Treibgut - Julien Green - E-Book

Treibgut E-Book

Julien Green

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Beschreibung

Ein Liebesdrama von düsterer Komik im Paris der 30er Jahre – "Julien Green ist Weltliteratur". Iris Radisch, Die Zeit Die Wiederentdeckung eines Meisterwerks. Nacht in Paris, am Ufer der Seine. Eine Frau streitet mit einem Mann, ruft um Hilfe. Philippe hat sie gesehen, doch er macht einen Schritt rückwärts und geht nach Hause. Von da an steht fest, er ist ein Feigling. Wie soll er weiterleben zwischen seiner Ehefrau, die ihn verachtet, und seiner Schwägerin, die ihn heimlich liebt? Julien Green zeigt die Nachtseite eines Paris, das keine Belle Époque mehr ist und erzählt von Menschen in einer untergehenden Gesellschaft. Anhand neuer biografischer Quellen kommentiert und glänzend neuübersetzt von Wolfgang Matz. „Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken.“ Walter Benjamin

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das ist das Cover des Buches »Treibgut« von Julien Green, Wolfgang Matz

Über das Buch

Ein Liebesdrama von düsterer Komik im Paris der 30er Jahre — »Julien Green ist Weltliteratur«. Iris Radisch, Die ZeitDie Wiederentdeckung eines Meisterwerks. Nacht in Paris, am Ufer der Seine. Eine Frau streitet mit einem Mann, ruft um Hilfe. Philippe hat sie gesehen, doch er macht einen Schritt rückwärts und geht nach Hause. Von da an steht fest, er ist ein Feigling. Wie soll er weiterleben zwischen seiner Ehefrau, die ihn verachtet, und seiner Schwägerin, die ihn heimlich liebt? Julien Green zeigt die Nachtseite eines Paris, das keine Belle Epoque mehr ist und erzählt von Menschen in einer untergehenden Gesellschaft. Anhand neuer biografischer Quellen kommentiert und glänzend neuübersetzt von Wolfgang Matz. »Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken.« Walter Benjamin

Julien Green

Treibgut

Roman

Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Matz

Hanser

In der Seine treibt eine Leiche.

In solchem Fall wird ihre Haltung feierlich.

Lautréamont

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Fußnoten

Über Julien Green

Impressum

Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Anhang

Editorische Notiz

Abbildungen

Anmerkungen

Zeittafel zur Biographie

Erster Teil

An schönen Abenden ging Philippe zu Fuß nach Hause, entweder aus Sorge um seine Gesundheit oder weil er gern noch ein wenig durch die dämmrigen Straßen streifte. Sein liebster Spaziergang führte vom Trocadéro hinunter zur Seine. Dort folgte er dann dem Quai. Eines Nachmittags im Oktober änderte er diesen Weg und wählte den Boulevard Delessert, der vom Carrefour de Passy schräg abfällt und an dessen Ende man hinüberschaut zum Pont d’Iéna. An der Brüstung oberhalb der Rue Beethoven blieb er stehen.

Hier treten die Häuser weit auseinander, und die Straße dazwischen öffnet sich schließlich zum Fluss. Eine Treppe führt mit hundert Stufen vom Boulevard hinunter zu dieser Sackgasse; Gaslaternen erleuchten nur schlecht die drei aufeinanderfolgenden Absätze. Rechts von der Treppe fesselt eine Art Abgrund den Blick.

Zunächst sah Philippe nichts. Er mochte sich noch so sehr vornüberlehnen, im schwachen Licht der Straßenlampen gewöhnte sein Auge sich schwer an die Finsternis in dem gähnenden Loch, dennoch drangen Stimmen herauf. Er stützte sich mit seinen Handschuhen flach auf den Stein, beugte den Oberkörper über die Leere. Die Mauer fiel etwa zwölf Meter steil in die Tiefe. Da unten zankten sich zwei Menschen.

Zuweilen übertönte das Rollen von Rädern den Klang ihrer Worte, oder es näherten sich Passanten, um zu sehen, was dieser Mann da beobachtete. Dann ging Philippe ein paar Schritte, wartete, bis er wieder allein war, machte kehrt.

Diesmal stieg er die Treppe hinunter bis zum ersten Absatz, wagte sich aber nicht weiter vor. Sein riesiger Schatten, lang und gerade, fiel auf das gegenüberliegende Haus und verriet ihn. Vorsichtig trat er zurück, ging wieder hoch zum Boulevard und bezog seinen Posten an der Brüstung. Dort konnte er etwas hören, sah aber nichts. Weiter unten, ohne dass er wusste warum, hörte er gar nichts, doch die Furcht, dass man ihn entdeckte, hinderte ihn am Sehen.

Es waren ein Mann und eine Frau. Wahrscheinlich standen sie dort im Eck zwischen dem Fundament der Treppe und der Abschlussmauer am Ende der Sackgasse. Plötzlich wurde die Männerstimme laut; sie wiederholte mehrmals denselben Satz, und schwieg. Einen Augenblick später gingen die beiden los.

Philippe rührte sich nicht. Er sah sie langsam heraustreten aus dem Dunkel. Der Mann war klein, aber stämmig und tastete im Gehen nach der Wand; die Frau, noch kleiner, humpelte hinterher. Beide entfernten sich schweigend, als störe das Licht alle Worte und erzwinge einen Waffenstillstand in ihrem Streit; sie liefen Richtung Seine.

Zuerst wäre Philippe ihnen fast gefolgt, doch er besann sich beim Blick auf die Uhr. Das alles hatte keinen Sinn. So, die Ellbogen auf dem steinernen Rand, beobachtete er das Paar, das jetzt auf dem Gehsteig davontrottete, dann mitten auf der Straße. Der Mann, offenbar von Wein benebelt, zögerte häufig, blieb stehen; die Frau blieb dann ebenfalls stehen, in ängstlichem Gehorsam; eine große schwarze Tasche zog an ihrem Arm, sie hielt sich deshalb etwas krumm, die Hüfte eingeknickt. Sie wartete, dass der Mann sein Gleichgewicht wiederfand, dann ging sie weiter.

Philippe ließ die zwei nicht aus dem Auge, bis sie herum waren um die Straßenecke, vor einem kleinen Café, dessen Licht sie zu verschlucken schien. Jetzt war die Straße leer. Kein Mensch wählte diesen mühsamen Weg, um von der Seine hinaufzusteigen bis Passy. Das Straßenpflaster glänzte wie nach Regen; die großen schwarzen Häuserblocks links und rechts reckten ihre bedrohlichen Fassaden hoch in den blinden Himmel. Ganz am Ende, jenseits vom Quai, wo die Platanen dastanden wie Wächter über die Nacht, erblickte man das Wasser.

Ein paar Minuten verharrte Philippe unschlüssig, dann lief er schnell die Treppe hinab, und da er kaum riskierte, dass jemand ihn sah, rannte er sogar, fand es dabei selbst ein bisschen lächerlich, doch als er hinaustrat auf die große Avenue, war sie ganz verlassen. Enttäuscht zuckte er die Achseln. Hundert Mal am Tag berühren andere Leben das unsere, erfüllt von einem verstörenden Mysterium, über das sie nichts preisgeben. Besser man kümmerte sich um sein eigenes Schicksal, so reich an Rätseln, so schwerbepackt mit Geheimnissen, dass es mehr als genug war für eine beklemmende Unruhe. Diese Vorstellung kam Philippe unwillkürlich beim Gedanken an dieses banale Paar, das ihn eben noch gefesselt hatte. Was gingen sie ihn an, diese Leute? Eine schöne Seele hätte sich ihnen auf die Spur gesetzt, wie auf die einer Beute, sie verfolgt bis zu ihrer Behausung, hätte die Adresse notiert, für eine »wohltätige Stiftung«, doch in Philippe weckte der Anblick des Elends seltsame Anfälle von Scham, etwas wie Erstarrung. Er ging dennoch auf die andere Seite der Avenue, beugte seine große Gestalt vorsichtig über den Steinsims, unter dem der Hafen lag, sah niemanden. Plötzlich erhob sich ein scharfer Wind, blies Philippe den Straßenstaub ins Gesicht, sodass er sich schnell abwandte und die Augen schloss. In diesem Moment hörte er wieder die Stimmen.

