Django macht sich auf den Weg - Wolfgang Mebs - E-Book

Django macht sich auf den Weg E-Book

Wolfgang Mebs

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Beschreibung

Reinhardt "Django" Winkler, 65, überzeugter Hedonist und selbsternannter Lebenskünstler, begibt sich auf eine Reise quer durch Deutschland auf den Spuren seiner Vergangenheit. Doch die erhoffte nostalgische Tournee wird zu einer Reise, die ihn tief in dunkle Kapitel deutscher Geschichte führt und nicht nur sein positives Selbstbild, sondern seine gesamte Identität fundamental infrage stellt. Eine Geschichte voller Humor, Tragik und Philosophie.

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Djangomacht sichauf den Weg

Wolfgang Mebs

Roman

Alle Rechte, insbesondere aufdigitale Vervielfältigung, vorbehalten.Keine Übernahme des Buchblocks in digitaleVerzeichnisse, keine analoge Kopieohne Zustimmung des Verlages.Das Buchcover darf zur Darstellung des Buchesunter Hinweis auf den Verlag jederzeit freiverwendet werden.Eine anderweitige Vervielfältigung desCoverbildes ist nur mit Zustimmungdes Verlages möglich.

Alle im Buch vorkommenden Personen, Schauplätze,Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden.Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oderEreignissen sind rein zufällig.

www.net-verlag.deErste Auflage 2022© Text: Wolfgang Mebs© net-Verlag, 09117 Chemnitz© Coverbild: PixabayCovergestaltung: net-Verlagprinted in the EUISBN 978-3-95720-365-6eISBN 978-3-95720-366-3

Gewidmet all denen,die sich in ihrem Lebennicht verlieren und –trotz aller Widrigkeiten –am Ende zufriedenzurückblicken.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Quellenangaben

Danksagung

Über den Autor

Kapitel 1

Aufbruch

Also, eines schon mal vorweg: Es ist nicht meine Schuld. Ich mein, dass ich euch hier einen über mein Leben erzähle. Das mit der Reise, das war meine Idee, aber es waren meine Freunde und vor allem mein Bruder, die mich überredet haben, alles auf- und damit quasi meine Biografie zu schreiben. Aber schreiben ist mir zu mühselig. Ich rede lieber. Habe ich schon immer getan. Außerdem wird heutzutage ohnehin weniger gelesen. Alles rennt doch nur noch mit einem Stöpsel im Ohr herum.

Freddy meinte, allein wegen all der vielen Reisen hätte ich eine Menge zu erzählen. Außerdem wären wir doch Teil der 68er-Generation. Was aber nicht so ganz stimmt, aber dazu später.

Ich gebe zu, es ist einiges geschehen in diesen 65 Jahren, aber so außergewöhnlich ist das ja nun auch nicht, und ich frage mich, was berichtens- und was erinnernswert ist, und ob ich mich wirklich an alles erinnern möchte. Und ob ich alles erzählen will; also ehrlich, das weiß ich auch noch nicht. Vielleicht ist manches ja auch einfach nur peinlich. Man macht und sagt ja, wenn man jung ist, auch manchen Blödsinn. Womöglich löst die Beschäftigung mit all diesen Jahren aber auch Erinnerungen aus, die mir gar nicht lieb sind, die Verschüttetes freilegen, das besser unter den mentalen Erdschichten der Verdrängung verborgen geblieben wäre, und plötzlich sitze ich heulend und jammernd und zähneklappernd da oder löse gar eine Psychose aus. Also, ihr tragt die Verantwortung, wenn ich in der Klapse lande.

Kleiner Scherz. Ich habe mich in dieser Hinsicht bisher schadlos durchs Leben geschlagen, jedenfalls mit nicht mehr mentalen Deformierungen als üblich, und davon abgesehen wüsste ich auch nicht, was ich Erschütterndes getan haben sollte. Ein echtes Wagnis ist das also nicht.

Aber vielleicht erst mal zu mir. Wie gesagt, 65 Jahre, gut erhalten, 1,80, schlank, aber nicht schlaksig, Schultern zum Anlehnen. Tiefe, grünbraune Augen, gutes Kinn, etwas zu große Nase, Ohren könnten eine Wenigkeit mehr anliegen, winzige Fehlstellung des rechten Fußes, die mich vor dem Wehrdienst bewahrt hat. 3-Tage-Bart, früher schwarze, wellige Haare, jetzt sind die Geheimratsecken am Hinterkopf zusammengewachsen und der Pferdeschwanz ist dünn und silbriggrau. Immer noch überzeugt ledig. U.a. diverser Student, Reisender, Roady, Zeitungsausträger, Kellner, Erntehelfer.

Aber ich und Autobiografie? Hab noch nie eine gelesen. Das sind doch bloß narzisstische Märchen von selbstberauschten Egomanen. Und wer heute so alles Biografien schreibt! Gerade 20 oder 30 und ein Furz in der Geschichte – schon muss eine Biografie her, die dann so authentisch ist wie Analogkäse. Und ich war nicht mal fünf Minuten lang berühmt, bin nicht mal Z-Promi und habe nichts bemerkenswert Weltbewegendes vollbracht.

Aber zum einen bin ich, ganz unbescheiden gesagt, schon eine denkwürdige Type und hab manch Kurioses erlebt, und zu sagen hab ich auch das eine oder andere. Bin jetzt schließlich 65.

Zum anderen gibt es da merkwürdige Dinge, die ich gerne klären würde, Fragen, die sich mir stellen, seit ich die Truhe im Keller wiederentdeckt habe. Die brachte mich zum Sinnieren, obwohl ich ehrlich gesagt eigentlich nicht sehr dazu neige. Jedenfalls habe ich bisher noch keine sonderlich philosophische Ader in mir entdeckt, und die ganzen existenzialistischen Diskussionen habe ich immer für ziemlich abgehoben gehalten und wenig nützlich, wovon mein Bruder ein garstig’ Lied singen kann. Aber wenn man erst mal in meinem Alter ist …

Jedenfalls habe ich mich deshalb entschlossen, doch ein paar mündliche Notizen zu machen, denn mittlerweile habe ich den Eindruck, dass ich in den nächsten Wochen viel nachzudenken habe, und Uwe hat wahrscheinlich doch recht, wenn er meint, dass man gezwungen ist, präziser zu sein, genauer, tiefer zu gehen, wenn man Dinge, die einem sonst nur flüchtig und verschwommen durchs Hirn huschen, wirklich in Worte fasst. Und immerhin geht es ja um mein Leben.

Was ist der Mensch? Diese Frage habe ich bisher so beantwortet: ein Tier, das leider irgendwann anfing zu denken. Und zwar: Ich bin der Größte. Ich bin die Krönung, aber nicht von Eduscho, sondern der ganzen Schöpfung. Und davon abgesehen ist der Mensch einfach ein Wesen, das frisst und kackt und sich vermehrt und Dinge erfindet, die seinen Lebensraum zerstören. So viel zur Krone der Schöpfung. In der Hinsicht ist jeder Grottenolm intelligenter.

