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Der dritte Band der großen Südstaaten-Trilogie: Elizabeth, eine schöne junge Engländerin, trotzt tapfer ihrem Schicksal. Zuerst verliert sie sowohl Mann als auch Geliebten bei einem Duell, später fällt ihr zweiter Mann den Wirrnissen des amerikanischen Sezessionskrieges zum Opfer. In suggestiven Bildern läßt Green die Welt seiner Kindheitsträume noch einmal auferstehen.
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2017
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JULIEN GREEN
DIXIE
Roman
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag
Der Erinnerung an meinen Vater und meinem Sohn gewidmet.
In seinem neuen Roman, mit dem er die beiden Bände Von fernen Ländern und Die Sterne des Südens fortsetzt, ist Julien Green in die Südstaaten zur Zeit des Sezessionskriegs zurückgekehrt. Doch im Gegensatz zum zweiten Band, der ein breites historisches Panorama entfaltet, konzentriert sich die Handlung hier auf den Zeitraum eines Jahrs. Elizabeths zweiter Mann Billy ist bei der Schlacht von Manassas 1861 gefallen. Vergeblich versucht Miss Llewelyn, die schöne junge Engländerin aus ihrer Verzweiflung zu reißen — Elizabeths Lebenshunger und die Liebessehnsucht bleiben ungestillt. Ausritte mit dem halbwüchsigen Rolf und das hartnäckige Werben ihres Schwagers Mike vermögen ihren heimlichen Wünschen nicht zu genügen. In der traditionellen Südstaatengesellschaft sind Körper und sexuelles Begehren tabuisiert. Als Elizabeth endlich einem einfachen jungen Soldaten begegnet, der ihre Liebe auf den ersten Blick stürmisch erwidert, wird sogleich die heimliche Hochzeit arrangiert.
In den opulenten Schilderungen dieser Endzeitgesellschaft, ihrer Kutschenfahrten und Diners, läßt Julien Green eine verschwundene Welt noch einmal vor unseren Augen erstehen. Von Erzählungen seiner Mutter und anderen Kindheits- und Jugenderinnerungen inspiriert, entfaltet er mit Bildern wie aus einem schönen Traum die ebenso bezaubernde wie abgründige Szenerie dieses leidenschaftlichen inneren Dramas.
Nach den heftigen Regengüssen der Nacht fiel die Sonne nun siegreich in Elizabeths Zimmer. Plötzlich beugte sich Miss Llewelyn aus dem Fenster und rief:
»Seid ruhig, Kinder. Hier möchte jemand schlafen.«
Und mit zorniger Schroffheit zog sie die schweren Läden zu, die in der Stille knarrten. Schlagartig versetzte der Halbschatten alles in eine andere Welt; die Decke glich einem grauen Himmel. Verschwunden waren die Jungen, die auf der Wiese von Great Lawn ihren Triumph hinausschrien, jetzt war da nur noch eine Frau, die in ihrem Bett lag und mit dumpfer Stimme zu sich selbst sprach.
»Es ist nicht wahr … vorhin kam Mike unten herein und sagte mir: ›Billy …‹«
Miss Llewelyns Stimme war aus dem Hintergrund des Raumes zu vernehmen.
»Mike sagt alles mögliche.«
»Er hat ›Billy‹ gesagt.«
»Da Billy nicht aufhört, an Sie zu denken, ist es genauso, als ob er da wäre.«
»Als ob er da wäre«, stammelte Elizabeth.
»Das ist gewiß. Ich verlasse Sie einen Augenblick, aber ich komme zurück.«
»Nein, lassen Sie mich allein.«
Miss Llewlyn öffnete eine Tür, durch die ein Lichtstrahl hereindrang.
»Allein mit ihm«, murmelte Elizabeth.
Miss Llewelyn verschwand und schloß die Tür. Nach ein paar Minuten kam sie wieder zurück und ging geradewegs zum Bett hinüber, stellte ein Glas mit einem Löffel auf den Nachttisch und hob den Kopf der reglosen Frau mit kräftiger Hand hoch.
»Trinken Sie«, befahl sie und führte das Glas an den bereits halbgeöffneten Mund.
Elizabeth wehrte sich nicht. Ein Schluck, dann ein zweiter wurden ohne Einwand genommen, schließlich noch einer.
»So«, meinte die Waliserin zufrieden. »Vorerst sind Sie im Bett besser aufgehoben als anderswo. Schließen Sie die Augen und schlafen Sie.«
»Keine Lust zu schlafen«, flüsterte Elizabeth.
»Dann tun Sie so, als ob. Sie werden mir dafür dankbar sein.«
Elizabeth warf ihr einen verächtlichen Blick zu.
Ganz in ihre Nähe, ans Kopfende des Bettes, hatte sich in einem schwarzen Kittel die kleine Betty geschlichen und schmiegte sich an wie ein von ängstlicher Zuneigung gequältes Tier. Sie hatte sich aus dem Dienstbotentrakt gestohlen, in der Hoffnung, nicht von Elizabeth zu weichen, doch Miss Llewelyn hatte sie gesehen. Durch ein Stirnrunzeln bedeutete sie ihr, folgsam zu sein.
»Wenn sie etwas möchte, kommst du schnell hinunter«, sagte sie.
Nach diesen mit leiser Stimme ausgesprochenen Worten verließ sie den Raum.
Ein weißlicher Nebel hatte den Platz des Fensters eingenommen und zerrann auf der Wiese, die hin und wieder daraus hervorzutauchen schien. Bruchstücke des Lebens, dachte Elizabeth, das war es, und nicht die Landschaft von Great Lawn. Sie war noch nicht sechzehn. Ihre Mutter, die ihr Vermögen verloren hatte, brachte sie nach Amerika …
Mit einem Schlag war es Nacht in Dimwood, Schwarze in roter Livree hielten die schimmernden Fackeln, die Familie im Säulengang, die stolzen Tränen ihrer Mutter und das Lachen der jungen Vettern, Billy, Fred und der anderen. All das war seltsam und neu. Dann verschwamm alles …
Später, weit zurück in Raum und Zeit, sah sie sich wieder in Savannah, wie sie hinter einer Jalousie der klagenden Stimme der Wassermelonenverkäufer lauschte. Da waren die Spaziergänge in den schattigen Alleen … Dann der erste Ball, Jonathans Gesicht ganz nah an den Magnolienblüten, der Mondschein auf diesem Gesicht der Liebe, eine Minute, die in ihrem Gedächtnis stillzustehen schien.
Wie nutzlos die Zeit war! Zwischen den Erinnerungen überzog der Nebel alles mit seiner Leere. Jetzt erschien Great Lawn mit dem reichsten Mann des Südens, Onkel Charlie. Sie heiratete seinen Sohn, der noch ein junger Student war. Es war unvermeidbar, denn sie hatten zusammen Dummheiten gemacht. Und Jonathan kam zurück von jenseits der Meere … Danach dieses törichte Duell. Das Leben hatte ihr die beiden Männer genommen, das Leben und nicht der Tod, denn sie blieben in ihr immer gegenwärtig, als bildeten ihre Gesichter die Orientierungspunkte ihres Daseins als Frau. Und sie hatte Billy geheiratet. Er unterschied sich von den anderen, war vor allem sinnlich. Jetzt wußte sie: er lag dort unten auf einem Schlachtfeld, sein Körper würde sich seinerseits in diese Virginiaerde verwandeln, die Elizabeth in ihren Bann gezogen hatte. Sie würde nicht nach Europa zurückkehren, ihr Leben war hier, belastet mit jungen Toten, und …
Das Geschrei der Kinder kam im Nebel auf sie zugelaufen. Nein, es war der Musselinvorhang, der im leichten Morgenwind erzitterte. Leicht! Elizabeth fühlte sich immer leichter. All dieses Weiß, das war kein Vorhang, sondern das Blatt ihres künftigen Lebens.
Mit Leib und Seele sank sie in den Schlaf.
Das Vestibül war in nahezu vollkommene Finsternis getaucht, als wolle es auf diese Weise die Schatten der vom Schlachtfeld heimkehrenden Soldaten angemessener empfangen. Nur eine kleine orangefarbene Lampe in der Mitte eines Tisches warf ein zaghaftes Licht auf die Gestalt von Miss Charlotte, die aufrecht und reglos dastand, mit gefalteten Händen.