Sie kamen vom Hafen, näher mit jeder Sekunde, doch Philippe streckte sich vergeblich: Er erkannte nichts in der schwarzen Finsternis über dem verborgenen Flussufer; als sie dann schließlich direkt unter der Stelle waren, wo er stand, begriff er, der Mann und die Frau bewegten sich ganz dicht an der Mauer. Der Gedanke, sie anzusprechen, kam ihm von neuem, und diesmal mit größerem Nachdruck; er wischte ihn beiseite. Der einsame und schlecht beleuchtete Hafen war unheimlich. Nach dem Klang seiner Worte war der Mann außer sich, die Frau sagte fast nichts. Philippe beschloss, ihnen oben auf dem Quai zu folgen, also unsichtbar, und einen Polizisten zu rufen, falls die Sache kritisch wurde.

An dem Métroviadukt Passy lösten sie sich von der Mauer, kamen nach vorne unter den Brückenbogen, und jetzt sah er sie für ein paar Sekunden. Der Mann trug die Kleidung der Straßenarbeiter, und trotz des vom Alter gebeugten Kreuzes wirkte er kräftig. Es war ein ganz gewöhnlicher Ehestreit, doch der Mann war betrunken, und die Frau fürchtete offenbar, er stoße sie gleich hinab in die Seine; so drückte sie sich an die Wand, und gewiss zitterte sie, ob sie es noch schaffen würde bis an die Treppe, hoch zum Quai. Als das Paar auf der anderen Seite des Viadukts wieder herauskam, hatte sie das Tuch heruntergerissen, das sie um den Kopf trug, und jetzt zeigte sie ein weißes Gesicht, verzerrt von Hass und Angst; die Kraft der beiden Gefühle nahm ihren Zügen die gewöhnliche Vulgarität und schenkte ihnen eine gewaltsame, fast theatralische Schönheit. Philippe erriet, gleich würde sie schreien, beugte sich vor, als strecke er sich nach dem Laut. In diesem Moment sah sie ihn. Der Mann packte ihren Arm, schüttelte sie und überhäufte sie mit Flüchen. Sie aber heftete den Blick immer weiter auf Philippe und rief: »Monsieur!«, mit einer rauhen und leisen Stimme, dass er erstarrte. Er blieb reglos; durch sein ganzes Wesen ging ein Zögern, das nicht länger dauerte als ein Herzschlag, ihm jedoch schien es endlos. Vielleicht hatte er sich vor dieser Minute noch niemals erkannt. Seine auf dem Stein liegenden Hände lösten sich plötzlich, und er trat zurück.

Zunächst machte er ein paar Schritte in Richtung Grenelle, dann besann er sich kurz und überquerte hastig die große, leere Avenue. In der Nähe der Rue Beethoven blieb er stehen, holte Luft und horchte. Die Nacht war still; man hörte kaum das Brummen der Autos, die vom Trocadéro hinunterfuhren zur Seine. Nachdem er zwei-, dreimal tief durchgeatmet hatte, folgte er wieder seinem Weg am Quai; er war fast um dieselbe Uhrzeit zu Hause wie sonst.

Er sagte Éliane nichts von dem Zwischenfall, obwohl er ihr sonst gewohnheitsmäßig bis in die Einzelheiten alle kleinen Ereignisse seines Tageslaufs schilderte. Niemand hörte ihm zu wie sie. An bestimmten Tonlagen erriet sie, dass er zu einem Bericht ansetzte, und geräuschlos rückte sie ihren Stuhl näher. Sie saß ein Stück abseits, die Hände im Schoß gefaltet, und war unübertrefflich in der Kunst, ihre Gegenwart vergessen zu machen, ohne dass der Erzähler den Eindruck bekam, er spreche ins Leere. Sie war eine Frau von über dreißig, klein und schmal, die im Verlangen, größer zu erscheinen, sich ganz besonders gerade hielt, eine ungeschickte Koketterie, denn mit etwas weniger Strenge hätte sie womöglich als schön gegolten, trotz ihres langsam welkenden Teints, eines gelben Halses und ziemlich hässlicher Ohren, die sie unvorsichtigerweise nicht versteckte. Dennoch, ihre Augen hätten noch schlimmere Mängel wettgemacht: mal grau, mal blau, wechselten die Schattierungen pausenlos, als folgten sie der ständigen Unruhe ihrer Gedanken. Ihr Blick ruhte auf Philippe mit jenem andächtigen Ausdruck, dessen Bedeutung selbst der argloseste Beobachter begriffen hätte. Sie lauschte bis zum letzten Wort den ödesten und manchmal sogar strapaziösen Geschichten, denn eine derart unterwürfige Aufmerksamkeit täuschte Philippe über die Interessantheit seiner Erzählungen, und er neigte zu grausamer Ausführlichkeit. An diesem Abend indes schwieg er während des Essens und versenkte sich anschließend in die Lektüre einer Kunstzeitschrift.

Zunächst hielt sie ihn für krank und strich mehrmals um ihn herum, unter dem Vorwand, sie suche ihr Nähkästchen; aus Angst, ihm zu missfallen, wagte sie jedoch keine Frage. Aufrecht, die Hände in den Hüften, stand sie dann da, als überprüfe sie den Inhalt einer Vitrine, aber nur, weil Philippes Profil sich in einer der Glasscheiben spiegelte. Er hatte den unschuldigen Ausdruck eines Menschen, den man unbemerkt beobachtet, und sie fand ihn noch umso schöner.

Diese Lust, die sie sich Abend für Abend stahl, verschaffte Éliane eine so heftige Erregung, dass ihr Herz nicht aufhörte zu klopfen, bis sie schließlich, denn ihr Schweigen wurde mit der Zeit verdächtig, den Beobachtungsposten verließ und zurückkehrte in ihren Sessel. Es war ihre größte Sorge, Philippe werde die Lampe zur Seite rücken und zerstöre damit die einzig vorteilhafte Beleuchtung. Die Annahme, er durchschaue womöglich ihren Trick, diesen Gedanken fasste ihr Geist einzig, um ihn gleich wieder zu verwerfen. Vorgebeugt zu der Vitrine wie die Provinzlerin zu ihrem Spion, kontemplierte diese Frau, die aus Angst, sich zu verraten, ihm nicht ins Gesicht zu sehen wagte, Philippe vor Liebe zitternd im Spiegel einer Glasscheibe.

Das Bild bot sich ihr mit vollkommener Deutlichkeit, vor dem strahlenden Hintergrund des Lampenschirms. Gewiss kannte sie seine Mängel; der unteren Gesichtshälfte fehlte es zum Beispiel an Energie: zu schwer, zu weich der Umriss des Kinns, und diese vollen, halbgeöffneten Lippen konnten weder befehlen noch begehren; ebenso verriet die winzige und kurze Nase wenig Charakter, und die flachen Nasenflügel atmeten kaum, doch weiter oben, zwischen den schwarzen Wimpern, funkelte manchmal ein Licht und belebte den klassischen Ernst seiner Züge. Dort war Leben, Kraft. Bei jedem Lidschlag glaubte Éliane das tiefe Dunkel dieser Pupillen zu erkennen, deren Blick sie kaum ertrug; und häufig öffnete sie, um besser zu sehen, die Glastür, drehte sie mit unendlicher Langsamkeit in den Angeln. Dann erschrak sie vor dem Gesicht, das ihr zu gehorchen schien und ihren Lippen bereitwillig näher kam.

An diesem Abend merkte sie nach einer Weile, dass Philippe nicht mehr umblätterte, und sie ärgerte sich über sein Schweigen. Sie nahm es einfach nicht hin, dass er ihr womöglich etwas verbarg, in seinem geheimen Innern Gedanken bewegte, die er nicht verriet. Ihr sklavisches Herz nährte in sich die Ungeduld eines Tyrannen. Philippe mochte sich so oder so beschäftigen, sie respektierte seine Lektüren, seine Arbeit, lauschte seinen langen Geschichten, doch beherrscht von der ständigen Angst, ihn zu verlieren, ertrug sie ihn weder müßig noch verträumt.