Aber seit die Idee einmal in meinem Kopf ist, frage ich mich plötzlich: Und was ist mit dir? So als Mensch? Nicht nur das. Mir fallen alle möglichen Dinge wieder ein, oder ich erinnere mich an Leute, die ich früher kannte, und ich frage mich, was aus ihnen geworden ist und ob sie sich an Dinge erinnern, die ich vergessen habe. Und eh du dich versiehst, fragst du dich, ob es das alles wert war und was du denn eigentlich so gemacht hast aus deinem Leben, ob du Spuren hinterlassen hast – eine Frage, die für mich bisher völlig irrelevant war – und wenn welche? Vor allem als ich auf diese Kopie stieß.

Also habe ich beschlossen zurückzublicken. Weil man nicht ewig lebt, vielleicht irgendwann auch nicht mehr will, und dann ist es doch gut zu wissen, was war und wie es war. Wer weiß, vielleicht hat Uwe ja recht, und ich finde auf dieser Reise auch heraus, warum es so war und nicht anders und ob es gut war und richtig, banal oder enttäuschend, sinnentleert oder aufregend und vor allem, ob ich damit leben kann im Tod.

Kerl noch mal, so tiefschürfende Sachen hab ich, glaub ich, noch nie von mir gegeben. Wo soll das enden?

Jedenfalls ist das mal wieder typisch Uwe. Muss alles gleich philosophisch überhöhen. Also ich mache mir diesbezüglich jedenfalls keine Sorgen.

Objektivität kann man natürlich von vornherein vergessen. Bin ich Jesus? Ich werde es auch gar nicht versuchen. Erinnerungen sind trügerisch. Man läuft auf ihnen wie die Comicfiguren, die vor irgendetwas wegrennen, über einen Abgrund hinweg und dennoch in der Luft schwebend wie auf festem Boden weiterlaufen, und das funktioniert tatsächlich, aber kaum sieht der Roadrunner nach unten, stürzt er ab und verrenkt sich die Gräten.

»Weißt du noch, der Abend im Forum Romanum, diese herrliche Flasche Rotwein, die uns der Händler von nebenan geschenkt hatte, weil er Geburtstag hatte?« Durchaus möglich, dass Freddy mir dann antwortet: »Ich weiß nicht, es gab so viele Abende, so viel Rotwein. Außerdem glaube ich, dass seine Frau Geburtstag hatte, nicht er selber. Oder war es die Tochter? Jedenfalls nicht er selber. Und getrunken haben wir sie auf der Spanischen Treppe.«

Jedenfalls habe ich gerade Bully II beladen. Einen T1 von ’66. Mein erster war von ’58, mit sagenhaften 30 PS. Jetzt hab ich 44, was auch nicht der Rede wert ist, aber ich will ja keine Rennen veranstalten, sondern, ganz Django, gemütlich umherschweifen und abrollen.

Und morgen geht’s los. Irgendwann im Laufe des Tages, wenn der ganze Berufsverkehr rund um Köln vorbei ist. Ich hab zwar mächtig Hummeln im Hintern, aber deshalb muss ich ja nicht in aller Frühe aufstehen. Das war noch nie mein Fall. Der frühe Vogel frisst auch nur Würmer.

Reinhardt Winkler hatte einen Plan. Einen in zweifacher Hinsicht für ihn erstaunlich langwierigen Plan. Zwei Jahre lang hatte er ihn ausgeheckt, und es würde eine Weile dauern, ihn auszuführen. Wie lange, davon hatte er noch keine rechte Vorstellung, aber ein Jahr lang konnte er schon unterwegs sein, vielleicht auch länger. Und nun, vier Wochen nach seiner Verrentung, begann er, ihn umzusetzen.

Für Phase 1 hatte er sich einen alten VW-Bus zugelegt, der mittlerweile ein echtes Liebhaberstück war und einen dementsprechenden Preis hatte, aber für das, was er vorhatte, gab es keine Alternative. In wochenlanger Kleinarbeit hatte er ihn, soweit es ihm möglich war, in eine Kopie seines ersten Bully verwandelt, inklusive Wasch- und Spülbecken und einem Zwei-Flammen-Gaskocher. Sogar sein altes, an den Ecken mit Tesastreifen verziertes und eingerissenes Frank Zappa-Plakat, das auf der Toilette, hatte er wiedergefunden und an der Decke befestigt. Auf der Bettbank lag jetzt allerdings nicht nur eine Wolldecke, sondern eine bequeme Matratze. So viel Rücksicht auf seinen nicht mehr so strapazierfähigen Rücken musste sein.

Die Musik kam jetzt auch nicht mehr aus einem Kofferradio mit verbogener Antenne, sondern von Spotify. Außerdem hatte sein Nachbar Henning die Elektrik aufgepeppt und eine Mikrowelle eingebaut. Statt eines Rucksacks mit einer Ersatzjeans, einem Pullover, drei T-Shirts, drei Paar Socken und ebenso vielen Unterhosen sowie einmal Rei-in-der-Tube hatte er diesmal einen Koffer voller Kleidung verstaut.

Auf je 20 Dosen Ravioli und Pichelsteiner Eintopf von Aldi hatte er verzichtet. So weit wollte er die Nostalgie dann doch nicht treiben. Fünf Dosen würden reichen müssen.

Das Wichtigste, neben seiner Gitarre, lud er zuletzt ein: eine Holztruhe mit gewölbtem Deckel, Messingbeschlägen und einem gewaltigen, mittlerweile völlig verrosteten Vorhängeschloss, das er hatte aufbrechen müssen, da er keinen Schlüssel hatte beziehungsweise nicht wusste, wo der war. Er war sich vorgekommen wie Jim Hawkins auf der Schatzinsel. Allerdings enthielt seine Kiste keine Schätze aus Gold und Silber, sondern ein Sammelsurium an Memorabilien seines eigenen Lebens und eine Zigarrenkiste seines Vaters, die er nach dessen Tod mitgenommen und danach vergessen hatte. Jahrelang hatte die Truhe im Keller gestanden, neben weiterem Krempel, den er längst hatte entsorgen wollen. Doch dann gab sie ihm den letzten Anstoß für seinen Plan.

Jeder hat diesen Spruch schon einmal gehört oder selbst gesagt: »Du solltest wirklich ein Buch über dein Leben schreiben« oder so ähnlich.

Sie hatten schon einige Flaschen Bier und Wein geleert und schwelgten in alten Geschichten, als Reinhardt zahlreiche Anekdoten zum Besten gegeben hatte und der Satz fiel. Reinhardt stritt ab, dass sich das lohnen würde, man verwies darauf, wie viel in seinem Leben passiert sei, und mein Gott, in welcher Zeit er gelebt hatte, und geredet hätte er doch gefühlt ununterbrochen – eine erste Bemerkung, die Reinhardt am Erinnerungsvermögen seiner Freunde zweifeln ließ – da könne er doch einfach mal alles aufschreiben.

