschal von »Pädophilen« zu schreiben. Dieses Kapitel soll helfen, dem komplexen und schwierigen Thema des Buches besser folgen zu können und nicht dauerhaft irritiert zu sein, wenn ich mal von »Menschen mit pädophilen Neigungen«, dann von »Pädosexuellen« und im nächsten Satz von »Pädokriminellen« schreibe, häufig aber nur von Täter:innen. Hinter jeder Wortwahl steht eine bewusste Entscheidung.

Es ist kaum zu beschreiben, was von sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern widerfahren ist. Umso wichtiger ist es, unsere Worte mit Bedacht zu wählen. Betroffene als »Opfer« oder das Filmen ihrer Erlebnisse als eine Form von »Pornografie« zu bezeichnen, ist etwas, das viele von ihnen verletzt.

Vielen ist nicht bewusst, dass »Kinderpornografie« die Sprache der Täter:innen ist. Für sie ist das Fotografieren und Filmen sexualisierter Gewalthandlungen an Kindern eben Pornografie, so wie wenn man sich ein Filmchen ansieht, bei dem Erwachsene Sex miteinander haben. Es soll anregen, »Lust machen« und dient in aller Regel zur Selbstbefriedigung.

In pädokriminellen Darknetforen wird unter Links zu Fotos und Videos, in denen Kinder zwischen null und 14 Jahren penetriert werden, häufig entweder ein Emoji geteilt, das amüsiert blickt und Popcorn isst, oder eines, das masturbiert. Diese Foren bezeichnen sich als »Communities«, in denen »CP« geteilt wird. »CP« steht für »child pornography«, also »Kinderpornografie«. All das Entwürdigende, das Leid und auch das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Täter:innen und Betroffenen klammert dieser Begriff aus. Hinter dem Begriff der »Kinderpornografie« steht die Vorstellung, dass es einvernehmliches sexuelles Handeln zwischen Erwachsenen und Kindern geben kann.

Was für uns nur ein Begriff sein mag, spiegelt für die Täter:innen eine Weltanschauung wider: Bei ihnen herrscht die Überzeugung vor, dass Pädokriminelle für eine »sexuelle Befreiung« der Kinder kämpfen, dass sie eine mutige Minderheit darstellen, die den Kampf in einer Gesellschaft aufgenommen haben, die rückständig ist und noch nicht verstanden hat, dass Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern »normal« sei. Wer »Kinderpornografie« sagt, bedient sich dieses Kampfbegriffs der pädokriminellen Szene, die ganz bewusst eine semantische Gleichheit zwischen ihrer »Sexualität« und der Sexualität unter Erwachsenen herstellen möchte.

Dass sich der Begriff trotz jahrelanger Kritik hartnäckig hält, liegt vor allem am Gesetzgeber. Wer sich Aufnahmen ansieht, die sexualisierte Gewalt an Kindern filmisch dokumentieren, und dafür verurteilt wird, erhält eine Strafe wegen »Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Inhalte«, geregelt in § 184b des Strafgesetzbuches. Juristisch ist Kinderpornografie »die fotorealistische Darstellung des sexuellen Missbrauchs einer Person unter 14 Jahren«. Sind die Betroffenen zwischen 14 und unter 18 Jahren, spricht man von »Jugendpornografie« (§ 184c des Strafgesetzbuches). Wann immer Täter:innen vor Gericht stehen, müssen ihnen die juristisch korrekt bezeichneten Straftaten vorgehalten werden. Da es aber den Straftatbestand »Verbreitung von Aufnahmen, die sexualisierte Gewalt an Minderjährigen darstellen«, im Strafgesetzbuch schlicht nicht gibt, können Richter:innen Pädokriminelle nicht dafür verurteilen.

Ebenso wenig kommen journalistische Redaktionen – trotz etwaiger sprachlicher Kreativität – gänzlich um den Begriff »Kinderpornografie« herum. Wenn eine Person wegen des »Besitzes von Kinderpornografie« verurteilt wird, ist diese Formulierung in einem journalistischen Beitrag kaum zu vermeiden. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Begriff »Kinderpornografie« Emotionen weckt und damit die Klicks auf eine Nachrichtenmeldung steigern kann. Diese Mischung aus fehlender Sensibilität, aktueller Rechtslage und gewünschter Emotionalisierung beim Publikum führt dazu, dass der Begriff im Alltagsgebrauch verwurzelt bleibt.