Vom Fuße der Treppe steuerte ein gebieterischer Schritt geradewegs auf sie zu. Es war Miss Llewelyn, die in einem mit der dramatischen Beleuchtung harmonierenden Flüstern fragte:
»Störe ich Sie, Miss Charlotte?«
»Keineswegs«, sagte das alte Fräulein. »Es ist meine Pflicht, hinaufzugehen und Elizabeth mit Hilfe eines Psalmes Trost zu bringen. Ich habe ihn im Geiste ausgewählt.«
»Elizabeth fühlt sich ausreichend über ihr Unglück unterrichtet. Sie muß nur noch daran glauben. Auf ihrem Bett ausgestreckt, kämpft sie noch gegen die Wahrheit an, in die sie sich nicht fügt. Sie wiederholt unaufhörlich, daß es nicht wahr ist.«
»Ich habe in meiner Jugend solche schreckliche Stunden erlebt. Sie wird letztendlich verstehen, daß das, was wahr ist, wahr ist.«
»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß für uns der Augenblick gekommen ist, in dem wir ihr den Schock einer Enthüllung ersparen können, die sie womöglich nicht ertragen kann. Ich konnte gerade noch das Notwendige tun.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Laudanum. Ich habe es auf mich genommen, ihr die wirkungsvollste Dosis zu geben, nämlich die Ihre.«
Miss Charlotte schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Aber Sie hatten nicht das Recht dazu. Sie gehören nicht zur Familie. Ich allein könnte heute darüber entscheiden. Einzig die auf dem Fläschchen angegebene Dosis ist medizinisch erlaubt. Sie sind eine schlechte Frau, Miss Llewelyn.«
»Nun gut, ich werde die Last dieser Entscheidung allein tragen, Miss Elizabeth lief Gefahr, den Verstand zu verlieren. In dem Zustand, in dem sie sich befand, und solange wir dem Schlachtfeld so nahe sind …«
»Darin kann ich Ihnen nur recht geben. Es wäre besser für uns, von hier wegzugehen.«
»Ich habe an Kinloch gedacht. Sie würde von ihren Vettern Turner gewiß gut aufgenommen werden.«
»Kinloch ist weit.«
»Drei Stunden mit der Kutsche.«
Miss Charlotte schwieg.
»Gleich jetzt«, fuhr Miss Llewelyn fort, »könnten wir einen Boten hinschicken, um sie zu benachrichtigen.«
»Ich sehe, Sie haben an alles gedacht«, sagte Miss Charlotte in schneidendem Ton.
»Mir liegt daran, Miss Elizabeth vor einem grausamen Leben zu bewahren.«
»Irgendwann wird sie doch alles erfahren.«
»Lassen wir der Wunde zumindest eine Chance zu heilen.«
Ein paar Minuten lang diskutierten sie über dieses heikle Problem. Schließlich machte das alte Fräulein eine gereizte Geste.
»Kinloch wäre wahrscheinlich der beste Zufluchtsort für die Unglückliche. Was mich betrifft, so bleibe ich hier, um über das Haus und die Kinder zu wachen, in Abwesenheit von Mrs. Jones.«
»Sie werden in guter Umgebung sein und gut bedient werden. Die Schwarzen werden treu sein. Ich kenne sie.«
»Das hoffe ich!«
Draußen im Vestibül spazierte Mike auf und ab, ohne jedoch dem Psalmengemurmel, das Miss Charlotte von sich gab, Aufmerksamkeit zu schenken. Er wandte Miss Llewelyn ein kreideweißes Gesicht zu, als wäre ihm plötzlich all seine Jugend geraubt worden.
»Sie kommen mit uns, um Elizabeth nach Kinloch zu bringen«, sagte sie. »Hier läuft sie Gefahr, den Verstand zu verlieren.«
»Kinloch«, stammelte er. »Nichts würde ich lieber tun, aber ich muß zu meinem Regiment zurück. Elizabeth … Wenn ich doch nur mit ihr dort sein könnte …«
Während er diese Worte sagte, bekam sein Gesicht einen so verzweifelten Ausdruck, daß er aussah wie ein Kind.
»Wenn ich nur könnte«, murmelte er nochmals. »Und die Kinder?«
»Sie bleiben hier.«
»Ich werde aufbrechen, ohne daß sie mich sehen«, sagte er. »Aber ohne Elizabeth zu sehen?«
Mrs. Llewelyn zögerte.
»Es wäre besser«, sagte sie schließlich.
Sie ging hinaus, ohne ein weiteres Wort. Unvermittelt wurde das Vestibül von Licht überflutet, wie von einem Freudenschrei; doch kaum war die Waliserin draußen, schloß sie die Tür hinter sich und überließ Miss Charlotte ihren religiösen Meditationen und Mike seinem Schmerz. Mit hastigem Schritt erreichte sie die Reitställe hinter dem Haus. Die vier Pferde von Onkel Charlie waren, dank seiner britischen Staatsangehörigkeit, nicht beschlagnahmt worden, und der Kutscher, der sich im Augenblick um sie kümmerte, schien besorgt, als er Miss Llewelyn sah. Er war ein Koloß mit der Gesichtsfarbe eines Menschen, der zum Schlaganfall neigt. Er kam aus Yorkshire und hatte den Akzent behalten.
»Nachrichten von Master Charlie?« fragte er sogleich.
»Keine einzige. Er ist immer noch in Liverpool mit seinem Schiff und Waffen für den Süden.«
»Er konnte den Sieg von Manassas nicht miterleben, nur ein paar Minuten von seinem Haus entfernt.«
»Taffy, wir werden später über all das sprechen. Gleich nachher wirst du mir die graue Kutsche mit vier Pferden anspannen. Wir fahren in Kürze mit Miss Elizabeth nach Kinloch.«
»Kinloch, Miss Llewelyn, das ist nicht ganz in der Nähe, und die Wege sind verflixt steil.«
»Um vier Uhr steht die Kutsche vor dem Haus, und dann geht es los! Verstanden?«
Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu und schüttelte den Kopf.
»Da Sie nun einmal befehlen …«
»Solange Master Charlie abwesend ist, tue ich das, und es wird alle Tage so bleiben.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und begab sich auf die Suche nach den Kindern, die sie ins Haus holte. Einzig Ned entwischte ihr und galoppierte auf seinem geliebten Whitie in die Wälder davon. Die Waliserin versammelte die Schwarzen in den Küchen. Sie zitterten noch vor Entsetzen, doch sie beruhigte sie beinahe mit Gewalt, indem sie ihnen Anweisungen für den Tag zurief. Mrs. Harrison Edwards und Miss Maisie de Witt, von all der Aufregung noch ganz erschöpft, begaben sich wieder in den ersten Stock. Es waren genug Lebensmittel da, um für alle ein Essen vorzubereiten. Also an die Arbeit, und schnell.
Fünf Meilen Luftlinie trennten das Haus von dem Stück Erde, wo Schwarze und in Lumpen gehüllte Soldaten ein riesiges Loch für die Toten gruben, die man nicht hatte identifizieren können, und ihr schwerer und zugleich schaler Geruch schwebte zuweilen ekelerregend in der sich erwärmenden Luft.
Gegen vier Uhr nachmittags wartete die Kutsche vor dem Haus. Die Waliserin stürmte hinaus, ihr folgte beinahe auf dem Fuß Miss Charlotte, die in die Sonne blinzelte. Die beiden Frauen mochten sich nicht sonderlich, und so wurde ohne jede Geziertheit Abschied genommen, während Elizabeth schweigend in den Wagen stieg.
Miss Charlotte, die allein auf der Türschwelle zurückgeblieben war, fühlte sich ruhiger in ihrer Seele, als die vier Pferde in der Kutsche Probleme und Problemlösungen mit sich forttrugen, auf die in den Psalmen keinerlei Hinweis zu finden war.
Das Schlachtfeld hinter sich lassend, so als wollten sie die Erinnerung daran loswerden, durchquerten die Reisenden Prince William County, und das normale Leben schien wieder neue Kraft zu schöpfen. Von der Sommerhitze verbrannte Wiesen erstreckten sich entlang der Straßen, wo die Erde mit ihrem kräftigen Rot eine tragische Pracht ausstrahlte. Wäldchen unterbrachen diese Landschaft, deren Zauber mit einer Art sanfter Gewalt wirkte. In der Ferne erriet man den Kamm der rauchblauen Hügel.