Zwei Jahre war das her. Irgendwie war der Gedanke hängen geblieben, nahm aber eine Wendung vom Anekdotischen zum Grundsätzlichen. Reinhardt gehörte nicht zu den Menschen, die ständig über den Sinn des Lebens nachdachten. Ihm reichte es, möglichst unbeschadet hindurchzukommen und dabei so viel Spaß wie möglich zu haben. So saß er anfangs einfach in der Sonne und ließ die Vergangenheit abspulen, seine Frauen vor allem und seine Reisen, Konzerte und immer wieder Partys, Feiern und Feten. Und all die verschiedenen Jobs, mit denen er sich durchgeschlagen hatte.

Völlig unerwartet und aus dem Nichts setzte sich eine Frage in ihm fest, die er zunächst mit einem völlig selbstverständlichen »na klar« beantwortete. Dann aber machte sich eine leise, wie von weit entfernt von einer sanften Brise herangewehte Skepsis breit, die sich im Laufe der Tage und Wochen zu einem nagenden Zweifel auswuchs, wie ein Teufelchen, das sich in seinem Cortex festsetzte und ihn zwickte und ärgerte. Er konnte sich zwar noch an alle möglichen Leute erinnern, aber immer häufiger fragte er sich, ob das umgekehrt auch galt. Natürlich ging er davon aus, dass der eine oder die andere ihn vergessen hatte, aber er war sich sicher, dass die meisten einen Menschen wie ihn nicht vergessen konnten. Er sah gut aus, war fröhlich, witzig und unterhaltsam und jederzeit zum Pferdestehlen bereit.

Nur entwuchsen dieser Antwort weitere Fragen, die sich wie mit Widerhaken in seine Gedanken gruben. Woran würden sie sich erinnern? Und vor allem: Wie? Vielleicht hatte ja der eine oder andere keine oder nur teilweise gute Erinnerungen an ihn.

Und dann blickte er eines Tages sinnierend in sein Pilsglas und fragte sich urplötzlich, wie lange man noch an ihn denken würde – nach seinem Tod.

Er trank das Glas leer, bestellte ein neues, aber die Perspektive besserte sich nicht, der postletale Himmel hellte sich nicht auf. Zum ersten Mal in seinem Leben kam er sich philosophisch vor. Das dauerte allerdings nicht lange. Er bestellte einen Grappa und begann, einen Plan zu entwickeln, den Plan zu einer Revue seines Lebens. Er würde so viele Menschen wie möglich besuchen, mit ihnen über ihre gemeinsame Vergangenheit reden, herausfinden, was aus ihnen geworden war. Und was das mit ihm zu tun hatte. Er wollte sich ihnen in Erinnerung rufen.

Im Großen und Ganzen war er sich sicher, dass es, von vielleicht wenigen Ausnahmen abgesehen, eine vergnügliche Reise für alle Beteiligten werden würde.

Mit der Zeit ging die Idee den Gang vieler seiner Ideen. Sie verblasste und rückte in die abgelegenen Zonen seines Gehirns. Dann entdeckte er die Truhe im Keller.

Kapitel 2

Heiligenhaus

Heiligenhaus, eine Kleinstadt nordöstlich von Düsseldorf in den 50er-, 60er-Jahren. Es gab alles, was man brauchte, sogar ein Kino, aber alles war überschaubar und atmete den Mief der Nachkriegszeit. Die Großkopferten und Honoratioren, Bürgermeister und Schulleiter und vor allem die beiden Kirchenoberhäupter waren Menschen höchster Autorität, die es grundsätzlich zu grüßen galt, und wenn der Herr Pfarrer stehen blieb und sich nach dem Befinden erkundigte, gab man ihm bereitwillig Auskunft, wobei sich die meisten Menschen nur so weit notwendig und vertretbar an die Wahrheit hielten.

Es war ja ohnehin die Zeit der Lebenslügen. In Reinhardts Familie wie in der ganzen Stadt konzentrierte man sich auf das Wirtschaftswunder. Die Stadt war relativ glimpflich durch den Krieg gekommen, sodass die Schäden bald beseitigt waren. Der Blick nach vorn verbreitete bessere Stimmung als der zurück. Geblieben waren allenfalls die Erinnerungen an die Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiter, die nach der Befreiung und der Flucht der einst gefeierten Nazi-Größen der Stadt ihr Lager in die Luft sprengten und, wie es hieß, marodierend, raubend und vergewaltigend durch die Stadt gezogen waren. Eine Horde von 2500 Menschen soll es gewesen sein, die Angst und Schrecken unter den Meistern der Angst und des Schreckens verbreiteten. Reinhardts Geschichtslehrer nannte es »die Undankbarkeit der Schutzbefohlenen«. Es gab nicht wenige, die nach Yitzhak Rosenbaums Rückkehr seinen Laden nach wie vor nicht betraten.

Reinhardt hatte beschlossen, seinen Rückblick hier zu beginnen, in der Stadt, in der er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte, um die richtige Stimmung heraufzubeschwören. Und schon bei der Einfahrt funktionierte es: Der Ort hatte sich ausgedehnt. Als er auf der Umgehungsstraße um die Innenstadt herumfuhr, dort, wo früher Bauer Kortes Kühe grasten, sah er eine schmale, zweispurige Straße – und schon radelte er auf seinem klapprigen Gestell ohne Gangschaltung die Steigung hinauf und im Slalom auf den Bürgersteig und um die Bäume herum mit dem Ranzen auf dem Rücken, einer alten Ledertasche seines Opas, die er hasste wegen der vielen speckigen Flecken und des ausgeleierten Steckschlosses.

Gerade noch rechtzeitig nahm er die Bremslichter wahr und bremste so hart, dass die Reifen quietschten. Er fuhr auf den erstbesten Parkplatz und schlenderte durchs Zentrum.

Natürlich war alles alt und neu zugleich, oder besser neu im Alten. Die meisten Häuser auf der Hauptstraße standen noch, mit neuer oder restaurierter Fassade, aber die Geschäfte im Parterre waren anders.

Reinhardt verfiel in einen merkwürdigen, fast schizophrenen Zustand, als würde er mit dem einen Auge das moderne Heiligenhaus erkunden und mit dem anderen in die Vergangenheit blicken. Er sah das alte, zweistöckige Backsteinhaus mit der Äskulap-Apotheke, das einem grauen Wohnquader gewichen war. Er konnte klar und deutlich die Ankündigung von »Winnetou 1« auf dem Sandwich-Ständer vor dem Kapitol Theater sehen, obwohl sich dort jetzt eine Einrichtungsoase befand, und er nahm auch die seiner Meinung nach ziemlich hässlichen Möbel wahr und verglich sie mit dem Wohnzimmer seiner Eltern, mit Nierentisch, dreistrahliger Tütenlampe, knallgelben Schalensesseln und dem rosaroten Sofa mit den schrägstehenden dünnen Beinchen, das ihnen ein befreundeter Innenarchitekt verordnet hatte – und nur ein Jahr später wieder durch Eiche rustikal ersetzt worden war.