Erstaunlich ist, dass sich die juristische Terminologie im Jahr 2021 nicht änderte. Auf einen in Münster bekannt gewordenen Fall von schwerem sexuellem Kindesmissbrauch reagierte die damalige Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) mit einem umfassenden Gesetzespaket2, das wir uns im Kapitel über »Sicherheit und Freiheit« ausführlich ansehen werden. Teil der Pläne war eine begriffliche Neuformulierung einiger Straftatbestände, vor allem sollten Straftaten nicht mehr als »sexueller Missbrauch von Kindern«, sondern als »sexualisierte Gewalt gegen Kinder« bezeichnet werden. Obwohl es durch die Diskussion um »sexualisierte Gewalt an Kindern« eine intensive Debatte um den richtigen Sprachgebrauch gab, wurden jahrelange Forderungen, sich endlich von der Sprache der Täter:innen zu distanzieren und »Kinderpornografie« aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, ignoriert. Die Grünen kritisierten als damalige Oppositionsfraktion in einem Änderungsantrag3 die Bundesregierung zwar dafür, dass diese »die Ersetzung des verharmlosenden Begriffs ›Kinderpornografie‹« auf die lange Bank schiebe, doch blieb dies ohne Auswirkungen auf das Gesetzgebungsverfahren.

Kann man Kinder gebrauchen?

Warum aber wollte Lambrecht »sexuellen Missbrauch« – selbst unter vielen Fachleuten eine häufig (noch) gebräuchliche Formulierung für das, was Pädokriminelle Kindern antun – überhaupt in »sexualisierte Gewalt« umbenennen? Auch hinter dem Begriff »Kindesmissbrauch« steckt eine jahrelang vorgetragene Kritik, die allerdings diffiziler ist als die an dem Ausdruck »Kinderpornografie«. Sie lässt sich am besten ex negativo verstehen: Da ein Kind ein Mensch ist, kann man es nicht wie eine Sache für etwas »gebrauchen«. Wenn aber ein rechtmäßiger und legitimer Gebrauch nicht möglich ist, kann es auch keinen Missbrauch geben. Noch deutlicher wird es, wenn wir das Adjektiv »sexuell« dazusetzen: »Sexuellen Gebrauch von Kindern« kann es tatsächlich legal nicht geben.

Das Hauptinteresse der damaligen Regierungsfraktionen Union und SPD an der Begriffsänderung lag insofern darin, klarer zu machen, dass »jede sexuelle Handlung mit einem Kind« als »sexualisierte Gewalt zu brandmarken« sei, wie es im ursprünglichen Gesetzesentwurf aus dem Oktober 2020 hieß. Damit folgte das federführende Justizministerium den Forderungen einiger Beratungsstellen, die täglich mit Betroffenen arbeiten. »Der Missbrauchsbegriff wird mir zu inflationär benutzt. Für mich ist alles, was man Kindern und Jugendlichen in einem sexualisierten Kontext antut, eine Form von Gewalt«, sagte mir Lukas Weber, Geschäftsführer des Vereins HILFE-FÜR-JUNGS bei einem Gespräch in Berlin. Schmunzelnd fügte er jedoch hinzu, dass die Diskussion auch zwischen den Beratungsstellen noch keinen Konsens gefunden habe.

Bei meinen Gesprächen mit Kolleg:innen von Lukas Weber merkte ich rasch, dass die Kritik am Missbrauchsbegriff bei Weitem nicht so verbreitet ist wie jene an »Kinderpornografie«. Letzteres sagt eigentlich niemand mehr, der regelmäßig mit Betroffenen zu tun hat. »Sexueller Missbrauch« ist hingegen durchaus gebräuchlich. Aus diesem Grund votierte4 auch der Bundesrat gegen Lambrechts Pläne. Beim Missbrauchsbegriff handle es sich um einen »seit langem eingeführten, eindeutig negativ besetzten, in der Bevölkerung gängigen Ausdruck des allgemeinen Sprachgebrauchs«. Das Argument, durch Missbrauch werde suggeriert, es könne einen positiv konnotierten »Gebrauch« von Kindern geben, bezeichnete der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu Lambrechts Plänen als »lebensfremd«.