Miss Llewelyn betrachtete diese Natur mit einem Vergnügen, das sie sich nicht einzugestehen wagte, wenn sie den Blick zu Elizabeth schweifen ließ, die in einem reglosen Zustand verharrte, wie in einen Wachtraum versunken. Vielleicht hatte sie niemals schöner ausgesehen als unter diesem breiten Hut aus leichtem Stroh, der sie ein wenig vor der Sonne schützte. Die Strahlen drangen nämlich auf beiden Seiten der schwarzen Tuchvorhänge herein und strömten durch das Gold ihrer Haare. Zuweilen waren aus ihrem halbgeöffneten Mund ganz leise und undeutlich gemurmelte Worte zu vernehmen. Falls sie jemals geglaubt und verstanden hatte, daß sie Witwe war, so blieb in der geheimnisvollen Welt, in der sie lebte, nur der Schatten einer Erinnerung daran zurück.
Die Kutsche rollte indes mit lebhafter Geschwindigkeit dahin, von Zeit zu Zeit durch leichte Schläge erschüttert, die heftiger wurden, als man die Schlucht von Thoroughfare Gap erreichte. Hier tat sich die Straße ins Fauquier County auf.
Miss Llewelyn neigte sich zu Elizabeth und sagte mit ruhiger Stimme:
»Wundern Sie sich nicht, wenn wir ein wenig durchgerüttelt werden. Wir bewegen uns auf Hügel zu, an denen wir aber nur entlangfahren werden. Diese Landschaft ist ein bißchen rauh.«
Sie zog den Vorhang gegenüber von Elizabeth beiseite. Vereinzelt kletterten Tannen bis in die Höhen hinauf, verdeckten einen Zipfel des Himmels, an dem noch die Nachmittagssonne glühte, und der schlechte Zustand der Straße verlangsamte den Trab der Pferde. Bald gelangten sie an einen Wasserlauf, der so seicht war, daß ein Mensch ihn zu Fuß hätte überqueren können, doch dicke Steine lagen von einem Ufer zum anderen und erschwerten die Durchfahrt eines Wagens. Der junge schwarze Stallbursche sprang von seinem Sitz, um das Gespann zu führen, das unruhig wurde und wieherte.
Miss Llewelyn griff nach Elizabeths Hand.
»Das ist der einzige etwas unangenehme Augenblick der Reise. Sind Sie erschöpft?«
Die junge Frau schaute sie an, als wäre sie eine Unbekannte.
»Wo sind wir?« fragte sie mit ausdrucksloser Stimme.
»Auf der Straße nach Kinloch, wo wir Ruhe haben werden.«
Elizabeth schwieg. Ihr Blick verlor sich in der hohen Hügelkette, die langsam sichtbar wurde, je weiter die Kutsche vorankam. Rostfarbene Felsen ragten an den zerklüfteten Flanken dieser Höhen empor. Sie betrachtete sie ohne erkennbare Neugier, doch aufmerksam, als wolle sie sich etwas anderes, das sie nicht sehen konnte, wieder in Erinnerung rufen.
Die Waliserin beobachtete sie, nicht ohne eine leichte Unruhe. Sie fragte sich, ob die Dosis Laudanum stark genug gewesen war, um Elizabeth dem Alptraum einer unerträglichen Wirklichkeit zu entreißen, denn sie bemerkte, daß diese in Gedanken versunken war und in gewisser Weise der äußeren Welt allzu verhaftet. Deshalb war es besser, nicht mit ihr zu sprechen, sie nicht aus der fiktiven Welt zu erwecken, die sie mit ihren weitgeöffneten blauen Augen betrachtete. Allem Anschein nach bewunderte sie die Landschaft, in der die Wälder unterhalb der Gebirgskämme dichter und dunkler wurden. Die Sonnenstrahlen liefen über die Spitzenborte der Gipfel und ließen an manchen Stellen Blutspuren gleichende Streifen zurück.
Noch bevor der in dieser Jahreszeit lang andauernde Nachmittag sich seinem Ende zuneigte, erreichten die Reisenden Kinloch. Inmitten von riesigen Bäumen, welche die Dächer um mehr als das Dreifache überragten, erhob sich das geräumige Haus aus dunklem Holz an der Kante eines Plateaus. Aus dieser schwindelerregenden Höhe waren in der Ferne die blaßblauen Hügel Virginias zu erblicken, die eine Landschaft aus Feldern und von Wäldchen durchbrochenen Wiesen wie mit einer unwirklichen Mauer umschlossen.
Eine lange Veranda lief um das alte Haus, dessen strenges Aussehen in ganz ungezügelter Weise dadurch gemildert wurde, daß aus den entlegensten Zimmern eine turbulente Freude hervorschallte.
Ohne diesem Lärm auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, stieg Elizabeth aus dem Wagen und ging allein die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Mit einer kurzen Bewegung der Hand schob sie Miss Llewelyn beiseite, die ihr helfen wollte. Ein schwarzer Diener lief den beiden entgegen, der Lad des Kutschers sprang von seinem Sitz, und einen Augenblick lang entstand ein Durcheinander um die Kalesche herum, bis eine Dame im weißen Musselinkleid mit breiten Volants auf die reglose Elizabeth zueilte. Ohne jung zu sein, bewahrte sie doch in ihren unverändert feinen Zügen den erhabenen Charme einer verführerischen Schönheit. Wäre das Gesicht ein bißchen weniger lang gewesen, hätte es als vollkommen gelten können, aber die Tiefe der großen dunklen Augen glich durch die Güte, die darin zu lesen war, alles wieder aus. Als sie ganz nah bei Elizabeth war, ergriff sie als erstes wortlos deren Hände, stumm vor Überraschung und zugleich vor einer Art Erschrecken, das sie nicht verbergen konnte. Die eben erst Angekommene begnügte sich damit, sie mit einem Lächeln zu betrachten, doch in dieser kurzen Stille lief etwas wie ein Drama ab, das Worte nicht zu erklären vermochten.
»Elizabeth«, sagte schließlich die Dame in Weiß, »ich bin glücklich, Sie in Kinloch zu sehen.«
»In Kinloch«, wiederholte Elizabeth leise. »Das letzte Mal haben wir uns in Dimwood gesehen. Das Fest unter den Bäumen der großen Allee …«
»Mein armes Kind«, sagte Mrs. Turner mit Tränen in den Augen.
»Wenn ich etwas gesagt habe, das Ihnen Schmerz bereitet, so tut es mir leid«, sagte die junge Frau höflich.
»… Schmerz«, wiederholte Mrs. Turner, »ja, doch es ist nicht Ihre Schuld, sondern die Erinnerung an all das …«
Elizabeth lächelte sanft und sagte nichts.
»… die ganze Familie war aus Kinloch gekommen …«
»Gewiß. Eine Menge Leute …«, sagte Elizabeth. »Und große Fröhlichkeit, Lichter in den Bäumen, auch Musik, erinnern Sie sich?«
Sie sprach von diesen Dingen wie über ein interessantes Stück, das sie einst gesehen hatte.
Mrs. Turner wich einen Schritt zurück. Mit einer vor Angst etwas rauhen Stimme sagte sie bloß:
»Liebe Elizabeth, Sie bleiben natürlich bei uns. Heute abend kann ich Ihnen nur das Zimmer meiner Tochter Beverly anbieten, die gerade nicht hier ist. Es liegt ein wenig abseits, aber ich glaube, Sie werden sich wohl darin fühlen.«
»Ich bin fest davon überzeugt«, sagte Elizabeth in ihrem mondänsten Tonfall.
»Sie müssen wissen, daß am anderen Ende des Hauses eine kleine Gruppe junger Leute aus der Familie eingefallen ist und mit ihrer Siegesfeier ein wenig Wirbel verursacht, Sie verstehen. Alles junge Offiziere …«
»Junge Offiziere«, wiederholte Elizabeth mechanisch.
»Ja. Ach, sie werden im Morgengrauen aufbrechen, um wieder zu ihrem Regiment zu stoßen. Sie haben schon etwas zu viel getrunken, verstehen Sie? Dieser Sieg von vorgestern … Doch ich werde Ihnen ein leichtes Mahl servieren lassen, das wir in aller Ruhe gemeinsam hier einnehmen können.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Elizabeth, »doch ich könnte nicht einmal einen Bissen Brot hinunterbringen. Ich habe Durst; nichts als Durst. Wenn Sie ein großes Glas Wasser …«
Mrs. Turner verließ das Zimmer und wäre beinahe mit der Waliserin zusammengestoßen, die sich zufällig in der Nähe der Tür befand.