Es gab kein »Miederwaren Herbert« mehr, der nicht seine Waren im Schaufenster ausgestellt hatte, sondern große, bunte Kartons mit Beschreibungen und Preisen. Reinhardt hatte erst durch den Otto-Katalog seiner Eltern herausgefunden, was dort verkauft wurde.

Die kleinen Obst- und Gemüseläden hatten Friseuren, Nagel- und Tattoo-Studios und einem Ein-Euro-Shop Platz gemacht. Aus Herrn Rosenbaums Tabakwarenhandlung war eine Lotto-Annahmestelle geworden, und aus Luigis sechs Sorten winziger Eisdiele ein glitzernder Palast mit 36 Eiskreationen.

Auch wenn die Eisbecher zu seinen ersten Ausschweifungen gehörten, erinnerte ihn der Laden vor allem an Brigitte und Constanze, zwei Schulfreundinnen, die ihn durch das erste onaniereiche Jahr begleitet hatten. In einer Anwandlung von Ritterlichkeit hatte er Brigitte angeboten, auf dem gemeinsamen Schulweg ihre Tasche zu tragen, was diese kichernd, aber gerne angenommen hatte, ohne ihm allerdings den so heiß begehrten ersten Sex oder doch wenigstens einen Kuss zu gewähren. Auch sein zweiter Versuch, sich stattdessen Constanzes Wohlwollen zu erschmeicheln, schlug ein paar Wochen später fehl. Als er nach Monaten endlich die Vergeblichkeit seiner Liebesmühen eingesehen hatte, vermied er es, den beiden morgens zu begegnen, auch wenn sich sein Schulweg dadurch um einen Kilometer verlängerte.

Reinhardts Familie gehörte zu den oberen 100 der Stadt. Hans Hermann Winkler gehörten die Heiligenhauser Metallwerke. Da er eine große Zukunft im Automobilbau sah, hatte er 1955 ein Werk für Gelenkwellenbau gegründet. Das Werk war als Zulieferer und Reparaturwerk vor allem für Lastkraftwagen schnell erfolgreich, beschäftigte Anfang der 60er-Jahre fast 100 Mitarbeiter und war damit einer der großen Arbeitgeber der Stadt.

Enttäuscht musste Reinhardt feststellen, dass nicht nur die Fabrikhallen, sondern auch das in das Werk integrierte Elternhaus nicht mehr existierte und einem großen quaderförmigen Wohnkomplex Platz gemacht hatte. Auch die Koppeln, auf denen ein Geschäftspartner seines Vaters direkt neben der Fabrik seine Pferde weidete, gab es nicht mehr.

Es fiel ihm schwer, die damalige Stimmung wieder heraufzubeschwören, ohne den Anblick des für eine Fabrikantenfamilie bescheidenen zweistöckigen Hauses mit der schlichten Fassade und dem angrenzenden Garten. Das Einzige, das ihm spontan einfallen wollte, war das Verbot, dort spielen zu dürfen.

Logbuch Space Bully II, Tag 1.

Ich dachte mir, ich fange mal ganz vorne an, also bin ich heute als Erstes nach Heiligenhaus gefahren. Dort wurde ich 1948 geboren als Sohn von Hans Hermann und Elisabeth Katharina Winkler, und zwar am 28. 11. 1948, dem ersten Advent. Was immer das heißen mag.

Als Goethe das Licht der Welt erblickte, war »die Konstellation glücklich«, wie er selber feststellte. Die Planeten waren ihm wohlgesinnt und der Mond voll. Laut Jimi Hendrix ließ seine Geburt den Mond feuerrot erglühen. Bei meiner kümmerte sich keine Sau um Planeten, Sonne, Mond und Sterne. War alles normal. Vermute ich, denn meine Mutter hat nie etwas erwähnt, im Gegensatz zu Uwes Geburt, dessen Story ich weiß nicht wie oft erzählt wurde, wie mein Vater mit Vollgas zur Klinik raste, als die Wehen zu früh einsetzten, wie sie kein Benzin mehr hatten und ein Lkw-Fahrer sie schließlich nach Velbert fuhr und wie glücklich sie waren, als sie endlich den kleinen, zerknautschten Uwe im Arm hielten.

Na ja, war halt das erste Kind. Bei mir war’s wohl Routine.

Ich weiß nicht mal die Uhrzeit, deshalb kann ich auch nichts zu meinem Aszendenten sagen, falls das jemanden interessiert. Mich nicht.

Maria schon, eine Schweizerin, die ich in Australien kennengelernt hatte. Wir knutschten heftig herum und hatten uns schon halb ausgezogen, als sie mich nach meinem Sternzeichen fragte, und ich, ganz geistesab- und schwanzanwesend, flüsterte »Schütze«, da erstarrte sie, stöhnte: »Oh, Scheiße, ne du, das geht gar nicht.«

Ich kapierte nix, bis sie mich dann aufklärte, dass Krebs und Schütze überhaupt nicht zusammenpassten. Ich scherzte noch: »Doch, in der Mitte«, aber sie lachte nicht, sondern erzählte von ihren unglücklichen Lieben und dass das alles Schützen waren, weil Schützen nun mal unersättlich, vergnügungssüchtig, kritik- und verantwortungslos und vor allem chronisch untreu seien.

Mein Gott, als hätte ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Also ehrlich, was ein Nonsens. Aber clever. So kann man prima seine eigenen Neurosen ins Weltall sublimieren. Also, um das mal klar zu sagen: sternenfunkelnde Romantik, von mir aus, aber in den Sternen steht gar nichts. Null. Nada.

Aber ich schweife ab.

Also Heiligenhaus.

Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr hier. Natürlich sieht vieles anders aus, aber andauernd flackerten Bilder von früher auf, sodass mein Hirn permanent Erinnerungen aus den Katakomben meines Gedächtnisses nach oben schaufelte. Manches kann ich nicht wirklich einordnen. Da ist mehr so das Gefühl von: Da war doch mal was. Andere Bilder sind glasklar.

Wie die Doktorspiele mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft, ihr nackter Hintern, meine heruntergelassenen Hosen, unsere unbehaarten, noch unterentwickelten Lustzentren. Wir untersuchten uns gegenseitig – keine Ahnung, was genau. Die begeisterte Neugier für diese Körperregion ist jedenfalls geblieben.

