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Sie interessieren sich für fernöstliche Weisheit und Philosophie? Sie möchten Ihre Persönlichkeit stärken und weiterentwickeln? Und Sie möchten als Frau einen klaren Zugang zu Ihren Ressourcen und Kompetenzen gewinnen? Dann betreten Sie mit mir die Welt der japanischen Weglehre und der Kampfkunst! Seien Sie willkommen in meinem Dojo (»Ort des Weges«), meiner Karateschule »Chikara«, und lassen Sie sich von mir ins Vertrauen ziehen, denn dieser Ort birgt viele Geheimnisse. Dieses Buch wendet sich an alle, die über fernöstliche »BeWegung« und deren buddhistisch fundierte Philosophie zu sich selber finden und über sich selbst hinauswachsen möchten. Dabei geht es zum einen ganz praktisch um Techniken und Grundgedanken in einer Frauen-Kampfkunstschule und gleichzeitig um Inspirationen, also wörtlich »Einatmungen«, von spiritueller Kraft. Was ich als Sensei auf diesem fortschreitenden Weg der ganz anderen Art erlebte und erlernte, und warum mir das mehr bedeutete als Sicherheit, materieller Erfolg und Ruhm – auch davon handelt dieses Buch… Dr.in phil. Saskia Schottelius, M. A., Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Sprachwissenschaften und Kommunikationsforschung. Sie ist freie Dozentin für Rhetorik und Interaktion sowie Referentin für Selbstbehauptung, fernöstliche Kampfkunst und deren Philosophie und leitet seit 1995 eine Karateschule für Frauen und Kinder. Verschiedene Veröffentlichungen (u. a.: »Das imaginäre Ich«, »Sagen Sie doch, was Sie wollen«).
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2015
Saskia Schottelius Do –
Der Weg zur inneren MeisterIn
KampfkunstPhilosophie fürs Leben
© 2023 Saskia Schottelius
Lektorat: Ursula Kohler, www.ursulakohler.ch
Korrektorat: Brigitte Luithlen-Neumann
Layout: Gudrun Westphal, www.westphal-design.de
Umschlagfoto Portrait: Thekla Meusel, www.theklameusel.de
Titel-Kalligraphie: Saskia Schottellius
Illustrationen: Antje Meister, www.antje-meister.de
Herausgegeben von: Chikara-Do e. V.
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Saskia Schottelius Do –
Der Weg zur inneren MeisterIn
KampfkunstPhilosophie fürs Leben
Cover
Halbe Titelseite
Urheberrechte
Titelblatt
Vorwort
Willkommen!
1. Chikara – Alternative: Kampfkunst. Kampfkunst ist Lebenskunst
Shuri-ryu-Karate trifft Chikara. Eine Shuri-Geschichte über »Alternative Kampfkunst«
2. Dokan – der Weg ist ein Kreis: Kampfkunst und Zeit
Philosophie und Praxis: Zufall und Be-Sinnung
3. Verändere deine Sprache und du veränderst deine Welt. Das Dojo als Ort für achtsame Kommunikation.
Philosophie und Praxis: »Wer Adam sagt, muss es auch Eva sagen.«46 Die eigene Redeweise optimieren – positiv, inklusiv, gerecht
4. Dem Chi eine Richtung geben oder: Den Trichter umkehren
Philosophie und Praxis: Ein Geist wie das Wasser, ein Geist wie der Mond
Bu-jutsu-/Bujitsu-Grundsätze
5. Where the head goes, goes the body – oder: Mit dem Widerstand gehen. Über die Kunst, den Geist zu lenken.
Exkurs: Wasser – Wissen – Worte. Onomatopoetica in nuce
6. Freiheit und Frieden: Wenn eine wirklich lebt, dann tuns die andren auch.
Exkurs: Die friedvolle Kriegerin
Philosophie und Praxis: Der Weg zur inneren Meisterin – eine entspannte Reise
7. Das Dojo als Mikrokosmos – Wuwei: Handeln durch Nicht-Handeln
Philosophie und Praxis: Stockkampf – Going with the flow
8. Abschied und Tod: Gehen – Lassen
Philosophie und Praxis: Den Wald betreten
Glossar
Literaturverzeichnis
Anstelle eines Nachwortes
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Titelblatt
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Vorwort
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Vorwort
Die Schülerin fragte ihre Meisterin: »Sensei, ich kann den Weg nicht erkennen, wo ist der Weg?« Diese antwortete: »Der Weg ist unter deinen Füßen.«
So einfach und schlicht wie diese asiatische Anekdote kann fernöstliche Philosophie den Weg weisen.