Mit dem Geschick einer alten Verliebten schaffte sie es, ihm die Bücher in die Hand zu spielen, die sie ausgewählt hatte, plante so für ihn einen Weg, auf dem sie ihm folgen konnte und von fern überwachen; doch kaum löste sich der Blick ihres Schwagers vom Text, irrte nach links oder rechts, wurde sie unruhig und versuchte mit kleinen Listen seine erlahmende Aufmerksamkeit von neuem zu fesseln. Ziemlich oft kippte dieses Spiel beinahe ins Drama, denn von der eigenen Nervosität befördert, unterstellte sie Philippes Zerstreutheit einen unheilvollen Sinn: Ihre Vorstellungskraft verirrte sich sofort im Allerfinstersten, und sie phantasierte zum Beispiel eine schreckliche Krankheit, die sein Gehirn blockierte, oder vermutete plötzlichen Hass, dessen Opfer sie war, einen Anfall von Melancholie, der ihn auf immer verjagen würde aus diesem Haus, schließlich irgendetwas Schauerliches, das sie beide trennen musste in alle Ewigkeit. Diese Gedanken überfielen sie stets gleichzeitig, raubten ihr den Atem und verschleierten ihre Augen mit einer Art Nebel. In solchen Momenten setzte sie sich hin und verharrte reglos, bis die Krise vorbei war. Philippe ging wieder an seine Lektüre, und allmählich beruhigte sich das arme Mädchen, doch von all der Verwirrung blieb ihr ein Groll, den sie sich nicht eingestand.

Schon beim Abendessen, voller Wut über ein Schweigen, das sie nicht zu brechen wagte, hatte sie, so gut es ging, einen jener stummen Zornausbrüche erstickt, welche die Seele verwüsten. Jetzt ertrug sie es nicht länger, diesem Mann zuzusehen, wie er sich ihr entzog und nachdachte, sozusagen ohne ihre Erlaubnis. Mit einer jähen Bewegung fegte sie über den Rand der Vitrine, stieß ein Buch und zwei Dosen herunter, die dort standen, eine schwächliche und schüchterne Rache, die ihn nicht einmal störte. Ein paar Minuten vergingen. Sie suchte im Kopf nach einem Satz, der banal war, aber Philippe möglichst seinen Abend verdarb.

»Ärgerlich«, sagte sie am Ende, »Henriette hat wieder mal ihre Schlüssel vergessen, du wirst aufstehen müssen und öffnen, wenn sie klingelt.«

»Gut«, sagte er und legte die Zeitschrift hin, »dann steh ich auf.«

Durch diese sehr sanft gesprochenen Worte war Éliane entwaffnet; sie wollte es nicht weitertreiben mit ihrem Sieg.

»Wenn ich’s recht überlege, Philippe, es ist gar nicht nötig. Ich schlafe nie vor eins, ich kann sehr gut aufmachen. Wenn du sie klingeln hörst, rühr dich nicht.«

»Wie du willst.«

Sie setzte sich neben ihn.

»Verstehst du, woher sie die Kraft zum Ausgehen nimmt, obwohl sie die vorigen Nächte so wenig geschlafen hat, Philippe?«

»Sie ruht sich den Tag über aus.«

»Heute war sie um sechs zu Hause, mit solchen Kopfschmerzen, dass sie die Augen nicht mehr offenhielt. Natürlich schluckt sie Aspirin. Sie nimmt viel zu viel, du musst es ihr sagen.«

Philippe seufzte.

»Éliane, lass uns heute Abend nicht von ihr sprechen, ich bitte dich sehr.«

Éliane biss sich auf die Lippen, eingeschüchtert von diesem Stirnrunzeln, an dem sie schuld war. Dennoch und trotz ihrer Furcht, Philippe zu missfallen, irgendetwas Unwiderstehliches drängte sie, von Henriette zu sprechen. Sie zwang sich zu einem Lächeln, wie um den schlechten Eindruck abzuschwächen, den ihre Worte gewiss hervorriefen.

»Ich hätte Henriettes Namen nicht erwähnt, hätte sie nicht ihren Schlüssel vergessen. Sie weckt dich fast jede Nacht. Sie macht sich nicht klar, du brauchst deine acht Stunden Schlaf. Es reicht ja, wenn man ihr ein Wort sagt, sie ist gutmütig.«

Der letzte Satz, auf den sie selber nicht gefasst war, versetzte sie in eine seltsame Rührung.

»Ja«, sagte sie mit einer Art Nachdruck, »sie ist gutmütig. Mama hat sie verwöhnt, aber sie hat ein Herz, hat gute Seiten. Gestern hat sie etwas gespendet, an eine wohltätige Stiftung.«

»Ist das Haushaltsbuch in Ordnung?«

Éliane antwortete nicht. Das Buch, sie wusste es genau, war nicht in Ordnung. Trotzdem stand sie auf, ging durch das Zimmer und holte es aus einem Sekretär; als sie die kleine Schublade öffnete, hatte sie plötzlich Lust, sie wieder zuzuschieben und ihrem Schwager zu sagen, selbstverständlich sei das Buch in Ordnung. Philippe vertraute ihr immer, und so wäre die Sache erledigt. Doch sie verwarf diese großzügige Absicht. »Er legt nun mal Wert drauf«, dachte sie bei sich.

»Voilà«, sagte sie laut und setzte sich wieder an ihren Platz.

Und dann, mit der Natürlichkeit einer schlechten Schauspielerin:

»Na sowas, nein, es ist nicht in Ordnung.«

»Wie bitte? Gib mir das Buch. Stimmt. Was denkt sie sich bloß? Die Seite ist leer.«

»Und der letzte Tag auch, und Dienstag, und Montag.«

Sie beugte sich über seine Schulter, blätterte mit eifriger Miene, und ihr herrisches Profil hob sich ab vor Philippes gebräunter Wange. Plötzlich krallte sie die Finger um das Buch, wie um es zu zerreißen, und zog es mit einer raschen Bewegung wortlos an sich.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte er.

Sie wandte sich ab, das Heft gepackt mit der Faust.

»Nichts«, antwortete sie endlich. »Henriette ist ein Kind. Von jetzt an kümmere ich mich um die Abrechnung.«

»Wie du willst.«

Er streckte die Hand nach der Zeitschrift, die auf dem Tischchen lag, und tat, als ob er las. Er hörte ihren Schritt, fast ihren Atem, doch er schwieg, in der Hoffnung, sie zu entmutigen, zu verscheuchen. Bleich und mit dunklen Augenringen stand sie eine Weile neben ihm, lauerte auf die Bewegung oder den Blick, der ihr erlaubte, ein Wort zu sagen, aber Philippe rührte sich nicht. Nach ein paar Minuten wünschte sie ihm gute Nacht und ging.

Zufrieden sah er, wie die Tür sich hinter ihr schloss. Noch eine Minute, und er hätte ihr tatsächlich alles erzählt, besiegt von dieser unterwürfigen und tyrannischen Ausdauer. Vielleicht hätte es ihn erleichtert, später jedoch wäre er ihr böse gewesen, als hätte sie ihn ertappen wollen bei einem Geheimnis. Mit ihrer Sanftmut, ihrer nahezu respektvollen Art, auch seinen belanglosesten Äußerungen zu lauschen, zwang Éliane ihn häufig, mehr zu reden, als er wollte, und tausend Kleinigkeiten zu verraten, die er lieber bei sich behielt. Ohne zu drängen und nur durch die unschuldigsten Fragen brachte sie diesen vorsichtigen, sogar misstrauischen Mann zu Indiskretionen in ihrer allergewöhnlichsten Form, als Vertraulichkeit. Sie kam zu ihm, wann immer sie wollte, unauffällig, verschwand, kaum spürte sie bei ihrem Schwager etwas wie Ärger, dass er nicht alleine war, und Minute um Minute genoss sie gierig die Zeit, die er zu Hause verbrachte.

An diesem Abend jedoch, so schien ihm, war er grob gewesen. Jeden Tag, gleich Weihrauch in den Nüstern eines Gottes, stieg diese Liebe zu ihm auf, geduldig, treu. Warum wurde sie ihm langweilig? Weniger egoistisch, hätte er aus Mitleid die Hand dieser Frau gehalten, die nichts verlangte und, so gut es ging, eine Leidenschaft verbarg, die sie für ein Geheimnis hielt. Sicher war sie eifersüchtig, eine Eifersucht, die aus jedem ihrer Blicke blitzte, und so war es seit vielen Jahren, und allein dank einer jener nützlichen Konventionen, aus denen das bürgerliche Leben besteht, verlor darüber niemand auch nur das kleinste Wort. Viele Situationen werden erst dann gefährlich, wenn man über sie spricht. Drei oder vier Personen leben gemeinsam unter demselben Dach, müssten sich aber vielleicht noch im selben Augenblick trennen, wenn eines Tages ein ungeschicktes Gespräch Dinge ans Licht zerrt, die sie bis dahin klug verschwiegen; sie hätten dabei nicht einmal die Genugtuung, irgendetwas übereinander erfahren zu haben, denn sie hatten bereits alles gewusst; und ein paar unvorsichtige Worte treiben sie jetzt auseinander.