»Madame«, sagte Miss Llewelyn mit einer sehr männlichen Selbstsicherheit, »ich bin die Gouvernante von Great Lawn. Sie können mir die Sorge um Mrs. Hargrove anvertrauen, über die ich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr gewacht habe. Sie braucht vor allem Ruhe.«
Einige Erklärungen folgten, dann gestand Mrs. Turner:
»Sie macht mir Sorgen. Sie scheint in keinem normalen Zustand zu sein.«
»Sie träumt, das ist das Beste, was sie momentan tun kann.«
»Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Das Schlimmste. Halten Sie sie von den Offizieren fern. Die wissen bescheid.«
Mrs. Turner unterdrückte ein Stöhnen:
»Ich habe verstanden. Ich werde die notwendigen Anweisungen geben, damit sie sich in Kinloch wohl fühlt. Halten Sie mich auf dem laufenden. Vorläufig bittet sie nur um ein Glas Wasser.«
Das Zimmer mit dem hohen Plafond und der ein wenig strengen Schlichtheit war dennoch um eine gewisse Eleganz bemüht: so schmückte etwa eine Überdecke aus malvenfarbener Seide das Säulenbett mit dem weißen Baldachin. Ein paar an den nackten Wänden aufgereihte Stühle mit gerader Rückenlehne verliehen dem Raum eine nüchterne Note; dagegen brachte ein großer Polstersessel aus schwarzem Leder, als einziges Zugeständnis an Müdigkeit oder Faulheit, etwas viktorianisches England in eine Ecke, und ein Spiegel in seinem schweren Ebenholzrahmen überragte eine Kommode mit vier langen Schubladen.
In der Tiefe des breiten Polstersessels halb ausgestreckt, sah Elizabeth zu, wie Miss Llewelyn in diesem kleinen Zimmer geschäftig herumging, das sie ganz allein mit ihrer Gestalt auszufüllen schien. Die Fensterläden waren zugezogen, und jedes Mal, wenn sie in der Nähe des Leuchters mit seinen vier Kerzen vorbeikam, huschten Schattenfetzen über die Wände und bedeckten den Plafond zur Hälfte. Mit zwei Fingern tastete sie das Bett ab und erklärte:
»Hart wie in England. Die Decken sind ordentlich. Sie werden gut schlafen.«
Nahe am Kamin war eine Tür, die ihr noch nicht aufgefallen war.
»Sie gestatten«, meinte sie, »ich werde die Umgebung erkunden.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie eine der Kerzen aus dem Leuchter und verließ den Raum.
Elizabeth sah mit gleichgültigem Blick zu, wie sie davonging. Der gepolsterte Fauteuil, in den sie sich schmiegte wie in ein Nest, trug sie in einen glücklichen Halbschlaf. In einer Art Traum hörte sie, wie sich die Schritte der Waliserin entfernten, dann zurückkamen, um sich erneut zu entfernen. Schließlich tauchte diese mit der Kerze in den Händen wieder auf.
»Genau wie ich dachte«, sagte sie. »Nebenan befindet sich eine kleine Wohnung mit einem Bad und einem zweiten Schlafzimmer. Alles eher beengt und anscheinend verwahrlost Ich werde nichtsdestoweniger die Nacht dort verbringen, um Sie nicht allein zu lassen.«
»Allein«, sagte Elizabeth ganz leise wie ein Echo.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, die nach draußen ging. Der junge schwarze Diener trat ein und brachte ein Tablett mit einem roten Glaskrug und mehreren Gläsern derselben Farbe.
»Haben Sie zu trinken verlangt?« fragte Miss Llewelyn.
»Wasser, ja.«
»Haben Sie Hunger?«
»Überhaupt nicht.«
»Ich schon. Ich richte Ihnen ein Glas Wasser, dann werde ich nachsehen, was ich am anderen Ende des Hauses finden kann. Vorhin war noch ein wenig Lärm zu hören.«
»Die Offiziere, M’am«, sagte der Diener halblaut mit einem Lächeln.
Er hatte das Gesicht eines Kindes, und im Licht der Kerzen bekamen seine eher groben Zügen eine gewisse Anmut.
»Die Offiziere?« sagte Elizabeth.
Miss Llewelyn reichte ihr ein Glas Wasser.
»Trinken Sie, Miss Elizabeth1. Und du, Kleiner, geh. Du redest zu viel.«
Ganz gehorsam nahm Elizabeth ein paar Schlucke aus dem Glas Wasser, das die Waliserin ihr hinhielt. In Augenblicken wie diesem hätte man meinen können, daß diese so heftig in ihren Willen verliebte Frau wieder zu einem kleinen Mädchen wurde.
»Man hört sie nicht mehr«, sagte sie mit düsterer Miene.
»Morgen früh werden sie abreisen und dann sind Sie nicht mehr gestört. Heute hat man sie empfangen, weil sie zur Familie gehören, das ist alles.«
Nachdem sie allein geblieben war, öffnete Elizabeth die Tür und wagte sich auf die Terrasse hinaus. Sie ging nicht allzu weit. Der Himmel war noch hell, und so lief sie Gefahr, von allen Seiten gesehen zu werden. Doch von da, wo sie stehenblieb, hörte sie ziemlich gut, wie die jungen Offiziere lachten und sangen. Sie nahm an, daß sie ein wenig betrunken waren, sie verstand ihre Freude, nach der Schlacht noch am Leben zu sein, sie teilte diese Lebensfreude, als ob sie auch selbst gekämpft hätte, sie fühlte sich glücklich, sah in der Erinnerung wunderschöne Uniformen, mit den Kupferknöpfen in Dreiergruppen auf den graublauen Röcken, die halbhohen Stiefel … Der Überschwang dieser ungestümen Fröhlichkeit bezauberte sie, ohne den Schatten einer Melancholie zu zerstreuen, die sie nicht verließ. Mit ungeheurer Vorsicht machte sie noch ein paar Schritte und blieb stehen. Was wollte sie? Diese Frage blieb ohne Antwort. Sie schien etwas oder jemanden zu suchen, doch ihr Gedächtnis half ihr nicht dabei. Sie bewunderte die Buchen, deren Wipfel mit dem schweren Laub sich hoch über dem Haus verloren. Alles kam ihr schön vor und verdiente Aufmerksamkeit.
Am Ende der Terrasse lag ein Saal, den geschlossene Fensterläden vor der Sonne schützten. Von dorther schienen diese Stimmen auf sie einzudringen, doch sie empfand weder Angst noch Vergnügen. Es war einfach so. Im Morgengrauen würden all diese Männer aufbrechen.
Sie kehrte um, verließ die Terrasse und beschloß, um das Haus herumzugehen. Sie wußte, daß sie in ihrem lilafarbenen Musselinkleid elegant aussah und versuchte nicht, sich zu verstecken. Warum hätte sie sich übrigens verstecken sollen? Sie war Mrs. Turners Gast, sie ging spazieren. Mrs. Turner hatte ihr gesagt, daß sich am Rande von Kinloch ein kleiner Wald befände, der Stille Wald. Dieser Name gefiel ihr wegen seiner etwas naiven Schlichtheit, die einen Gegensatz zu dem stolzen und beinahe arroganten Namen von Kinloch bildete.
Während sie an den Wänden des Hauses entlangging, streifte sie sanft mit den Fingerspitzen über dessen Steine, ohne bestimmten Grund, außer vielleicht, daß ihre Gegenwart in Kinloch ihr wie ein Traumerlebnis vorkam, doch das war ihr gleichgültig. Die Buchen, deren Laubwerk sich im Himmel verlor, erfüllten sie mit immer neuem Staunen, und die Sonne zeigte ihr jedes einzelne Blatt.
Plötzlich fühlte sie kein Haus mehr unter ihrer Hand, und sie stand vor der grenzenlosen Landschaft, die sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Die Wiesen entflohen am Horizont zwischen den goldenen Bahnen des Weizens.
Man konnte ziemlich weit auf all diese Herrlichkeit zugehen, bis zu einem Zaun aus schweren, x-förmig überkreuzten Ästen, der am Abgrund entlanglief. Ganz in der Nähe und wie um den Spaziergänger von diesem schwindelerregenden Aussichtspunkt abzulenken, begann ein Weg, der sanft zu einer Gruppe aus etwas zufällig gepflanzten Bäumen hinführte. Sie vereinigten sich jedoch alle in einem Laubdach, das dicht genug war, um das Licht der Sonne zu brechen; nur ein paar hartnäckige Strahlen drangen wie Lanzen hindurch. Die Anziehungskraft des Ortes lag in seiner tiefen Stille und einer Art allgemeiner Reglosigkeit. Eine steinerne Bank zeugte vom Reiz dieser Einsamkeit. Bald befand sich Elizabeth wie von einem Instinkt geleitet an dieser Stelle, die ihr als ein Zufluchtsort vor etwas Unbestimmtem erschien, denn sie fühlte sich von nichts bedroht. Ganz im Gegenteil, unter diesen Bäumen flößten allein die Luft und der Geruch nach Pflanzen ihr Mut ein. Jede mögliche Gefahr war anderswo gebannt.
