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Die überwiegende Mehrheit der queeren Mitarbeitenden gibt ihre wahre Identität am Arbeitsplatz nicht preis. Die aktuell hitzig geführten Debatten führen eher zu einer weiteren Polarisierung als zu einem offenen und verständnisvollen Miteinander (am Arbeitsplatz). Was wir dringend brauchen, sind Mut, Verständnis und Vielfalt. "Diversity Upgrade" von Pavlo Stroblja zielt genau darauf ab: ein tieferes Verständnis und eine breitere Akzeptanz für Vielfalt und die queere Community zu schaffen. Er zeigt, wie wir die eigene Selbstakzeptanz stärken und unsere Denkstrukturen hinterfragen können. Sein Buch ist ein Appell, aktiv zu sich selbst zu stehen und anderen mit mehr Neugier und Wertschätzung zu begegnen. Und ein Mustread für alle, die für eine offene und innovative Arbeitswelt stehen. - Diversity, Equity, Inclusion & Belonging - Umgang mit unbewussten Vorurteilen - Privilegien und Allyship Folgende Fähigkeiten im Fokus: - Empathie - Kreativität - Selbstbehauptung - Resilienz - Netzwerken - Adaptivität - Kommunikation - Starke Stimmen für Diversity: wichtige Impulse hochkarätiger Expert:innen wie Lena Rogl, Kadim Tas, Caroline von Kretschmann, Dr. Iréne Kilubi, Emre Çelik, Simon Usifo oder Jochen SchroppTieferes Verständnis fördern und Vielfalt feiern Pavlo Stroblja ist Gründer von Queermentor, einer gemeinnützigen Organisation, die zu Diversity und LGBTQIA-Themen aufklärt. Queermentor fördert Vielfalt durch ein kostenloses Mentoring- und Trainingsprogramm, das allen Mitgliedern des Netzwerkes zugänglich gemacht wird. Pavlos Buch schlägt eine Brücke zwischen der LGBTQIA-Community und der Mehrheitsgesellschaft, mit Schwerpunkt auf dem Umgang in der modernen Arbeitswelt. Es beleuchtet, wie queere Menschen ihre Identität aktiv reflektieren und ihre (berufliche) Entwicklung proaktiv gestalten. Vorbilder aus der queeren Community sowie LGBTQIA-Verbündete durchleuchten mit ihren inspirierenden Erfahrungen und Geschichten alle Dimensionen der Diversität sowie sieben Kompetenzen, die im Umgang mit Vielfalt eine zentrale Rolle spielen: Empathie, Kreativität, Selbstbehauptung, Resilienz, Kommunikation, Netzwerken und Adaptivität. Das Buch macht Mut und zeigt, wie wir uns selbst behaupten und gegen Diskriminierung engagieren können.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2024
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[8]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Pavlo Stroblja
Diversity Upgrade
1. Auflage, Juli 2024
© 2024 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, Freiburg
www.haufe.de
Bildnachweis Cover und Autorenbild: © Ulrike Frömel
Produktmanagement: Mirjam Gabler
Lektorat: Juliane Sowah
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[7]Für meine Eltern Tamara und Josif Stroblja,meine Schwester Julianna, Matthias undmeine wundervollen Nichten Maria und Eva.
[14]»
Wirf dein Herz nachvorne und folge ihm.
[16]Mein Name ist Pavlo. Vor 20 Jahren kam ich in Deutschland an, um mein Postgraduate-Studium in Rechtswissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zu machen. Wenn ich mich Menschen vorstelle, bekomme ich häufig die Rückfrage, ob ich Spanier sei. Viele Menschen hören Pavlo und stecken mich direkt in eine Schublade, in der Pablo Picasso oder Pablo Escobar (der auch nicht aus Spanien, sondern aus Kolumbien kommt) ihren Platz bereits gefunden haben. Ich komme weiterhin nicht aus Spanien, aber die Schublade bleibt.
Geboren wurde ich in der UdSSR, in der Ukrainischen Republik der UdSSR, um genau zu sein. Die ersten zehn Jahre meines Lebens wuchs ich als Sowjetgenosse auf, der zukünftige Stolz der Kommunistischen Partei in unserer Kleinstadt am westlichen Rande der Republik. Doch dann kam Herr Gorbatschow und mit ihm die Perestroika. Sein »Umbau«, der ungeahnte Konsequenzen für die Weltordnung gebracht hat, machte mich von einem Tag auf den anderen zum Bürger des unabhängigen Staates Ukraine. Am 24.08.1991, im Alter von zehn Jahren, erhielt ich zum ersten Mal in meinem Leben eine vollständig neue Identität – ein Persönlichkeitsmerkmal, das für immer ein Teil von mir sein wird. Viele Jahre später durfte ich mir bewusst meine Staatsangehörigkeit aussuchen und so wurde ich Deutscher (laut meinen Ausweisdokumenten).
Wenn dieses Buch erscheint, bin ich 43 Jahre und hatte bereits drei Staatsangehörigkeiten. Es gibt die schöne Bezeichnung »Mann mittleren Alters« – müsste irgendwo zwischen 35 und 65 Jahren [17]liegen –, zu dem ich mich zählen kann. Dabei bleiben Männer lange Zeit mittleren Alters, Frauen wird schon ab 30 das »Alter« zugeschrieben. Unfaire Gesellschaft. Sie hat auch bestimmte Erwartungen an Männer mittleren Alters: Wir müssen ein Haus gebaut, ein Kind gezeugt und mindestens einen Baum gepflanzt haben. Besser mehr, ist ja schließlich Klimawandel. Bis auf den Baum eigentlich sehr patriarchale Rollenbilder.