Er seufzte; manchmal hatte er Lust sie auszusprechen, diese Worte. Ihn packte Zerstörungsdrang, der Drang, sich selbst zu schaden. Seit einem Augenblick stand er vor dem großen, überm Kamin hängenden Spiegel und musterte sich ohne Nachsicht. An besseren Tagen schmeichelte er seiner Eitelkeit mit dem geraden Körper und den kräftigen Schultern.

Auch jetzt widerstand er nicht der eitlen Lust, Hände in die Hüften gestemmt und mit zurückgeworfenem Kopf, sein Profil zu betrachten. Wie oft hatte man ihm schon gesagt, er sei gut gebaut! Er erinnerte sich, in seiner frühen Jugend führte er im Geist spaßeshalber eine Liste der Personen, die ihm Komplimente machten für seine gute Gesichtsfarbe: zunächst seine Mutter, dann eine Schwester, die er bald verlor, ein kleiner Schneider in der Rue Réaumur und später Éliane, aber Élianes Schmeicheleien zählten nicht, denn sie waren unzählbar. Als hätte er keine andren Sorgen! Seit letzter Woche war er einunddreißig. Was nützte ihm diese Kraft, sein ganzer Stolz? Es war nicht einmal seine eigene, er hatte niemals etwas dafür getan, hatte sie geerbt von einem kräftigen Vater, und nun lebte er, der Sohn, eine weichliche und überflüssige Existenz in dem Pariser Appartement, wo man nur schlecht Luft bekam, wo das Licht geizig ein paar schiefe Strahlen warf, für dreißig Minuten kurz vor dem Mittagessen.

Im allgemeinen quälten ihn solche Gedanken kaum. Von einfacher und eher träger Natur, fand er ein bisschen Energie allein, um alles von sich fernzuhalten, was seine Laune trüben konnte, doch heute Abend gelang ihm das nicht. Er schloss die Knöpfe seiner Jacke und strich sich das Haar glatt, doch ihm war vollkommen bewusst, diese Handgriffe bedeuteten gar nichts; vor allem das Glattstreichen des Haars schien ihm absurd, seiner unwürdig, es scherte ihn nicht im mindesten, ob sein Haar ordentlich war oder nicht, aber offenbar hoffte er sich selbst zu täuschen durch diese Vorspiegelung von allergrößter Ruhe. Aus dem gleichen Grund betrachtete er jetzt prüfend eine Terrakottafigur, die, zwischen zwei opalenen Vasen, den Kamin zierte. Es war die Kopie einer Badenden von Dalou; sitzend und den Kopf geneigt, beugte sie sich vor und trocknete die Füße, und ihr Arm ruhte längs des Beins, als wollte sie die Linien beider Glieder vergleichen. Nie sah er sie ohne den Gedanken an die Fürsorge, welche seine Mutter ihr einst gewidmet hatte; es war ein Geschenk ihres Vaters, am Tage der Hochzeit; zwar hielt sie dieses nackte Mädchen insgeheim für schamlos, doch umgab sie es mit einem eifersüchtigen und abergläubischen Kult. Betrat sie das Zimmer, galt ihr erster Blick dieser Badenden. Philippe hatte seine Mutter kaum gekannt, doch er erinnerte sich mühelos an den ebenso furchtsamen wie harten Ausdruck, mit dem sie ihr Gesicht dem Kamin zuwandte; er sah noch immer diese kleine Frau mit den farblosen Augen, den eingefallenen Wangen, die mit ihren geäderten Händen das schwere Kunstwerk zurechtrückte. Da sie klein war, musste sie die Arme recken, um es zu berühren, und in dieser Haltung glich sie einer Flehenden vor dem Altar. Die Erinnerung war ihm unangenehm; ihm schien, als sei es der Wachsamkeit und den Ängsten seiner Mutter gelungen, etwas einzuschließen in diesen Block aus Ton, etwas Mysteriöses und Unzerstörbares.

Er ging zurück in den kleinen Salon und betrachtete einen Augenblick die Bücherschränke und in ihren Glasscheiben den spiegelnden Glanz des Feuers. Ein großer, buntgemusterter Teppich und Vorhänge aus schwerer Seide verliehen dem Zimmer einen Ausdruck von Wohlstand. Neben dem kleinen Tisch auf Mahagonisäulen erwartete ein mit graubraunem Samt überzogener Lehnstuhl, dass er seine Lektüre wiederaufnahm; das Buch lag da, unter der Lampe. Er schaute von einem Eck ins andere, mit müdem, fast feindlichem Blick. Nichts war hier, was von anderem sprach als von Geschmack, Überlegung und Sicherheit, vor allem von Sicherheit, von einer moralischen Sicherheit, die ihr materielles Abbild in den fest zugezogenen Vorhängen hatte. Von der Kopie eines Poussin bis zum dünnen und zerbrechlichen Papiermesser aus Elfenbein bot alles den Augen ein Beispiel verstörender Vollkommenheit. Er spürte es undeutlich, fand nicht die richtigen Worte. Seit seiner Hochzeit war von nichts anderem die Rede als von diesen hübschen Dingen rundum, von im Lauf der Jahrhunderte verblichenen Stoffen, von seltenem Porzellan, von namentlich gezeichneten Möbelstücken. Éliane hatte all das geschaffen. Und plötzlich verwandelten sich die leichten Schattierungen von Samt und Seide in schreiende Farben, die seine Augen schmerzten. Er riss mit einer heftigen Bewegung die Vorhänge auseinander und öffnete das Fenster. Wie üblich lagen zu viele Holzscheite im Feuer, und er erstickte in diesem kleinen Salon, wo er nach Élianes Willen all seine Abende verbringen sollte.

Draußen schien die Nacht aus den Tiefen des Himmels herabzufluten wie ein großer dunkler Fluss. Er spürte die frische Luft an beiden Seiten seines Gesichts vorbeistreichen, so wie eine Strömung sich teilt an einem Stein. In der tiefen Stille hörte er jetzt das Rauschen der breiten Blätter, um die der Wind mit dem Geäst der Platanen stritt. Sie verbreiteten den scharfen Geruch von pflanzlichem Tod und rieben sich aneinander wie trockene Handflächen. Er horchte auf dies Scheuern, das von Baum zu Baum lief, vom Trocadéro bis zur Seine. Als er jünger war, liebte er dieses Geräusch, diese Unruhe; heute presste es ihm aufs Herz. Es glänzte kein einziger Stern. Er hob die Augen, und bald sah er, tief in dem finsteren Gewölbe, die weite Feuersbrunst, die sich jeden Abend über Paris erhebt und es umstrahlt mit rotem Flammenschein.

Élianes Zimmer wurde nachts seltsam erhellt durch die Leuchtreklame auf einem Nachbarhaus. Große gelbe Buchstaben, die im Minutentakt aus- und wieder angingen, priesen die Verdienste einer Schuhfirma. Selbst zu später Stunde, wenn der Straßenlärm verstummt, fiel immer wieder ein Lichtschweif durch die Vorhangspalten bis auf den Bettvorleger, und Éliane öffnete gezwungenermaßen die Augen. Sie sagte sich: »Ich versuche jetzt in den zehn Sekunden Finsternis einzuschlafen.« Und gerade als sie spürte, wie sie hinabstürzte in den Schlaf, holte dieser lebhafte und grelle Schein sie zurück zu sich selbst, gleich einer Fanfare. »Dem Hausverwalter schreiben«, dachte sie, »warum nicht?« Doch eine andere, etwas fernere Stimme antwortete dann: »Wenn du dich beschwerst, holen sie die Leuchtschrift runter. Du schadest diesen Leuten.« — »Schadest diesen Leuten«, murmelte Éliane. »Na gut. Ich werd mich dran gewöhnen.«