Das zweite Bild ist ebenso scharf. Biggeln. Ich glaube, selbst den Ausdruck hatte ich vergessen. Hinter unserer Fabrik gab es eine Wiese, die von Sandwegen begrenzt wurde, und dort spielten wir mit unseren Glaskugeln, die wir mit dem Zeigefinger in eine in den Weg gebuddelte Kuhle schnibbelten. Wer in einer Runde die meisten hineinbugsierte, durfte die der anderen Mitspieler behalten. Ich besaß einen ganzen Sack voll.

Der Betrieb unserer Eltern existiert nicht mehr. Ist alles abgerissen worden. Nicht dass das ein ästhetischer Anblick gewesen wäre. Ist mir ehrlich gesagt auch nicht wichtig.

Dieses Kaff macht jetzt einen auf weltläufig. Wo früher die AEG einen Betrieb hatte, gibt es jetzt einen Park; haltet euch fest: den John-Steinbeck-Park, weil dessen Großvater aus Heiligenhaus stammt, man glaubt es kaum. Der wusste schon, warum er hier wegwollte, und jetzt heften die sich das an die Brust. Hier! In Heiligenhaus! Unser Steinbeck! So ein ausgemachter Tinnef.

Die Straßen im alten Stadtkern sind im Wesentlichen noch erhalten, weshalb ich auch meinen alten Schulweg noch einmal ablaufen konnte. Ein seltsames Erlebnis. Obwohl natürlich jetzt das Meiste anders aussieht; ein paar Häuser sind ja noch da, und die beiden Kirchen.

Ich hab auch nicht schlecht gestaunt, dass es Luigis Eisdiele immer noch gibt. Heißt aber jetzt Cortina. Auch eine Art von Fortschritt. Wo allerdings heute ein restaurantgroßer Laden mit Außengastronomie mit zu groß dimensionierter, bonbonfarbener Neonreklame auf sich aufmerksam macht, gab es damals nur einen engen Schlauch mit drei kleinen Tischen, und das meiste Eis ging im Hörnchen über die Theke. Die Kugel, wenn ich mich recht erinnere, für 10 Pfennig.

Wenn ich Taschengeld bekommen hatte, leistete ich mir manchmal nach der Schule ein Hörnchen mit drei Kugeln und Sahne. Schokolade, Banane und Erdbeere. Das war jedes Mal ein Fest.

Vor allem aber erinnere ich mich an die Eisdiele, weil ich dort jeden Morgen Brigitte und Constanze traf, die Unzertrennlichen. Ich trug dann immer Brigittes Schultasche, ich Idiot, in der Hoffnung, dass sie sich dann auch mal anfassen ließe. Ich glaube, sie war das erste Mädchen, in das ich verschossen war, aber vergeblich.

Das war schon ein harter Schlag, als ich eines Morgens Richtung Eisdiele ging und sie Hand in Hand mit diesem Schwachkopf von Norbert laufen sah. Der erntete doch die dicksten Kartoffeln im Dorf. Und der trug nicht mal ihre Schultasche! Aber der durfte ja auch lange Hosen tragen, während ich immer noch in diesen bescheuerten Shorts herumlief, unter denen man meine schorfigen Knie und die krummen Beine sehen konnte. Ich gebe es zu, ich habe nämlich leichte O-Beine.

Jedenfalls war ich tagelang regelrecht geschockt. Nachdem ich mich erholt hatte, ignorierte ich die beiden einfach, wobei ich wahrscheinlich schon ein wenig hoffte, dass sich Brigitte von meiner Gleichgültigkeit bestraft fühlte.

Heute denke ich, kann ich Brigitte dankbar sein für diese Lektion. Danach bin ich nie wieder einer Frau sklavisch hinterhergelaufen.

Als ich am alten Pfarrhaus vorbeikam, das mittlerweile unter Denkmalschutz steht, tauchte plötzlich das Bild von Pastor Pfeifer vor mir auf, bei dem ich Konfirmandenunterricht hatte. Ein langer, dürrer, immer leicht gebeugt gehender Mann mit einer riesigen Hakennase, der uns so alt vorkam, als hätte er die Dinosaurier noch live erlebt. Der Zinken, wie wir ihn nannten, kam eines Tages zu meinen Eltern und wollte sie dazu überreden, mich auf ein Priesterseminar zu schicken. Er war überzeugt, ich sei zum Priester geboren. Ich! Der Mann muss an Hirnfraß gelitten haben. Ich weiß wirklich nicht, wie er darauf kam, denn hinter allen Streichen, die wir ihm spielten, steckte meine – wie soll ich sagen – schelmische Fantasie.

Der Schock, als meine Eltern mir davon erzählten, war noch größer als Brigitte mit Norbert zu sehen, vor allem, da meine Mutter mit ihrer religiösen Ader von dem Gedanken angetan war. Mein Vater hielt zum Glück gar nichts davon, und damit war die Sache entschieden.

Pfeifers Schnapsidee war umso überraschender, als mein Problem mit Konfirmandenunterricht im Besonderen und Schule im Allgemeinen war, dass ich nie stillsitzen konnte und auch nie die rechte Lust hatte, dauernd konzentriert zuzuhören. Aber vielleicht hoffte er, Jesus und Kontemplation könnten den Zappelphilipp kurieren. Ich und religiöse Einkehr! Kerl noch mal! Eher steht ein Kamel vor der Kneipe mit ’nem Fässchen Pils um den Hals.

Ich setzte mich trotz der Reklame in das Eiscafé. Eisdiele haben wir früher gesagt. Passte ja auch besser. Ob das Wort überhaupt noch benutzt wird? Jedenfalls setzte ich mich an einen der Tische auf dem Bürgersteig, sah mich um und ließ mich zeitlich zurückfallen.

Mir fielen die sonntäglichen Spaziergänge ein, die weniger dazu dienten, sich zu bewegen, als zu sehen und gesehen zu werden. Selbstverständlich waren wir genauso wie alle anderen mächtig herausgeputzt, im Sonntagsstaat. Was ist das eigentlich für ein beknacktes Wort? Und genauso natürlich wurde peinlich genau darauf geachtet, dass wir uns nicht schmutzig machten; also durften wir nicht spielen, jedenfalls nicht ausgelassen, und so langweilten wir uns zu Tode, während unsere Eltern alle zehn Meter stehen blieben und mit Nachbarn, Bekannten und den höheren Mitarbeitern unseres Vaters sprachen. Von seinen Arbeitern ließ sich mein Vater nur grüßen, und er hob den Hut auch immer nur andeutungsweise, während er ihn vor dem Bürgermeister oder dem Bankdirektor demütig in den Händen hielt.

Ob mir das damals schon aufgefallen war? Muss wohl, denn ich weiß noch genau, wie sie eben noch aufrecht und erhobenen Hauptes die Hauptstraße entlang liefen, und dann wirkten sie plötzlich kleiner, geschrumpft geradezu. Meine Mutter stand dann etwas gebeugt da und blickte eher zu Boden als ins Gesicht, vor allem wenn wir Pastor Pfeifer trafen.