Ab ungefähr Mitte 20 kamen die ersten Anfragen aus meinem Familienkreis bezüglich meines Beziehungsstatus und des Nachwuchses. Schließlich sei ich der älteste Sohn und solle die Familie stolz machen. Diesen Fragen wich ich, so gut es ging, immer aus. Dann outete ich mich als schwuler Mann. Danach wurde ich nur noch sehr selten danach gefragt (wenn überhaupt) – plötzlich wurde mein Privatleben meine eigene Sache, von der niemand mehr Genaues wissen wollte.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich 2008 einen Freund in Freiburg besuchte. Ich ging alleine im Wald spazieren und sah einen Turm. Auf jeder Stufe zur Turmspitze stand ein Sprichwort. Eines ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben: »Wirf dein Herz nach vorne und folge ihm.« Erst viele Jahre später, als ich meinen Lebensweg weitergegangen bin und viele Rückschläge, aber noch mehr Erfolge hinter mir hatte, erinnerte ich mich an den Tag, als ich den Turm bestieg. Dieser Satz hatte mit einer unglaublichen Präzision meinen Werdegang und meine Einstellung beschrieben. So habe ich ihn zu meinem Motto gemacht. Und wer jetzt noch sagen würde, homosexuelle Männer können nicht selbstbewusst und erfolgreich werden, soll sich meinen Lebenslauf anschauen – hiermit habe ich das Gegenteil bewiesen.
Mit der Idee, ein Buch zum Thema Vielfalt und LGBTQIA Community zu schreiben, bin ich viele Jahre schwanger gegangen. Ein Mann und schwanger – ein Paradox? Nein, ist es nicht. Es gibt Männer, die schwanger werden können. Allerdings gehöre ich nicht dazu. Darf ich als cis Mann diese Redewendung überhaupt benutzen?
Cis (lateinisch, »auf dieser Seite«) »bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem in der Regel anhand äußerer Merkmale [18]vor oder unmittelbar nach der Geburt bestimmten Geschlecht übereinstimmt«1.
Wer welche Fragen stellen darf, hinterfragen wir in den Alltagsroutinen nicht allzu oft. Dafür braucht es Zeit und gedanklichen Raum. Wir sind in unseren Leben meist mit hoher Geschwindigkeit unterwegs, es gibt ständig etwas zu tun. Arbeit, Kontakte und Beziehungen pflegen, Social-Media-Kanäle checken. Liest überhaupt noch jemand Bücher heutzutage? Bestimmt. Bücher kommen nicht aus der Mode, sie werden höchstens elektronisch. Oder eine Audiodatei. Ich schreibe dieses Buch, um den Raum zu schaffen, in dem wir uns gemeinsam mit wichtigen Themen auseinandersetzen.
Lasst uns unsere Gesellschaft als Schule vorstellen. Wir sind alle Teil dieser »Schule der Vielfalt«. Und wie in jeder Schule gibt es auch in der Vielfaltsschule »die Nerds«, die pauken, lesen, Fortbildungen in Diversity, Equity and Inclusion machen, Wissen ansammeln und analysieren. Dann gibt es »die Coolen«, die sich in ihren fancy Outfits und mit überzeugenden Argumenten in Podcasts und Podiumsdiskussionen Sichtbarkeit und Gehör verschaffen (aber manchmal in der Theorie nicht ganz so fit sind). Die Coolen sind sehr beliebt, alle wollen mit ihnen befreundet und so wie sie sein. Es gibt die Klassenclowns, die auf eine unterhaltsame Art das Publikum abholen, aber auch Schüchterne (mit Tiefe), Schleimer (Rainbowwashing) oder Motzer (»Alles ist schlecht, aber bessere Ideen hab ich auch nicht.«). Neben den herausstechenden Charakteren gibt es dann noch die »stille Masse«, die sich nicht besonders kümmert, aber auch keinen Ärger macht.
Und dann plötzlich gibt es Nachrichten, dass einige Menschen sich getroffen haben, um eine Eliteschule zu schaffen, in der nur »die Würdigen« lernen dürfen. Würdig soll sein, wer weiß, deutsch, hetero, monogam, chronisch gesund und nicht behindert ist. Und bitte auch ausreichend Kinder bekommen will (mindestens zwei pro Familie, besser mehr).2
Klingt nicht nur menschenverachtend, sondern auch ganz schön langweilig, so eine einseitige Perspektive.
[19]Dieses Buch ist für alle, die nicht vergessen haben, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wer das aus irgendeinem Grund nicht mehr auf dem Schirm haben sollte, dem empfehle ich dieses Buch in einem Bundle mit dem Deutschen Grundgesetz – da steht es nämlich drin, und zwar in Artikel 13! Damit ist die Würde jedes einzelnen Menschen gemeint und nicht nur die Würde der weißen heterosexuellen alten cis Männer ohne Behinderung, die tolerant sind und »kein Problem mit Vielfalt« haben, die sie in einer Hinterkammer einschließen. Wir lassen uns nicht einsperren, wir brauchen ein Diversity Upgrade!
Die meisten werden den Begriff »Upgrade« aus dem Urlaub kennen. Ob ein Zimmer-Upgrade in einem Hotel oder ein Sitzplatz-Upgrade in die Businessclass, wenn genug Meilen auf dem Konto gesammelt sind. Wir alle möchten ein Upgrade für Dienstleistungen. Nicht zuletzt, weil ein Upgrade eine Aufwertung des Services bedeutet, ohne dafür zu zahlen.
Ein Zimmer-Upgrade bekommen wir, wenn wir nicht zufrieden mit etwas sind. Dann gehen wir an die Rezeption und machen einen Aufstand, die autorisierte Person wird konsultiert und schon dürfen wir in ein größeres Zimmer auf der höheren Etage ziehen. Unser Land ist aber kein Hotelzimmer. Warum müssen wir erst laut und unbequem werden, anecken und demonstrieren, um eine Aufwertung des bestehenden Systems zu erhalten?