Der Missbrauchsbegriff hat den analytischen Vorteil, dass er breiter einsetzbar ist und damit als Sammelbegriff für diverse Formen moderner Pädokriminalität angewendet werden kann. Auch ein familiäres Kinderfoto kann missbraucht werden, um sich am spärlich bekleideten Jungen zu ergötzen und sich selbst zu befriedigen, gegebenenfalls noch obszön in einem Onlineforum zu kommentieren. Hier liegt ein Missbrauch im Sinne der Definition im Duden vor, nämlich die Fotos »falsch, nicht seiner eigentlichen Bestimmung oder seinem eigentlichen Verwendungszweck entsprechend zu gebrauchen« und sie »in unredlicher, unerlaubter Weise für eigennützige Zwecke zu gebrauchen«.

Hinter der Forderung nach einer Reformulierung diverser Bezeichnungen von »sexuellem Missbrauch« in »sexualisierte Gewalt« steht vielfach der Grundimpetus, illegitime Handlungen mit Kindern sprachlich scharf zu verurteilen und das Unrecht semantisch nicht verharmlosen zu wollen. In der Tat ist »Gewalt« ein eindringlicherer Begriff als »Missbrauch«. Dass »Missbrauch« verharmlosend wirken kann, wird also erst deutlich, wenn wir auf die Differenz zum Gewaltbegriff hinweisen und beide Wörter in Kontrast zueinander setzen. Gewalt ist in unserer Vorstellung immer noch eng verknüpft mit dem Ausüben physischer Kraft, mindestens aber mit einem Zwang, sodass das Gegenüber seiner Handlungsoptionen beraubt wird und keine Alternativen hat, als so zu handeln, wie es der Gewaltausübende verlangt.

Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, die beiden Begriffe »sexueller Missbrauch« und »sexualisierte Gewalt« nicht gegeneinander auszuspielen, sondern ihre jeweiligen analytischen Potenziale zu nutzen. »Sexueller Missbrauch« ist der breitere Begriff, der immer eine ausnahmslos illegitime, unmoralische und illegale Handlung bezeichnet. Häufig, vielleicht sogar in den meisten Fällen, beinhaltet »sexueller Missbrauch« auch das Anwenden »sexualisierter Gewalt«.

Solche inhaltlichen Überlegungen führten schließlich auch dazu, dass Lambrechts Pläne zur Umbenennung von Straftatbeständen in »sexualisierte Gewalt gegen Kinder« im Bundestag gekippt wurden. Sachverständige argumentierten5 im Rechtsausschuss, dass »im Falle der Einführung der Begrifflichkeit der sexualisierten Gewalt insbesondere bei potenziellen Tätern und Betroffenen ein dahin gehendes Missverständnis entstehen könnte, dass die Strafbarkeit sexueller Handlungen mit Kindern immer mit einer Gewaltanwendung des Täters einhergehen müsse«. Tatsächlich beinhalte die bisherige Formulierung des »sexuellen Missbrauchs« aber »unmissverständlich auch gewaltlose und manipulative Begehungsformen, die auch den Großteil der Fälle ausmachten«.

Gewalt als solche benennen

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, als halte ich den Begriff der »sexualisierten Gewalt« für nutzlos. Das Gegenteil ist der Fall. Im November 2022 war es dem Bundeskriminalamt und der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main – bei der die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internet- und Computerkriminalität (ZIT) angesiedelt ist – gelungen, BoyVids 6.0 und Forbidden Love abzuschalten. In beiden Foren wurden vor allem Fotos und Videos getauscht, die den sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungs im Alter von null bis 17 Jahren dokumentierten: von auf Social-Media-Profilen geklauten Kinderfotos bis hin zu schwersten Formen der sexualisierten Gewalt inklusive der Penetration von Kleinstkindern. BoyVids 6.0 und Forbidden Love waren, so furchtbar das klingt, normale pädokriminelle Darknetforen.