An diesem Abend jedoch konnte von Schlaf keine Rede sein vor Henriettes Heimkehr. Gerade schlug es zehn. Sie warf eine Schaufelvoll Kohle ins Feuer, stocherte mit dem Schürhaken zwischen den Stäben des Gitterrosts, bis die Asche herabfiel; kleine blütenförmige Flammen züngelten zwischen den Eierbriketts; sie tanzten eine Minute unter Élianes aufmerksamem Blick, dann verschmolzen sie plötzlich zu einer Art Strauß von schwerem grünlichen Rauch. Sie legte den Schürhaken weg und begann sich auszuziehen. Ihr schwarzes Seidenkleid glitt langsam bis auf die Füße. Wie kurz zuvor Philippe musterte sie sich streng im Spiegel, mit dem zur Hälfte ehrlichen Verlangen, sich zu sehen, wie sie war. Der Feuerschein belebte ihren Teint auf unangenehme Weise. Sie löschte das Licht und betrachtete sich von neuem. Zuerst sah sie nichts. Dann, im rötlichen, vom Feuer herüberfallenden Schimmer, unterschied sie die Form ihrer Beine, vom Spiegel zweigeteilt, ihren Oberkörper, etwas zu flach, wie sie sich auch streckte für etwas mehr Rundung, schließlich das Gesicht, von dem sie kaum mehr erkannte als Augen und Mund. »Wäre ich jünger und sehr hübsch«, dachte sie, »würde mir der Spiegel auch nichts anderes zeigen als was ich jetzt sehe.«

In diesem Augenblick warf die Leuchtreklame ihren gelben Strahl in das Zimmer und riss von Élianes Gesicht den Schatten, der sie beschützte wie eine Maske; sofort erschien ihr welkes Fleisch, die zahllosen Fältchen um Augen und Lippe. Mit einem Ausdruck der Verzweiflung hob sie die Brauen, und seufzend machte sie Licht.

Ein paar Minuten später saß sie auf einem Plüschkissen vor dem Feuer, das sie nicht aus den Augen ließ. Die Lampe hatte sie wieder ausgemacht, doch um nicht der Versuchung des Schlafs zu erliegen, hatte sie die Vorhänge etwas geöffnet, und jedes Mal brachte die Leuchtreklame sie wieder zu sich, wenn ihr der Kopf leicht vornübersank. Die Sekunden der Finsternis schienen ihr köstlich, denn hier konnte sie sich verstecken, und im Schwarz verflog die Traurigkeit, dass sie nicht mehr jung war. Vor ihren halbgeschlossenen Augen glühte der Rost mit seiner feurigen Kohlenlast wie eine Schatulle voll monströser Brillanten. Das Gesumm der Flammen lullte sie unwiderstehlich ein. Sie war ganz benommen von der Wärme und schlug mit großer Anstrengung ihren blassblauen Hausmantel auseinander, zeigte ihren Körper den heißen Strahlen des Feuers. In solchen Augenblicken wurde das physische Wohlgefühl fast eins mit dem Glück der Seele. Zu erschöpft zum Nachdenken, überließ sie sich dem einfachen Behagen, es warm zu haben, in einem ruhigen Zimmer, unter einem Dach mit ihrem Schwager.

Das Licht der Reklame traf sie wie ein gewaltsamer Dolchstoß. Sie rieb sich die Augen, schaute auf die kleine silberne Uhr am Handgelenk, doch die Zeiger hatten sich kaum gerührt. Um nicht wieder zurückzusinken in ihre Betäubung, richtete sie ihre Aufmerksamkeit jetzt bewusst auf die Gegenstände rundum, auf den grauen Marmorkamin, den sie so liebte, die beiden Sessel aus Zitronenholz, bezogen mit schwarzem Rosshaar, den afrikanischen Teppich in den Farben von Sand und Erde. Doch im grellen und harten Licht der Reklame wirkte nichts davon schön, nichts kostbar. Im Gegenteil, alles war jetzt fad und mittelmäßig, wurde mit einem Schlag immer hässlicher. Viele Frauen kannten die tiefste Freude in schäbigen Behausungen, ausgeschlagen mit Rips und dekoriert mit Fotografien. Sie senkte den Kopf. Trotz allem, es war doch etwas, dass sie mit ihm leben konnte, jeden Tag mit ihm reden, sich einmischen in sein Leben. In diesem Augenblick legte er sich wahrscheinlich ins Bett. Er blieb nie bis spät im Salon. Vielleicht schlief er schon.

Das Licht ging an und aus, ohne Pause; es wirkte fast wie ein großes gelbes Auge, das Éliane beobachtete, das tat, als ob es schlummere, plötzlich wieder aufklappte, um sie zu überrumpeln. Sie folgte diesem Gedanken mehrere Minuten, mit vernebeltem Hirn, und spürte nicht einmal, wie sie hinüberglitt in den Schlaf. Die Müdigkeit streckte sie sanft zu Boden.

Er verließ das Haus. Die Avenue war leer. Als er den Reitweg überquerte, wirbelten Staub und von Böen aufgewehtes Laub um ihn herum. Er ging schnell und wandte sich zuerst in Richtung der Place de l’Alma, dann überlegte er plötzlich und kehrte um in die Gegenrichtung. Links von ihm bildete ein niedriges, mit Buschwerk gekröntes Mäuerchen eine Art Brüstung. Einen Augenblick lang stützte er sich auf, an einer Stelle, wo die Stämme des Gebüschs weiter auseinanderstanden. Die Caserne de la Manutention gerade vor ihm, nach mehreren Feuersbrünsten verfallend, erhob ihre nackte, von hohen Fenstern ohne Läden durchbrochene Fassade. An der Nordseite zeigte sich im ziegellosen Dach das Holzgerippe vor einem Himmel von unheimlichem Rosarot. Ganz unten warfen die im Winde flackernden Laternen schwankende Lichtbündel über das braune Mauerwerk, wo die Regengüsse eines halben Jahrhunderts ihre Spur hinterlassen hatten. Im Herzen eines reichen und stolzen Viertels trug dieses Bauwerk schamlos ein Elend zur Schau, das zu verhüllen auch den großen Bäumen nicht gelang. Dennoch, die von lumpengleichem Schmutz starrenden Mauern kleideten sich heute Abend in eine anrüchige und verbrecherische Schönheit. Hundert Meter weiter, über der langen, zum Quai hinabführenden Treppe, blieb Philippe stehen und betrachtete die Kaserne genauer. Von der Stelle, wo er stand, sah er sie besser, obwohl die Dunkelheit ihm einen Teil verbarg, denn der Schein der Laternen erreichte nur den ersten Stock, und das Auge erkannte kaum den Dachfirst; die Nacht verschluckte den Rest. So hatte er sie oft schon gesehen, doch vertraute Landschaften verwandeln sich zuweilen ohne ersichtlichen Grund, sogar in den Augen derer, die sie am besten kennen. Ein zufälliger Gedanke entspringt in irgendeiner Sekunde einem unruhigen Hirn, und plötzlich bilden sich seltsame Zusammenhänge zwischen dem Menschen und einer Welt, die scheinbar nichts von ihm weiß.

Das menschliche Bewusstsein erstreckt sich auf alles, was es umgibt; der Wind erahnt und die Steine spähen. Er verharrte einen Augenblick, die Hand auf dem Treppengeländer, angezogen von der kleinen geraden Straße am Rand der Kaserne. Sie erschien ihm fern wie in einem bösen Traum; am Fuß der hundert Stufen, die man hinabsteigen musste, wirkten die Pflastersteine wie feinste Kiesel, sorgfältig angeordnet zwischen den winzigen Gehsteigen. Zwei hohe Platanen ragten auf, wo die Straße den Quai erreicht; wurde der Wind stärker, dann neigten sie sich leicht, in Gegenrichtung, als wollten sie den Bäumen der Avenue eine Antwort geben, doch wirkten sie kaum so hoch wie ein Finger. Allein der Fluss, der für Philippe unsichtbar blieb, hatte noch die Proportionen, die er auch in seinem Geiste besaß. Ein Stück unterhalb der kleinen Straße, verborgen hinter der Hafenmauer, rollte die Seine ihre Wellen, wie einer geheime Gedanken wälzt. Zu ihr ging er jetzt.