Warum Upgrade? Ich habe mir die Frage gestellt: Ist es ein Upgrade oder ein Update? Ein Update kann auch eine Information sein, die Menschen auf den aktuellen Stand bringt – das ist definitiv nicht das Ziel dieses Buches. Beim Upgrade eines Betriebssystems wird eine aktualisierte Version installiert, mit neuen Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten. Die Nutzbarkeit und der Umgang mit dem System werden leichter und intuitiver. Genau das ist das Ziel des Buches. Vielfalt soll kein Standardprodukt mehr sein. Ich fordere Aufwertung für Vielfalt – und zwar ohne Aufpreis!
Es geht mir nicht nur darum, bestimmte Themen in den Raum zu stellen, sondern auch – und vor allem – die Vielfalt der Perspektiven [20]darzustellen. Vor drei Jahren habe ich eine gemeinnützige Organisation gegründet, die sich für Förderung von Vielfalt und für Chancengerechtigkeit einsetzt, und bin Sozialunternehmer geworden. Durch diese Arbeit traf ich viele inspirierende Persönlichkeiten. Menschen, die meine Vorbilder und Mentor*innen wurden, meine Lehrer*innen und Sparringspartner*innen. In meinem Diversity Upgrade möchte ich auch diesen Menschen Raum geben. Sie sind diejenigen, die jeden Tag dafür sorgen, dass das Upgrade umgesetzt wird.
Es geht um Wertschätzung der Vielfalt, um Akzeptanz und darum, welche Tools und Kompetenzen wir brauchen, um ein Upgrade durchzuführen.
In den zwei ersten Kapiteln gebe ich dir eine Übersicht über das Thema Diversity und die Bedeutung von DEIB – Diversity, Equity, Inclusion, Belonging – in der Arbeitswelt. Danach folgen die sieben zentralen Kompetenzen: Empathie, Kommunikation, Netzwerken, Kreativität, Adaptivität, Resilienz und Selbstbehauptung.
Warum ist dieses Buch eine LGBTQIA Edition? Zum einen, weil die meisten Stimmen in diesem Buch die LGBTQIA Community repräsentieren. Zum anderen, weil sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität stellvertretend für die sieben Diversity-Kern-dimensionen laut Charta der Vielfalt4 stehen. Nicht nur Queers, sondern alle marginalisierten Menschen, die Diskriminierung erfahren – sei es aufgrund der ethnischen Herkunft, Hautfarbe oder anderer Merkmale –, werden mit denselben Herausforderungen konfrontiert und entwickeln ähnliche Bewältigungsmechanismen.
Queere Menschen erfahren Gewalt, leiden dreimal öfter an Depressionen und Burn-out5 und haben ein fünfmal höheres Suizidversuchsrisiko als die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft6. Wir entwickeln Coping-Mechanismen (Bewältigungsstrategien) nicht, weil es so viel Spaß macht, queer zu sein. Es wäre schön, wenn wir jeden Tag Christopher Street Day (CSD) und Pride Partys feiern würden. Stattdessen werden wir aufgrund unserer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität gemobbt und ausgegrenzt. In vielen Fällen [21]schon im frühen Alter. Viele von uns sind bereits als Kind Opfer von Gewalt geworden und tragen diesen Schmerz und Traumata in uns. Diese Skills, die wir entwickeln, helfen uns, unsere Wunden zu heilen und wieder auf die Beine zu kommen. Pride bedeutet Stolz. Auch Stolz, überlebt zu haben. Die Diversity Skills, die wie ein Schweizer Taschenmesser (selbstverständlich in Regenbogenfarben) sind, möchte ich mit dir teilen. Sie helfen dir, dich zu schützen und dich selbst zu akzeptieren, wie du bist, aber auch selbstwirksam zu werden und eigene Vorurteile, die dich hemmen, loszulassen.
Wenn du das Privileg hast, keine Diskriminierungserfahrungen zu haben, hilft dir ein Diversity Upgrade bei einem sicheren Umgang mit Vielfalt und dich als verbündete Person zu stärken. Unabhängig davon, ob in deinem Familien- und Freundeskreis, weil deine Schwägerin aus der Ukraine stammt und Oksana heißt oder auf der Arbeit mit Kolleg*innen, Vorgesetzten oder deinen Mitarbeitenden – weil sie queer und non-binary sind oder ihre Wurzeln im Iran haben. Lerne dich selbst und die sieben Diversity Skills besser kennen und übe sie, um allen Menschen in deinem Leben würdevoll zu begegnen.
In diesem Buch findest du verschiedene Formate, die als snackable Content verfasst sind.
Die Kapitel Info-Nuggets enthalten komprimierte Informationen zum jeweiligen Thema. In einem Training wären diese sogenannter Trainer-Input (ohne *in, weil Anglizismus).
Diversity Voices sind Impulse der Vorbilder und Expert*innen, die ich in der Recherchephase für dieses Buch gesammelt habe. Es ist mir wichtig, gerade in diesem Buch, in dem es um Vielfalt geht, verschiedene Perspektiven, Erfahrungen und Sichtweisen aufzuzeigen. Dadurch entsteht eine gewisse Schwarmintelligenz, eine Form des kollektiven Lernens.
[22]Schwarmintelligenz in der Natur ist nicht nur alltäglich, sondern überlebenswichtig. Hierfür gibt es viele Beispiele: Fischschwärme oder Vogelschwärme agieren oder reagieren als Gruppen – ohne Führung durch einzelne Individuen.
