Doom - Niall Ferguson - E-Book

Doom E-Book

Niall Ferguson

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Beschreibung

Corona ist nicht die letzte Katastrophe der Menschheit, nur ihre jüngste.

Katastrophen lassen sich nicht vorhersagen. Und dennoch: Wenn das Unheil zuschlägt, sollten wir besser gerüstet sein als die Römer beim Ausbruch des Vesuv, die Menschen im Mittelalter bei der rasenden Verbreitung der Pest in ganz Europa oder die Russen bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Aber sind wir das? Haben wir nicht gerade in der Corona-Pandemie alles erlebt an imperialer Überheblichkeit, bürokratischer Erstarrung und tiefer Spaltung? »Doom« schaut mit dem Blick des Historikers und Ökonomen auf die unterschiedlichsten Desaster in der Menschheitsgeschichte. Wir müssen unsere Lektionen aus diesen historischen Beispielen lernen, damit künftige Katastrophen uns nicht in den Untergang führen. Mit einem aktuellen Vorwort des Autors für die deutsche Ausgabe.

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Seitenzahl: 890

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Buch

Katastrophen lassen sich nicht vorhersagen. Und dennoch: Wenn das Unheil zuschlägt, sollten wir besser gerüstet sein als die Römer beim Ausbruch des Vesuv, die Menschen im Mittelalter bei der rasenden Verbreitung der Pest in ganz Europa oder die Russen bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Aber sind wir das? Haben wir nicht gerade in der Corona-Pandemie alles erlebt an imperialer Überheblichkeit, bürokratischer Erstarrung und tiefer Spaltung? »Doom« schaut mit dem Blick des Historikers und Ökonomen auf die unterschiedlichsten Desaster in der Menschheitsgeschichte. Wir müssen unsere Lektionen aus diesen historischen Beispielen lernen, damit künftige Katastrophen uns nicht in den Untergang führen.

Autor

Niall Ferguson, geboren 1964, ist einer der bekanntesten und renommiertesten Historiker unserer Zeit. Er war Professor für Geschichte an der Harvard University und an der Harvard Business School und lehrte u. a. an der Oxford University, an der Stanford University und der London School of Economics and Political Science. Er ist Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University und Fakultätsmitglied am Belfer Center for Science and International Affairs in Harvard. Er gilt als Spezialist für Finanz- und Wirtschafts- und europäische Geschichte. Ferguson ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Der falsche Krieg« (DVA 1999).

NIALL FERGUSON

DOOM

Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft

Aus dem Englischen von

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Doom: The Politics of Catastrophebei Penguin Press, an Imprint of Penguin Random House LLC.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 by Pantheon Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © Niall Ferguson 2021

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: »The Great Day of His Wrath« von John Martin (1789–1854),

© Christopher Wood Gallery, London, UK / Bridgeman Images

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28230-1V006

www.pantheon-verlag.de 

Für Molly, Ayaan, Felix, Freya,

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

Dies ist keine Geschichte unserer unübersichtlichen postmodernen Seuche und keine Geschichte von Pandemien ganz allgemein. Es ist eine Geschichte der Katastrophen – aller erdenklichen Verhängnisse, seien sie geologischer oder geopolitischer, biologischer oder technischer Natur. Wie sonst sollten wir unsere aktuelle Katastrophe – oder jede andere – richtig verstehen?

Kapitel 1: Der Sinn des Todes

Die Lebenserwartung ist zwar in unserem modernen Zeitalter stetig gestiegen, doch der Tod bleibt unausweichlich, und in absoluten Zahlen wird heute mehr gestorben denn je. Trotzdem haben wir uns dem Tod entfremdet. Aber nicht nur jeder Einzelne ist dem Tod geweiht, sondern letztlich die gesamte menschliche Spezies. Einige Weltreligionen und Ideologien beschwören das Nahen der Apokalypse, doch mehr als den Jüngsten Tag sollten wir große Katastrophen fürchten, allen voran Pandemien und Kriege, die der Menschheit in ihrer Geschichte am meisten zu schaffen gemacht haben.

Kapitel 2: Zyklen und Tragödien

Katastrophen sind naturgemäß unvorhersehbar, da die meisten Unglücksfälle (von Erdbeben bis zu Kriegen) keiner normalen Verteilung unterliegen, sondern zufällig oder nach den Gesetzen der Macht verteilt sind. Zyklische Theorien der Geschichte greifen daher nicht. Mit Katastrophen verhält es sich eher wie mit Tragödien: Ihre Propheten finden selten Gehör. Nicht nur, weil Kassandras mehr Katastrophen vorhersehen, als tatsächlich eintreten, sondern auch, weil sie sich einer verwirrenden Vielfalt kognitiver Verzerrungen gegenübersehen. Angesichts der Ungewissheit gehen die meisten Menschen ganz einfach davon aus, dass sie selbst nie Opfer eines Unglücks werden könnten. »Die Glöckchen der Hölle klingeln klingelingeling für dich, aber nicht für mich«, so der Jingle der Menschheit.

Kapitel 3: Graue Nashörner, schwarze Schwäne und Drachenkönige

Viele Katastrophen sind zwar absehbar (graue Nashörner), doch wenn sie schließlich eintreten, erscheinen sie trotzdem völlig überraschend (schwarze Schwäne). Einige haben extreme Folgen, die weit über die Übersterblichkeit hinausgehen (Drachenkönige). Katastrophen sind nicht entweder »natürlich« oder »von Menschen gemacht«. Die Entscheidung, in der Nähe einer potenziellen Katastrophenregion zu siedeln – am Fuße eines Vulkans, in einer Erdbebenregion oder einem Überschwemmungsgebiet –, ist dafür verantwortlich, dass die meisten Naturkatastrophen in gewisser Hinsicht auch von Menschen gemacht sind. Was die Opferzahlen angeht, kommt es in Asien tendenziell häufiger zu Großkatastrophen als im Rest der Welt. Nach asiatischen Maßstäben ist das Große Amerikanische Unglück eine recht harmlose Angelegenheit.

Kapitel 4: Netzwelt

Entscheidend für das Ausmaß einer Katastrophe ist die Frage, wie weit sie um sich greift. Im Falle vor allem von Infektionen ist daher die Struktur des gesellschaftlichen Netzwerks ebenso wichtig wie die Beschaffenheit des Erregers oder irgendetwas anderes (etwa eine Idee), das sich verbreiten lässt. Lange bevor man Krankheiten wie Pest und Pocken richtig verstand, erkannte man schon die Wirksamkeit von Quarantänen, Abstandsregeln und anderen nicht-pharmazeutischen Maßnahmen. Eingriffe wie diese verändern die Netzwerkstruktur und machen die Welt weniger klein. Dabei kann es sich um spontane Verhaltensanpassungen handeln, doch in der Regel müssen sie von oben angeordnet werden.

Kapitel 5: Die Illusion der Wissenschaft

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit bedeutender Fortschritte, vor allem auf dem Gebiet der Bakterienforschung. Trotzdem sollten wir uns keiner fortschrittsgläubigen Interpretation der Medizingeschichte hingeben. Die Kolonialreiche forcierten nämlich nicht nur die Erforschung von Infektionskrankheiten, sondern auch die Globalisierung, und damit schufen sie neue Verbreitungswege für Krankheitserreger, die sich nur zum Teil mit Impfung oder Medikamenten bekämpfen ließen. Die Spanische Grippe von 1918 zeigte der Wissenschaft gnadenlos die Grenzen auf. Fortschritte bei der Bekämpfung von Gefahren werden oft durch eine stärkere Integration und Anfälligkeit des Netzwerks wieder zunichtegemacht.

Kapitel 6: Die Psychologie der politischen Unfähigkeit

Nach einer politischen und militärischen Katastrophe suchen wir die Schuld gern bei unfähigen Führungskräften. Daher hören wir es gern, wenn der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen die Schuld für Hungersnöte bei verantwortungslosen Regierenden und vermeidbarem Marktversagen sieht und nicht bei der schlechten Versorgungslage an sich, und wenn er die Demokratie als beste Maßnahme gegen Hungersnöte betrachtet. Mit diesem Ansatz lassen sich einige der schlimmsten Hungerkatastrophen zwischen 1840 und 1990 erklären. Doch warum sollte Sens Theorie nur auf Hunger zutreffen? Warum nicht auch auf das am eindeutigsten von Menschen gemachte Desaster, den Krieg? Es scheint paradox, dass der Übergang von absolutistischen Weltreichen zu mehr oder minder demokratischen Nationalstaaten mit einem derartigen Ausmaß an Tod und Zerstörung einherging.

Kapitel 7: Von der Boogie-Woogie-Grippe bis Ebola

Im Jahr 1957 schien es vernünftig, einer neuen und tödlichen Variante der Grippe mit einer Mischung aus dem Streben nach natürlicher Herdenimmunität und selektiver Impfung entgegenzutreten. Es gab keine Lockdowns und Schulschließungen, obwohl die Asiatische Grippe in etwa so gefährlich war wie das Coronavirus des Jahres 2020. Der Erfolg von Eisenhowers Reaktion verdankt sich nicht nur dem Geschick der Regierung, sondern auch der verbesserten internationalen medizinischen Zusammenarbeit während des Kalten Krieges. Doch die Erfolge der 1950er, 1960er und 1970er täuschten. AIDS zeigte die Schwäche der nationalen und internationalen Gesundheitsbehörden auf, genauso wie SARS, MERS und Ebola.

Kapitel 8: Die Fraktalgeometrie der Katastrophe

Es wird immer Unfälle geben, ob die Titanic, die Challenger oder Tschernobyl. Kleine Katastrophen sind wie ein Mikrokosmos der großen, doch weil sie weniger komplex sind, lassen sie sich leichter verstehen. Die Gemeinsamkeit aller Desaster, von Schiffsuntergängen bis Reaktorexplosionen, ist eine Kombination aus Betriebs- und Managementfehlern. Der Knackpunkt befindet sich oft gar nicht an der Spitze, sondern in der mittleren Führungsebene – eines der Lieblingsthemen des Physikers Richard Feynman und eine Erkenntnis, die sich allgemein anwenden lässt.