Erst lief er am Quai entlang, die Hände in den Manteltaschen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, dann, gestützt auf die Brüstung, beugte er sich etwas vor und betrachtete den Hafen. So ging er bis zum Pont d’Iéna. Ein Polizist machte ein paar Schritte auf der Brücke, kam dann zurück bis an den Sockel einer der Statuen. Dort wartete er ein paar Sekunden, schaute über die Avenue, den Trocadéro, drehte auf dem Absatz um und begann von neuem seine Runde. »Ich werd ihn fragen«, sagte Philippe zu sich selbst. Und fügte innerlich sofort hinzu: »Bah! Ich hab Zeit! Ich habe die ganze Nacht!«

Die ganze Nacht. Ihm schien es, als werfe er beim Denken dieser Worte irgendwem eine Herausforderung hin. Um diese Uhrzeit war hier niemand unterwegs, der das nicht musste, denn das Wetter verlockte kaum zu Spaziergängen. Der sternlose Himmel, der durch die Finsternis strömende Fluss und darüber, auf dem Marmorsockel, dieser blinde Krieger, sein Pferd führend wie im Traum, alles bildete eine Kulisse, in die er nicht hineingehörte. Diese Dinge wollten ihn nicht. Es gab andere Stadtteile, da wäre er in seinen gutgeschnittenen Anzügen besser aufgehoben, hellerleuchtete Cafés, wo er sich hinsetzen konnte, hier jedoch, in Kälte und Wind, im zweifelhaften Licht der Laternen, hier bekam das Leben ein feindliches und gewalttätiges Gesicht, das er nicht kannte.

In allen großen Städten gibt es Zonen, die entfalten ihr wahres Bild erst im Halbdunkel. Am Tage bleiben sie versteckt, tragen ein banales und gutmütiges Gesicht und verkleiden sich für die Augen von jedermann. Es reichen vier Arbeiter, die, Schaufeln in der Hand, an einem Sandhaufen werkeln, oder eine hübsch gekleidete Frau, die einem kleinen Kind die Seine zeigt; nichts ehrbarer als dieser Quai, diese Böschung oder dieser leere Hafen; im Abenddämmer jedoch erwacht derselbe Ort zu einem Leben, das aussieht wie die Parodie des Todes. Was heiter war, wird fahl, was schwarz war, erbleicht und strahlt in düsterem Glanz, voll Freude, endlich zu existieren. Das Gaslicht bewirkt die Verwandlung. Beim ersten Strahl dieser Sonne schmückt sich die nächtliche Landschaft mit all ihren Schatten, und die Materie beginnt eine unheimliche und wunderbare Häutung. Der glatte und sinnliche Stamm der Platanen scheint plötzlich wie aus leprösem Stein, das Pflaster dagegen imitiert den Farbton und die reiche Marmorierung von ertrunkenem Fleisch; das Wasser selbst bedeckt sich mit allerlei metallischem Schimmer; kein Ding, das jetzt nicht den gewohnten, vom Tage verliehenen Anblick von sich wirft, ein Aussehen annimmt, in dem es kein Leben mehr gibt. Diese fremde Natur, die weder atmet noch wächst, in der aber alles zuckt und grimassiert, gleicht einer Bühne, die ewig bereitsteht für eine heimliche Tat; mit ihren traurigen Lichtern, vom Wind zu Boden gedrückt und zerstreut, ihren Ratten, ihrem Todesgeruch über den Wassern, ihrem Schweigen ist sie die Freundin des Diebs, der seine Beute mustert, und schützt die bescheidenen Laster der Armen.

Er hörte, die Uhr am Eiffelturm schlug elf, ging an der Brücke vorüber und dann weiter auf dem Weg nach Passy. Ein paar Autos fuhren in beide Richtungen so schnell vorbei, als wäre ihnen ganz gleich welcher Teil von Paris lieber als dieser hier. Der Park vor dem Trocadéro war nur eine riesige Masse, und über ihm reckte das Palais seine phallischen Türme. Auf der anderen Seite des Flusses verriet eine glitzernd gepunktete Linie die Quais vor Grenelle, die Häuser jedoch waren schwarz. Er näherte sich dem großen Viadukt, das die Seine und ihre beiden Quais überspannt und auf der oberen Etage die Métro trägt. Ein Windstoß zwang ihn, den Kopf einzuziehen, und er drehte sich ein wenig seitwärts. Als er weiterging, fuhr gerade ein Zug dröhnend über den Fluss; er folgte ihm mit den Augen, und schon war da nichts mehr als eine winzige, in der Nacht ausgespannte Lichterkette. Und wieder gab es nichts als Windesrauschen in der Stille. Er ging schneller. Auf dem Gehsteig gegenüber kamen zwei Männer aus einem kleinen Café, stiegen langsam die Treppe hinauf nach Passy. Am Fuß der Brücke schien die Menschheit sich wiederzutreffen, glücklich über diese Begegnung in der trüben Einsamkeit der Quais. Große Häuserblocks von erhabener Hässlichkeit sprachen von Komfort und Sicherheit und hoben, die Simse auf Karyatiden gestützt, ihre gesegneten Stockwerke bis hinauf in den Himmel. Doch gleich danach herrschte von neuem Trostlosigkeit. Eine endlose, von Bäumen gekrönte Mauer zog sich dahin, so weit das Auge reichte.

Er verharrte einen Moment, sein Blick strich über diese Avenue, die noch leerer war und noch beunruhigender als die, aus der er kam. Hier, bei diesem Café und diesen hohen Häusern, endete das bürgerliche Paris. Jenseits, hinter dem großen, leeren Raum, versunken in der Nacht, begann eine andere Welt als die seine, eine fast unbekannte Welt. Nie ging er in diese entlegenen Viertel. Was hatte er dort zu suchen? Ein paar Sekunden stand er reglos. Zwischen den Platanen, schwankend über seinem Kopf, und der langen, niedrigen Mauer auf der gegenüberliegenden Seite der Avenue wirkte die grobgepflasterte Straße unter dem Laternenlicht riesig, schwarz und glitzernd, so wie ein zweiter Fluss, parallel zur Seine. Der Anblick hielt ihn gefesselt. Er erinnerte sich, als kleiner Junge war er mit seinem Kindermädchen hierhergekommen, und sie hatte ihm eingebläut, dass er seiner Mutter nichts davon sagte, denn Lina (so hieß die Frau) gab Grenelle und den widerwärtigsten Ecken des Champ-de-Mars den Vorzug vor dem artigen Rasen des Bois de Boulogne. Sie verließen Passy über eine kleine ländliche Straße, die Rue Berton, und erreichten den Quai ungefähr an der Stelle, wo er jetzt stand; von hier gingen sie über das Viadukt und mischten sich dann unter die Männer ohne Kragen und die Frauen mit offenem Haar, die sich um das Riesenrad drängelten. Schon in der Rue Berton stopfte Lina ihr weißes Schürzchen in die Handtasche, denn es war ihr peinlich, und danach bewegte sie sich etwas vorsichtig und die Spitzen der schwarzen Schuhe stolz nach außen gedreht. Sie hätte schön gelacht, hätte sie ihn sehen können in dieser Sekunde. Wenn sie allein mit ihm war, sprach sie in ihrem Dialekt aus dem Périgord und weigerte sich, das Gesagte zu übersetzen, doch man erriet gleich, dass sie sich lustig machte über das schweigsame Kind mit den schüchternen Augen.

Beim Lärm einer über das Viadukt rollenden Bahn schreckte er auf. Er ging weiter und blieb nicht mehr stehen bis zum Pont de Grenelle.

Er ließ den Hafen nicht aus dem Auge, und alle zehn oder fünfzehn Meter beugte er sich etwas über die Brüstung, aber er sah nichts. Die Idee, nach den Leuten zu suchen, war ihm beim Essen gekommen und ließ ihn den ganzen Abend nicht los. Und jetzt, am Quai, rekapitulierte er noch einmal den Weg, den diese Idee genommen hatte, und die Arbeit, bis sie Gestalt gewann. Zuerst erschien sie ihm so unsinnig, dass er sie leicht beiseiteschob. Das Gespräch mit Éliane half ihm. Obwohl er seiner Schwägerin ein wenig unwirsch geantwortet hatte, war er dankbar für die Ablenkung. In diesem ruhigen, schön erleuchteten Zimmer, zwischen seinen Büchern und seinen Möbeln, fand er endlich wieder zu sich selbst, und diese Stimme verwischte die Erinnerung an eine unangenehme Minute; sie sprach sanft, wie aus Furcht, ihn zu verletzen, sie sagte kluge und sinnvolle Kleinigkeiten, und die gaben der Welt von neuem ihren alltäglichen Anblick. Alles fand zurück zur gewohnten Ordnung und zum ruhigen Klang der Worte, die wirkten, als verzauberten sie die wüste Nacht und brächten den Wind zum Schweigen.