Als ich Saskia Schottelius Ende der 90er Jahre kennenlernte, ahnte ich nicht, dass sie mich auf den Weg der Kampfkunst führen würde. Wir waren Kolleginnen in einer Bildungseinrichtung, ich war ein sehr theoretisch orientierter Mensch und eine fernöstliche Weglehre schien mir als Studienobjekt interessant, aber praktische Ausübung lag mir fern. Doch im Laufe der Zeit entwickelte sich für mich »Chikara«, die Schule, in der ich zuerst Tai Chi und dann Karate lernte, zu einem besonderen Ort, in dem ich nicht nur meine Gesundheit pflegen, sondern auch meinen Geist entwickeln und stärken konnte.
Dieses Jahr wird »Chikara« 20 Jahre alt und hat viele Frauen, Kinder und Jugendliche und auch mich auf vielseitige Weise bewegt. Ich freue mich über das Geschenk, das uns Sensei Saskia Schottelius mit diesem Buch überreicht hat. Denn was wir auf dem Kampfkunstweg erleben und erkennen, ist nur schwer in Worte zu fassen, und doch – auch ohne Karatepraxis – durch dieses Buch gut mitzuvollziehen. Sie werden von der Autorin eingeladen, mit einer offenen Geisteshaltung das Hier und Jetzt wahrzunehmen. Über die Lehre des Kampfes und der mit diesem verbundenen Geschichte hinaus werden Sie auf eine Reise ins Innere geführt.
Jede Gemütsregung, jede Eigenheit, alles, was uns als Persönlichkeit ausmacht, spiegelt sich in einem Dojo (Ort des Weges). Körper, Geist und Seele in Einklang bringen heißt Loslassen können. Es kann nur gelingen durch Ruhe und Gelassenheit, erfahren wir. Kraft und Stärke entstehen durch Distanz von geistiger Anstrengung und durch Konzentration auf das Wesentliche. Die positive Erfahrung, die wir im Dojo machen, wirkt in alle Lebensbereiche hinein. Dabei ist die Kampfkunst nur eine von vielen Möglichkeiten, denn – das macht dieses Buch deutlich – es gibt viele Wege, um unser Bewusstsein zu schärfen und zu entwickeln. Zentral ist allen die »Achtsamkeit in Sprache, in Bewegung« - das Hauptanliegen, dem Saskia Schottelius in ihrer gesamten Arbeit folgt.
Dieses philosophische, informative wie auch ganz persönliche Buch macht Mut, die inneren Kräfte (»Chikara«) zu entwickeln und eigene Wege zu gehen. Es öffnet den Blick für die Freiheit, sich geistig, emotional und körperlich mit dem Ganzen unserer gelebten Wirklichkeit zu verbinden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Klarheit, Freude, Inspiration und – eine Kirschblüte auf Ihrem »Weg zur/m inneren MeisterIn«, Ihre
Dr. phil. Ira Stubbe-Diarra
Geschäftsführerin von Chikara – Frauen in Bewegung e. V.
Im Mai 2015
Willkommen!1
Sie möchten eine Kampfkunst erlernen? Oder wenigstens wissen, womit Sie es dabei zu tun haben könnten? Dann seien Sie willkommen in meinem Dojo, meiner Karateschule Chikara, und lassen Sie sich heranführen von mir in die Welt der Kampfkunst – und was sie alles bedeuten kann.