Kapitel 9: Die Seuche

Wie so viele Pandemien der Vergangenheit kam Covid-19 aus China. Doch die sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf den Rest der Welt stellten alle Erwartungen auf den Kopf. Länder wie die Vereinigten Staaten oder Großbritannien erwiesen sich als schlecht vorbereitet und wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Länder wie Taiwan und Südkorea haben dagegen ihre Lektion aus SARS und MERS gelernt. Die Versuchung ist groß, die Schuld für die anglo-amerikanische Krise allein bei der Unfähigkeit ihrer populistischen Politiker zu suchen. Die eigentliche Ursache liegt tiefer. In beiden Ländern versagte das gesamte Gesundheitswesen, und die Verbreitung von Fehlinformationen zum Coronavirus über soziale Medien trug zu einer mangelhaften und oftmals kontraproduktiven Reaktion der Öffentlichkeit bei.

Kapitel 10: Die wirtschaftlichen Folgen der Seuche

Der Umschwung von Selbstgefälligkeit zu Panik Mitte März 2020 führte viele Länder in einen wirtschaftlich verheerenden Lockdown. War das die richtige Antwort auf die vom Coronavirus aufgeworfenen Probleme? Wahrscheinlich nicht, doch genauso falsch war der Versuch der Vereinigten Staaten, im Juni und Juli ohne ausreichende Tests und Kontaktverfolgung zur Normalität zurückzukehren. Absehbare Folgen waren die zweite Welle und ein schleichend langsamer Aufschwung. Weniger absehbar waren dagegen die Unruhen in Sachen Rassismus, die verblüffende Ähnlichkeit mit Massenbewegungen in früheren Pandemien aufwiesen.

Kapitel 11: Die drei Sonnen

Man hört allenthalben, die Vereinigten Staaten hätten durch die Corona-Krise gegenüber China an Boden verloren. Das ist vermutlich falsch. Die aktuellen Weltmächte – die Vereinigten Staaten, China und die Europäische Union – haben in der Pandemie auf jeweils eigene Weise versagt. Doch die Länder, die die Krise gut gemeistert haben, werden kaum ein Interesse daran haben, sich in Xi Jinpings panoptisches Imperium einzureihen. In vielerlei Hinsicht hat die Krise eher die Beharrlichkeit der amerikanischen Vormacht aufgezeigt: in finanzieller Hinsicht, im Wettlauf um den Impfstoff und im Technologiekrieg. Der Abgesang auf die Vereinigten Staaten ist einmal mehr verfrüht, doch die Gefahr eines neuen Kalten Kriegs wächst.

Schluss: Zukünftige Schrecken

Wir können nicht wissen, wie die nächste Katastrophe aussehen wird. Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, unsere politischen Systeme widerstandsfähiger zu machen und besser noch so aufzustellen, dass sie an Krisen wachsen. Dazu benötigen wir jedoch ein besseres Verständnis von Netzwerkstrukturen und bürokratischer Dysfunktion. Wer im Namen der öffentlichen Sicherheit einen neuen Totalitarismus der allgegenwärtigen Überwachung akzeptiert, der macht sich nicht klar, dass einige der schlimmsten in diesem Buch beschriebenen Katastrophen von totalitären Regimen verursacht wurden.

Nachwort zur deutschen Paperbackausgabe

Dank

Anmerkungen

Register

Vorwort zur deutschen Ausgabe

»An dieser Stelle möchte ich unterbrechen. Ich lege das Skript weg und will über mein wiederkehrendes Untergangsgefühl reflektieren… Im Moment habe ich wirklich Angst.«

Rochelle Walensky, CBS News, 30. März 2021

»Happy Days Are Here Again.«

Lied von Milton Ager und Jack Yellen, verwendet in Franklin D. Roosevelts Wahlkampf 1932

Es war eines der denkwürdigsten Missverständnisse des Kalten Krieges. Als der chinesische Premierminister Zhou Enlai 1971 von Henry Kissinger um seine Meinung zu den Auswirkungen der Französischen Revolution gefragt wurde, erwiderte er, es sei »noch zu früh, um ein Urteil abzugeben«. Das klang nach tiefer chinesischer Weisheit und Weitsicht, die in Jahrhunderten dachte und nicht in Wochen, wie westliche Politiker. Doch wie der amerikanische Diplomat Chas Freeman 2011 verriet, glaubte Zhou damals, Kissinger habe die Studentenunruhen von 1968 gemeint und nicht die Revolution von 1789.

Es wäre müßig, diesem Buch vorwerfen zu wollen, es sei zu früh geschrieben worden – zu einem Zeitpunkt, als noch gar nicht absehbar war, welche Dimension die Corona-Pandemie annehmen und welche Folgen sie haben würde. Da sich nur drei der elf Kapitel mit der Pandemie von 2020/21 beschäftigen, wäre der Vorwurf angebrachter, dass es zu spät kommt und dass es von größerem Nutzen gewesen wäre, wenn es schon 2019 vorgelegen hätte. Aber zu früh? Es wäre absurd, von einem Buch die Aktualität einer Tageszeitung zu erwarten, doch genauso falsch wäre es, von einem Historiker zu verlangen, er solle das Ende eines Ereignisses abwarten, bevor er darüber schreibt. Denn wann ist eine Pandemie vorüber? In diesem Buch vertrete ich unter anderem die These, dass nicht alle Katastrophen eigenständige, feinsäuberlich abgrenzbare Ereignisse sind. Die Beulenpest suchte London zwischen 1348 und 1665 immer wieder heim. Die Grippe war der Serienmörder des 20. Jahrhunderts und ist im Grunde bis heute nicht vorbei. Gleiches gilt auch für politische Katastrophen. Jules Michelet veröffentlichte seine Geschichte der Französischen Revolution zwischen 1847 – am Vorabend einer weiteren Revolution – und 1853 – dem Jahr nach der Krönung Napoleons III. Doch seine Darstellung findet heute weit weniger Leser als Edmund Burkes Betrachtungen über die Revolution in Frankreich, die auf verblüffende Weise vorhersahen, dass der Angriff auf die traditionellen Institutionen in einer »bösartigen und unwürdigen Oligarchie« und letztlich in einer Militärdiktatur enden würde. Burke prophezeite, wohin die Utopien der französischen Intellektuellen führen würden: »Am Ende jeder Straße ein Galgen.« Diese Worte veröffentlichte er im November 1790, mehr als ein halbes Jahr vor der Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes und mehr als zwei Jahre vor dessen Hinrichtung. Würde man Burke vorwerfen, sein Buch zu früh veröffentlicht zu haben?

Wenn man in einem Buch über Katastrophen auch auf eine nicht abgeschlossene Katastrophe eingeht, dann deshalb, weil man nie zu früh aus Fehlern lernen kann. Mag sein, dass wir die Nase voll haben von der Corona-Pandemie und uns nach der Rückkehr zum »normalen Leben« sehnen, wie Kinder auf dem Rücksitz, die schon kurz nach Beginn der Fahrt quengeln: »Sind wir bald da?« Aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass uns SARS-CoV-2 noch lange erhalten bleibt und dass unser Gesundheitswesen noch auf Jahre hinaus eine Art Topfschlagen oder Blinde Kuh mit immer neuen Varianten des Virus spielen wird. In diesem Fall müssen wir schon heute darüber sprechen, was in der ersten großen Phase der Pandemie schiefgegangen ist.

Die allgemeine Theorie der Katastrophen, die ich in diesem Buch aufstelle, lässt sich wie folgt vereinfachen: Erstens sind Katastrophen qua Definition unvorhersehbar und gehören ins Reich des Ungewissen. Jeder Versuch, sie vorherzusagen, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn hin und wieder eine Kassandra einen Glückstreffer erzielt. Zweitens lassen sich natürliche und von Menschen gemachte Katastrophen nicht so eindeutig unterscheiden, wie man meinen möchte: Die Übersterblichkeit ist fast immer eine Folge menschlichen Handelns, weshalb die »Katastrophenpolitik« die beste Erklärung dafür ist, warum das Virus je nach Land ganz unterschiedliche Auswirkungen hatte. Drittens befindet sich bei den meisten Katastrophen der entscheidende Schwachpunkt nicht an der Spitze, sondern weiter unten in der Hierarchie (bei Richard Feynmans nie erreichbarem NASA-Bürokraten »Mr. Kingsbury«), auch wenn eine unfähige Führung immer in der Lage ist, aus einer schlimmen Situation eine noch viel schlimmere zu machen. Viertens werden von physischen Krankheitserregern verursachte Epidemien oft noch durch geistige Epidemien verstärkt, so wie Kriege nicht nur durch Armeen, sondern auch durch die Moral der Truppe entschieden werden. Und schließlich lässt es die Unvorhersehbarkeit von Katastrophen ratsamer erscheinen, allgemein paranoid zu sein, als den Apparat auf den falschen Notfall vorzubereiten. Eine schnelle Reaktion auf erste Warnungen ist entscheidend für die Widerstandsfähigkeit und Antifragilität, auch wenn man durch Selbstgefälligkeit leicht zum Opfer des eigenen Erfolgs werden kann (siehe den rapiden Anstieg der Infektionszahlen in Taiwan im Mai 2021).