Vielleicht war es falsch, dass er Éliane die Szene vom Quai de Tokyo nicht erzählt hatte. Natürlich, zwei oder drei Einzelheiten müsste er auslassen und auch ein paar Gedanken, die ihm gekommen waren. Sie hätte zugehört, ruhig und aufmerksam, und dann hätte sie ein paar von den Bemerkungen gemacht, auf die er hoffte: »Die Polizei ist wirklich zu sorglos. Sie überwacht niemals die Seineufer. Du solltest woanders spazieren gehen«, usw. Falls sie nicht doch aufgesprungen wäre, um ihn empört zu unterbrechen: »Was! Die Frau ruft um Hilfe, und du läufst nicht hin?« Doch die Annahme war unwahrscheinlich. Éliane liebte ihn viel zu sehr, als dass sie ihn beschimpfte. Er spürte, er wurde etwas rot. Vorhin, da hatte er die Zeitschrift vom Tisch genommen und sich in den Lehnstuhl gesetzt. Sein Blick wanderte von Seite zu Seite, die Aufmerksamkeit kostete ihn Mühe. Illustrationen unterbrachen den Text, und er stürzte sich auf diese Bilder, die man leichter verstand als Worte, denn da musste man auf den Sinn achten. In Händen hielt er eine Zeitschrift über chinesische Kunst, die Éliane erwähnt hatte. Jetzt gerade ahnte er seine Schwägerin hinter sich, den Blick auf der Seite, die er umblätterte, und sie verkniff sich jedes Wort. Sie überwachte seine kleinste Bewegung, kleinste Andeutung eines Gedankens, denn auf alles war sie begierig. Er neigte nicht einmal den Kopf, ohne dass sie einen Schluss daraus zog, und sie verspürte Lust wie bei einem Sieg, wenn ihre Meinungen per Zufall sich trafen. In der Stille wurde sie tyrannisch; auch wenn sie sich hinten im Zimmer versteckte, auf Zehenspitzen ging, lautlos herumschlich, sie war da, vor ihm, neben ihm, sie befahl, sie kämpfte: »Diese Büste ist schön, schau sie dir an. Nein, weiter, das da nicht. Nein, das kann dir nicht gefallen, unmöglich.«

Ganz plötzlich kam ihm der Plan von eben wieder in den Sinn. Als ob es sich um chinesische Statuen drehte und was er von ihnen hielt! Das Lächerliche der Szene überfiel ihn mit Gewalt. Jemand rief um Hilfe, und er betrachtete Bilder. Am Flussufer kämpfte eine Frau um ihr Leben, falls sie es nicht schon verloren hatte. Ein Mann konnte ihr helfen, und dieser Mann blätterte in den Seiten einer Kunstzeitschrift, unter seiner Lampe. All das konnte nicht wahr sein. Wäre es wahr, säße er dann hier? Was er miterlebt hatte, war ein banaler Streit zwischen Betrunkenen, den seine Phantasie dramatisierte. Und außerdem, diese Frau hätte um Hilfe geschrien, bei unmittelbarer Gefahr. Sofort wären Polizisten gekommen.

Er blätterte zur nächsten Seite: Der Kopf eines Buddha fesselte seine Aufmerksamkeit; er lächelte mit einer Mischung von Güte und Ironie, die ihn überraschte und ihm gefiel; die gesenkten Lider gaben dem Gesicht einen vergeistigten Ausdruck, ähnlich den Heiligen in romanischen Kirchen; schaute man genauer, so lag in diesem Lächeln eher Gleichgültigkeit und beinahe Ekel. Wie hatten es langvergessene Handwerker vermocht, dem Stein Leben einzuhauchen und Gedanken? Wie vermochte eine Frau zu schreien, wenn Angst ihr die Kehle zuschnürte?

Éliane beobachtete ihn in der Scheibe des Bücherschranks; er kannte den Trick. War ihr nicht klar: Wenn sie ihn so anhimmelte, dann machte sie ihn in seinen eigenen Augen nur noch kleiner, und besonders jetzt, in diesem Augenblick der Ratlosigkeit. Aber nun war es sowieso zu spät für einen Spaziergang an den Quais. Was passieren sollte, war längst passiert. Tot oder lebendig, diese Frau, die seinen Weg gekreuzt hatte, war für ihn nicht mehr da. Ihm blieb nichts übrig, als das Leben dort fortzusetzen, wo er sie zurückgelassen hatte, und an den Rest nicht mehr zu denken. Seufzend blätterte er um.

Das Gespräch mit Éliane verschaffte ihm die schönste aller Ablenkungen. Gewohnheitsmäßig tat er, als wolle er von Henriette nicht reden, und demonstrierte schlechte Laune; innerlich jedoch segnete er die Gelegenheit, zurückzukehren zu den kleinen Sorgen des Alltags, zum ewig drohenden Streit mit Henriette.

Endlich allein, hatte er sich im Spiegel angeschaut, abwechselnd bewundert und verachtet. Warum ging Körperkraft nicht immer einher mit Mut? Oft hatte er sich die Frage gestellt, dachte dabei aber nie an sich selbst. Wozu also hatte ihm vorhin diese Statur genutzt, diese Schultern (er bog sie zurück und wölbte die Brust), dieser Eindruck von Stärke? Es reichte, dass er sich diesem Betrunkenen zeigte, und er hätte ihn ganz sicher eingeschüchtert. Warum hatte er es nicht getan?

Er murmelte: »Unglaublich!« und strich sich mit den Daumen über die Hüfte, als wolle er prüfen, ob der Anzug saß. Der gelassene Ton, in dem er das Wort aussprach, beruhigte ihn etwas. Mit einer gewohnten Bewegung hob er das Kinn, wandte den Kopf und musterte sich von der Seite mit strengerem Blick. Dieses aufmerksame Examen dauerte fast eine Minute und endete mit dem Zurechtrücken der Krawatte.

Von hinten warf ihm die große Lampe auf dem Tischchen eine Art Heiligenschein um Kopf und Schultern, betonte noch die kraftvollen Linien der Silhouette. Er schenkte seinem Bild ein langes Lächeln und gähnte. »Gehn wir ins Bett«, dachte er.

In dem Augenblick, als er wieder in die Mitte des Zimmers trat, um ein Buch zu holen, traf ihn etwas wie eine Erleuchtung, und er griff sich mit den Händen an den Kopf. Konnte das sein, hatte er noch nie diesen kleinen Salon betrachtet? Diese Möbel, diese Farben, warum erschien ihm all das plötzlich so abstoßend? Er hatte in diesem Zimmer doch Glück erlebt, Stille, Ruhe des Herzens, für lange Jahre.

Er glaubte zu ersticken, stürzte zu den Vorhängen, riss sie auseinander, öffnete das Fenster, dann die Fensterläden; in diesem Augenblick entschied er sich und ging aus dem Haus.

In Grenelle schlug er den Mantelkragen hoch. Ein Taxi, das von der Rue Rémusat herüberkam, fuhr langsam am Gehsteig entlang, als wolle es den eleganten Spaziergänger einladen, zurückzukehren in einen zivilisierteren Teil der Stadt. Der Wind ließ nach; Leute kamen über die Brücke und verloren sich in den Avenuen ringsum. Die meisten trugen eine Mütze, die Frauen einen Schal um den Kopf. Er überlegte einen Moment, griff nach seinem Hut, strich sich die Haare glatt und behielt ihn in der Hand. Eine kleine Gruppe Arbeiter kam auf ihn zu; sie redeten untereinander und sahen ihn nicht, doch kaum war er ihnen aufgefallen, herrschte sekundenlang Stille, und die Augen der Männer richteten sich auf ihn wie eine Waffe, mit der man zielt. Einer lächelte geradezu mörderisch. Er war jung und trug mit der tadellosen Eleganz des einfachen Volks einen Anzug aus schwarzem Samt und einen knallroten Gürtel. Philippe ging schneller und sah, wie die fünf oder sechs Arbeiter auf dem Gehsteig auseinandertraten und ihm den Vortritt ließen, mit ironischer Ehrerbietung. Er zog sein Taschentuch hervor, als wolle er sich schneuzen, damit er ihre Bemerkungen nicht hörte, doch der Jüngste entbot ihm einen Gruß und eine Grimasse, die er nicht übersehen konnte, und diese Frechheit trieb ihm das Blut ins Gesicht.