Die offizielle Pressemitteilung des BKA hatte den Titel: »Schlag gegen Darknetplattformen wegen der Verbreitung von Abbildungen sexualisierter Gewalt an Kindern«. Und unser »Tagesschau«-Beitrag, den ich gemeinsam mit meinen Kollegen Robert Bongen und Florian Flade produziert hatte, lief unter dem Titel: »Online-Plattformen abgeschaltet: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder«.

Bei den Täter:innen stieß diese Wortwahl auf Unverständnis. Ein User in einem anderen Darknetforum beklagte sich in Bezug auf unsere Berichterstattung:1 »Hab mir diesen Mist auch angeschaut und was mich tierisch nervt ist, dass dauernd von Aufnahmen von sexualisierter Gewalt gegen Jungen und Mädchen gefaselt wird.« Ein anderer pflichtete ihm bei: »Für diese Vollidioten ist es doch schon sexualisierte Gewalt, wenn du dir auf eine Bleistiftskizze vom Sandmännchen einen runterholst.« Ein Dritter hob die Diskussion auf ein pseudowissenschaftliches Niveau: »Es ist ja seit den 70ern schon bekannt, das bei einvernehmlichem Sex kein Schaden nachgewiesen werden kann.«

Das ist eine typische Diskussion in einem pädokriminellen Darknetforum. Für ein genaueres Verständnis muss ich den Begriff »Hurtcore« einführen, der in der zitierten Diskussion eine große Rolle spielte. »Hurtcore« ist zusammengesetzt aus »Hardcore« und »to hurt«, also verletzen. Hardcorepornografie meint solche, in der die Geschlechtsmerkmale klar erkennbar sind und damit zumeist interagiert wird, sei es durch Masturbation oder Penetration. Das meiste von dem, was wir auf legalen Pornografieplattformen finden, ist Hardcore. Bei »Hurtcore« geht es zusätzlich um eine Verletzung mittels Gewalt, Folter oder gar Mord. Ich war mental nie in der Lage, mich näher mit »Hurtcore« in diesen pädokriminellen Darknetforen zu befassen, weshalb ich dazu kaum mehr Informationen habe als frei verfügbare Fakten im Netz, wonach »Hurtcore« in der pädokriminellen Szene teilweise rezipiert wird. Jedes Forum hat detaillierte »Hurtcore Guidelines«, in denen geregelt wird, welche Art von Darstellungen verbreitet werden darf. Es gibt viele Pädokriminelle, die Videos von schlimmstem Kindesmissbrauch ansehen, aber auf diejenigen herabsehen, die auch »Hurtcore« attraktiv finden.

An dieser szeneinternen Diskussion wird verständlich, weshalb der Begriff »sexualisierte Gewalt gegen Kinder« vielen Pädokriminellen so sauer aufstößt. Für sie handelt es sich nur bei »Hurtcore« um Gewalt, bei Hardcoredarstellungen von Kindesmissbrauch dagegen um »einvernehmlichen Sex« zwischen einem Erwachsenen und Kindern. Es war für mich unglaublich, zu lesen, wie einige Pädokriminelle diese Gewalt nicht nur leugneten, sondern tatsächlich gar nicht verstanden, wie das Bundeskriminalamt und wir als Journalist:innen überhaupt darauf kommen konnten, so etwas als »sexualisierte Gewalt« zu bezeichnen. Es ist für mich ein sehr eindrückliches Beispiel dafür, wie viel man mit Sprache bewirken kann. Es geht nicht nur darum, das Leid der Betroffenen zu benennen, sondern auch darum, als Gesellschaft das klare Signal zu senden: »Was ihr da macht, ist das Ausüben von Gewalt an Kindern.«

Von kausativen Verben

Ein Detail ist bei der bisherigen Analyse untergegangen: In Zusammenhang mit Gewalt fällt das Adjektiv »sexualisiert«, bei Missbrauch hingegen »sexuell«. Lange war die Formulierung »sexuelle Gewalt« geläufig, ehe sich Stimmen mehrten, besser von »sexualisiert« zu sprechen – eine Folge der feministischen Diskussion um die angemessene Bezeichnung für Vergewaltigungen von Frauen durch Männer.