Warum scheiterten so viele westliche Länder 2020 an der Eindämmung des neuartigen Coronavirus, und warum erlebten sie in der Folge die höchste Übersterblichkeit seit den 1950er Jahren? In diesem Buch behaupte ich, dass es falsch wäre, die Schuld bei populistischen Politikern zu suchen, auch wenn diese mit ihrer Unberechenbarkeit sicherlich einen Beitrag zu den hohen Opferzahlen geleistet haben. Ursache war vielmehr das Versagen der Gesundheitsbehörden, das auch in Ländern ohne populistische Führung zu beobachten war. Es gab zwar Pläne für den Pandemiefall, doch die griffen nicht. Testkapazitäten wurden zu langsam aufgebaut, die Kontaktverfolgung blieb im Ansatz stecken, Quarantänen wurden nicht durchgesetzt, die vulnerablen Gruppen der Bevölkerung (vor allem in Seniorenheimen) wurden nicht geschützt und noch zusätzlich in Gefahr gebracht. Diese Fehler kosteten die meisten Menschenleben, und es wäre unseriös, Donald Trump und Boris Johnson persönlich dafür haftbar machen zu wollen. In seinem Buch The Premonition kam Michael Lewis auf anderem Weg zu seiner ganz ähnlichen Schlussfolgerung. Wie eine seiner Kassandras sagt: »Trump war eine Begleiterkrankung.« Genau wie Johnson, wenn man Dominic Cummings’ Darstellung des britischen Regierungsversagens Glauben schenkt. Die entscheidende Aussage in Cummings’ Stellungnahmen vom Mai 2021 war nicht, dass der Premierminister »für sein Amt ungeeignet ist«, sondern, dass der gesamte Apparat versagte: Nicht nur die gewählten Politiker, sondern auch Beamte und Gesundheitsexperten »blieben in katastrophaler Weise hinter den Maßstäben zurück, wie sie die Öffentlichkeit zu Recht erwarten darf«.

Es wäre daher ein großer Irrtum zu glauben, dass die Übersterblichkeit unter anderen Präsidenten oder Premierministern viel niedriger ausgefallen wäre. Joe Bidens Stabschef Ron Klain gestand, wenn die Schweinegrippe des Jahres 2009 so tödlich gewesen wäre wie das Coronavirus, dann hätte die Regierung von Präsident Barack Obama ähnlich versagt: »Wir haben alles falsch gemacht. Damals haben sich 60 Millionen Amerikaner mit H1N1 infiziert. Es war reines Glück, dass daraus nicht eines der tödlichsten Ereignisse in der amerikanischen Geschichte wurde. Es hatte nichts damit zu tun, dass wir richtig gehandelt hätten. Wir hatten einfach Glück.«

Die englische Ausgabe von Doom ging Ende Oktober 2020 in den Satz, danach konnte ich nur noch kleinere Korrekturen in den Fahnen vornehmen. Seither haben sich viele neue Entwicklungen ergeben, die ich teils korrekt vorhersehen konnte, teils aber auch nicht. Ich war zu Recht zuversichtlich, was die Impfstoffentwicklung anging, auch wenn ich selbst in meinen optimistischsten Momenten nicht gewagt hätte, eine Wirksamkeit von über 90 Prozent vorherzusehen, wie sie die Vakzine von BioNTech/Pfizer und Moderna erreichen. Genauso wenig konnte ich absehen, wie effektiv Regierungen, die bei der Eindämmung des Virus versagt hatten, diese Impfstoffe einkaufen und einsetzen würden. In dieser Hinsicht war ich zu pessimistisch.

Andererseits war ich zu optimistisch in meiner Einschätzung, dass die Letalität der Corona-Pandemie in etwa derjenigen der Asiatischen Grippe von 1957/58 entsprechen würde, der rund 0,04 Prozent der Weltbevölkerung zum Opfer fielen. Die tatsächlichen Opferzahlen könnten deutlich höher liegen – je nach Schätzung zwischen 0,095 bis 0,17 Prozent der Weltbevölkerung, die mangelnde Erfassung der Corona-Toten in Entwicklungsländern eingerechnet. Damit bleibt die Corona-Pandemie allerdings weit hinter der Spanischen Grippe von 1918/19 zurück, der geschätzte 1,7 Prozent der Weltbevölkerung zum Opfer fielen. Doch wenn man das Altersprofil der Opfer und damit die Zahl der verlorenen Lebensjahre zugrunde legt, bleibt die Corona-Pandemie tatsächlich deutlich näher an der Asiatischen als an der Spanischen Grippe. Allerdings habe ich die Probleme mit neuen Mutationen des Virus unterschätzt, die bereits genesene Patienten ein weiteres Mal infizieren und die Wirksamkeit der Impfstoffe verringern können, und damit auch das Ausmaß weiterer Wellen in und um Brasilien, Indien und Südafrika.

Wie geht es nun weiter? In seinem Buch Apollo’s Arrow fragte mein Freund Nicholas Christakis, ob wir nach der Pandemie eine Neuauflage der Goldenen Zwanziger Jahre erleben könnten, wie unsere Großeltern und Urgroßeltern nach der Spanischen Grippe von 1918/19:

Die gesteigerte Religiosität und Selbstreflexion während der Pandemie könnte einer größeren Risikofreudigkeit, Zügellosigkeit und Lebensfreude in der Welt nach der Pandemie weichen. Die Attraktivität der Metropolen wird wieder erkennbar werden. Die Menschen werden unermüdlich gesellschaftliche Massenereignisse wie Sportveranstaltungen, Konzerte oder politische Kundgebungen besuchen. Nach einer schweren Epidemie erkennen die Menschen nicht nur einen neuen Lebenssinn, sondern auch neue Chancen. Die 1920er Jahre brachten den Rundfunk, den Jazz, die Harlem Renaissance und das Frauenwahlrecht.

Das war nicht nur einer der am wenigsten tiefgründigen, sondern auch der meistzitierte Absatz aus seinem Buch. Es war zudem eine sehr schmeichelhafte Darstellung der 1920er Jahre – eines Jahrzehnts, das man in den Vereinigten Staaten nicht nur mit dem Bubikopf, sondern auch mit Bandengewalt und andernorts mit Hyperinflation, Bolschewismus und Faschismus in Verbindung bringt. So oder so sind Zweifel angebracht, dass die Zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts irgendetwas Goldenes an sich haben könnten. Der Rest des Jahrzehnts könnte eher in traurigem Grau gehalten sein. Nicht Roaring, sondern Boring Twenties.

Immer neue Ausbrüche und Varianten (die so lange auftreten werden, wie ein Großteil der Weltbevölkerung nicht geimpft ist) könnten regelmäßige Auffrischungsimpfungen erforderlich machen, vielleicht mehr als einmal pro Jahr; sie könnten uns zwingen, stets eine dieser lästigen Masken in unseren Jacken- und Handtaschen mit uns herumzutragen; und sie könnten von uns verlangen, jedes Mal Internetformulare auszufüllen, bevor wir Büros betreten und Flugzeuge besteigen dürfen. Ebenso traurig wird es sein, dabei zuzusehen, wie verschiedene Länder ihre Auseinandersetzungen wieder aufnehmen, kaum dass sie das Coronavirus einigermaßen unter Kontrolle gebracht haben. Ein gutes Beispiel ist der endlose Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern: Kaum war Israel mit einer Impfquote von über 58 Prozent in die Nähe der Herdenimmunität gekommen, als Raketen vom Gazastreifen auf Jerusalem abgefeuert wurden. Weniger blutig, aber genauso traurig ist die Wiederkehr des ewigen Themas der schottischen Unabhängigkeit, kaum dass die Zahl der täglichen Corona-Toten in Großbritannien in den einstelligen Bereich fiel. Es wird nicht lange dauern, bis sich die Europäer wieder über Zuwanderung in die Haare bekommen; die Franzosen haben bereits damit begonnen.

Die Tristesse der Pandemie schließt weitere Katastrophen leider nicht aus. Wie ich in diesem Buch zeige, kann sich ein »graues Nashorn« – eine leicht vorhersehbare Katastrophe – bei seinem Eintreffen leicht als »schwarzer Schwan« entpuppen, eine schwer vorhersehbare und deutlich größere Katastrophe. Allerdings gehört viel mehr dazu, um aus einem schwarzen Schwan einen »Drachenkönig« zu machen, eine Katastrophe von historischen Ausmaßen, deren Folgen weit über die Opferzahlen der Krankheit selbst hinausreichen. Dazu müsste auf die Übersterblichkeit der Pandemie eine Kaskade wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, politischer und geopolitischer Konsequenzen folgen. Ende Mai 2021 zeichnet sich ab, dass eine solche Kaskade just in dem Moment beginnen könnte, in dem wir die Pandemie besonders leid sind.

Bei Drucklegung dieses Buchs waren die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie noch nicht absehbar. »Mussten wir eine Stagnation fürchten oder die Rückkehr der Inflation?«, schrieb ich. Im Februar dieses Jahres beantwortete der Wirtschaftswissenschaftler Larry Summers, der 2014 den Gedanken der säkularen Stagnation wiederbelebt hatte, diese Frage, als er davor warnte, dass unverhältnismäßige Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur angesichts eines vergleichsweise geringen Rückgangs der Produktion in den Vereinigten Staaten eine Inflation auslösen könnten (andernorts ist die Diskrepanz zwischen dem Einbruch der Konjunktur und den staatlichen Maßnahmen weniger ausgeprägt). Es wird immer wahrscheinlicher, dass die durch das Zusammentreffen von Konjunkturmaßnahmen und pandemiebedingten Lieferschwierigkeiten verursachte Inflation mehr als nur eine »vorübergehende« Erscheinung ist, wie die amerikanische Notenbank versichert, und dass die Inflationserwartung außer Kontrolle gerät, wie dies in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre der Fall war. »Offen gestanden begrüßen wir einen leichten Anstieg der Inflation«, so der Präsident der US-Notenbank – Worte, die er noch sehr bereuen könnte. »Die besorgniserregende Inflation, mit der meine Generation aufgewachsen ist, erscheint im nationalen und internationalen Kontext der vergangenen Jahre unwahrscheinlich.« Mag sein, dass ohne größere geopolitische Erschütterungen – wie es der Vietnamkrieg und die Nahostkonflikte waren, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er die Preisspirale ankurbelten – die Inflation unter 2 Prozent bleibt. Vielleicht wird das billige Geld ähnlich wie nach der Finanzkrise 2008/09 lediglich zu Spekulationsblasen bei verschiedenen Anlageobjekten führen und die Verbraucherpreise unberührt lassen. Andererseits ist noch nicht absehbar, wie lange die Störungen der globalen Lieferketten bei Lebensmitteln und anderen Konsumgütern bestehen bleiben und wie tief sie ausfallen werden: Je schlimmer die Gesundheitskrise in den Entwicklungsländern, umso größer das Problem. Außerhalb der Vereinigten Staaten wird die Inflation vermutlich ein größeres Problem werden.