Wie in jedem System, in dem nach einem Upgrade Bugs (Probleme) auftauchen, die behoben werden müssen, gibt es auch in diesem Buch ein Format Diversity Bugs. Bugs sind die Fallstricke und Barrieren, die uns daran hindern, unser volles Potenzial zu entfalten und es dem System nicht möglich machen, reibungslos zu funktionieren. Es können zum Beispiel unbewusste Vorurteile sein (»Mir-ähnlich-Verzerrung«), unsere Glaubenssätze (»Du bist nicht gut genug«), innere Antreiber (»Streng dich an«), Abwehrmechanismen (Verdrängung), Bewältigungsstrategien (Suchtverhalten) oder verbreitete Mythen (»Alle schwulen Männer haben ein gutes Auge für Einrichtung«).
Selbstverständlich möchte ich euch nicht vorenthalten, wie wir unsere Diversity-Kompetenzen weiterentwickeln können. Einen Methodenkoffer mit Tools und Übungen findet ihr im Format Skill Boost – Fähigkeitsschub. Mir ist bewusst, dass Kompetenzen wie Kommunikation oder Resilienz bei uns allen bereits vorhanden sind. Wir können diese aber weiterentwickeln, indem wir sie neu zuordnen und verschiedene Facetten – also auch eine gewisse Komplexität der Skills – entdecken und den Skill Boost gemeinsam üben.
Noch eine Sache, bevor es richtig losgeht: Diversity und Vielfalt haben für mich dieselbe Bedeutung. Der Begriff »queer« wird als Synonym für die deutsche Abbreviatur LSBTQIA (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer, intergeschlechtlich, agender/aromantisch/asexuell) beziehungsweise im Englischen LGBTQIA (lesbian, [23]gay, bisexual, transgender, queer/questioning, intersex, asexual) benutzt. In diesem Buch wurde der Einheitlichkeit halber die englische Form gewählt. Ich weiß, dass viele Menschen sich mit der richtigen Reihenfolge und mit der korrekten Aussprache des Buchstabensalats schwertun. Dabei geht es gar nicht darum, ob alle Buchstaben korrekt ausgesprochen werden, sondern um ihre Bedeutung. Es geht um den Teil unserer Gesellschaft, der sich als nicht hetero und/oder nicht cis identifiziert.
Ich möchte in unserer Kommunikation auf ein respektvolles Du und Wir zugreifen, damit wir uns auf Augenhöhe begegnen. Da wären wir bereits bei der Fähigkeit zu Empathie, die eine bestimmte Nähe erfordert, um Mitgefühl zu entwickeln. Durch Siezen entsteht oft eine Distanz, die uns vermeintlich schützen soll, in der Realität aber nur Barrieren baut.
[24]»
Wo entsteht Diversity?In einem Kontext, in dem es zwei oder mehr Menschen gibt.
In diesem Kapitel schauen wir uns Diversity und ihre Dimensionen an. Wir wollen einen souveränen Umgang mit dem Thema finden, denn auch so manche Begriffe sind nicht immer selbsterklärend und Diversity soll kein Buch mit sieben Siegeln sein – sondern ein Mindset, gestärkt durch sieben Kompetenzen.
Wie auch der Titel dieses Buches es formuliert, wollen wir mit Vorurteilen aufräumen und schauen uns deshalb mit Nina Straßner, LL.M, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Global Head of People Initiatives bei SAP SE und Vorständin bei Charta der Vielfalt e.V., die am meisten verbreiteten Stereotype rund um Diversity im Kapitel »Mythen oder Wahrheiten?« an.
Mit Kadim Tas von JOBLINGE AG schauen wir uns das Thema Chancengerechtigkeit an und erfahren, mit welchen Barrieren junge Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung konfrontiert sind und wie diese nachhaltig abgebaut werden können (Dimensionen: Alter, soziale Herkunft, ethnische Herkunft/Nationalität).
Die Gründerin von The Diversity Hub und The People Hub Nathalie Marie Pérez Sievers nimmt das Thema unbewusste Vorurteile (Unconsious Bias) unter die Lupe und Gaby Wasensteiner von LinkedIn widmet ihr Kapitel den Aspekten Privilegien und Allyship.
Abschließend gehen wir auf das »B« in DEIB – Belonging, Zugehörigkeit - ein. Thomas Killer, Gründer und Berater mit Fokus auf dieses Thema, bringt uns die Bedeutung einer Kultur des Zuhörens näher und wie wir uns dadurch zugehöriger fühlen können.
Dann mal los, begeben wir uns gemeinsam auf die Reise und und schauen zunächst darauf, worüber wir überhaupt sprechen, wenn es um Diversity geht. Ist Diversity (nicht) gleich Vielfalt? Ist sie (noch nicht) allgegenwärtig – und wenn nicht, warum?
Wir müssen erst einmal keine Charles Darwins sein – der vielfältige Studiengänge absolviert hat – , um uns mit dem Thema Diversität auseinanderzusetzen. Wir müssen uns nicht in fachlichen Tiefen verlieren, um Vielfalt als natürlich zu begreifen. Diversität in der Pflanzen- und Tierwelt ist auf uns Menschen übertragbar. Es geht nicht ohneeinander – oder um es mit Isabell Allende zu sagen: »Die Lebensversicherung jeder Art ist Vielfalt … Vielfalt garantiert Überleben.«7
Dabei fängt Diversität bereits bei jeder und jedem Einzelnen von uns an. Jede Person hat ihren Wert, hat Gefühle, einen Hintergrund, Träume, Ängste und Bedürfnisse. Damit wir das gesund und aufrichtig in die Gemeinschaft, in der wir leben, tragen können, müssen und dürfen wir also bei uns selbst beginnen: Wir dürfen ganz wir selbst sein – und wenn wir es noch nicht gelernt haben, dürfen wir uns jetzt auf den Weg machen. Diversity ist das, was es uns erst ermöglicht, unsere wahre Identität zuzuordnen, wertzuschätzen und zu erkennen, in welchem Zusammenhang und in welchem Kontext wir anhand bestimmter Persönlichkeitsmerkmale entweder ein Privileg gegenüber den anderen haben oder diskriminiert werden (können).