In dem zur Neige gehenden Tag verbündete sich das Licht auf angenehme Weise mit dem Traum, und sie empfand eine unbeschreibliche Freude in dem Wissen, allein zu sein, gewiß vermischt mit jenem leichten Hauch von Melancholie, der sie seit ihrer Abreise aus Great Lawn nicht mehr verließ, doch gerade dies machte ihr Fernsein von der Welt noch köstlicher. Sie überlegte gerade, ob sie sich auf die Steinbank setzen sollte, um hier einen Augenblick zu verweilen, als der Gesang eines Vogels sie innehalten ließ. Ein Gesang, eigentlich ein Ton von unendlicher Sanftheit, der sich in einer unmittelbar darauffolgenden Stille verlor. Mit klopfendem Herzen erkannte Elizabeth die Einsiedlerdrossel, die ihren Ruf nur dann ausschickt, wenn sie sich allein glaubt. Früher einmal, in einem Londoner Garten, hatte sie den geheimnisvoll scheuen Vogel vernommen, dann noch ein anderes Mal in Amerika, aber wo? Ihre sonst so genaue Erinnerung versagte. Es war, als wolle der Londoner Vogel sie aus seinem Revier vertreiben und seiner Rivalin aus Virginia den Platz überlassen. Elizabeth verharrte reglos, wartete, dann, nach einer Zeitspanne, die ihr endlos erscheinen wollte, verwandelte ein zärtliches und zugleich schüchternes Trillern, das nicht nachhallte, die Stille in einen Raum ohne Grenzen.
Die junge Frau spürte, daß noch etwas kommen mußte, und hielt den Atem an. Zwei Töne folgten, einer nach dem anderen, durchdringend, und plötzlich eine kleine fragende Melodie, dann endlich mit auserlesener Harmonie die Antwort, und der Vogel flog davon.
In dieser Minute wurde sie gewahr, daß sich der Himmel verdunkelte und daß sie gerade noch genug sah, um wieder aus dem Wäldchen herauszukommen. Langsam und in Gedanken versunken, ging sie zur Terrasse zurück, in ihrem gesamten Wesen von der Gewißheit erfüllt, daß ganz nah neben ihr jemand dahinschritt, den sie nicht sah.
Wieder in ihrem Zimmer, genügte ihr ein Blick, um zu wissen, daß Miss Llewelyn vorbeigeschaut hatte: das Bett war für die Nacht gerichtet, die Lampe mit dem rosa Schirm angezündet, um schon jetzt gegen die zunehmende Dunkelheit anzukämpfen. Diese Aufmerksamkeiten entlockten Elizabeth ein Lächeln, ohne sie wirklich zu rühren. Noch weniger als alles übrige, ein mit Sorgfalt bereitgelegtes Gedeck auf dem kleinen Tisch, über den eine weiße Decke gebreitet war.
Die Waliserin hatte sie jedoch eintreten gehört und erschien größer und schwerfälliger als gewöhnlich im Türrahmen.
»Sie wissen doch, daß ich nichts essen werde«, sagte Elizabeth und zeigte auf das Tischchen.
»Schade. In der Küche gab es alles, was man braucht.«
»Danke, aber ich habe keinen Hunger.«
Das Wort »Küche« rief nach dem Spaziergang von vorhin Ärger in ihr hervor.
Es folgte ein kurzes Schweigen, dann war wieder Miss Llewelyns feste Stimme zu vernehmen.
»Wenn Sie mir keine Anweisungen mehr zu geben haben, Miss, kann ich mich wohl zurückziehen. Mein Zimmer liegt fast neben diesem hier, am Ende des Ganges.«
Elizabeth bemühte sich, ihren Stolz zu besiegen.
»Bleiben Sie doch noch ein wenig bei mir, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen über Kinloch stellen.«
»Mit Vergnügen, Miss Elizabeth. Setzen wir uns doch. Ich nehme diesen geraden Stuhl, der große englische Polstersessel ist für Sie.«
Plötzlich hatte sie wieder jenen leicht autoritären Ton, in den sie gern verfiel, wenn sie sah, daß sie gebraucht wurde.
»Warum bin ich hier?« fragte Elizabeth.
»Die Luft in den Hügeln von Fauquier County ist fürs erste besser als die in Great Lawn.«
»Das Schlachtfeld?« erkundigte sich Elizabeth, während sie im Polstersessel Platz nahm.
»Zum Beispiel, und dazu kommt noch das Hin und Her der Truppen, schließlich die Unordnung, die selbst auf einen Sieg folgt.«
»Gewiß.«
Und ganz unvermittelt fragte sie:
»Haben Sie mir nicht in Great Lawn gesagt, mein Mann würde beständig an mich denken, und das wäre so, als ob er hier bei mir sei?«
»In gewisser Weise, ja. Ich erinnere mich sehr gut daran, Ihnen das gesagt zu haben.«
»Es gefällt mir nicht, daß Sie sagen: ›In gewisser Weise.‹ Er ist ganz einfach hier.«
»Nun gut, ja.«
»Was über ihn gesagt worden ist, stimmt einfach nicht.«
»Sie können sicher sein, er verläßt Sie nicht.«
»Miss Llewelyn, Sie sind eine Frau von gesundem Verstand. Es bereitet einem Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. Die anderen verstehen das nicht.«
»Vor allem die Männer, im allgemeinen.«
Sie vermeinte, in Elizabeths Gesicht ein klein wenig Unruhe lesen zu können, und wechselte sogleich das Thema.
»Als Sie vorhin das Haus verließen, habe ich mir erlaubt, nachzusehen, wohin Sie gingen. Sie haben den Weg zum Stillen Wald eingeschlagen. Der Ort ist wie für Sie geschaffen. Oder irre ich mich?«
Elizabeth erhob sich plötzlich, als würde sie eine Entscheidung treffen.
»Nein, im Gegenteil, ich wollte Ihnen davon erzählen. Ich bin eine ganze Weile dort geblieben und habe einer Drossel gelauscht.«
»Wenn Sie ihr so gut zuhören konnten, dann hat sie Ihre Gegenwart bei sich im Revier hingenommen. Der leichteste Schritt, das Rascheln eines Kleides, und sie verstummt, fliegt davon.«
Elizabeth ging zur Tür, dann drehte sie sich wieder um.
»Man könnte meinen, sie habe etwas zu sagen.«
»Es heißt, sie würde einem ein Geheimnis anvertrauen.«
Die junge Frau wandte sich der Waliserin zu.
»Sie ruft.«
»Wie alle Einsiedlerdrosseln. Sie rufen alle, und niemand kommt, und wenn jemand käme, wie sollten wir es erfahren? Man macht sich immer zu früh aus dem Staub.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts«, sagte Miss Llewelyn mit einem kurzen Lachen. »Ich kenne die Familiengeheimnisse der Drosseln nicht.«
Elizabeths aus der Ferne kommender Blick blieb an ihr hängen.
»Wann fahren wir nach Great Lawn zurück?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hier werde ich mich genauso wohl fühlen wie dort.«
»Sie sahen tatsächlich sehr zufrieden aus, als Sie aus dem Stillen Wald zurückkamen, fröhlicher als dort unten.«
»Woher weiß man schon, wie man aussieht? Ich bin überall die gleiche Person. Miss Llewelyn, ich bin müde, ich werde zu Bett gehen.«
Die Waliserin erhob sich, aufrecht wie ein Soldat.
»Wenn Sie mich in der Nacht brauchen sollten, rufen Sie mich.«
Elizabeth dankte ihr mit einem Kopfnicken, und einen Augenblick später war sie allein.
Nun warf sie in diesem Zimmer, in dem ihr noch nichts vertraut geworden war, einen neugierigen und zugleich teilnahmslosen Blick um sich, denn ihre Gedanken waren anderswo. Sorgfältig schloß sie die Türe, die auf den Flur hinausführte und von der Waliserin wahrscheinlich mit Absicht offengelassen worden war. Danach ging sie wieder auf und ab und blieb zuweilen am Fenster stehen, als wolle sie beobachten, wie alles unter der vollkommenen Dunkelheit begraben wurde, doch vom anderen Ende der Veranda drang das schwache Licht aus dem Speisesaal bis zu ihr. Die jungen Offiziere ließen noch immer ihre Stimmen vernehmen, etwas weniger laut, wie es schien. Jemand, wahrscheinlich Mrs. Turner, hatte sie darum gebeten.