Warum bloß hatte er das Taxi nicht genommen! Jetzt hätte er sich zu gerne hineingerettet. Das Lachen hinter ihm nahm kein Ende, begrüßte, begleitete seine Flucht; tatsächlich rannte er fast, doch die Stimmen folgten ihm. Durch eine Willensanstrengung verschloss er sein Ohr vor allem, was sie sagten, und vernahm nur Laute ohne begreifbaren Sinn. Vorbeifahrende Lastwagen übertönten mit ihrem Gebrumm diese unverschämte Heiterkeit. Endlich war wieder ein großer Abstand zwischen ihm und den Spöttern, und er betrat die Brücke.

»Was hab ich nur?«, dachte er. »Ich darf mich nicht aufregen. Ich muss mich beherrschen, ruhig bleiben.« Das letzte Wort sagte er laut in das Gerumpel von einem Autobus, dem gerade ein zweiter entgegenkam, zwei Meter neben ihm; die Bremsen kreischten, dass es einem das Trommelfell zerriss. Er ging zur Brüstung und setzte sich den Hut wieder auf den Kopf. Ganz plötzlich drückte die Müdigkeit ihn nieder, eine Müdigkeit in Geist und Gliedern. Doch jetzt tat es ihm gut, der Stadt den Rücken zu kehren, dem Lärm, den Lichtern.

Die Seine dort unter ihm schien ein schwarzer Abgrund, tief wie der Ozean. Ein paar Minuten lang versank er in der Betrachtung dieser schweren und schweigenden Wasser. Im Dunkel erahnte er das Pochen der Wellen an den Brückenpfeilern, und etwas in ihm antwortete auf diesen ewigen Herzschlag des Flusses, etwas Stummes und Unausgesprochenes. In Augenblicken starker Erregung kam es ihm zu Bewusstsein. Ganz plötzlich fühlte er sich herausgerissen aus sich selbst, aus dem engen Rahmen eines vorsichtigen Lebens; ein Universum, das er für unveränderlich hielt, erschien ihm plötzlich als traurige, zerbrechliche Kulisse, gestützt und zugleich bedroht durch ihr Alter und ihre unvordenklichen Konventionen. Was tausend Jahre dauerte, das dauerte womöglich noch tausend Jahre. In tausend Jahren, so wie in dieser Nacht, stand auf einer über diesen Fluss gespannten Brücke vielleicht ein Mann, der sich selbst fast völlig fremd geworden war, hinausgelehnt über die rasche Strömung eines schwarzen Wassers, und der vielleicht Sehnsucht spürte nach einem ursprünglichen Zeitalter, als der Instinkt noch zum Herzen der Menschen sprach. Er seufzte. Das universelle Verblassen des Lebens wunderte ihn nicht mehr; für ihn war es eine gewohnte Vorstellung, dass die Kraft sich langsam zurückzieht aus allem, was der Mensch berührt. Alles, was kämpft, alles, was wächst in der blinden und verschwenderischen Natur, alles bringen unsere Hände sofort zur Vernunft. Hatte er es nicht selbst gelernt, nicht selbst jeden Schwung der Jugend in sich unterdrückt? Mit einunddreißig Jahren hatte die wachsame Kontrolle von Bewegungen und Gedanken aus ihm einen blassen und ruhigen Mann gemacht, der selbst bei unvernünftigen Handlungen jene halb skeptische, halb scharfsinnige Miene präsentierte, an der man die durchschnittlich gute Erziehung erkennt. Selbst wenn nichts seine Anwesenheit auf einer leeren Brücke gerechtfertigt hätte, spätnachts, bei schlechtem Wetter, so hätten doch seine Miene, der leicht schräge Hut auf seinem Kopf und sogar die sehr bewusst gekreuzten Arme auf der Brüstung, alles in seiner Person hätte den Vorwurf von Laune oder Spontaneität widerlegt. Ganz offensichtlich, er hatte etwas zu tun auf dieser Brücke; einen anderen Eindruck konnte er nicht machen. Die Lächerlichkeit, die er lebhaft spürte, quälte ihn einen Moment.

»Vielleicht war ich geboren, frei zu sein«, murmelte er, während er sich streckte; er sagte die Worte ohne eine genauere Vorstellung von ihrem Sinn; es war einer jener Gedanken, die einem durch den Kopf gehen wie ein Licht, das zu schwach ist, uns zu erleuchten, und so wird die Nacht nur noch undurchdringlicher. Wahrscheinlich hatte er kein einziges Mal als freier Mensch gehandelt. Wie alle Welt war er Sklave des Zufalls. Er seufzte noch einmal und entschied, einen Plan aufzugeben, der nur absurd war. Als er sich jedoch nach einem Taxi umsah, mit dem er nach Hause fahren konnte, sah er einen Polizisten am anderen Ende der Brücke. Nach kurzem Zögern ging er hinüber.

»Haben Sie jemand rufen gehört?«

»Wann denn?«

Diese simple Frage hatte Philippe nicht vorhergesehen, und sie war ihm so peinlich wie eine Anklage.

»Wann? Natürlich jetzt eben. Ich werde es Ihnen doch nicht drei Stunden später sagen.«

Er suchte dem misstrauischen Blick standzuhalten, der auf ihm lag. Der Mann war breit und stark unter der langen Pelerine, die seine Arme verbarg. Ein schwarzer Schnurrbart betonte durch den Kontrast den kindlichen Charakter seines runden Gesichts; die Augen bemühten sich um den Ausdruck von professioneller Strenge; man las darin mühelos die drängende Frage, ob er es nicht mit einem Witzbold zu tun hatte, und die wachsende Furcht, lächerlich zu wirken.

»Und wo, glauben Sie, wo haben Sie rufen gehört?«

»Da drüben.«

»Was heißt, da drüben? Sie zeigen ja aufs andere Ende der Brücke.«

»Da drüben war ich an die Brüstung gelehnt, so wie hier, und ich habe schreien gehört am Quai.«

»Schreien oder rufen? Einen Namen rufen?«

»Um Hilfe rufen.«

»Und wieso haben Sie dann nicht den Polizisten am Quai alarmiert, statt zu mir rüberzukommen? Er stand zwanzig Meter neben Ihnen.«

»Ich habe keinen Polizisten gesehen.«

Die letzte Antwort beruhigte den Beamten in Hinsicht auf seine womöglich gefährdete Würde; man machte sich nicht über ihn lustig; es handelte sich ganz einfach um einen Dummkopf.

»Ich frage mich, warum mein Kollege nichts gehört haben soll, wenn jemand ruft. Ganz abgesehen von den Passanten, an denen es hier durchaus nicht fehlt und die nicht taub sind. Keine Angst: Die Quais werden gut bewacht.«

Er lachte gutmütig und wandte sich ab. Philippe sah die armlose Silhouette davongehen, gewiegt von einem gleichmäßigen Schritt; nach ein paar Metern drehte der Polizist um und wiederholte den kurzen Weg in umgekehrter Richtung; seine Augen fixierten Philippe, schienen ihn dabei nicht zu sehen, doch tief in diesem aufrichtigen Blick arbeitete ein langsamer Gedanke. Einen Moment später sprachen die beiden Männer von neuem.

»Meiner Meinung nach irren Sie sich«, sagte der Polizist, »aber wenn Sie Spaß dran haben, erzählen Sie Ihre Geschichte doch dem Kollegen am Quai gegenüber. Er macht dann vielleicht einen Bericht.«

Philippe zuckte die Achseln.

»Sie hatten recht. Ich hab mich bestimmt getäuscht.«

Er ging zurück über die Brücke und schritt jetzt kräftig aus in Richtung Passy, nun etwas beruhigt. Die Quais wurden gut bewacht. Warum sich einmischen in die Angelegenheiten der Polizei?

Hätte die Frau geschrien, dann wäre sofort ein Polizist zu Hilfe gekommen. Aber konnte sie schreien? Absurde Frage. Eine Frau, die jemand ins Wasser wirft, hat immer die Kraft zu schreien. Außerdem, wenn die Frau tot war, dann war sie seit drei Stunden tot. Es war gegen jeden gesunden Menschenverstand, anzunehmen, sie wäre von halb acht bis Mitternacht den Hafen heruntergehumpelt. Entweder schlief sie jetzt zu Hause, oder ihr Körper trieb mit dem Wasser in Richtung Saint-Cloud, aber in beiden Fällen gab es nichts mehr zu tun.