Und dann können wir doch selbst Darwins sein. Denn genauso wie er sich auf die Vielfalt der Arten eingelassen hat – um die Welt zu verstehen, nicht zu zerstören –, können wir die Zusammenhänge in der Vielfalt der unterschiedlichen Menschen (Individuen) (be) greifbar machen und herstellen. Schaffen wir es, Gemeinsamkeiten herausfinden, Unterschiede willkommen zu heißen und Verbindungen herzustellen, kann dies eine solide Grundlage für Zugehörigkeit (Belonging) bilden – egal, ob in unserem Team auf der Arbeit oder in unserem Sportverein, in dem wir uns ehrenamtlich engagieren.
[28]Wir dürfen neugierig uns selbst und allen anderen gegenüber bleiben. Wir sollten flexibel sein, um der Vielfalt in unserer Welt wertschätzend zu begegnen. Dafür können wir die sieben Dimensionen von Diversity nutzen, denn sie sind im positiven Sinne biegsam und bilden das Fundament, um miteinander zu leben – nicht gegeneinander.
Zu den Kerndimensionen von Diversity nach der Charta der Vielfalt e.V.8 zählen:
AlterEthnische Herkunft & NationalitätGeschlecht & geschlechtliche IdentitätKörperliche & geistige FähigkeitenReligion & WeltanschauungSexuelle OrientierungSoziale HerkunftNehmen wir als Beispiel das Alter – es ändert sich permanent. Und jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr haben sammeln wir mehr Erfahrung und werden mit unterschiedlichen Barrieren und Vorurteilen konfrontiert – immer im Kontext der Generationen(vielfalt) gedacht, die mit unterschiedlichen Arbeits- und Lebenseinstellungen sowie Wertesystemen »aufwachsen« und eben auch unterschiedliche Lebensalter haben.
Es werden uns anhand unseres Alters unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben, die auf bestimmten Stereotypen basieren. In einem Bewerbungsprozess für ein hippes Start-up werden junge Menschen bevorzugt, da angenommen wird, dass sie flexibler sind und eine schnellere Auffassungsgabe und Lernbereitschaft besitzen als Kandidat*innen mit dreißig Jahren Arbeitserfahrung. Und darin liegt eine eindimensionale – und unnötige – Unflexibilität. Denn wenn wir neugierig und offen bleiben, dann richten wir uns nicht nach dem Alter der Bewerbenden, sondern nach ihren Kompetenzen, der Übereinstimmung mit unserem unternehmerischen Wertesystem und dem [29]persönlichen Match. Und schon steigt die Wahrscheinlichkeit für eine wirklich passende und nachhaltige Besetzung der Stelle und der Zusammenarbeit ins Zigfache. Wir müssen weg von Eindimensionalität und Schubladen – und sollten uns viel mehr damit auseinandersetzen, was es wirklich in einem Moment, einer (Arbeits-)Situation oder im Leben generell braucht.
Und dafür sollten wir bei uns beginnen und zunächst uns selbst mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen. Je besser wir uns selbst kennen, desto besser können wir uns abgrenzen, uns und unsere Bedürfnisse kommunizieren und unser volles Potenzial entwickeln. Wir wollen ein Diversity Upgrade durchführen und fangen deshalb direkt bei uns an. »Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt« von Mahatma Gandhi formulieren wir um in »Sei du selbst das Upgrade, das diese Welt braucht«. Wir können lange auf Missstände, Diskriminierung, Rassismus und ähnliches auf Social Media eingehen. Wenn wir es ungerecht finden, wie jemand behandelt wurde, erheben wir unsere Stimme, re-posten eine Story auf Instagram und übermorgen erinnern wir uns nicht mehr daran. Oder wir führen ein ordentliches Upgrade für Diversity, indem wir bei uns selbst anfangen (zum Beispiel mit Bestandsanalyse und Weiterentwicklung unsere Skills, auf die ich in diesem Buch eingehe und leisten unseren Beitrag zu einer gerechteren und inklusiveren (Arbeits)Welt.
Begleitend sollten wir uns zu den DEIB-Themen Vielfalt, Gleichberechtigung, Inklusion und Zugehörigkeit weiterbilden – und zwar wir alle, die wir in beruflichen Kontexten unterwegs sind (und das sind sehr viele von uns) und/oder uns noch zu sehr mit Stereotypen befassen. Wenn wir bisher nicht die Zeit dafür gefunden haben, ein Training zu absolvieren, so nehmen wir uns ab jetzt regelmäßig Zeit dafür. Ein paar Stunden im Monat reichen, um die verstaubten Schubladen zu öffnen und stattdessen frische Luft zu schnuppern, die aus der bunten Vielfalt aller strömt.
Wir alle können uns für gerechte Teilhabe (Equity) einsetzen, denn sie betrifft uns alle. Gerade dann, wenn wir Privilegien haben, ist es [30]unsere Verpflichtung, Barrieren abzubauen und gleiche Rechte und Chancen für alle zu ermöglichen. Wir können unsere Stimme erheben und Taten folgen lassen. Wir demonstrieren auf der Straße und zeigen Haltung, klären auf, teilen unsere Erfahrungen auf unseren Social-Media-Kanälen und wir finden Wege, einen Beitrag für Gleichstellung und Chancengerechtigkeit zu leisten und Ungleichheiten zu eliminieren.