Bei »sexualisiert« handelt es sich um ein kausatives Verb, also eines, das einen Zustand beschreibt, den man herbeiführen möchte. Wer eine Blume »tränkt«, möchte, dass sie »trinkt«. Wer eine CD digitalisiert, will, dass die Lieder anschließend digital abspielbar sind. Hinter dem Begriff der »sexualisierten Gewalt« steht analog also die Aussage, dass Täter:innen Gewalt ausüben.

»Sexuelle Gewalt«, so der Vorwurf, suggeriere hingegen, dass es bereits einen sexuellen Kontext gab und darin dann Gewalt ausgeübt wurde. Dies könnte bei Kindern so missverstanden werden, dass eine einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen Betroffenen und Täter:innen bestand, bevor die Gewaltkomponente hinzutrat.

Vom ewigen Opfer und mündigen Betroffenen

Die höhere Sensibilisierung für unser Thema hat auch dazu geführt, dass der Begriff »Opfer« seltener genutzt und dass vermehrt von »Betroffenen« gesprochen wird. Aus meiner Perspektive ist der Begriff »Opfer« für manche Situationen durchaus angebracht, nämlich genau für die Zeitspannen, in denen Kinder sexualisierte Gewalt erfahren. Dann sind ihre Handlungsoptionen eliminiert, sie sind fremdbestimmt und müssen ertragen, dass andere handeln – dies gilt gleichermaßen für den realen Missbrauch wie für das Verbreiten intimer Fotos.

Bedeutsam ist dessen ungeachtet, die betroffenen Personen nicht dauerhaft als Opfer zu bezeichnen und sie dadurch als passiv, hilflos, schwach zu stigmatisieren. Auch wenn sie traumatische Dinge erlebt haben, bleiben sie mündige Menschen. Sie verdienen unsere Hilfsangebote, aber ebenso die Chance, sich aus einer erlebten Opferrolle heraus zu emanzipieren und zu Betroffenen zu werden, die lernen, mit dem schlimmen Vorfall umzugehen und ihr eigenes Leben zu leben. Das Gremium, das bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) des Bundes – kurz »Missbrauchsbeauftragte« – die Perspektive der von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen einbringt, heißt denn auch Betroffenenrat und nicht »Opferrat«.

Alles Pädophile – oder doch nicht?

Bleibt zum Schluss noch zu klären, wie wir die Täter:innen bezeichnen sollen. Das sind sie doch alle, oder? Tatsächlich wurde in diesem Buch bisher immer mit Beispielen gearbeitet, in denen illegales, illegitimes oder zumindest unmoralisches Handeln beschrieben wurde. Es ist wichtig, in solchen Fällen sehr bewusst immer von Täter:innen zu sprechen, um den Unrechtscharakter der Situation klar zum Ausdruck zu bringen. Täter:in ist nicht nur, wer ein Kind physisch sexuell missbraucht, sondern auch, wer Kinder in Spielechats anschreibt und in einen »Sextalk« verwickelt oder einem Kind etwas »Versautes« sagt, weil ihn oder sie das »anmacht«.

Unsere Gesellschaft schlägt beim Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs jedoch allzu schnell emotional über die Stränge und pauschalisiert. Menschen mit pädophilen Neigungen gelten generell und ausnahmslos als Kriminelle, die sich an Kindern vergehen. »Nicht alle pädophilen Menschen verüben sexualisierte Gewalt gegen Kinder, und nicht alle Menschen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder verüben, sind pädophil. Tatsächlich liegt mehrheitlich keine Pädophilie zugrunde, weshalb wir von Ersatzhandlungstäter:innen sprechen. Sie ›missbrauchen‹ Kinder zum Teil zur Befriedigung von Machtbedürfnissen, Gewalt und Sadismus oder aber, weil sie ihren Wunsch nach Nähe und Partnerschaft mit Erwachsenen aufgrund kognitiver, psychischer und sozialer Einschränkungen nicht realisieren können«, erläuterte mir die Kriminologin Kristina Straßburger, die bei Instagram als »Kriminologin Kristina« zum Thema aufklärt. Die Aussage, dass die Mehrheit der Missbrauchstäter:innen nicht pädophil ist, war auch für mich zunächst eine verblüffende Erkenntnis. Auf die durch Studien abgesicherten Erkenntnisse dazu werden wir im Detail im Kapitel über Gefahren im Nahfeld intensiver eingehen.