Die politischen Konsequenzen der Pandemie waren vor einigen Monaten besser abzusehen. Donald Trump verlor die Präsidentschaftswahlen, die er ohne die Pandemie vermutlich gewonnen hätte; Boris Johnson hatte Glück, dass seine Wahl schon im Dezember 2019 stattfand. Trotz seiner stümperhaften Politik erlitt Trump jedoch keine vernichtende Wahlniederlage. Und die Vereinigten Staaten verwandelten sich auch weder in eine Weimarer Republik, noch versanken sie in einem Bürgerkrieg, auch wenn die Erstürmung des Kapitols durch einen Mob von Trump-Unterstützern und Anhängern des QAnon-Kults am 6. Januar 2021 diejenigen zu bestätigen schien, die so etwas an die Wand gemalt hatten. Sollte das Trump-Team tatsächlich mit dem Gedanken eines Staatsstreichs gespielt haben, als es an jenem Morgen zu seiner Kundgebung aufrief? Oder handelte es sich lediglich um einen Versuch, die Kongressabgeordneten einzuschüchtern, der aus dem Ruder lief, weil das Kapitol nicht ausreichend von Sicherheitskräften geschützt wurde? Ermittlungen ergaben, dass nur ein kleiner Teil der Demonstranten, die an jenem Tag ins Kapitol eindrangen, Verbindungen zu Rechtsextremen und Milizen hatte. Die Angeklagten kamen überwiegend aus der weißen Mittelschicht und waren vor allem von Verschwörungstheorien motiviert, wie sie QAnon über die sozialen Medien verbreitete. Umfragen im Januar ergaben, dass die überwiegende Mehrheit der republikanischen Wähler (rund 70 Prozent) die Wahlniederlage Trumps nicht anerkennen wollte, doch nur eine Minderheit hatte eine positive Meinung von den randalierenden Demonstranten.

Die wahre Bedeutung der Ereignisse jenes 6. Januar ist eine ganz andere. Erstens gaben sie den Technologiekonzernen einen Grund, Trump aus den sozialen Medien (und damit aus dem öffentlichen Forum der Gegenwart) zu verbannen – ein viel wirkungsvollerer Coup als der, dessen Sinnbild ein alberner QAnon-Schamane wurde. Und zweitens stärkte Trumps unsinnige Anfechtung der Wahlergebnisse die neue Regierung der Demokraten. Biden war als Kandidat der Mitte und des Ausgleichs angetreten, doch in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit hatte die gut geölte Parteimaschinerie der Demokraten Rettungspakete im Umfang von knapp 6 Billionen Dollar auf den Weg gebracht. Das hehre Gerede von einer »Präsidentschaft des Wandels«, das den Demokraten nahestehende Medien verbreiteten, übersah jedoch, dass die Demokraten in beiden Kammern lediglich über eine hauchdünne Mehrheit verfügen, ganz im Gegensatz zu den breiten Mehrheiten, mit denen Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson ihre innenpolitischen Programme umsetzten. Dass Biden zum anderen Extrem überging, hatte absehbare Folgen: nicht nur einen Anstieg der Inflation, sondern auch eine Flut illegaler Zuwanderer aus Zentralamerika in Reaktion auf das Ende von Trumps harter Grenzpolitik sowie einen weiteren Anstieg von Gewaltverbrechen, der im Sommer 2020 begonnen hatte und mit den Reaktionen auf den Tod von George Floyd zusammenhängt.

Doch die wichtigste Folge der Pandemie scheint geopolitischer Natur zu sein. Der Zweite Kalte Krieg, der bereits vor der Pandemie begann, wird auch von der neuen Regierung in Washington fortgesetzt. Wie im abschließenden Kapitel des Buchs vorhergesehen und von Biden im Wahlkampf angekündigt, geht die neue US-Regierung in vieler Hinsicht noch schärfer gegen China vor als ihre Vorgängerin und weitet die Kritik an der Kommunistischen Partei Chinas nun auch auf Fragen der Demokratie und der Menschenrechte aus, für die sich Trump nie interessierte. Wenn sie nun versucht, mit Verbündeten wie Australien, Indien und Japan eine Koalition gegen den chinesischen Einfluss zu schmieden, dann verfolgt sie einen grundlegend anderen Ansatz als Trump mit seinem wahllosen Protektionismus. Kein Treffen der Trump-Ära weckte so sehr Erinnerungen an einen Kalten Krieg wie die frostige Begegnung des neuen Außenministers Anthony Blinken mit seinem chinesischen Amtskollegen Yang Jiechi im März 2021 in Anchorage. Wir sollten uns daran erinnern, dass der erste Kalte Krieg in seiner Anfangsphase einen ausgesprochen heißen Krieg in Korea hervorbrachte. Eine der großen Gefahren der Zeit nach der Pandemie ist eine ähnliche Eskalation der Konfrontation um Taiwan. Rezensenten, die nicht verstanden, warum Doom mit einer Erörterung eines neuen Kalten Kriegs endet, haben übersehen, dass Pandemien und Kriege in der Geschichte oft aufeinander folgen und sogar Hand in Hand gehen können.

Wie Henry Kissinger einst sagte: »Jeder Erfolg ist nur die Eintrittskarte für ein schwierigeres Problem.« Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China vor genau fünfzig Jahren erzielte Kissinger in der Tat einen großen Erfolg. Doch für die Vereinigten Staaten erweist sich dieser Erfolg heute als Eintrittskarte zu einem neuen Kalten Krieg. Aber auch mit einem Misserfolg kann man sich Eintrittskarten verdienen. Weil die westlichen Regierungen nicht in der Lage waren, das Virus so erfolgreich einzudämmen wie Taiwan und Südkorea, waren sie auf eine erfolgreiche Impfstoffentwicklung angewiesen. Die Geschichte kann manchmal aussehen wie eine Abfolge von einer verdammten Katastrophe nach der anderen, doch manchmal stößt eine Katastrophe eine kreative Reaktion an, genau wie Erfolg oft zu Selbstgefälligkeit führt. Wenn ich mich nach Abschluss dieses Buches – einem Kind des Seuchenjahrs – nun wieder auf die ganz anderen Herausforderung der Biografie konzentriere, nämlich auf den zweiten Band meiner Kissinger-Biografie, fällt mir auf, wie Recht Henry Kissinger mit seinem Aphorismus hatte, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Lebensweg jedes Einzelnen, sondern auch mit Blick auf unser Katastrophenmanagement und Missmanagement im Laufe der Geschichte.

Stanford, Juni 2021

Einleitung

Weit besser hast du es als ich, Die Gegenwart nur rühret dich Vergangenheit, ach, martert mich, Mit Reu und Plage, Die Zukunft, ach, verhüllet sich, Ich ahn’ und zage.

Robert Burns, »An eine Maus«

Bekenntnisse eines Superspreaders

Noch nie zu unseren Lebzeiten war die Ungewissheit um die Zukunft so groß – genau wie unsere Unwissenheit um die Vergangenheit. Anfang 2020 erkannten nur wenige Menschen die Tragweite der aus Wuhan kommenden Nachrichten, die ein neuartiges Coronavirus vermeldeten. Als ich in der Woche vor dem 26. Januar 2020 zum ersten Mal öffentlich über eine wahrscheinlicher werdende globale Pandemie sprach,1 wurde ich als Exzentriker abgetan – zumindest von der Mehrheit der Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos, die der Gefahr gegenüber blind zu sein schienen. Die Medien waren sich einig, dass das Coronavirus eine kleinere Gefahr für die Bevölkerung darstellen würde als die alljährliche Grippewelle. Am 2. Februar schrieb ich: »Wir haben es nun mit einer Epidemie im bevölkerungsreichsten Land der Erde zu tun, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer globalen Pandemie ausweiten könnte … Für uns besteht die Herausforderung darin, dem merkwürdigen Fatalismus zu widerstehen, mit dem sich die meisten von uns weigern, Reisen abzusagen und unbequeme Masken zu tragen, während sich ein gefährliches Virus exponentiell ausbreitet.«2 Im Rückblick lesen sich diese Sätze wie ein heimliches Bekenntnis. Im Januar und Februar war ich selbst geradezu manisch unterwegs, genau wie während der zurückliegenden zwanzig Jahre. Im Januar flog ich von London nach Dallas, von Dallas nach San Francisco und von da aus weiter nach Hongkong (8. Januar), Taipei (10. Januar), Singapur (13. Januar), Zürich (19. Januar), wieder zurück nach San Francisco (24. Januar) und von dort schließlich weiter nach Fort Lauderdale (27. Januar). Ein oder zwei Mal setzte ich mir eine Maske auf, konnte sie aber nach einer Stunde nicht mehr ertragen und nahm sie wieder ab. Im Februar flog ich kaum weniger, wenn auch nicht mehr so weit: nach New York, Sun Valley, Bozeman, Washington, D.C. und Lyford Cay. Sie mögen sich fragen, was das für ein Leben ist. Ich machte Witze, dass mich meine Vortragsreisen zu einem »Historiker von Welt« gemacht hatten. Erst später wurde mir klar, dass sie mich auch zu einem der Superspreader gemacht haben könnten, die mit ihrer hyperaktiven Reisetätigkeit das Virus von Asien über den Rest der Welt verbreiteten.