Wenn wir uns die Vielfaltsdimensionen anschauen – die auf der Website der Charta der Vielfalt e.V., »die größte Arbeitgebendeninitiative zur Förderung von Diversity in Unternehmen und Institutionen Deutschlands«9, wunderbar abgebildet sind – von der organisationalen Ebene über die äußere Ebene bis in die Kerndimensionen, können wir uns und unsere Privilegien anhand dieser Dimensionen zuordnen. Dazu möchte ich an den Anfang des Buches erinnern. Vielleicht ist euch aufgefallen, dass ich einige Informationen über mich »preisgegeben« habe, die in einer Einleitung nicht unbedingt üblich sind. Ich habe das Intro an die Dimensionen von Diversity angelehnt, um euch verschiedene Facetten meiner Persönlichkeit aufzuzeigen und eine Vertrauensbasis zu schaffen. Wenn es mir gelungen ist und ihr das Gefühl bekommen habt, mich ein bisschen besser zu kennen und mir vertrauen zu können, würde mich das sehr freuen.
Wie uns ein Upgrade gelingen kann, soll folgende kurze Geschichte beispielhaft zeigen. Neulich war ich in einem Zoom-Call mit Menschen, die ich teilweise noch nicht kannte. Eine Teilnehmende stellte sich vor, nannte ihren Namen und ihr Alter, erzählte, von wo sie dazugeschaltet hat und – was mich so beeindruckt hat – sie erwähnte ihre Hautfarbe, ihre Haarfarbe und ihre Frisur. »Das ist doch offensichtlich«, dachte ich spontan – bis mir klar wurde, wie empathisch und wertschätzend ihre Beschreibung war: Auch sehen zu können ist ein Privileg und wir sollten nie voraussetzen, dass alle anderen Menschen es auch haben.
Lasst uns offen und neugierig bleiben, neue Fähigkeiten lernen und alte weiterentwickeln. Lasst uns Barrieren abbauen, gegen Stereotype und Vorurteile antreten. Lasst uns gemeinsam ein Diversity Upgrade durchführen – ein Upgrade, das längst überfällig ist.
Nina Straßner, LL.M., ist Fachanwältin für Arbeitsrecht, Mediatorin und Global Head of People Initiatives bei SAP SE. Als operative Vorsitzende im Co-Chair bei Charta der Vielfalt e.V. und mit ihrer Expertise in DEIB ist Nina Diversity Voice und Leuchtturm weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. In meiner DEIB-Bubble existieren wiederkehrende Themen und Behauptungen, die entweder umstritten oder nicht eindeutig sind. Diese »Mythen« habe ich zusammengetragen und frage bei Nina nach, was davon der Wahrheit entspricht und was nicht.
Mythos oder Wahrheit? Diverse Teams performen besser, sind kreativer und innovativer.
Erst einmal ist es ein Mythos. Wenn diverse Teams nicht gemanagt werden, sind sie nicht kreativer oder innovativer. Das ändert sich jedoch immens, sobald die Arbeitgebenden das Management und eine aufmerksame Führung von Menschen mit all ihren Fertigkeiten und Fähigkeiten ernst nehmen – dann schlagen sie homogene Teams, was die Ergebnisse anbelangt, um Längen.
Mythos oder Wahrheit? DEIB ist Chef*innensache und kann in Unternehmen nur Top-down stattfinden.
Es ist wahr. Der Fisch stinkt vom Kopf. Bemühungen um eine diverse Kultur laufen sich wund, wenn die oberste Ebene nicht mitzieht und den Weg freimacht. Idealerweise fangen richtig gute Kulturarbeit und Diversity Management dort an, können aber auch durch Impulse Bottom-up losgetreten werden. Es lohnt sich also durchaus, hier Energie reinzustecken. Die Chef*innenetagen MÜSSEN aufspringen, damit es nachhaltig klappt. Sie brauchen aber natürlich auch ein Management und Expert:innen, die sie »anfunken« können, damit wirksame Maßnahmen in die Unternehmen hineingetragen werden.
[32]Mythos oder Wahrheit? Diversity bedeutet Gleichstellung von Frauen.
Es ist wahr. Das triggert leider erst einmal viele – dabei ist es schlicht die global transparenteste und am leichtesten zu verstehende Dimension. Wenn die gut funktioniert, sind auch alle anderen, weniger sichtbaren oder messbaren Dimensionen wie sexuelle Orientierung oder soziale Herkunft besser aufgestellt. Frauen sind in allen Diversity-Dimensionen – von Alter über Herkunft und Hautfarbe et cetera – im Vergleich schlechter dran als Männer in der jeweiligen Dimension. Verbessert man die Chancen für Frauen, wirkt sich das nachweislich immens positiv auf alle Geschlechter mit ihren vielfältigen Ansprüchen auf Gleichstellung aus.
Mythos oder Wahrheit? Alte weiße hetero cis Männer sind Feinde von Diversity.
Bullshit. Sie sind keine Feinde. Sie sind nur diejenigen, die systematisch betrachtet einfach am Drücker sind, um wirklich etwas zu verändern. Doch auch »alte weiße Männer« schleppen Pakete mit sich herum, die in einer inklusiven Kultur leichter werden. Einzusehen, dass sie aber viele Hürden nicht haben, weil sie weniger Vorurteile schultern müssen, fällt erst einmal schwer, ist aber leichter, je besser es um die Kultur um sie herum bestellt ist.
Mythos oder Wahrheit? Diversity ist ein Mindset.