Erträglich war das sonntägliche Prozedere nur, weil es im Sommer für meinen Bruder und mich immer eine Kugel Eis gab. Nur eine, denn mehr Süßes war ja ungesund und hätte nur unseren Charakter verdorben.

Wobei ich noch anmerken muss, dass ich wohl mehr am Sonntagsspaziergang litt als Uwe, der seinen Anzug und die funkelnd polierten Lederschuhe mit sichtbarem Stolz trug und sich mit der Krawatte wie ein Erwachsener fühlte, während ich einen Anstandsstrick um den Hals hatte, der mir die Luft abschnürte. Das ständige Stehenbleiben oder Stillsitzen im Café war die reinste Folter für mich. Und dann war da noch Tabakwaren Rosenbaum, dessen Besitzer nicht größer war als ich selbst. Der »alte Jid«, wie ihn meine Eltern nie aufhörten zu nennen. Ich liebte Herrn Rosenbaums Laden. Als ich vor der gesichtslosen Lotto-Bude stand, die sich heute dort befindet, hatte ich sofort wieder den Geruch in der Nase: ein Medley aus altem Gemäuer, Tabakaromen und Nikotindunst. Ich ging immer mit meinem Großvater hin, der sich bei Herrn Rosenbaum nicht nur mit diversen Rauchutensilien versorgte, sondern auch stets mit ihm und anderen Kunden ein längeres Schwätzchen hielt, von dem ich wenig verstand, selbst wenn ich ausnahmsweise mal zuhörte. Ich ging stattdessen in der Atmosphäre auf, den Duftnoten und dem von zwei altersschwachen Leuchten verbreiteten gelblich-schummrigen Licht auf all den Kästen und Kisten, den Zigarettenstapeln und dem Gewusel teilweise rätselhaften Rauchwerkzeugs vom Aschenbecher bis zum Zigarrenabschneider. Es gab Pfeifen und Reiniger, Feuerzeuge und Zigarettenspitzen, Zigarrenetuis und Streichhölzer in verschiedenen Längen und so geheimnisvolle Dinge wie Humidore und Zigarrenbohrer. Von Ölbohrern hatte ich schon mal was in der Schule gehört, aber ich fragte mich, warum man nach Zigarren bohren sollte.

Opa rauchte einfach alles, und eine Zeit lang war er darin sogar mein Vorbild. Er besaß ein Dutzend Pfeifen und die unterschiedlichsten Zigarren, manche lang und dick wie Ofenrohre. Die waren für die gemütlichen Stunden. Dann gab es Zigarillos für zwischendurch, das heißt zum Kaffee und zum Aperitif und seine Zigaretten, Reval, für die restliche Zeit des Tages. Seine Lunge musste asphaltiert gewesen sein wie die A1, aber gestorben ist er daran nicht. Es war der zu spät erkannte Prostatakrebs. Damals waren Vorsorgeuntersuchungen noch nicht so selbstverständlich wie heute, und selbst wenn. Bei Opas Abneigung gegen blutsaugende Quacksalber!

Da ich das jetzt erzähle, fällt mir ein, dass meine Eltern sich manchmal wegen Herrn Rosenbaum mit Opa gestritten haben. Ich kann mich aber nicht erinnern warum.

Kapitel 3

Die Schatztruhe

Logbuch Space Bully II, Tag 4:

Wäre ich doch nicht immer so schreibfaul gewesen! Heute meine alten Tagebücher zu lesen, wäre sicher unheimlich spannend, nicht nur um zu sehen, wie ich damals getickt habe, sondern weil man an so vieles erinnert würde. Ich glaube zwar, dass ich mit Elefanten mithalten kann, aber kein Gedächtnis ist perfekt.

Ich habe gerade sage und schreibe drei Stunden vor der Truhe gehockt und herumgewühlt. Kerl noch mal, was sich da alles findet! Ich habe noch gar nicht alles genauer betrachtet, weil mir andauernd Dinge durch den Kopf gehen, verwaschene Bilder auftauchen, schemenhafte Erinnerungen wie mit dem Weichzeichner oder als würde man durch eine Folie blicken – man sieht etwas, ohne es wirklich zu erkennen.

Wie genau Vaters Zigarrenkiste da reinkommt, weiß ich gar nicht mehr; nur, dass ich sie nach seinem Tod in einer Umzugskiste auf dem Dachboden fand. Oder die Eintrittskarte zu einem philharmonischen Weihnachtskonzert.

Ich? Klassische Musik? Das passt wie das Knie ins Gemächt. Das sind Lücken, die ein Tagebuch jetzt füllen könnte.

Ich werd Uwe mal fragen. Vielleicht hat der mich mal eingeladen.

Dann ist da noch eine Spielkarte, eine Herzdame mit einem Smiley, einem Kussmund und »Nina« mit rotem Filzstift draufgeschrieben.

Nina? Mir schwant etwas von Strippoker. Aber wann und wo?

Susannes Brief hab ich aus dem Umschlag genommen und nach den ersten Worten wieder zurückgesteckt. Es kommt mir noch zu früh vor. Ich weiß genau, worum es geht, aber was genau sie mir geschrieben hat, will ich jetzt noch nicht wieder wissen.

Dass ich Tobi verwahrt habe, hätte ich zunächst auch nicht gedacht. Ich musste laut lachen, als er mir in die Hände fiel. Tobi ist eine kleine, rotbraune Hartgummifigur, die als Werbegeschenk in einer Jacke steckte, die meine Mutter mir in einem Kaufhaus – ich glaube, es war Karstadt – gekauft hatte. Ich muss so sechs oder sieben gewesen sein. Jedenfalls fand ich sie, als ich die Jacke zum ersten Mal zu Hause anzog, und war völlig aus dem Häuschen. Dass diese Figur, die ich spontan Tobi taufte, in jeder Jacke stecken sollte, wollte ich einfach nicht glauben. Ich hatte Glück gehabt, so war das.

Und so wurde Tobi mein Glücksbringer. Ich trug ihn ständig mit mir herum, egal, was ich machte, egal, wohin ich ging – Tobi musste dabei sein.

Einmal war ich viel zu spät in der Schule – ich war schon auf dem Gymnasium, in der 9. Klasse, und glaubte immer noch fest an meinen Glücksbringer. Wir schrieben eine Deutscharbeit, 1. und 2. Stunde, und ich bemerkte unterwegs, dass ich Tobi in einer anderen Hose gelassen hatte. Also rannte ich zurück. Ich konnte doch unmöglich ohne ihn meine Arbeit schreiben! Ich war eine halbe Stunde zu spät, schrieb aber trotzdem eine Drei. Was erneut die unglaubliche Wirkung Tobis unter Beweis stellte. Klar, oder?