Ohne zu zögern, öffnete Elizabeth ihre Zimmertür und ging hinaus. Ein kleines, an einer der Säulen hängendes Windlicht beleuchtete sie in ihrem lilafarbenen Kleid von oben bis unten und verlieh ihr den falschen Anschein einer Ballbesucherin. Ein schwarzer Seidenschal verdeckte ihre Schultern, doch ihre Arme, auf die sie stolz war, und ihr schweres Haar mit seinem Kupferschimmer schmückten sie mit einer Pracht, deren sie sich stets bewußt blieb. Sie machte einige Schritte auf das Stimmengewirr zu und blieb im Licht stehen, als wolle sie gesehen werden. Auf ihrem von jeder Sorge reingewaschenen Gesicht glänzte wieder sanft die Jugend, doch auf ihren Zügen, in denen sich eine beinahe kindliche Neugier widerspiegelte, wenn sie ihren Blick auf die erleuchteten Fenster richtete, erschien mit einem Mal ein Schatten von Melancholie. Einen Augenblick verharrte sie reglos, dann wandte sie sich mit raschem Schritt zu den Stufen der Veranda und ging in die Allee hinunter. Nun lief sie am Haus entlang bis zu dem Weg, der in den Stillen Wald führte. Der Boden unter ihren Füßen war kaum zu erkennen, und sie mußte stehenbleiben, um ihren Augen Zeit zu lassen, damit sie sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Die Luft roch gut, erfüllt von den Düften der Nacht. Ihr kam es vor, als stiegen die Wiesen und Wälder von der anderen Seite des Abgrunds zu ihr herauf. Jetzt unterschied sie die schwarze Masse der Bäume, wo die Drossel vor Einbruch der Dämmerung ihren Ruf ausgestoßen hatte. Mit klopfendem Herzen machte sie noch ein paar Schritte vorwärts und wartete. Aus diesem Grund war sie gekommen.
Sie mußte mit dem Menschen, den sie aus dem Grunde ihres Herzens rief, wetteifern an Geduld, die Augen schließen, um ihn zu sehen. Das war die Regel bei diesem Ritual. Nach und nach wurden die Umrisse genauer, die Schultern, der Hals und der Brustkorb. Das Gesicht kam später … Nun konnte sie die Augen wieder öffnen, und gewiß, sie sah ihn nicht mehr, aber er war da, in seiner ganzen ungreifbaren männlichen Dichte, und sie konnte glauben, daß sein Atem über ihr verliebtes Gesicht streifte, ihren Mund suchte, doch ihrer beider Lippen vereinigten sich nicht. Die Stunde würde kommen, in der sie sich berührten, aber inzwischen war er da. Gemeinsam gingen sie im Schatten dahin, dann war er mit einem Schlag verschwunden.
In der Ferne erblickte sie ein kleines Licht, das sich auf sie zubewegte, und sie verstand sofort: die Waliserin, die etwas von diesem Spaziergang geahnt hatte, kam sie holen. Plötzlich war sie neben ihr, ganz in einen großen, grün und schwarz gestreiften Umhang gehüllt, und ihre breite, gebieterische Hand schob sich unter Elizabeths Arm.
»Wir kehren um«, sagte sie. »Sie sind nicht warm genug gekleidet, und es kühlt furchtbar ab.«
Elizabeth sträubte sich nicht. Sie verließ eine Welt und betrat eine andere.
Von neuem verspürte sie die Tyrannei der vier Wände ihres Zimmers. Ohne es genau zu verstehen, hörte sie, was Miss Llewelyn mit geduldiger und beherrschter Stimme sagte. Plötzlich überfiel sie die Last einer unüberwindbaren Müdigkeit, und ohne ein Wort zu sagen, ging sie zu ihrem Bett. Auf diesen Augenblick hatte die Waliserin gewartet, und sie half ihr beim Ausziehen. Elizabeth nahm es kaum wahr, wie gebieterische Hände sie unter die Laken gleiten ließen, mit der Erfahrung einer Amme, die ein schwieriges Kind zu Bett bringt. Die tröstliche Wärme der wohligen Decken schloß ihr die Augen und übergab sie dem Traum.
Wie eine Gespensterarmee stürmten die Tage von einst wieder in Scharen heran. Seltsamer als alles andere das Auftauchen des kleinen Ned, ihr Sohn aus einer ersten Ehe mit einem Mann, den sie nicht wirklich geliebt hatte. Diesem Kind, das sie anbetete, gab sie im geheimen den Namen ihres Geliebten, Jonathan. Der verträumte kleine Junge wurde gleichzeitig zu zwei Personen und lief so Gefahr, den Verstand zu verlieren. Deswegen hielt sie sich für verloren, und ihr Glaube trübte sich.
Sie sah sich sechs Jahre später in einer Kirche Savannahs, beim Begräbnis von Mr. Hargrove. Zu viele Menschen, man bekam keine Luft. Durch das große Tor trat ein Priester mit einem hohen Kupferkreuz herein, dahinter ein Sarg, und während er auf den Chor zuschritt, wiederholte er mit lauter Stimme die Worte des auferstandenen Christus: »Ich bin die Auferstehung und das Leben … Wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben.« Als er diese letzten Worte sprach, wurde der Sarg ganz nah an Elizabeth vorübergetragen, die erzitterte. Ihr schwacher Glaube konnte sie nicht retten, sie war verloren. In diesem Augenblick fiel sie nach hinten und sah gerade noch zwei goldbetreßte rote Ärmel, die sie in ihrem Sturz auffingen. Das Leben tröstete sie mit unerbittlicher Ironie, indem es sie in die Arme eines der schönsten Kavallerieoffiziere Georgias legte, der wie zufällig hinter ihr saß.
Eine ganze Weile stieg nichts anderes mehr aus den Abgründen des Traumes herauf, dann häuften sich mit einem Mal die Bilder von Billy, und die Sehnsucht nach dem Glück erfaßte sie in einem Taumel der Erinnerung, doch auch hier wurde mit sanfter und grausamer Genauigkeit eine Auslese getroffen. Billy schloß sie in seine Arme und sagte lachend zu ihr: »Gefangene des Südens«. In der Tiefe ihres Schlafes bestürzte sie die prophetische Wahrheit dieser Worte, die bezaubernd und scherzhaft sein wollten. War für sie nicht der ganze Süden in diesem wunderbaren Wesen verkörpert, dem sie die leidenschaftlichste Lebensfreude verdankte?
Stunden vergingen im Durcheinander widersprüchlicher Traumbilder, in denen die Liebe und die Angst vor dem Unbekannten aufeinanderprallten, eines im anderen gefangen.
Ein lautes Gepolter riß sie aus dem Schlaf; sie stieg aus ihrem Bett und lief mit nackten Füßen zum Fenster. Die Morgenröte wartete in einem fahlen Himmel hinter den Hügeln, und rings um Kinloch hielten die schwarzen Stämme der riesigen Bäume Wache. Einen Augenblick verharrte Elizabeth reglos und betrachtete diese Landschaft, die in ihren Augen die geheimnisvolle Schönheit einer Tragödienkulisse besaß. Sie ging ins Zimmer zurück, zog einen langen, weißen Morgenmantel über und legte sich einen grün und schwarz karierten Schal um die Schultern, dann öffnete sie, ohne zu zögern, die Tür zur Veranda. Die kühle Luft schlug ihr ins Gesicht Sogleich durchschritt sie den Raum, der sie von den Stufen trennte, und dort hielt sie sich an einer der Holzsäulen fest. In dieser Haltung, die ihr selbst ein wenig gekünstelt erschien, empfand sie mehr als sonst die Befriedigung zu leben, jemand zu werden, sie wußte nicht wer, doch vielleicht war sie schon Teil einer Legende, in der Fahnen über den grauen Rauchschwaden der Schlachten wehten.
Ein bläuliches Halbdunkel, in dem sich mit zunehmender Kraft Umrisse und Farben abzeichneten, überflutete den Himmel, als Elizabeth den Schritt der Pferde hörte, die von den Ställen zum Haus galoppierten. Das Blut stieg ihr ins Gesicht. Das plötzliche Verlangen, in ihr Zimmer zurückzukehren, verwirrte sie, dann empfing sie wie von sich selbst an sich selbst die Anweisung, aufrecht und reglos dort stehenzubleiben, wo sie sich befand.