100 Prozent wahr.
Kadim Tas, geboren 1976 in Kovik, studierte Politologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bereits parallel zu seinem Studium war er in der Jugendarbeit tätig und hat in mehr als 20 Jahren verschiedene Projekte für benachteiligte Jugendliche betreut und geleitet. Mit der Gründung der JOBLINGE gAG Frankfurt im Jahr 2011 startete er als Managing Director bei der Initiative und übernahm kurze Zeit später zusätzlich die Rolle des operativen Vorstands der JOBLINGE-Dachorganisation (e.V.). Seit 2022 ist Kadim Tas CEO von JOBLINGE und verantwortet neben der überregionalen Leitung auch die stete Weiterentwicklung der Initiative und des Konzepts.
Als Visionär glaubt er fest an sozialunternehmerische Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen und geht stets neue Wege, um jungen Menschen Chancen unabhängig ihrer sozialen Herkunft zu ermöglichen. Kadim Tas ist verheiratet und lebt mit Frau und Kindern in Frankfurt am Main.
»Wir erleben Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft tagtäglich in unserer Arbeit mit jungen Menschen. Oft sind es unbewusste Vorurteile – Unconscious Biases. Stellen Sie sich als Leser*innen, die Sie vermutlich selbstkritisch und wissbegierig zu diesem Buch gegriffen haben, die Frage: Wie ambitioniert würden Sie einen jungen Jobanwärter einschätzen, dessen Eltern im Bürgergeldbezug stehen versus eine junge Bewerberin, deren Mutter und Vater als Ärzt*innen arbeiten?
Die Problematik? Soziale Herkunft ist nicht unmittelbar sichtbar, wenn junge Menschen zu einem Bewerbungsgespräch kommen. Aber: Man wird sie erkennen, schaut man auf die Voraussetzungen, mit denen sie ins Berufsleben starten – Schulnoten oder absolvierte Praktika als manifeste Grundlagen –, aber auch an Unterschieden in Sprache, Verhalten, kultureller Bildung bis hin zu Auftreten, Selbstsicherheit und so weiter. All das werden wir, ob bewusst oder unbe[34]wusst, bewerten – und im schlimmsten Fall abwerten. So entsteht Diskriminierung, die soziale Herkunft wird zum schier unüberwindbaren Hindernis für die soziale Mobilität von Jugendlichen.
Wir bei JOBLINGE arbeiten Tag für Tag daran, diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Wege in eine mündige Zukunft in Arbeitsmarkt und Gesellschaft zu ebnen. Weshalb es uns dafür braucht? Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, aber ohne Chancengerechtigkeit. »Du kannst es schaffen, wenn du dich nur genug anstrengst«, existiert nicht. Weil gleiche Anstrengungen eben nicht zu gleichem Erfolg bei allen Menschen führen. Daher ist es richtig und wichtig, als privilegierte Person für jene Menschen mit sozioökonomischen Nachteilen einzustehen, die es kaum aus eigener Kraft schaffen können. Teilhabe heißt auch, andere an unseren Privilegien teilhaben zu lassen.«
Mit über einem Jahrzehnt Erfahrung im Bereich People & Culture und Diversity, Equity Inclusion & Belonging ist Nathalie Marie Pérez Sievers eine gefragte Expertin. Als Gründerin von the PEOPLE! hub und the DIVERSITY! hub kombiniert sie ihre Expertise als systemische Organisationsberaterin, zertifizierte Trainerin für Erwachsenenbildung und Speakerin, um Unternehmen bei der Umsetzung der Strategien nachhaltig zu unterstützen. Nathalie ist für ihren praxisorientierten, fundierten Ansatz bekannt und verbindet als LinkedIn Content Creator Theorie mit Praxis. Ihr Motto – »Ein Plan verändert nicht dein (Arbeits-)Leben. Eine Entscheidung und der erste Schritt schon« – unterstreicht die Notwendigkeit aktiver Veränderung. Sie beschreitet unkonventionelle Wege, die methodisch untermauert, theoretisch fundiert und direkt umsetzbar sind. In ihrem Gastbeitrag fokussiert Nathalie auf Ressentiments in der Arbeitswelt und wie wir lernen können, diese abzubauen.
[35]»Unbewusste Vorurteile können durchaus erkannt und verstanden werden. Nur durch diesen Prozess können wir verhindern, dass unsere Denkmuster uns kontrollieren und wir uns quasi wie in einem Autopiloten durch den Tag manövrieren.
In der heutigen, zunehmend vielfältigen und globalisierten Arbeitswelt sind Unconscious Biases ein relevanter Faktor, der die Entscheidungsfindung und den Umgang miteinander in Unternehmen beeinflusst. Diese unbewussten Vorurteile können auf persönlichen Erfahrungen, sozialen Normen, Medien oder kulturellen Prägungen basieren und haben oft einen subtilen und zugleich bedeutenden Einfluss auf unsere Interaktionen und Entscheidungen.
Eines ist sicher: Wir alle haben sie. Niemand denkt und handelt rein rational.
Unconscious Biases sind unbewusste Voreingenommenheiten gegenüber Menschen, Gruppen oder Situationen. Sie führen oft dazu, dass wir Personen oder Gruppen ohne bewusstes Zutun bevorzugen oder benachteiligen.
Beim Thema Unconscious Bias führt kein Weg an Daniel Kahneman vorbei. Kahneman10 ist zweifellos einer der einflussreichsten Denker des 21. Jahrhunderts. Als Psychologe und Wirtschaftswissenschaftler hat er mit seinen bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der Verhaltensökonomie die Art und Weise, wie wir über Entscheidungsfindung und menschliches Verhalten nachdenken, grundlegend verändert.