Während der ersten Hälfte des Jahres 2020 war meine wöchentliche Zeitungskolumne eine Art Seuchentagebuch, wobei ich mit keinem Wort erwähnte, dass ich fast den gesamten Februar über von einem hartnäckigen Husten geplagt wurde. (Um meine Vorträge durchzustehen, griff ich zum Whisky.) »Sorgt euch um eure Großeltern«, schrieb ich am 29. Februar. »Die Sterblichkeit der über 80-Jährigen liegt bei 14 Prozent, während sie für die unter 40-Jährigen gegen null geht.« Die weniger beruhigenden Daten zu asthmageplagten Männern Mitte fünfzig unterschlug ich. Ebenso wenig erwähnte ich, dass ich während dieser Zeit zweimal einen Arzt aufsuchte, nur um jedesmal zu erfahren, dass es noch keine Tests für Covid-19 gab. Ich wusste nur, dass die Sache ernst war, und zwar nicht nur für mich und meine Familie:

Wer unbekümmert behauptet: »Das ist nicht schlimmer als die Grippe«, der hat nicht verstanden, worum es geht …

Es herrscht große Unsicherheit, weil das Virus in der Anfangsphase so schwer nachzuweisen ist, in der viele Träger ansteckend sind, aber keine Symptome aufweisen. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Menschen sich angesteckt haben, und daher können wir nichts über Reproduktionszahlen und Sterblichkeit aussagen. Es gibt keinen Impfstoff und kein Medikament.3

In einem anderen Artikel, der am 8. März im Wall Street Journal erschien, schrieb ich: »Wenn sich in den Vereinigten Staaten im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Menschen infizieren wie in Südkorea, dann haben sie bald etwa 46 000 Fälle und über 300 Tote – oder 1200, wenn die Sterblichkeit so hoch ist wie in Italien.«4 Damals gab es in den Vereinigten Staaten gerade einmal 541 bestätigte Coronainfektionen und 22 Todesfälle. Kaum zwei Wochen später, am 24. März, erreichten wir 46 000 Infizierte, am Tag darauf 1200 Coronatote.5 Am 15. März schrieb ich: »Der John F. Kennedy Airport war gestern überfüllt mit Menschen, die genau das tun, was Menschen seit urdenklichen Zeiten während einer Pestepidemie tun: Sie fliehen aus der Stadt und verbreiten dabei das Virus … Wir treten in die Panikphase der Pandemie ein.«6 An diesem Tag flog ich zusammen mit meiner Frau und meinen beiden jüngsten Kindern von Kalifornien nach Montana. Von dort habe ich mich seither nicht mehr wegbewegt.

In der ersten Hälfte des Jahres 2020 beschäftigte mich nichts anderes mehr. Warum eine derart intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema? Meine Kernkompetenz ist zwar die Finanzgeschichte, doch die Rolle von Krankheiten in der Geschichte der Menschheit fasziniert mich, seit ich mich während meiner Promotion vor über dreißig Jahren mit der Hamburger Choleraepidemie des Jahres 1892 beschäftigt habe. Richard Evans’ akribische Rekonstruktion dieser Zeit machte mich mit dem Gedanken vertraut, dass die Tödlichkeit eines Krankheitserregers zumindest zum Teil mit den sozialen und politischen Strukturen zusammenhängt, die er angreift. Evans zeigte, dass die Menschen in Hamburg an der Klassenstruktur genauso starben wie am Bakterium Vibrio cholerae, weil die alteingesessene Macht der Hamburger Grundbesitzer ein unüberwindliches Hindernis für die Erneuerung der veralteten Abwasserkanalisation der Stadt war.7 Bei meinen Forschungen für Der falsche Krieg stieß ich wenige Jahre später auf Statistiken, die den Schluss zuließen, dass der Zusammenbruch der deutschen Armee im Jahr 1918 zumindest zum Teil auf eine Krankheitswelle zurückzuführen war, bei der es sich um die Spanische Grippe gehandelt haben könnte.8 In Krieg der Welt setzte ich mich ausführlicher mit der Geschichte der Pandemie der Jahre 1918 und 1919 auseinander und zeigte, dass der Erste Weltkrieg mit einer zweifachen Pandemie endete – nicht nur der Influenza, sondern auch der ideologischen Seuche des Bolschewismus.9

Auch bei meiner Forschung zu Weltreichen, die mich während der Nullerjahre beschäftigte, unternahm ich mehrere Abstecher in die Geschichte der Seuchen. Keine Geschichte der Besiedlung der Neuen Welt durch die Europäer kommt um die Infektionskrankheiten herum, die »die Indianer dezimierten, um Platz für die Engländer zu machen«, wie es John Archdale, Ende des 17. Jahrhunderts Gouverneur von Carolina, so brutal ausdrückte. (Das zweite Kapitel meines Buchs Empire trug den Titel »Weiße Pest«.) Außerdem staunte ich über den entsetzlichen Tribut, den Tropenkrankheiten unter den fern der Heimat stationierten britischen Soldaten forderten. Besonders schlecht waren die Überlebenschancen von Soldaten, die nach Sierra Leone versetzt wurden: fifty-fifty.10 In Der Westen und der Rest der Welt widmete ich der Rolle der Medizin bei der Kolonisierung der Welt durch den Westen ein eigenes Kapitel und zeigte, wie Kolonialherrscher zur Erforschung und Eindämmung von Infektionskrankheiten beitrugen, ohne dabei ihr oftmals rücksichtsloses Vorgehen zu beschönigen.11 In Der Niedergang des Westens warnte ich ausdrücklich vor der zunehmenden Verwundbarkeit gegenüber »zufälligen Mutationen von Erregern wie dem Influenzavirus«.12 Und Türme und Plätze war im Wesentlichen eine Geschichte der Welt ausgehend von der Erkenntnis, dass »Netzwerkstrukturen ebenso über die Geschwindigkeit und Reichweite einer Ansteckung entscheiden wie Viren«.13

Während ich diese Zeilen schreibe (Ende Oktober 2020), ist das Ende der Corona-Pandemie noch lange nicht in Sicht. Weltweit haben sich inzwischen fast 42 Millionen Menschen mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert, doch nach Antikörpertests ist das wohl nur ein Bruchteil der tatsächlich Infizierten.14 Die Zahl der Toten nähert sich 1,2 Millionen, was mit Sicherheit zu niedrig geschätzt ist, da die Statistiken aus einigen bevölkerungsreichen Ländern (allen voran dem Iran und Russland) nicht zuverlässig sind. Wöchentlich steigt die Zahl der Toten nach wie vor um mehr als 3,5 Prozent, dazu kommen zahllose Menschen, die bleibende gesundheitliche Schäden davontragen werden. Es wird immer wahrscheinlicher, dass der britische Astrophysiker Martin Rees seine Wette mit dem amerikanischen Psychologen Steven Pinker gewonnen hat, wonach »bis spätestens 31. Dezember 2020 ein Einzelereignis von Bioterror oder Bioirrtum innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten eine Million Opfer fordern wird«.15 Manche Epidemiologen sind überzeugt, dass die Gesamtzahl der Opfer ohne drastisches Social Distancing und wirtschaftlichen Lockdown zwischen dreißig oder vierzig Millionen liegen könnte.16 Da die staatlichen Maßnahmen eine Veränderung im Verhalten der Bevölkerung bewirkt haben, wird diese Zahl sicher nicht erreicht werden. Doch gerade diese »nicht-pharmazeutischen Maßnahmen« haben der Weltwirtschaft einen Schlag versetzt, der weit folgenschwerer war als die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 und die Dimensionen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erreichen könnte, allerdings komprimiert auf ein paar Monate, nicht Jahre.

Warum aber jetzt schon Geschichte schreiben, wenn das Ereignis noch gar nicht abgeschlossen ist? Die Antwort ist, dass dieses Buch keine Geschichte unserer postmodernen Seuche ist, auch wenn sich zwei der späteren Kapitel (9 und 10) an einer ersten Skizze versuchen. Dies hier ist eine allgemeine Geschichte der Katastrophen – nicht nur der Pandemien, sondern aller erdenklichen Desaster, seien sie geologischer (Erdbeben) oder geopolitischer (Kriege), biologischer (Pandemien) oder technischer (Atomunfälle) Natur. Asteroideneinschläge, Vulkanausbrüche, extreme Wetterereignisse, Hungersnöte, katastrophale Unfälle, Wirtschaftskrisen, Revolutionen, Kriege, Völkermorde: Hier versammelt sich das ganze Leben und viel Tod. Denn wie sonst sollten wir unsere aktuelle Katastrophe – oder jede andere – richtig verstehen können?

Der Reiz des Untergangs

Dieses Buch geht davon aus, dass wir die Geschichte der Katastrophen, ob natürlich oder von Menschen gemacht (wobei dieser Gegensatz nicht ganz richtig ist, wie wir noch sehen werden), nicht losgelöst von der Geschichte der Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik verstehen können. Katastrophen kommen selten ausschließlich von außen, mit Ausnahme eines gewaltigen Asteroideneinschlags, wie er sich seit 66 Millionen Jahren nicht ereignet hat, oder der Invasion von Außerirdischen, wie es sie noch nie gegeben hat. Selbst die katastrophale Wirkung eines Erdbebens hängt von der Besiedlungsdichte in der Nähe des Epizentrums ab, beziehungsweise der Küste, wenn das Beben einen Tsunami auslöst. Eine Pandemie ergibt sich aus einem neuen Krankheitserreger und der Struktur der sozialen Netze, die er angreift. Seine Verbreitung lässt sich nicht allein durch die Erforschung des Virus selbst verstehen, denn das Virus steckt nur so viele Menschen an, wie es die sozialen Netzwerke zulassen.17 Gleichzeitig legt eine Katastrophe die Gesellschaften und Staaten bloß, die von ihr getroffen werden. Sie ist ein Moment der Wahrheit, eine Offenbarung, in der sich einige als zerbrechlich, andere als robust und wieder andere als »antifragil« erweisen, das heißt, dass sie einer Katastrophe nicht nur widerstehen, sondern gestärkt aus ihr hervorgehen.18 Katastrophen haben tiefgreifende wirtschaftliche, kulturelle und politische Auswirkungen, die unsere Erwartungen häufig auf den Kopf stellen.