Dieses Buch wendet sich an alle, die eine Kampfkunst trainieren und/ oder unterrichten (möchten) oder sich auf dem Weg dorthin befinden. Es wendet sich auch an alle Interessierten, die über die Philosophie der Weglehre näher zu sich selbst finden und ihre Persönlichkeit weiterentwickeln möchten.1
Dabei geht es zum einen ganz praktisch um Techniken und Grundgedanken in einer Kampfkunstschule und gleichzeitig um geistige Inspirationen, also wörtlich »Einatmungen« von spiritueller Kraft. Wir blicken von der Praxis des Stockkampfes und der Sitzordnung im Dojo bis hin zu den wesentlichen philosophischen Fragen und Gedanken zu Freiheit, Verbundenheit, Zeit, Raum, Körper, Substanz und Tod – um nur einige zu nennen.
Für mich als Sensei, also wörtlich diejenige, die den Weg vorausgeht, beschreibt »Do« (jap.: der Weg) auch die Stationen und Dimensionen meines eigenen Kampfkunstweges der vergangenen 20 Jahre. Als ich zum ersten Mal meinen Fuß in die Bonner Frauenkarateschule setzte, war ich so fasziniert, dass ich schon kurz darauf meinem Leben eine neue Richtung gab: Als aussichtsreiche Nachwuchswissenschaftlerin mit einer gut gesicherten Karriere begab ich mich barfuß auf den Weg intensiven Karate-Trainings und begann mit 31 Jahren als »Weißgurt« noch einmal von vorne. Was ich auf diesem fortschreitenden Weg der ganz anderen Art erlebte und erlernte, und warum mir dies mehr bedeutete als Sicherheit, materieller Erfolg und Ruhm … – auch davon handelt dieses Buch: nämlich nicht nur den Schwarzen Gürtel zu tragen, sondern wirklich ein/e Sensei zu sein.
Aber das ist ein langer, intensiver Weg. Vielleicht genügt es Ihnen ja, einfach einmal in Gedanken durch eine fernöstliche Schule zu spazieren, mit ihren Geschichten, ihren Gesichtern und einer Weisheit, die uns oft staunen macht. Dann lassen Sie sich ein auf eine andere Sicht der Dinge und der Welt, die zugleich kämpferisch und friedliebend ist, tief schöpfend aus buddhistischer Quelle und holistischer Inspiration, und die trotz aller Fremdheit in der Unio mystica vom »Alles ist eins« mündet.
1 Veröffentlichungen einer Ratgeber-Reihe werden in erster Linie von Frauen gelesen. Deshalb verwende ich überwiegend die weibliche Form sowie gendersensible Sprache und eigene Kreationen. Männer sind dabei fast immer mitgemeint.
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Chikara – Alternative: Kampfkunst. Kampfkunst ist Lebenskunst
Wat Na Phra Larn. Jahreszählung nach dem buddhistischen Kalender
Ich schreibe dieses Buch in einer Zeit, die ich mir als Auszeit gegönnt habe und die ich in einer sehr kleinen thailändischen Hütte neben einem Tempel am Meer verbringe. Jeden Tag gestalte ich den Innenraum dieser Hütte ein wenig anders, um es mir noch komfortabler zu machen. Mal schiebe ich den Koffer auf die andere Seite, um den kleinen Gang frei zu bekommen, mal hänge ich die Wäscheleine in einen günstigeren Winkel zum Ventilator, und schließlich organisiere ich noch ein Mückennetz für die Tür. So wird langsam alles immer praktischer und besser. Und dann denke ich: Es ist doch eigentlich »wie im echten Leben«. Wenn am Ende alles perfekt ist, dann müssen wir gehen.
Gespiegelt in einem tibetischen Mandala aus Sand, das nach monatelanger Mühe und Hingabe wieder vom Erdboden weggewischt wird.