Je länger ich Tobi in meinen Fingern drehte, desto genauer erinnerte ich mich. An meinem 25. Geburtstag beschloss ich, dass ich jetzt doch langsam erwachsen genug war, um ohne Talisman auskommen zu können, und warf ihn in diese Schatztruhe. Ich hatte richtiggehend Abschied von ihm genommen und mich für alles bedankt, was er für mich getan hatte.

Heute muss ich natürlich über so etwas lächeln. Kerl noch mal, 25 und wie ein kleines Kind!

Vater hatte sich immer über Tobi lustig gemacht. Dass ich ihn noch mit 25 in der Hosentasche hatte, hab ich ihm natürlich nicht verraten. Aber als ich an seine Witzeleien dachte und seine Belehrungen über Aberglauben – dabei hatte ich doch jede Menge Beweise! –, warf ich einen Blick in seine alte Zigarrenkiste und nahm diese merkwürdige Kopie heraus, die ich vor ein paar Wochen beim ersten Durchwühlen entdeckt hatte.

Es ist die erste, verblichene Seite eines Krankenberichtes vom 6. oder 8. Oktober 1949, das Datum kann man kaum erkennen. Ein Bericht über ein mangelernährtes und verpilztes Baby. Das Kind heißt Reinhardt! Wie ich. Aber Reinhardt Elias, wenn ich das richtig entziffere. Ich habe ja keinen Zweitnamen. Mein Bruder auch nicht. Aber jetzt kommt’s: geboren am 28. 11. 48, genau wie ich! Ist doch seltsam, oder?

Wer ist dieser Reinhardt E. Schneider, und wieso liegt eine unvollständige Kopie einer Untersuchung im Velberter Krankenhaus, in dem ich übrigens geboren wurde, in einer Zigarrenkiste meines Vaters? Hätte ich mal früher da reingeguckt, dann hätte ich Mutter fragen können. Wer weiß, ob sie sich jetzt noch erinnert. Wird ja immer vergesslicher. Was du heute kannst besorgen, das verschieb sofort auf morgen. So viel dazu.

Ob ich einen Zwillingsbruder hatte? Aber dem gibt man doch nicht denselben Vornamen. Außerdem wäre das doch mal erwähnt worden. Vielleicht ist er ja kurz nach der Geburt gestorben, und meine Eltern wollten mich nicht damit belasten?

Ach was, alles Quatsch, dieser Reinhardt heißt Schneider. Oder war Vater besoffen, als er auf dem Standesamt war?

Aber Vater? Betrunken? Der war eher der typische protestantische Unternehmer. Immer genau, immer korrekt, immer im Dienste der Firma und der Familie. Und ernst, ständig. Herumgealbert wurde bei uns nicht. Bei der Stimmung, die bei uns herrschte, frage ich mich, warum ich meistens gut drauf war. Rauschende Feste oder gar Ausschweifungen waren bei uns verpönt. Das galt für Feiern und Essen und Trinken, Weihnachtsgeschenke und selbst für Vaters Auto. Ein unauffälliger Opel. Erst zu seinem 60sten leistete er sich etwas »Repräsentatives«, einen Mercedes. Aber natürlich eins von den kleineren Modellen. Anerkannt und geachtet werden wollte er schon, aber mit seinem Geld angeben und protzen war nicht seine Sache. Er blieb eigentlich immer gerne im Hintergrund.

Als ich alt genug war, um das zu bemerken, fand ich das erst seltsam, dann oberspießig. Meine Güte, dachte ich mir. Da haben wir einen Haufen Kohle und machen nichts damit. Tolle Reisen, Klamotten, teure Restaurants wie die anderen Unternehmer in Heiligenhaus auch.

Das denke ich heute im Grunde auch noch. Warum soll man schlechter leben, als man es sich leisten kann? Verzichten um des Verzichts willen. Sparen, sparen, sparen. Horten, horten, horten. Schwachsinn. Geteilter Euro ist doppelter Euro.

Uwe hat auch viel davon – von diesem protestantischen Ethos, mein ich. Er kam immer mehr auf Vater als ich. Fleißig und gewissenhaft. Der war im Gegensatz zu mir immer ein Musterschüler, und auch das Studium hat er stur durchgezogen. Wollte unseren Eltern nicht so lange auf der Tasche liegen, hat er mal gesagt. Er war nach acht Semestern fertig. Da hatte ich nicht mal richtig angefangen.

Mutter war da anders. Jedenfalls kam es mir immer so vor. Die konnte richtig ausgelassen sein, wenn mal gefeiert wurde. Vor allem, wenn sie was getrunken hatte, vorzugsweise halbtrockenen Sekt und natürlich ihren Likör. Vater sah sie dann immer so missbilligend an, wenn sie schwungvoll tanzte und laut lachte, vor allem mit Onkel Hartmut. Mit Vater war das ja nicht möglich, so hölzern wie der herumstakste. Wie ein Storch auf Stelzen. Ich glaube, sie hätte gerne des Öfteren mal einen draufgemacht. Ich glaube, die war viel lebenslustiger, als sie sein durfte. Ich hab nie verstanden, wie das mit ihrer Religiosität zusammenpasste. Vielleicht stand die ihr im Weg.

Morgen treffe ich mich übrigens mit Freddy, einem meiner ältesten Freunde. Wir lernten uns in Frau Holtners Mathekurs kennen, der miserabelsten Mathelehrerin der westlichen Hemisphäre. Außerdem ging uns beiden diese verkopfte Veranlagung völlig ab. Wir fanden Zahlen und Formeln absolut unerotisch, also planetenweit entfernt von unseren drängendsten Bedürfnissen. Mit anderen Worten: Wir waren in diesem Kurs absolut chancenlos. Wir bereiteten uns zwar gemeinsam auf Klausuren vor, aber an den anschließenden Katastrophen änderte das nichts. Na ja, was natürlich auch ein wenig daran gelegen haben mag, dass wir spätestens nach einer halben Stunde den ersten Joint bauten.

Da Freddy heute auf einem kleinen Hof in Bevern wohnt, in der niedersächsischen Wildnis, sehen wir uns nicht mehr so oft. Jedenfalls kann ich ein paar Tage bei ihm bleiben. Wir werden über die alten Zeiten reden und unsere Erinnerungen auffrischen an all die Erlebnisse und Abenteuer. Und da gab es jede Menge. Mit keinem bin ich so viel gereist wie mit ihm, auf dem Daumen, mit dem Bully, mit seiner Ente. Quer durch Jugoslawien, Griechenland, die Türkei bis nach Afghanistan. Monatelang durch Italien, Spanien und Portugal. Inselhopping in Griechenland. Polarlichter am Nordkap. Durch die Musikclubs Londons. In den Puff in Marrakesch. Mann, war das eine herrliche Zeit!

Es ist übrigens seltsam, wieder mal im Bully zu schlafen, auf 6 oder 7 Quadratmetern; ständig muss man was umräumen, alles gleich wieder wegräumen. Hier kannst du dir auf Dauer kein Chaos leisten. Nichts für Messies. Aber schön. Draußen sitzen, in den Himmel gucken und tatsächlich mehr als drei Sterne sehen.