Alle Gesellschaften leben mit der Ungewissheit. Schon die ältesten Zivilisationen, aus denen schriftliche Aufzeichnungen erhalten sind, waren sich der Verwundbarkeit des Homo sapiens schmerzlich bewusst. Seit Menschen ihre Gedanken in Kunst und Literatur festhalten, dräut die Möglichkeit eines Auslöschungsereignisses oder der »Endzeit«. Wie Kapitel 1 darlegt, steht die Apokalypse – ein spektakuläres Weltgericht – seit den Predigten Jesu im Mittelpunkt der christlichen Theologie. Mohammed übernahm den in der Geheimen Offenbarung beschriebenen Jüngsten Tag in den Islam. Ähnliche Untergangsvisionen finden sich sogar in den zyklischeren Religionen des Hinduismus und Buddhismus und natürlich auch in der nordischen Mythologie. Wir modernen Menschen verstehen Katastrophen oft (und manchmal unbewusst) in endzeitlichen Begriffen. Einige Ideologien sehnen die weltliche Apokalypse mit geradezu biblischem Eifer herbei, allen voran der Marxismus, der den Zusammenbruch des Kapitalismus unter seinen eigenen Widersprüchen prophezeit. Auch die Vehemenz, mit der die radikalsten Künder des Klimawandels drastische wirtschaftliche Bußübungen fordern, um das Ende der Welt abzuwenden, wirkt in diesem Zusammenhang sehr vertraut.

Meine erste Begegnung mit dem Weltuntergang hatte ich als Junge in Ostafrika. Dort gab es ein beliebtes Insektenspray mit dem Namen »Doom«, das den Stechmücken Tod und Verderben bringen sollte.19 Für meine Söhne ist Doom ein Computerspiel. Das Wort hat seine Wurzeln im Altenglischen dóm, im Altsächsischen dóm und im Altnordischen dómr, die sämtlich einen Richterspruch bezeichnen, und zwar meist im Sinne einer Verurteilung, einer Verdammnis. »Nicht umzukehren ist des Schicksals Spruch«, sagt Richard III. »Wie, dehnt die Reih sich bis zum Jüngsten Tag?«, fragt Macbeth. Natürlich fürchten wir den Weltuntergang. Doch er fasziniert uns auch – daher die umfangreiche Literatur zu den »letzten Tagen der Menschheit« (wie Karl Kraus sein satirisches Stück über den Ersten Weltkrieg ironisch nannte). Die Science-Fiction hat unseren Untergang als Art unzählige Male durchgespielt: Eine tödliche Pandemie ist nur eine von vielen Methoden, mit denen die Menschheit in der Popkultur ausgelöscht wurde. Es ist bezeichnend, dass während des ersten Corona-Lockdowns in den Vereinigten Staaten auf Netflix kaum ein Film so häufig gesehen wurde wie Steven Soderberghs Contagion aus dem Jahr 2011, in dem es um eine weitaus schlimmere Pandemie geht.20 Ich sah damals das BBC-Drama Survivors aus dem Jahr 1975 und las Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie mit fasziniertem Schauer. Der Weltuntergang hat durchaus seinen Reiz.

Doch was uns wirklich Kopfzerbrechen bereiten sollte, ist nicht der Weltuntergang – der Propheten regelmäßig durch sein Ausbleiben enttäuscht –, sondern eine große Katastrophe, die die meisten von uns überleben. Diese kann ganz unterschiedliche Formen und Dimensionen annehmen. Selbst wenn sie vorhergesagt wurde, bringt sie ihre jeweils eigene Hölle mit sich. Die erschütternde und schmutzige Wirklichkeit der Katastrophe kommt in der Literatur kaum vor. Eine der wenigen Ausnahmen ist Louis-Ferdinand Célines zynische Darstellung des deutschen Einmarschs in Frankreich im Jahr 1914 in seinem Roman Reise ans Ende der Nacht (1932). »Wenn man keine Phantasie hat, ist es eine Kleinigkeit zu sterben«, schreibt Céline. »Wenn man welche hat, ist zu sterben viel zu viel.«21 Wenige Autoren haben die Wirren einer Großkatastrophe und das schiere Entsetzen und die Orientierungslosigkeit des Einzelnen so bewegend geschildert. In der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs erlitt Frankreich furchtbare Opferzahlen. Doch in Célines zynischen, traumatisierten Beschreibungen des französischen Milieus, von Außenposten des Kolonialreichs in Äquatorialafrika bis in die Vororte von Paris, wirft das noch weitaus schlimmere Unheil schon seine Schatten voraus.

Die seltsame Niederlage war der Titel, den der Historiker Marc Bloch seiner Darstellung des französischen Zusammenbruchs im Sommer 1940 gab.22 Im Laufe der Geschichte gab es viele solcher seltsamen Niederlagen – Katastrophen, die unschwer vorherzusehen waren und dennoch im Kollaps endeten. Für die Vereinigten Staaten und Großbritannien war auch die Corona-Pandemie eine solche seltsame Niederlage, nur zu verstehen als umfassendes Versagen der Behörden bei der Vorbereitung auf einen Notfall, der immer als hochgradig wahrscheinlich galt. Dabei wäre es zu einfach, dieses Versagen lediglich auf populistische Breitbeinigkeit zu schieben. In Belgien war die Übersterblichkeit mindestens genauso hoch, und dieses Land hatte fast das ganze Jahr 2020 über mit Sophie Wilmès eine Frau und Liberale an der Spitze seiner Regierung.

Warum reagieren manche Gesellschaften und Staaten so viel besser auf eine Katastrophe als andere? Warum zerbrechen manche daran, während die meisten überleben und einige wenige gestärkt aus ihr hervorgehen? Warum verschuldet die Politik manchmal selbst Katastrophen? Diesen Fragen geht dieses Buch nach. Die Antworten liegen keineswegs auf der Hand.

Die Unberechenbarkeit der Katastrophe

Wie viel einfacher wäre das Leben, wenn man Katastrophen vorhersehen könnte! Jahrhundertelang haben Denker versucht, historische Abläufe zu prognostizieren, und dazu zyklische Theorien aufgestellt – religiöser, demografischer oder monetärer Art. In Kapitel 2 sehen wir uns diese Theorien an und fragen, inwieweit sie uns helfen könnten, das nächste Übel vorherzusehen und wenigstens abzumildern, wenn wir es schon nicht abwenden können. Die Antwort ist: nicht allzu viel. Das Problem ist, dass sich die Vertreter dieser Theorien oder jeder anderen Form der wenig verstandenen Erkenntnis unweigerlich in der Rolle der Kassandra wiederfinden. Sie sehen die Zukunft zwar, oder sie glauben es zumindest, doch es gelingt ihnen nicht, andere davon zu überzeugen. In diesem Sinne sind viele Katastrophen wahre Tragödien im antiken Sinne des Wortes. Der Untergangsprophet schafft es nicht, den skeptischen Chor zu überzeugen. Der König entgeht der Rachegöttin nicht.

Es hat jedoch seinen Grund, warum Kassandras nicht überzeugen: Sie können ihre Prophezeiungen nicht ausreichend präzisieren. Wann trifft das Unglück ein? Das können sie in der Regel nicht sagen. Es stimmt zwar, dass einige Katastrophen »vorhersehbare Überraschungen« sind, »graue Nashörner«, die wir auf uns zustürmen sehen.23 Doch manchmal entpuppen sich diese grauen Nashörner im Moment des Aufpralls als »schwarze Schwäne« – vollkommen verblüffende Ereignisse, die niemand vorhersehen konnte. Das liegt unter anderem daran, dass diese schwarzen Schwäne – Pandemien, Erdbeben, Kriege und Finanzkrisen – Potenzgesetzen unterliegen und nicht der normalen Wahrscheinlichkeitsverteilung, die unser Gehirn besser versteht. Es gibt keine durchschnittlichen Pandemien oder Erdbeben: Es gibt einige wenige gewaltige und viele sehr kleine Ereignisse, und es lässt sich unmöglich vorhersagen, wann das nächste gewaltige Ereignis daherkommt.24 In normalen Zeiten lebe ich mit meiner Familie in der Nähe der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien. Wir wissen, dass »das große Beben« jederzeit kommen kann, aber niemand weiß, wie groß es ausfallen und wann genau es eintreten wird. Das gilt auch für menschengemachte Katastrophen wie Kriege und Revolutionen (die meist einen katastrophalen Verlauf nehmen) und natürlich auch Finanzkrisen – wirtschaftliche Desaster, die zwar weniger Todesopfer fordern, aber verheerende Konsequenzen nach sich ziehen können. Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, sind die schwarzen Schwäne in der Geschichte viel häufiger, als man in einer nach der Normalverteilung funktionierenden Welt erwarten würde – ganz zu schweigen von den »Drachenkönigen«, die derart gewaltig sind, dass sie sogar Potenzgesetze sprengen.25 All diese Ereignisse liegen im Bereich des Ungewissen, nicht in dem der berechenbaren Wahrscheinlichkeiten. Dazu kommt, dass die Welt, die wir uns erbaut haben, im Laufe der Zeit zu einem immer komplexeren System geworden ist und daher zu allen möglichen stochastischen Verhaltensweisen, nichtlinearen Zusammenhängen und statistischen Ausreißern neigt. Eine Katastrophe wie eine Pandemie ist kein unabhängiges Einzelereignis. Sie zieht unweigerlich alle möglichen anderen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Katastrophen nach sich. Sie kann Kettenreaktionen von weiteren Katastrophen anstoßen, und genau das tut sie oft auch. Je stärker die Welt vernetzt ist, umso häufiger erleben wir das (Kapitel 4).