das Leben als Kunstwerk gestalten und genießen
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es für Sie persönlich sein würde, ein/e LebenskünstlerIn zu sein? Wie genau könnte das aussehen? Was wären Ihre kühnsten Fantasien? Würden Sie aussteigen, und wenn ja, woraus? Oder würden Sie sich mehr einlassen, und wenn ja, wie und auf wen oder was? Was bedeutet es für Sie, das Leben als Kunstwerk zu gestalten und zu genießen? Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, nur drei Atemzüge, und hören Sie kurz in sich hinein …
Ganz gleich, was sich nun für Bilder auftun, wovon wir frei sein oder womit wir uns lieber beschäftigen möchten – im Grunde kommt es immer darauf zurück: Mit wie viel Hingabe widmen wir uns den Dingen, wie intensiv lieben wir auf die eine oder andere Art, was wir tun und mit wem wir uns umgeben, und wie gut haben wir das Loslassen gelernt. Die Einsichten dazu sind scheinbar leicht zu gewinnen: Wir können sie durch Zuhören oder Lesen oder durch Reflexion eigener Erfahrungen erhalten. Aber das Umsetzen ist sehr schwer. Wenn es uns gelingt, uns als Persönlichkeit so weiterzuentwickeln, dass wir zugleich der Unschuld eines Kindes und der Weisheit einer in Würde gealterten Person nahekommen, ist das Lebenskunst. Sie wird uns mit mehr Leichtigkeit durch unser kurzes Dasein tragen.
»Martial Art, like any other art, is an expression of the human being«, so Bruce Lee: Kampfkunst ist, wie jede andere Kunst, eine Ausdrucksform des Menschen. Kampfkunst ist ein Weg, die Ideale der Lebenskunst nicht nur theoretisch, sondern in ihrer ganzen Körperlichkeit des Daseins zu erfassen und im Alltag umzusetzen. Kampfkunst kann uns ganz real lehren, worauf es im Zweifelsfall ankommt – und zwar nicht, wie viele meinen, durch ihr kämpferisches Potenzial, sondern durch die buddhistisch inspirierte Weglehre, die sich dahinter verbirgt. Das Kämpfen ist eine der wesentlichen menschlichen und tierischen Formen der Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz. Der »Überlebenskampf« ist dabei nur die stärkste Ausprägung und kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zum Beispiel als Kampf um Nahrungssuche in der Natur. Oder als Kampf gegen eine Krankheit. Der Krieg ist die extremste Form menschlichen Massenkämpfens und am weitesten von den natürlichen Grundprinzipien des fairen Kämpfens entfernt.
Beziehen wir aber das Kämpfen auf die täglichen Auseinandersetzungen und Fragestellungen in unserem Lebensumfeld, so können wir aus den Grundmechanismen der »Martial Arts«, der Kriegskünste2, Einsichten gewinnen, die uns in Einklang und Frieden mit uns selbst und anderen bringen. Durch die »Alternative Kampfkunst« entwickelt sich Chikara, die innere Kraft.
Leben heißt, in Auseinandersetzung zu sein – im Alltag, im Beruf, in der Freizeit und in der Familie. Vor allem aber ist Leben die permanente Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Ego. Das Ego ist wichtig und verleiht unserem Dasein eine eigene Perspektive, die »individuelle Welttheorie«3, wie es in der Kommunikationsforschung genannt wird. Sie verhilft uns, die Dinge aus einem bestimmten Winkel zu betrachten und nicht überfordert zu sein ob der gesammelten, aber zum Glück ungesehenen Möglichkeiten, die uns umgeben. Das ist unsere Ego-Zentrik. Auf der anderen Seite dürfen wir uns das Ego aber beispielsweise auch als kleinen Nikotinteufel vorstellen – und alle (Ex)-RaucherInnen wissen jetzt, wovon ich rede –, der mit seinen permanenten Einflüsterungen nur darauf bedacht ist, unsere Sucht zu erhalten. Obwohl es so scheint, als würde das Nikotin helfen (beruhigen, trösten, ermutigen und so weiter), ist genau das Gegenteil der Fall: Ein im Grunde imaginärer Mangel wird dadurch befriedigt, dass die Sucht weiter aufgebaut wird. Und in diesem Moment größter Abhängigkeit glauben wir die höchste Freiheit zu erleben.
Aber zurück zum Ego: Es dürstet nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Einmaligkeit, Befriedigung und Konsum und lässt uns dennoch leer ausgehen. Manchmal führt es uns sogar über die Grenzen der eigenen Möglichkeiten, zum Beispiel bis zum Burn-out, oder über die Grenzen anderer Menschen hinweg, bis zur Egomanie4. Wenn wir uns aber genügend darum bemühen, hat es gute Chancen, sich in etwas anderes zu verwandeln: in Weisheit mit gesundem Eigensinn. Zu einer solchen Entwicklung kann uns die Kampfkunst und auch jede andere Weglehre verhelfen.