Die ersten Reiter, die auf die Mitte der Wiese zustoben, lachten laut heraus, und die Tschakos saßen schief auf ihren Kinderköpfen. Einer von ihnen erblickte Elizabeth: mit der Unverfrorenheit seines Alters lenkte er sein Pferd zum Säulengang hin, gefolgt von drei oder vier seiner Gefährten, die auf ihren Rotfüchsen dicht hinter ihm waren. Die kleine Gruppe schien in patriotische Trunkenheit verfallen zu sein und winkte der wie versteinert dastehenden, aber lächelnden blonden Schönheit einen Gruß zu. Ohne sich allzu nahe heranzuwagen, machten sie Anstalten, ihre Tiere in geziemender Entfernung tänzeln zu lassen, mit dem unbestimmten Verlangen, plötzlich vorzupreschen, doch das blieb ein Schein.
Einer von ihnen zeigte sich hingegen verwegener. Er verließ die Gruppe, ritt geradewegs auf Elizabeth zu und blieb so abrupt stehen, daß sich die Beine seines Pferdes versteiften, als wären die Kanten der Hufe mit dem Boden verschmolzen. Elizabeth stieß einen Schrei aus und schloß die Augen. Ihr blieb nur noch Zeit, das verzweifelte Gesicht des entschwundenen Geliebten zu sehen. Mit weit geöffnetem Mund, als wolle er sie rufen, blickte er sie an, gerade so lang, wie er brauchte, um ihren Namen auszusprechen, und dann löste er sich in der Wand aus Baumstämmen auf.
Elizabeth verharrte vollkommen reglos. Über ihre eigene Kaltblütigkeit erstaunt, betrachtete sie Billy mit leidenschaftlicher Neugier, und innerhalb von zwei Sekunden entdeckte sie ihn, wie sie ihn nie gekannt hatte. Der stürmische Liebhaber, den sie zum Ehegatten gehabt hatte, überließ seinen Platz einem Mann aus einer anderen Welt, der in seinen Zügen die Zeichen von einem Aufenthalt in einem unerreichbaren Land trug, in dem der Schrecken wohnte. Er war er selbst und zugleich ein anderer, mit grauenhafter Eindringlichkeit, doch Elizabeth blieb außer Reichweite, und ihre Blicke kreuzten sich wie über einem Abgrund.
Ein Augenblick verging, der Elizabeth Stunden zu dauern schien. Jetzt betrachtete sie die riesigen Buchen entlang der Wiese, die über die wirkliche Welt wachten. Ein fröhlicher Trompetenstoß erschallte weit unten im Tal, das Lebewohl der jungen Offiziere auf der Suche nach dem Ruhm, und sie waren verschwunden, während die Stille sich über der Frau schloß, die sich nicht entscheiden konnte, diesen wunderbaren Ort zu verlassen, an dem ihre Hoffnung soeben neu erwacht war.
Plötzlich hörte sie hinter sich das Geräusch der immer gleichen Schritte, die sie zu hassen begann. Ohne sich umdrehen zu wollen, sagte sie schroff:
»Miss Llewelyn, was wollen Sie?«
Miss Llewelyn antwortete nicht und stellte sich neben Elizabeth. Der Schein des Windlichtes, das noch nicht gelöscht worden war, unterstrich ihr autoritäres Profil. Die Nase stach hervor, um Menschen und Dinge zu erobern.
»Ich bin hier, um Ihnen zu gehorchen«, sagte sie schließlich, »doch an Ihrer Stelle würde ich hineingehen. Sie sind weg, Sie haben gesehen, was Sie sehen wollten.«
Mit einer jähen Schulterbewegung drehte sich Elizabeth zur Waliserin um, und die beiden Frauen schauten sich an, als warteten sie auf das Ende des Schweigens, das sich zwischen ihnen niederließ und das weder die eine noch die andere brechen wollte. In Miss Llewelyns Gesicht lag eine gewisse Unverschämtheit, aber Elizabeth fühlte sich auf schändliche Weise von dieser Frau beherrscht, aus der sie vor zehn Jahren ihre Komplizin gemacht hatte, in der Zeit ihrer ersten Liebe zu Jonathan. Ein Augenblick verging, dann öffnete sie leicht die Lippen und sagte mit ruhiger Stimme:
»Billy.«
»Natürlich«, sagte Miss Llewelyn, »das war zu erwarten, mit all diesen Reitern. Er denkt an Sie, dort, wo er ist.«
»Wo denn?«
Miss Llewelyn legte ein wenig die Stirn in Falten und schien nach Worten zu suchen:
»Dort, wo Sie ihn zurückgelassen haben«, sagte sie schließlich. »In Great Lawn, doch sein Herz reist zu Ihnen, und er ist auch, er ist vor allem da, wo Sie sich befinden. Ist das verständlich?«
»Aber ja«, flüsterte Elizabeth, als wolle sie eine so wichtige Enthüllung geheimhalten.
Seit einigen Minuten hatte ihr Gesicht eine Art Unschuld wiedergefunden, die sie seltsam verjüngte. Sie richtete ihren Blick auf Miss Llewelyn, und darunter lag der Ausdruck von jemandem, der mehr weiß als die anderen.
»Los«, sagte Miss Llewelyn mit gespielter Heiterkeit, »wir wollen hineingehen, und ich gebe Ihnen ein wenig von jenem Trank, der Ihnen wohltut und die Aufregungen dieser ersten Nacht in Kinloch verscheuchen wird.«
Beide gingen schweigend auf die Haustür zu, während um sie herum ein Sturm winziger Stimmen losbrach, die den Sonnenaufgang begrüßten. Zart oder durchdringend, vereinigten sie sich zu einem einzigen Schrei des Glücks, der die Luft mit einer die Traurigkeit der Welt auslöschenden Kraft erfüllte.
Elizabeth spürte, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Eine schmerzliche Freude ergriff sie.
Das Zimmer wurde durch die kleine Lampe am Kopfende des Bettes nur schwach erleuchtet, und die schweren Vorhänge verdeckten die Fenster, die das Tageslicht hätten hereinlassen können. Elizabeth ließ den Blick voller Unruhe um sich schweifen. Dieses Zimmer schien nicht immer dieselben Ausmaße zu besitzen. Diese sonderbare Eigenheit hatte sie seit ihrer Ankunft in Kinloch mehrere Male befremdet, doch sie wollte lieber nicht daran denken.
Miss Llewelyn war eingetreten und ging ein paar Schritte hinter ihrer Herrin her, mit einer gezierten Ehrerbietigkeit, die etwas Provozierendes hatte. Eine gewisse Zeit verstrich, bevor sie den Mund öffnete, und Elizabeth hatte, in ihren breiten karierten Schal gehüllt, den Entschluß gefaßt abzuwarten, ohne den Eindruck zu erwecken, daß sie ihr irgendeine Aufmerksamkeit schenkte.
»Miss Elizabeth«, sagte die Waliserin, »Sie sollten sich ausstrecken und Ruhe suchen. Sie wirken müde. Ich werde Ihnen Ihren Trank zubereiten.«
Während sie diese Worte sagte, kam sie auf Elizabeth zu, die einen Schrei unterdrückte. Das Phänomen, vor dem sie sich fürchtete, vollzog sich ganz plötzlich vor ihren Augen: unmerklich, mit einer Genauigkeit, die keinen Zweifel aufkommen ließ, verkleinerte sich das Zimmer und nahm das Aussehen einer Gefängniszelle an. Man konnte sich einbilden, daß die bequeme Ausstattung durch einen Gnadenakt nicht abgeschafft worden war, und der Verlust der Freiheit trat dadurch nur um so deutlicher hervor.
In der ungeheuren Anstrengung, die sie unternahm, um ihre Ruhe wiederzufinden, sagte sie sich, daß die fast schon männlich breite Gestalt der Waliserin und die ganze Schwerfälligkeit ihres Körpers diese Sinnestäuschung erklären konnten, doch so geschickt diese Argumentation auch war, sie vertrieb dennoch nicht ein tiefes Unbehagen. Sobald man sie nicht mehr im Auge behielt, bewegten sich die Wände aufeinander zu, gleich Schattenwänden; ebenso der Plafond, doch hier war ihr das kaum wahrnehmbare Herabgleiten der grau-weißen Fläche unerträglich, die sich beim geringsten Alarmzeichen auf dem allzu aufmerksamen Gesicht daranmachte, wieder hochzusteigen.