Bedauerlicherweise hat die Evolution unser Gehirn nicht auf das Leben in einer Welt der schwarzen Schwäne und Drachenkönige, der Komplexität und des Chaos vorbereitet. Es wäre wunderbar, wenn uns der wissenschaftliche Fortschritt zumindest von einigen der irrationalen Vorstellungen der antiken und mittelalterlichen Welt befreit hätte. (»Wir sind Sünder. Das ist die Strafe Gottes.«) Doch während die Religionen an Einfluss verlieren, blühen andere Formen des Aberglaubens auf. »Hinter dieser Katastrophe steckt eine Verschwörung« ist eine immer häufigere Reaktion auf ein unerwünschtes Ereignis. Daneben besteht eine vage Wissenschaftsgläubigkeit, die sich bei genauerem Hinsehen als eine neue Form des magischen Denkens erweist. »Wir haben ein Modell, wir kennen das Risiko« ist ein Satz, der vor mehr als einer der Katastrophen der jüngeren Vergangenheit zu hören war, so als ob die zusammengeschusterten Computersimulationen mit ihren aus der Luft gegriffenen Variablen irgendetwas mit Wissenschaft zu tun hätten. Mit einem Seitenblick auf den Klassiker Religion and the Decline of Magic des Historikers Keith Thomas legt Kapitel 5 nahe, dass wir uns auf die Wissenschaft und die Rückkehr der Magie einstellen sollten.26

Das Katastrophenmanagement wird noch durch die Tatsache erschwert, dass unser politisches System zunehmend Menschen in verantwortliche Positionen befördert, die für die eben beschriebenen Gefahren besonders blind zu sein scheinen: keine Spitzenprognostiker, sondern Kurzsichtige. Die Psychologie des militärischen Unvermögens ist inzwischen hinreichend erforscht.27 Über die Psychologie der politischen Inkompetenz wissen wir indessen weniger, und um die geht es in Kapitel 6. Wir haben verstanden, dass Politiker Experten nur dann zu Rate ziehen, wenn sie sich etwas davon versprechen, und dass sie sie ganz schnell wieder in der Versenkung verschwinden lassen, wenn sie unangenehm werden.28 Doch gibt es allgemeine Formen des politischen Unvermögens, die sich auf die Vorbereitung auf und den Umgang mit Katastrophen niederschlagen? Mir fallen dazu fünf Kategorien ein:

1. die Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen,

2. mangelnde Vorstellungskraft,

3. die Neigung, den letzten Krieg oder die letzte Krise auszufechten,

4. die Unterschätzung der Gefahr,

5. das Warten auf eine Gewissheit, die nie kommt.

Henry Kissingers »Problem der Spekulation in der Außenpolitik«, das er im Zusammenhang mit der Nuklearstrategie der Vereinigten Staaten formulierte, erfasst die Asymmetrien der Entscheidungsfindung angesichts von Ungewissheiten, vor allem in Demokratien:

Jeder politische Führer hat die Wahl zwischen dem geringsten oder einem höheren Aufwand. Wenn er sich für den geringsten Aufwand entscheidet, kann sich mit der Zeit herausstellen, dass er falsch lag, und dann wird er einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Wenn er auf Grundlage einer Vermutung handelt, wird er nie in der Lage sein nachzuweisen, dass dieser Aufwand wirklich notwendig war, aber er spart sich unter Umständen später eine Menge Kummer … Wenn er zu einem frühen Zeitpunkt handelt, kann er nicht wissen, ob es notwendig war. Wenn er wartet, kann er Glück oder Pech haben. Es ist ein furchtbares Dilemma.29

Politische Führer werden selten für etwas belohnt, das sie zur Verhinderung von Katastrophen unternehmen, denn das Ausbleiben einer Katastrophe ist selten Anlass zu Applaus und Dankbarkeit. Stattdessen werden sie für das Leid an den Pranger gestellt, das sie mit prophylaktischen Maßnahmen bewirken. In Kapitel 7 geht es unter anderem um den Unterschied zwischen dem Führungsstil der aktuellen Politik und derjenigen der Eisenhower-Zeit.

Doch nicht jeder Fehler lässt sich auf die politische Führung schieben. Die eigentliche Bruchstelle findet sich oft weiter unten in der Hierarchie. Wie der Physiker Richard Feynman nach der Explosion des Spaceshuttles Challenger zeigte, war das wahre Problem im Januar 1986 nicht etwa die Ungeduld, mit der das Weiße Haus auf einen Start am Tag der geplanten Ansprache des Präsidenten drängte, sondern die Versicherung einiger NASA-Manager der mittleren Führungsebene, dass das Risiko einer katastrophalen Panne, das die eigenen Ingenieure auf 1 zu 100 schätzten, in Wirklichkeit nur 1 zu 100 000 betrage.30 Das Versagen des Mittelbaus ist bei vielen modernen Desastern genauso ausschlaggebend wie das Versagen der Führung. Der republikanische Kongressabgeordnete Tom Davis brachte es auf den Punkt, als er nach Hurrikan Katrina erklärte, es gebe »eine große Kluft zwischen der Formulierung einer politischen Strategie und ihrer Umsetzung«.31 Diese Kluft ist bei Katastrophen jeder Größenordnung zu beobachten, vom Untergang eines Schiffs bis zum Untergang eines Imperiums, was die Vermutung nahelegt, dass es eine Art »Fraktalgeometrie des Desasters« geben könnte (Kapitel 8).

Im Fall einer Katastrophe kann das Verhalten gewöhnlicher Menschen – ob in dezentralen Netzwerken oder führerlosen Massen – noch größeren Ausschlag geben als die Entscheidungen der politischen Führung oder die Anweisungen von Behörden. Warum passen sich manche Menschen rational an eine neue Bedrohung an, während andere passiv zusehen und wieder andere mit Leugnung und Auflehnung reagieren? Und warum kann eine natürliche Katastrophe in eine politische münden, wenn sich verdrossene Bürger zu einer revolutionären Masse zusammenschließen? Wie kommt es, dass die Intelligenz der Masse in Wahnsinn umschlägt? Meiner Ansicht nach findet sich die Antwort in der wandelbaren Struktur der Öffentlichkeit. Nur eine Minderheit erlebt die Katastrophe am eigenen Leib. Alle anderen erfahren nur über ihr jeweiliges Kommunikationsnetzwerk von ihr. Schon im 17. Jahrhundert konnte die aufkommende Boulevardpresse Verwirrung unter den Bürgern stiften, wie Daniel Defoe beobachtete, als er über die Londoner Pest des Jahres 1665 recherchierte. Mit dem Aufstieg des Internets haben falsche Informationen und gezielte Desinformation ein ganz neues Ausmaß angenommen, weshalb wir 2020 von einer Doppelseuche sprechen können: eine, die von einem biologischen Virus verursacht wurde, und eine zweite, noch ansteckendere, der viralen Phantasien und Lügen. Das Problem wäre weniger gravierend ausgefallen, hätte es wirkungsvolle Gesetze zur Regulierung der Technologiekonzerne gegeben. Doch obwohl spätestens 2016 klar gewesen sein dürfte, dass der Status quo nicht länger tragbar war, wurde so gut wie nichts unternommen.

Doch nicht das Ende der Medizingeschichte

Unser Verständnis von Epidemien und Pandemien bleibt unvollständig, solange wir sie nur als die Auswirkung bestimmter Erreger auf die Menschheit begreifen. Die sozialen Netzwerke und staatlichen Kapazitäten, auf die der Erreger trifft, sind nämlich mindestens ebenso entscheidend für den Verlauf einer Pandemie. Die Sterblichkeitsrate in der Bevölkerung ist der DNA des Coronavirus nicht eingeschrieben. Sie unterscheidet sich je nach Ort und Zeitpunkt, und zwar aus Gründen, die mit den Genen genauso zusammenhängen wie mit der Gesellschaft und Politik.

Aufgrund ihrer medizinischen Unkenntnis waren Gesellschaften neuen Krankheiten lange mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Je größer und wirtschaftlich vernetzter eine Gesellschaft war, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie von einer Pandemie heimgesucht wurde, wie Griechen und Römer zu ihrem Leidwesen erfahren mussten. Es waren die Handelsstraßen zwischen Asien und Europa, die es dem Bakterium Yersinia pestis im 14. Jahrhundert ermöglichten, so viele Europäer zu töten. Die europäische Expansion, die rund anderthalb Jahrhunderte später begann, verursachte den sogenannten Kolumbus-Effekt: Von den Europäern eingeschleppte Krankheitserreger rafften die Bevölkerung auf dem amerikanischen Doppelkontinent dahin, die Europäer brachten auf dem Rückweg die Syphilis mit nach Hause, und durch den Transport von versklavten Afrikanern in die Neue Welt brachten die Europäer auch Malaria und Gelbfieber in diese Weltregion. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die europäischen Kolonialreiche den Kampf gegen die Infektionskrankheiten auf. Doch ihr Scheitern beim Umgang mit Gesundheitskrisen, etwa bei der Rückkehr der Beulenpest, war zusätzlicher Zündstoff für die Freiheitsbewegungen in den Kolonien, und Choleraepidemien in den Hafen- und Industriestädten der Heimat waren Wasser auf die Mühlen der Liberalen und Sozialdemokraten. Noch Ende der 1950er Jahre waren die wiederkehrenden Pandemien ein fester Bestandteil der Weltordnung.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts machte Hoffnung auf Fortschritt. Während die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten auf der einen Seite biologische Kriegsführung gegeneinander planten, arbeiteten sie auf der anderen Seite bei der Ausrottung der Pocken zusammen und konkurrierten bei der Eindämmung der Malaria. Zwischen 1950 und 1980 machte der staatliche Gesundheitsschutz auf vielen Gebieten von der Impfung bis zur Hygiene große Fortschritte. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schien die Gefahr von Pandemien zurückgegangen. Nachdem sich die randomisierte, kontrollierte Studie auch in der medizinischen Forschung als Standard durchgesetzt hatte, schienen wir am »Ende der Medizingeschichte« angelangt zu sein.32 Das war natürlich ein Irrtum. Beginnend mit dem HI-Virus und der AIDS-Epidemie machte eine Abfolge neuer Viren die Verwundbarkeit unserer zunehmend vernetzten Welt sichtbar.