Viele Pädophile sprechen in Selbsthilfegruppen über ihre Sorgen, Bedürfnisse und Fantasien. Wer diesen Menschen, die dauerhaft an sich arbeiten, permanent das Gefühl vermittelt, sie stünden trotz allem auf einer Stufe mit Schwerverbrecher:innen, und in Social-Media-Kommentaren über »Kastrationspflichten für Pädophile« schwadroniert, der erreicht im Zweifel, dass sie irgendwann ihre Sexualpräferenz ausleben. In der dritten Auflage des medizinischen Standardwerks Sexualmedizin – Grundlagen und Klinik sexueller Gesundheit6 heißt es dazu, auf Studien gestützt: »Wird […] das Fremdgefährdungsrisiko erkannt und besteht in Verbindung mit der Präferenzbesonderheit ein Leidensdruck, dann bildet dies eine günstige Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Behandlungsmaßnahmen, sofern die Betreffenden nicht die Sorge haben müssen, wegen ihrer Neigung stigmatisiert zu werden.« Im aktuellen Meinungsklima ist es für Menschen mit pädophilen Neigungen jedoch unmöglich, sich zu outen.

Ich werde in diesem Buch so gut wie nie von »Pädophilen« sprechen. Dies ist die Bezeichnung für Menschen, die ein primäres sexuelles Interesse an Kindern vor Erreichen der Pubertät haben – bei einer Sexualpräferenz für pubertierende Jungen und Mädchen spricht man übrigens von Hebephilie. In beiden Wörtern steckt das altgriechische Wort Philia, das im Unterschied zur leidenschaftlichen, erotischen Liebe (Eros) die Liebe unter Freunden meint. Der Grund, warum die Begriffe Pädo- und Hebephilie teilweise kritisiert werden.

Zunehmend differenziert von Pädophilen werden pädosexuelle Menschen. So können Personen bezeichnet werden, die ihre pädophilen Neigungen ausleben, ohne dass Kinder involviert sind. Man könnte dazu zählen, wenn ein Pädosexueller Kinderfotos in einem Werbeprospekt für Kindermode ansieht und dabei masturbiert. Denkbar sind auch Rollenspiele beim einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen, bei denen eine Person die Rolle eines Kindes übernimmt. Durch solches Quasi-Ausleben ihrer Sexualität könnte, so eine häufige Befürchtung, die Lust Pädosexueller, doch einmal ein Kind sexuell zu missbrauchen, steigen. Wir werden darauf ausführlich zurückkommen, wenn es um den Konsum von Missbrauchsdarstellungen geht. So viel sei vorweggenommen: Es kann so sein, kommt aber stark auf den Einzelfall an.

Von Pädosexuellen wiederum sollten Pädokriminelle unterschieden werden. Letztere sind Menschen, die rechtliche und moralische Grenzen überschreiten, indem Kinder betroffen sind – sei es durch rein digitalen Missbrauch (sog. hands-off) oder realen körperlichen Missbrauch (hands-on). Pädokriminalität dient als Sammelbegriff für Handlungen an, mit oder vor Kindern, in denen Kinder sexuell missbraucht werden oder mit sexualisierter Gewalt konfrontiert sind, gleichwohl, ob dem eine pädophile Sexualpräferenz der Täter:innen zugrunde liegt oder nicht.