Ihr gesunder Menschenverstand erwachte jäh und ließ sie diese Wahnvorstellung dem Laudanum zuschreiben, das man ihr, den Bräuchen des Südens gemäß, Tag für Tag einflößte, um das Elend von Herz und Körper zu lindern. Hinter diesen guten Absichten steckten die persönlichen Überzeugungen der Waliserin, der sie jeden erdenklichen Verrat zutraute. Warum also hatte sie sich auf deren Dienste eingelassen? Die Angst vor der Fratze des Todes war erwacht, als Mike sich in ihre Arme geworfen und Billys Namen gerufen hatte, doch heute war sie wieder gefaßt, und mit einer Stimme, die vor Ärger leicht zitterte, erklärte sie:
»Jetzt ist Schluß damit, ich nehme kein Laudanum mehr.«
Miss Llewelyn bekam plötzlich ein steinernes Gesicht.
»Gut«, sagte sie, »doch Sie werden leiden.«
Elizabeth warf ihr einen eisigen Blick zu.
»Ich habe keine Angst, ich habe genug von diesem Versteckspiel mit dem Tod. Billy …«
Mit einer Drehung ihrer ganzen Gestalt fiel sie vor der Waliserin in Ohnmacht, die sie mit einem kräftigen Arm um die Taille faßte und nicht gerade rücksichtsvoll bis zum Bett schleifte. Dort legte Miss Llewelyn sie auf den Rücken.
»Ganz schön mutig«, brummte sie. »Und eine gehörige Portion Stolz«, fügte sie hinzu.
Mit einer barschen Handbewegung versetzte sie dem schönen, bleichen Gesicht, in dem dunkle Schatten um die Augenwinkel lagen, ein paar Ohrfeigen. Ein unmerkliches Zittern durchlief Elizabeth, und sie schlug die Augen wieder auf.
»Was?« sagte sie und schaute die Waliserin an. »Was ist mit mir geschehen?«
»Nichts, Miss, eine kleine Aufregung.«
»Ich verstehe. Das ist lächerlich. Helfen Sie mir beim Aufstehen.«
Miss Llewelyn hob sie in die Höhe und setzte sie dann in einen Polstersessel.
»Das Gläschen Laudanum hat alles in Ordnung gebracht. Man kann das Leben ein wenig betrügen und das Spiel gewinnen.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Lassen Sie mich in Ruhe und machen Sie mir eine Tasse Tee.«
Ohne noch ein Wort zu verlieren, verließ Miss Llewelyn sie und verschwand im Korridor, der zur Küche führte.
Elizabeth rührte sich nicht. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Sonnenstrahlen gerichtet, die durch die Fensterläden drangen und ein Licht voller Fröhlichkeit verbreiteten. Sie blickte vor sich hin, im sanften Bann dieser blaßgoldenen Flecken, die sie daran hinderten, an etwas anderes zu denken als an diese gute morgendliche Laune der Natur. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Kinloch fühlte sie, daß ihr Kopf leer war und ihr ganzes Wesen fern der alltäglichen Welt.
Als sie Miss Llewelyn mit einer Teekanne und einer Tasse auf einem Tablett wieder auftauchen sah, verspürte sie den Schock eines plötzlichen Erwachens. Mit kritischem Blick beobachtete sie, wie die Waliserin auf einem kleinen Tisch eine Art englisches Frühstück zubereitete, und konnte nicht umhin, bei dieser Frau ein plötzlich unterwürfiges Benehmen festzustellen, das wenig mit ihrer üblichen Arroganz zu tun hatte. Vielleicht gab sie sich in der Meinungsverschiedenheit über das Gläschen Laudanum geschlagen? Seit Jahren kam es zwischen ihnen nur dann zu einer Annäherung, wenn es galt, in einem verborgenen und unbestimmten Kampf herauszufinden, wer von beiden die stärkere sei und die andere unterwerfen würde. Heute hatte die Jüngere gewonnen. Mit einer Handbewegung, einem Wort, das herablassend genug war, konnte sie ihre Rivalin moralisch in Grund und Boden stampfen.
»Lassen Sie alles da, wo Sie es hingestellt haben, und ziehen Sie sich zurück«, befahl Elizabeth, und wie eine Reminiszenz an die guten Umgangsformen fügte sie gnädig hinzu: »Miss Llewelyn.«
Gleich einem Soldaten machte die behäbige Person kehrt und zog von dannen, indem sie die Dielenbretter unter ihren Sohlen so hart und laut wie möglich knarren ließ. An der Türschwelle bemerkte sie mit fester Stimme:
»Sollten Sie eine unerwartete Schwäche verspüren, ich bin nebenan.«
Elizabeth schüttelte verneinend den Kopf.
Später ließ ein Geräusch auf der Terrasse sie blitzschnell aufspringen und an ihre Zimmertüre laufen. Mit einem freundlichen Lächeln, wie am Vorabend, kam Mrs. Turner auf sie zu, die beiden Hände in einer Geste ausgestreckt, mit der die Zeit aufgehoben wurde, denn der nächtliche Spaziergang unter den Bäumen, der Aufzug der Reiter vor dem Haus im ersten Morgengrauen, alles trat für Elizabeth in den Hintergrund angesichts dieser Frau, deren Stimme so liebenswerte Dinge sagte.
»Mein liebes Kind, ich habe in dieser Nacht an Sie gedacht …«
Elizabeth unterbrach sie.
»Sie sind zu gut, Mrs. Tuner, machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich fühle mich ausgesprochen wohl.«
In den großen schwarzen Augen war ein leichter Anflug von Zögern zu lesen, und der makellos gezeichnete Mund blieb ein ganz klein wenig geöffnet. Von einem plötzlichen Unbehagen gepackt, betrachteten sich diese beiden Frauen wie Schauspielerinnen, die ihre Rollen nicht mehr einwandfrei beherrschen. Es war die Ältere, die sich in einer spontanen Regung voll jugendlichen Temperaments wieder einmal in die Arme der Jüngeren warf.
»Ich kann nicht anders, als Sie zu umarmen, wenn ich Sie so traurig sehe«, sagte sie ergriffen.
Ein trauriges Lächeln war die Antwort.
»Jetzt, da unsere Jungen aufgebrochen sind«, fuhr Mrs. Turner fort, »werden Sie Frieden haben.«
Sie faßte nach ihrer Hand.
»Ich möchte Sie in das Zimmer führen, das Ihnen während Ihres ganzen Aufenthaltes gehören wird.«
Elizabeth ließ alles mit sich geschehen, und beide setzten sich mit dem gleichen entschlossen ruhigen Schritt in Bewegung, umgeben vom verliebten Treiben der Vögel, die dem wiedergefundenen Licht ihr Gezwitscher entgegenriefen.
Die Tür führte zu einem Speisesaal, in dem ein Schwarzer mit grauem Haar Bierflecken von einem langen Eichentisch wischte. Stühle hielten zwei Fenster geöffnet, um mit dem Luftzug den Tabakgeruch zu vertreiben, der noch an den Wänden und in den Vorhängen festsaß.
»Zekiel, gehen Sie und ruhen Sie sich aus«, sagte Mrs. Turner. »Ein junger Diener wird Ihre Arbeit beenden.«
Zekiel grüßte und verschwand.
»Er ist die ganze Nacht hindurch bei unseren Gästen geblieben, und wir lieben ihn sehr. Entschuldigen Sie, daß ich Sie hier durchführe, aber es ist kürzer.«
Elizabeth machte keinerlei Bemerkung und folgte Mrs. Turner bis zu einer stilvollen Treppe, deren Stufen ein wenig steil waren und kurze Ächzlaute vernehmen ließen, die von einer mehr als zweihundertjährigen Abnutzung erzählten. Mrs. Turner stieg mit einem durch den kürzlichen Anfangssieg des Südens beschwingten Fuß hinauf.
Die Tür, die sich schließlich öffnete, tat vor Elizabeth ein Zimmer auf, das sie sich in Zeiten des Glücks sehnlichst gewünscht hätte. Und so beherrschte sie sich und erstickte einen Schrei in der Hand. Unvermittelt brach ihr Liebesleben zwischen diese Wände herein, in einer sich überstürzenden Erinnerung, und sie verweilte zunächst bei dem Bett. Es war ungeheuer breit, und darüber, fast am Plafond, schwebte ein Baldachin, von Säulen aus Mahagoniholz mit geschnitzten Wölbungen getragen, wie sie in England einst Mode waren. In einer heftigen Regung ihres ganzen Wesens sah sie sich darin als Gefangene jenes Körpers, der sie immer wieder berauschte, sobald das blaue und rote Tuch fiel.
Mrs. Turner betrachtete sie amüsiert.