Immer wieder wurde davor gewarnt, dass die absehbarste und akuteste Gefahr für die Menschheit ein neuer Krankheitserreger und eine von ihm ausgelöste globale Pandemie sein würde. Doch aus unerfindlichen Gründen übersetzten sich diese Warnungen in den wenigsten Ländern in schnelles, entschlossenes Handeln, als sich im Januar 2020 das graue Nashorn als schwarzer Schwan entpuppte. Die chinesische Einparteienführung reagierte auf den Ausbruch des neuartigen Coronavirus kaum anders als die Sowjetregierung auf den Reaktorunfall von Tschernobyl: mit Lügen. In den Vereinigten Staaten verharmloste ein populistischer Präsident, unterstützt von Kabelsendern, die Gefahr zunächst durch Vergleiche mit der saisonalen Grippewelle, um in der Folge den Maßnahmen seiner Behörden unberechenbar dazwsichenzufunken. Der eigentliche Skandal war jedoch das jämmerliche Versagen der für die biologische Abwehr zuständigen Behörden. In Großbritannien bot sich ein ähnliches Bild. Auf dem europäischen Kontinent entpuppten sich die föderalen Ansprüche als hohl (genau wie die Furcht der Euroskeptiker vor einem europäischen Superstaat), als sich jedes Land selbst am nächsten war, nationale Grenzen wiederentdeckte und die knappe medizinische Ausrüstung hortete. Von der europäischen »Schicksalsgemeinschaft« war erst wieder die Rede, als sich abzeichnete, dass Deutschland nicht dasselbe Schicksal erleiden würde wie Italien. Überall machte die Katastrophe nicht nur die Virulenz des Erregers sichtbar, sondern auch die Schwächen der betroffenen Gemeinwesen. In Taiwan und Südkorea wirkte das Virus nämlich weit weniger verheerend, um nur zwei der ostasiatischen Demokratien zu nennen, die angemessen auf die Herausforderung vorbereitet waren. Kapitel 9 versucht, die Gründe dafür zu finden und die schädlichen Auswirkungen der gleichzeitigen Infodemie von Fake News und Verschwörungstheorien zu beleuchten. Kapitel 10 betrachtet die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und bietet eine Erklärung für das scheinbar widersprüchliche Verhalten der Finanzmärkte angesichts der größten wirtschaftlichen Verwerfungen seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Kapitel 11 erörtert schließlich die geopolitischen Konsequenzen der Pandemie und meldet Zweifel an der verbreiteten These an, dass China als der große Gewinner und die Vereinigten Staaten als der große Verlierer aus der Corona-Pandemie hervorgehen werden.

Am Scheideweg

Welche allgemeinen Lektionen können wir aus einer historischen Betrachtung von Katastrophen mitnehmen?

Erstens dürfte es schlichtweg unmöglich sein, die meisten Katastrophen vorherzusehen oder auch nur Wahrscheinlichkeiten anzugeben. Von Erdbeben bis zu Kriegen und Finanzkrisen zeichnen sich die großen Brüche der Menschheitsgeschichte durch ihre zufällige oder den Machtgesetzen entsprechende Verteilung aus. Sie gehören in den Bereich der Ungewissheit, nicht des Risikos.

Zweitens nehmen Katastrophen zu viele Formen an, um ihnen mit herkömmlichen Methoden des Risikomanagements begegnen zu können. Kaum haben wir uns auf die Bedrohung durch einen Heiligen Krieg der Salafisten eingestellt, geraten wir in eine durch Ramschhypotheken ausgelöste Finanzkrise. Kaum haben wir zum wiederholten Male erlebt, wie wirtschaftliche Erschütterungen dieser Art Populisten an die Macht verhelfen, wütet ein Virus. Was kommt als Nächstes? Wir wissen es nicht. Jedes potenzielle Unheil hat seine eigene Kassandra, aber natürlich können wir nicht auf jede Prophezeiung hören. In den letzten Jahren haben wir uns durch eine einzige Bedrohung, nämlich den Klimawandel, von allen anderen Gefahren ablenken lassen. Im Januar 2020, als die Pandemie an Fahrt aufnahm und Flugzeuge mit infizierten Menschen von Wuhan aus in alle Himmelsrichtungen flogen, ging es auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor allem um Umwelt, Soziales und Governance, mit Schwerpunkt auf Ersterem. Die Gefahren der Erderwärmung sind real und möglicherweise katastrophal, doch der Klimawandel ist nicht die einzige Bedrohung, auf die wir uns einstellen müssen. Wir müssen vielmehr die Vielfalt der Gefahren und die extreme Ungewissheit ihres Eintretens erkennen, um flexibel mit ihnen umgehen zu können. Es ist kein Zufall, dass sich die Staaten, die 2020 am besten reagierten – neben Taiwan und Südkorea zunächst auch Israel –, zahlreichen Gefahren gegenübersehen, darunter die Bedrohung ihrer Existenz durch ihre Nachbarn.

Drittens sind nicht alle Katastrophen globaler Natur. Doch je stärker sich die Menschheit vernetzt, umso größer ist die Gefahr der Ansteckung, und zwar nicht nur biologischer Art. Eine vernetzte Gesellschaft benötigt Sicherungssysteme, mit deren Hilfe sich im Krisenfall die Aktivität in bestimmten Bereichen des Netzwerks rasch und gezielt abschalten lässt, ohne dabei die Gesellschaft vollständig zu atomisieren und zu lähmen. Desinformation – zum Beispiel virale Falschinformationen zu vermeintlichen Behandlungsformen – begünstigte 2020 vielerorts die Ausbreitung des Coronavirus. In einigen scheinbar weniger gut vorbereiteten Ländern trug dagegen ein effektives Management von Informationen über Infizierte und deren Kontakte zur Eindämmung der Pandemie bei. Das globale Netzwerk wissenschaftlicher Forschung wirkte Wunder.

Viertens machte die Corona-Pandemie, wie Kapitel 9 zeigt, in den Vereinigten Staaten und andernorts ein schweres Versagen der Gesundheitsbehörden sichtbar. Die Versuchung ist groß (und viele Journalisten erliegen ihr), die Schuld für die durch die Pandemie verursachte Übersterblichkeit allein beim Präsidenten zu suchen. Schon Tolstoi mokierte sich in Krieg und Frieden über den Fehler, während historischer Umwälzungen einzelnen herausragenden Personen allzu große Bedeutung beizumessen. In Wirklichkeit gab es 2020 zahlreiche Schwachstellen, von Unterstaatssekretären in Gesundheitsministerien über Gouverneure und Bürgermeister bis hin zu den traditionellen und sozialen Medien. Auf dem Papier waren die Vereinigten Staaten besser auf eine Pandemie vorbereitet als jedes andere Land der Welt, unmittelbar gefolgt von Großbritannien. Doch als Anfang Januar Berichte aus China klarmachten, dass das neuartige Coronavirus mit dem Namen SARS-CoV-2 ansteckend und tödlich war, unternahmen beide Länder nichts. Der amerikanische Epidemiologe Larry Brilliant, der maßgeblich an der Ausrottung der Pocken beteiligt war, wiederholt seit Jahren, die Formel zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten sei »frühzeitige Erkennung, frühzeitige Reaktion«.33 In Washington und London konnte man genau das Gegenteil beobachten. Hätte eine andere Bedrohung eine ähnlich träge und wirkungslose Reaktion zur Folge? Sollten die offengelegten Probleme nicht nur typisch für die Gesundheitsbehörden sein, sondern für die staatliche Verwaltung ganz allgemein, dann vermutlich schon.

Und schließlich ist durch die gesamte Geschichte hindurch die Tendenz zu beobachten, dass in Zeiten großer gesellschaftlicher Belastung religiöse, quasi-religiöse und ideologische Impulse eine rationale Reaktion behindern. Wir alle haben von der Gefahr einer Pandemie gehört, doch das war eher Unterhaltung als reale Möglichkeit (siehe Contagion). Selbst jetzt, da andere Science-Fiction-Szenarien Wirklichkeit werden – nicht nur die Erderhitzung und klimatische Instabilität, sondern auch der Aufstieg und Ausbau des chinesischen Überwachungsstaats, um nur zwei zu nennen –, tun wir uns mit konsequenten Reaktionen schwer. Im Sommer 2020 gingen in dreihundert Städten der Vereinigten Staaten Millionen von Menschen auf die Straße, um lautstark und bisweilen auch gewalttätig gegen Polizeibrutalität und systemischen Rassismus zu demonstrieren. So schockierend das Ereignis war, das die Proteste auslöste, so handelte es sich inmitten einer Pandemie einer hochgradig ansteckenden Atemwegserkrankung um ein riskantes Verhalten. Gleichzeitig wurde das Tragen einer Maske, eine an sich rudimentäre Schutzmaßnahme, zum politischen Bekenntnis. Die Tatsache, dass in manchen Landesteilen der Vereinigten Staaten das Interesse an Waffen größer war als das an Masken, zeigte, dass nicht nur die Gesundheit in Gefahr war, sondern auch die öffentliche Ordnung.

Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Katastrophe bleiben, mit der wir zu unseren Lebzeiten konfrontiert werden. Es ist lediglich die letzte nach einer Welle des islamistischen Terrors, einer globalen Finanzkrise, einer Folge von Staatsversagen, der Explosion der ungeregelten Migration und einer Krise der Demokratie. Als Nächstes erwartet uns vermutlich eine Katastrophe, die nichts mit dem Klimawandel zu tun hat, weil wir nur selten das bekommen, was wir erwarten. Stattdessen wird es sich um eine Bedrohung handeln, die wir heute noch gar nicht im Blick haben. Vielleicht ein antibiotikaresistenter Stamm von Pestbakterien, oder ein massiver russisch-chinesischer Cyberangriff auf die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten. Vielleicht auch ein Durchbruch in der Nano- oder Gentechnik mit unbeabsichtigten katastrophalen Nebenwirkungen.34