So klar und eindeutig, wie ich die Begriffe nun eingeführt habe, läuft die Diskussion allerdings keineswegs. Am Begriff der Pädosexualität wird teilweise kritisiert, dass er auf eine Stufe gehoben wird mit Heterosexualität, Homosexualität und anderen Formen der Sexualität, was im Falle einer »romantischen Liebe zu Kindern« per se gar nicht möglich sei. Menschen mit pädophilen Neigungen kritisieren am Begriff der Pädokriminalität, dass durch die semantische Nähe in der öffentlichen Meinung hängen bleibt, dass Pädophilie per se kriminell sei. Besser sei es, so erzählte mir ein pädophiler Mensch, von Missbrauchstäter:innen zu sprechen oder von Menschen, die Kindern sexualisierte Gewalt antun. Bei einer Vergewaltigung spreche man, so sein Vergleich, auch nicht von »Heterokriminalität«. Damit ist der argumentative Zirkelschluss nun erreicht, denn genau hierauf zielt wiederum das Gegenargument, dass Pädosexualität ja auch nicht mit anderen Sexualitätsformen gleichzusetzen sei.

Es ist nicht möglich, diese Begriffsstreitigkeiten restlos aufzulösen. Nicht immer gibt es »richtig« und »falsch«. Ich werde meine Worte möglichst mit Bedacht wählen, wohl wissend, dass manchmal andere Alternativen auch sinnvoll sein könnten. Wenn aber die Lektüre dieses Buches dazu führt, dass wir nicht mehr von »Kinderpornografie« sprechen, dass wir von sexualisierter Gewalt Betroffene nicht dauerhaft als »Opfer« abstempeln und nicht alle Pädophilen mit Kriminellen gleichsetzen, wäre ein Anfang gemacht.

Wellen der Aufklärung

Geschichte des Missbrauchs und die Rolle des Internets

»Kennen Sie die Agfa Clack?«, fragt mich Angelika Oetken und schaut mich erwartungsvoll an. Ich zucke mit den Schultern. »Agfa? Ist das nicht eine Kameramarke?«, frage ich zurück. »Genau. Die Clack konnten sich damals nicht viele Menschen leisten. Das war etwas Besonderes. Verpackt war sie in einer schicken Ledertasche. Das war die Zeit, als es mit dem massenhaften Fotografieren losging«, erzählt Oetken. Damals, das waren die 1960er- und 1970er-Jahre, und die Möglichkeiten zum Fotografieren besonderer Momente eröffneten sich vielfältig: Geburtstage, Urlaube, Familienfeste, Partys.

Es war die Zeit, in der Angelika Oetken selbst ein Kind war.

Nun, rund 50 Jahre später, treffe ich sie in einer Berliner Eckkneipe nahe dem Bahnhof Ostkreuz. Oetken spricht schnell und ausgiebig, erzählt Geschichte um Geschichte. Alles dreht sich um das eine Thema: Wie Kinder sexuell missbraucht wurden und werden, wie über Generationen hinweg Täter:innen systematisch geschützt wurden und die Politik über Jahrzehnte dabei versagte, Betroffenen besser zu helfen. Es ist ihr Lebensthema geworden. Oetken ist selbst Betroffene.

2010 machte sie ihr Schicksal öffentlich und engagiert sich seither politisch in verschiedenen Initiativen und Gremien für einen besseren Umgang mit Betroffenen von sexuellem Kindesmissbrauch. Oetken war damals, 2010, nicht allein. Rückblickend wurde 2010 ein entscheidendes Jahr für den Umgang mit sexualisierter Gewalt an Kindern in Deutschland. Es wurde eine Zäsur.

Oetken nimmt sich Zeit, um zu erzählen. Wie es war, wie sich alles entwickelte, welche Rolle (digitale) Technologie spielte und warum wir nun vor diesem scheinbar unlösbar großen Problem stehen.

Nacktfotos von Jungen im Treppenhaus

Oetken denkt mit gemischten Gefühlen an die Zeit zurück, als Fotoapparate ein Massenprodukt wurden. »Wir wissen, dass sexueller Kindesmissbrauch sofort fotografiert wurde, als die Technologie entwickelt war, also vor weit über 100 Jahren«, sagt sie, selbst ein Kind der 1960er-Jahre. »So richtig los ging es in den 1950er- und 1960