Oft geschieht dies zur Lebensmitte hin: Wir beginnen, uns zu besinnen.5 Wer nicht so lange warten möchte, dem sei empfohlen, sich schon früher mit einer der vielen Wegkünste zu befassen, die sich nach uralten Prinzipien gestalten. Das kann das indische Yoga sein, das chinesische Tai Chi oder Kung Fu oder eine der japanischen Wegkünste wie Karate, der Weg der leeren Hand, Chado, der Teeweg, Kyudo, der Weg des Bogenschießens, oder Ikebana beziehungsweise Kado, die Kunst des Blumensteckens. Überall dort, wo über die darstellende Kunst einer Form, einer Anordnung oder Bewegung hinaus auch der philosophische Hintergrund beleuchtet wird, handelt es sich um eine Art von Do. So
kann Kampfkunst zu Philosophie durch Körperarbeit werden. Achtsamkeit in Bewegung.
Achtsamkeit in Bewegung
Das muss allerdings nicht zwangsläufig passieren. Viele trainieren aus sportlichen, gesundheitlichen oder geselligen Gründen. Das ist völlig in Ordnung. Manchmal ergeben sich ganz nebenbei Entwicklungen in der Persönlichkeit. Meist lassen sie sich sogar gut benennen – vor allem rückblickend. Dann heißt es oft: »Seitdem ich Karate trainiere, bin ich insgesamt viel selbstbewusster/gelassener/zufriedener/ausgeglichener und so weiter geworden.« Vor allem bei Kindern lässt sich das beobachten und einordnen, wenn sie, was oft passiert, zeitgleich in der Schule »besser« werden. In vielen Fällen wird im Nachhinein deutlich, woran jemand »gearbeitet« hat, zum Beispiel im Kampf gegen Bequemlichkeit, zu großen Ehrgeiz, Selbstaufgabe, Minderwertigkeitsgefühle oder anderes.
Die Vermittlung von Kampfkunst ist mehr als ein Sport-Training und gleichzeitig soll sie doch nicht mehr sein wollen. So betone ich gerne immer wieder: »Ich bin nur Karatetrainerin« oder »Wir trainieren hier nur Karate«. Das ist wichtig, da sonst die Gefahr des Psychologisierens besteht und die SchülerInnen sich in ihren Worten und Gedanken verlieren, anstatt zu agieren.
Der Do als Weg der Selbstvervollkommnung öffnet sich langsam, aber von selbst.
Der Do als Weg der Selbstvervollkommnung öffnet sich langsam, aber von selbst. Dies geschieht über die gelebte Praxis der Dojokun oder Dojo-Etikette6 in Form von Respekt, Toleranz, Achtsamkeit, Hingabe, Aufmerksamkeit, Liebe und Demut. Das Feld von ethischen Grundsätzen begleitet die Karateka auf unmerkliche Art und strahlt über das Dojo hinaus. Wer noch nicht bereit ist für diese Erfahrung, wird vielleicht ein gutes körperliches Training in Fitness wie Selbstverteidigung erleben. Wer aber offen ist für den Weg, wird all dies spüren und erkennen und möglicherweise das Dojo selbst als Mikrokosmos begreifen, in dem alles enthalten ist und alles gespiegelt wird, damit wir darin üben können.
Der wahre Weg
Ein Schüler des Zen kommt zu Zen-Meister Nansen und fragt ihn:
»Was ist der wahre Weg?« Der Meister erwidert: »Der alltägliche Weg ist der wahre Weg.« Wiederum fragt der Schüler: »Kann man den Weg erlernen?« Der Meister antwortet: »Je mehr du lernst, desto weiter kommst du vom Weg ab.« Darauf fragt der Schüler: »Wenn man dem Weg nicht durch Lernen näherkommen kann, wie kann man ihn dann erkennen?« Meister Nansen spricht: »Der Weg ist kein sichtbares Ding. Er ist auch kein unsichtbares Ding. Er ist nichts Erkennbares und auch nichts Unerkennbares. Suche ihn nicht, lerne ihn nicht, nenne ihn nicht. Sei weit offen wie der Himmel, und du bist auf dem Weg.«7
Lassen Sie mich kurz erzählen, welchen Karatestil Sie in diesem Buch – gedanklich – kennenlernen werden und in welcher Schule Sie sich bei Chikara befinden.