Eine seiner bedeutendsten Arbeiten ist die Prospect Theory, die er gemeinsam mit Amos Tversky entwickelte. Diese Theorie beschreibt, wie Menschen Entscheidungen treffen, insbesondere in Bezug auf Risiko und Unsicherheit. Anstatt rein rational zu handeln, wie es die klassische Wirtschaftstheorie vorschlägt, zeigt die Prospect Theory, dass unsere Entscheidungen häufig von Emotionen und Wahrnehmungen eines Risikos beeinflusst werden. Zum Beispiel neigen [36]Menschen dazu, Verluste stärker zu fürchten, als Gewinne zu schätzen, was zu bestimmten Verhaltensweisen führt, die nicht mit rein rationalen Entscheidungen übereinstimmen.
Kahneman hat auch eine Vielzahl kognitiver Verzerrungen identifiziert, die unsere Denkweise und Entscheidungsfindung beeinflussen. Einer der bekanntesten ist der Confirmation Bias, bei dem wir dazu neigen, Informationen zu suchen und zu interpretieren, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen – während wir Informationen ignorieren, die dem widersprechen. Diese kognitiven Verzerrungen können dazu führen, dass wir falsche Schlussfolgerungen ziehen oder unzureichende Entscheidungen treffen, ohne uns dessen bewusst zu sein.
In der Diskussion über Unconscious Biases bietet Kahnemans Arbeit wertvolle Einblicke in die zugrunde liegenden Mechanismen menschlichen Verhaltens. Indem wir seine Erkenntnisse verstehen und anwenden, können wir besser erkennen, wie unsere unbewussten Vorurteile und Denkmuster unsere Entscheidungen beeinflussen. Dies ermöglicht es uns, bewusstere Entscheidungen zu treffen und unsere Verhaltensweisen zu verbessern, sowohl auf individueller als auch auf organisatorischer Ebene.
Ein Blick über die üblichen Biases offenbart eine Vielzahl unbewusster Vorurteile, von denen über 195 dokumentiert sind, wie im Cognitive Bias Codex dargestellt.11
Beim Halo-Effekt wird eine Person aufgrund einer herausragenden Eigenschaft generell als kompetent angesehen. Dies kann dazu führen, dass queere Bewerbende trotz angemessener Qualifikationen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität als weniger kompetent betrachtet werden, was zu Benachteiligung bei Einstellungsentscheidungen führen kann.
Beim Affinity Bias neigen Menschen dazu, Personen zu bevorzugen, die ihnen ähnlich sind. Queere Bewerbende könnten aufgrund ihrer Abweichung von heteronormativen Erwartungen ausgeschlossen [37]werden, was zu Marginalisierung und eingeschränktem Zugang zu beruflichen Chancen führen kann.
Queere Menschen erleben häufig Nachteile, da diese Vorurteile auf heteronormativen Annahmen basieren. Es ist wichtig, sich dieser unbewussten Voreingenommenheiten bewusst zu sein, da sie nicht nur individuelle Entscheidungen beeinflussen, sondern auch das Arbeitsumfeld und die Organisationskultur prägen können. Durch die Reflexion über und den Umgang mit diesen Ressentiments können Unternehmen eine inklusivere Umgebung schaffen, in der alle Mitarbeitenden unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder geschlechtlichen Ausdrucksweise gleiche Chancen und Unterstützung erhalten.
Um Unconscious Biases in Unternehmen zu adressieren und zu überwinden, ist es entscheidend, dass Führungskräfte und Mitarbeitende aktiv Maßnahmen ergreifen. Einige bewährte Ansätze können durchaus dabei helfen. Unternehmen sollten Schulungen und Workshops anbieten, die Mitarbeitende dabei unterstützen, ihre eigenen unbewussten Vorurteile zu erkennen und zu verstehen. Durch den Austausch von Erfahrungen und die Reflexion über individuelle Denkmuster können Mitarbeitende sensibilisiert werden und lernen, diese zu hinterfragen.
Führungskräfte sollten bewusste Entscheidungsprozesse implementieren, die darauf abzielen, Unconscious Biases zu minimieren. Dies kann beispielsweise durch die Einführung objektiver Kriterien bei Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen erfolgen. Es ist wichtig, dass Mitarbeitende und Führungskräfte einander Feedback geben und in den Dialog gehen. Durch offenen Austausch und kontinuierliche Selbstreflexion können Unternehmen eine Kultur der Verantwortlichkeit schaffen.
Als Expertin ist es mir ein Anliegen, die Bedeutung der Bewusstwerdung von unbewussten Vorurteilen zu betonen und Wege aufzuzeigen, wie man sie überwinden kann. Eine grundlegende Methode, um sich seiner Biases bewusst zu werden und neue Perspektiven einzunehmen, ist die kontinuierliche Selbstreflexion. Diese ermöglicht [38]es, unsere eigenen Denkmuster kritisch zu hinterfragen und verborgene Vorurteile aufzudecken.
Zusätzlich ist Bildung von großer Bedeutung. Ein tieferes Verständnis für soziale Kategorien, Stereotypen und Vorurteile ermöglicht es, Biases besser zu erkennen und vor allem zu verstehen. Aktives Zuhören und Empathie sind ebenfalls entscheidend, um die Perspektiven anderer Menschen zu verstehen und unsere eigenen Vorurteile zu überwinden. Das Einholen von Feedback andere Personen über unser Verhalten und unsere Interaktionen ermöglicht es uns, unsere Vorurteile zu erkennen, die wir bisher nicht erkannt haben, und an uns zu arbeiten.
Schließlich erfordert die Überwindung von unbewussten Biases Geduld und Ausdauer. Es ist ein Prozess, der kontinuierliches Engagement benötigt. Indem wir uns stetig bemühen, unsere Denkmuster zu hinterfragen und zu korrigieren, können wir dazu beitragen, eine inklusivere und gerechtere Gesellschaft aufzubauen.