Gestern Nacht fand ich die Stille ungewohnt, fast ein bisschen unheimlich, wie früher, bei den ersten Touren. Oder als ich zum ersten Mal draußen gepennt hab, im Schlafsack. Ich war 17. Freddy und ich wollten nach Italien und hatten den ganzen Tag kein Glück gehabt beim Trampen und hingen an einer Auffahrt fest. Als es dunkel wurde, liefen wir ein Stück über eine Wiese und legten uns am Waldrand ins Gras. Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu. Von wegen still. Da tobt der Bär, da steppt der Hirsch! Dauernd irgendwelche Geräusche, ohne zu wissen, woher und was die gemacht hat, und du glaubst, gleich überrennt dich die wilde Wutz!

Und dieses Rascheln. Wenn ich aufwache, haben es sich womöglich Mäuse in meinem Schlafsack gemütlich gemacht. Und außerdem: Gibt es im Bayrischen Wald eigentlich Wölfe?

Aber das legt sich im Laufe der Zeit.

Ich bin heute sowieso ruhiger geworden. Ein bisschen jedenfalls. Heute hätte man mir wahrscheinlich ADHS attestiert, so hibbelig, wie ich damals war. Ich war halt so was von energiegeladen; bin es eigentlich immer noch, auch wenn ich es jetzt etwas besser ertrage, mal nichts zu tun. Aber früher, wenn da mein Akku aufgeladen war, dann ging ich ab wie ein aufgezogenes Trommeläffchen. Konnte nicht jeder ertragen.

Ich glaube, ich hatte schon früh das On-the-road-Syndrom. Ich musste unterwegs sein, dann war ich viel ausgeglichener. Das Schönste am Reisen ist für mich noch heute das Unterwegssein selbst, nicht der Moment des Ankommens. Es hielt mich auch nie lange an einem Fleck, so schön der auch sein mochte. Hatte ich alles gesehen oder zumindest das eine oder andere, dann zog es mich wieder weiter. Unter anderem deshalb war Freddy mein idealer Reisepartner.

Vater konnte ihn nie leiden. Diesen Gammler.

Mittlerweile ist es dunkel. Hunger hab ich. Und was trinken sollte ich auch mal. Ein Glas auf Tobi, eins auf Mutter, eine Flasche auf Freddy.

Tobi kommt jetzt übrigens aufs Armaturenbrett. Nicht aus Aberglauben, nee, nee. Einfach aus alter Verbundenheit sozusagen. Nicht mehr als Talisman. Als Maskottchen.

Nach seiner Tour durch Heiligenhaus versorgte sich Reinhardt bei einem Discounter mit einem Sixpack, einer Flasche Dornfelder und einer Tiefkühlpizza. Was Essen anging, war Reinhardt nicht besonders wählerisch, wenn er es selbst zubereiten musste, und beim Wein interessierten ihn eher die Prozente. Hauptsache weder süß noch sauer. Harte Sachen trank er nach früheren Exzessen nur noch selten.

Er fuhr über eine Landstraße bis zu einem Wanderparkplatz, den er für die Nacht auserkoren hatte. Er setzte sich ins Dunkel vor den Bully, sinnierte bei drei Flaschen Bier in den sternenklaren Himmel und sprach dann sein Logbuch. Die alte Travellerstimmung wollte noch nicht so recht aufkommen, obwohl er es genoss, wieder einfach so in der Stille zu sitzen mit den gelegentlichen Geräuschen von Tieren in der Nacht und den immer seltener werdenden, zwischen den Bäumen vorbeifliegenden Scheinwerfern.

Dazu war er gedanklich zu sehr in seiner Kindheit. Er drehte Tobi in der Hand und dachte an seine insgesamt wenig erfreuliche Schulzeit. Er galt als aufgeweckt, aber faul. Auf der Grundschule fiel das noch nicht so sehr auf, aber nachdem er auf das Gymnasium gewechselt hatte, musste er sich nicht nur ständig Ermahnungen anhören, doch endlich still auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben, sowie an Elternsprechtagen auch die ewige Litanei, er könne viel bessere Noten haben, wenn er sich doch endlich mal ein bisschen konzentrieren und regelmäßig seine Hausaufgaben machen würde.

Andererseits besaß er schon früh eine Menge natürlichen Charmes, der seine Lehrer für ihn einnahm und größere Katastrophen wie Sitzenbleiben verhinderte. Er war, was sein Direktor einen Schlawiner nannte. Nicht regelkonform, aber sympathisch.

Das Verhältnis zu seinen Mitschülern war zwiespältig. Für manche war er ein rotes Tuch, weil er ständig dazwischenquasselte und seine Nachbarn ärgerte. Er war kein Klassenclown, aber seine Schlagfertigkeit sorgte für allgemeine Heiterkeit. Er war weder Außenseiter noch Platzhirsch, und so gehörte er stets der In-Group an, ohne aber den Ton anzugeben. Wenn irgendwo etwas Spannendes passierte, war er dabei. Wenn es Ärger gab, fiel er nicht als Erster auf, sodass es ihm meistens gelang, glimpflich davonzukommen.

Die Idee, alle Schultüren nachts mit Pattex zu verkleben, kam von ihm, und er war es auch, der Otte, den Klopper und den Kleinen, Peter Riemann, der neu in der Clique war, dazu anstachelte, konnte hinterher aber Direktor Wehring weismachen, er hätte nichts damit zu tun gehabt. Er habe doch nur herumgesponnen. Dass Peter den Schlüssel des Hausmeisters geklaut hatte und jetzt für Tausende D-Mark alle Schlösser ausgewechselt werden mussten und 800 Schüler fast zwei Stunden lang im Regen gestanden hatten – all das wäre doch nie seine Absicht gewesen. Und er wäre ja auch nicht dabei gewesen.

Das stimmte zwar, war aber nur die halbe Wahrheit. Er war nämlich in dieser Nacht entgegen seiner Zusage einfach zu Hause geblieben. Angeblich wegen Durchfall.

Klopper war doch selbst schuld, wenn er aus Rache behauptete, Reinhardt hätte mitgemacht. Reinhardt hatte ein Alibi. Er hatte doch extra dafür gesorgt, dass er Krach mit seinem Vater hatte wegen der lauten Musik.

Als Reinhardt feststellte, wie ausgehungert er war, ging er in den Bully zurück, wärmte die Pizza auf und hob ein Glas Rotwein auf seinen Kumpel Henning, dem er die Mikrowelle verdankte. Ein paar Minuten später rollte er die Pizza wie einen Wrap zusammen und verschlang sie in derselben Zeit, die das Auspacken und Aufwärmen in Anspruch genommen hatte. Dann setzte er sich den Kopfhörer auf und kroch unter die Decken.

Als die Flasche leer war, drehte er immer noch Tobi