Shuri-ryu-Karate trifft Chikara. Eine Shuri-Geschichte über »Alternative Kampfkunst«
Der Zweite Weltkrieg, in den noch mein eigener Vater als junger Soldat in den Kampf zog, brachte je nach Lebensraum völlig unterschiedliche Schicksale hervor. Etwa zur gleichen Zeit, als mein Vater in Russland im Lazarett schwer verwundet um sein Leben kämpfte, wurde ein ebenfalls junger Soldat desselben Jahrgangs zum Kampf gegen die Japaner auf die Salomon Islands geschickt. Robert Trias, ein Mittelgewicht-US-Box-Champion, lernte dort den chinesischen Zen-Meister Tung Gee Hsing kennen, der ihn in traditionellen chinesischen Kampfkünsten und Okinawan Shuri-Te nach Choki Motobu unterrichtete.8 Trias kehrte reich belehrt und erfahren in die USA zurück, wo er 1946 die erste amerikanische Karateschule und 1948 den ersten amerikanischen Karateverband gründete. Sein Stil war eine Zusammensetzung aus mehreren traditionell-japanischen Richtungen, und so fügte er die schönsten Katas und Anwendungen für inzwischen weltweit Trainierende zusammen und nannte es Shuri-ryu-Karate9. In seinem »Pinnacle of karate do«10 finden sich zahlreiche Fotos von ihm, dem »Grandmaster des Shuri ryu«, gemeinsam mit vielen Koryphäen der asiatischen Kampfkünste, die illustrieren, wie sehr er auch später dazu beigetragen hat, seinen Stil auf der ganzen Welt zu verbreiten. Teil dieses Unternehmens war auch sein einziges Kind, seine Tochter Roberta11, die schon im Alter von vier Jahren mit dem harten Training begann und mit 18 Jahren die erste Frau war, die einen schwarzen Gürtel im Shuri-ryu-Karate errang.
Damit kam der Moment, in dem die bis hierhin nahtlos männliche Tradition der Überlieferung durchbrochen wurde: Auch eine andere Kampfkünstlerin, Wendi, die ihren Familiennamen aus persönlichen Gründen ablehnte und sich selbst »Dragonfire« nannte, lernte bei Robert Trias Shuri-ryu-Karate und gründete eine der ersten Frauenkampfkunstschulen in den USA, das Valley Women’s Martial Arts Dojo, in Northampton, Massachusetts. Der Kampf, der von nun an ebenfalls in die Welt getragen wurde, war ein Kampf gegen sexualisierte Gewalt, Missbrauch, Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen. Eine große Welle weiblicher Trainierender engagierte sich seit den späten 60er Jahren für ein freies, selbstbestimmtes Leben von Frauen, die sich nicht länger durch körperliche Gewalt bezwingen und zurückhalten ließen. Sie begründeten den Women do (Wendo), den Weg der Frauen, und passten die Kampfkünste an ihre Bedürfnisse an.
Es war die Zeit, in der meine eigene Mutter noch die Erlaubnis meines Vaters brauchte, um eine Arbeit annehmen zu dürfen oder eine Wohnung anmieten zu können. Die Zeit, in der es keine Frauenhäuser gab, in denen die jungen Mütter Schutz finden konnten, die von ihren kriegstraumatisierten, gewalttätigen Männern zu Grunde gerichtet wurden. Es war auch die finstere Zeit meiner eigenen Kindheit und Jugend, die ich in dauerhafter Angst und nicht endendem Schmerz verbrachte.12
Wendi Dragonfire ist es zu verdanken, dass Shuri-ryu-Karate zu einer »alternativen« Kampfkunst wurde, zu einer echten »Alternative: Kampfkunst« für Frauen. Sie bewahrte die ästhetischen Elemente (vor allem in den Katas) und den philosophischen Hintergrund der Lehre und fügte ihr pragmatische Bestandteile hinzu: Trittkombinationen, Greifverteidigungen, Straßenkampf und mehr. Außerdem förderte sie ein frühes Waffentraining durch die Hinzunahme von Modern Arnis, dem philippinischen Stockkampf.
Mit ihrem Schritt nach Europa (in die Niederlande) eröffnete sie zeitgleich eine weitere »Alternative«: Shuri-ryu-Karate für Menschen mit anderen Möglichkeiten, in Deutschland: sogenannten Behinderungen. Bis heute legt Shuri-Ryu Berlin den Schwerpunkt der Arbeit auf die Förderung von integrativem Karate – lange bevor diese Möglichkeit in den Standard-Karateschulen angedacht wurde. Als Wendi Dragonfire die erste Frau im Rollstuhl zum Schwarzgurt brachte, schaffte sie einen ganz neuen Karate-Weg. Ihre Schülerin Lydia Zijdel repräsentiert das Unglaubliche: Sie nimmt an verschiedenen Wettkämpfen teil, unterrichtet auf der ganzen Welt Selbstverteidigung und Karate für Menschen mit zum Teil sehr schweren Behinderungen und bildet TrainerInnen aus. Damit signalisiert sie, dass alles möglich ist: auch mit Querschnittslähmung das Karate-Training zu beginnen und sogar im Rollstuhl um die ganze Welt zu reisen. Als ich 2002, von meiner eigenen Rückenoperation sehr geschwächt, zu einem großen Wettkampf nach Sydney reiste, traf ich sie bei ihren Vorbereitungen zum Marathon-»Lauf«. Heute ist die niederländische Psychotherapeutin und Soziologin Lydia La Rivière-Zijdel Präsidentin der »Europäischen Frauenlobby«.13 Und dann trifft Shuri-ryu-Karate Chikara! Die Verbindung zwischen der Trias-Linie und der Dragonfire-Spirale14 schafft Drs. (NL) Marga Smit aus Den Haag. Sie hat feministische Theologie studiert und unterrichtet jeden Sonntag auf Einladung einer kleinen Gruppe von engagierten Frauen in einer Bonner Turnhalle Shuri-ryu-Karate, wie sie es bei Wendi gelernt hat. Als wir uns 1994 begegnen, ist für mich sofort klar, dass ich meinen Lebensweg als Sprachwissenschaftlerin und Literaturreferentin noch einmal modifiziere, um von da an einer weiteren Berufung zu folgen. 1995 gründet Marga Smit mit mir an der Seite das »Frauenbewegungszentrum Chikara« in der Bonner Innenstadt, aus dem 1997 der Verein »Chikara-Frauen in Bewegung« entsteht, dem ich seit der Gründung vorsitze. In meinen 7 Jahren bis zum Schwarzgurt darf ich so viel von meiner »Oma-Sensei« Wendi und meiner Sensei Marga lernen, dass ich die Schule seit 2002 alleine führe, während Marga den Kreis wieder schließt und sich seit 2002 bei Dr. Roberta Trias-Kelley in den USA auf höchstem Shuri-Niveau weiterentwickelt.
Marga Smit ist es zu verdanken, dass neben den Frauen vor allem auch die Kinder in den Mittelpunkt unserer »Bewegung« rücken. Obwohl heutzutage Gewalt an Kindern häufiger an die Öffentlichkeit kommt als früher, ist das Ausmaß systematischer Gewalt an Frauen und Kindern im Zeitalter der Globalisierung vielleicht noch größer geworden. Inzwischen sind aus den Chikara-Kindern der Anfänge Jugendliche geworden, die eine ganz neue Generation mitbestimmen.
So kommt es, dass einige sehr sensible und für ihr Alter sehr weise junge Männer, dem Kindertraining entwachsend, bei Chikara zu Senseis werden. Und dass nach wie vor ein Großteil an Frauen in »Führungspositionen« den Alltag bei Chikara bestimmen. Sie alle tragen dazu bei, dass es Freiräume gibt für Menschen, die sich bewusst oder unbewusst dem täglichen Kleinkrieg und dem Terror von Konsum, Gier und gesellschaftlichen Machtmechanismen entziehen, um im Leben auch von etwas anderem bewegt zu sein: von der Alternative Kampfkunst.