Doppel-Moral - Sophie Lenz - E-Book
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Sophie Lenz

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Beschreibung

Manfred Raabe, ein eigenbrötlerischer Stubenhocker, wird in seiner Wohnung in München erschossen. Nur wenig später meldet die spanische Polizei einen Mord, der zur selben Zeit an einem Geschäftsmann in Malaga verübt wurde, der ebenfalls Manfred Raabe hieß. Was hat dies zu bedeuten? Auch der Mord an Richard Bernhardt gibt Rätsel auf: Warum wurde der Kommunikationsfachmann erstochen? Aber schon bald wird klar, er war ein Mann fürs Grobe. Und so wundert es nicht, dass bereits zahlreiche Morddrohungen gegen ihn vorlagen. Gerade erst hatte eine Umweltschutzgruppe im Internet damit gedroht, ihn abzustechen. Ist sie bei der Rettung der Natur zu rigoros vorgegangen? Irene Meier und Martin Behringer müssen sich mit diesen drängenden Fragen beschäftigen und geraten an der Schwelle zwischen Recht und Unrecht in arge Gewissenskonflikte.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Das Team

Weitere Personen

Montag, 28.01.

Dienstag, 29.01.

Mittwoch, 30.01.

Donnerstag, 31.01.

Freitag, 01.02.

Samstag, 02.02.

Sonntag, 03.02.

Montag, 04.02.

Dienstag, 05.02.

Mittwoch, 06.02.

Donnerstag, 07.02.

Freitag, 08.02.

Samstag, 09.02.

Sonntag, 10.02.

Montag, 11.02.

Dienstag, 12.02.

Mittwoch, 13.02.

Anmerkung

Impressum

Das Team

Irene Meier, vor drei Monaten von Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder: Ihr Chef, Martin Behringer, hat die höchste Aufklärungsquote und erreicht dies mit allerhand Tricksereien.Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, ermittelt auf seine sehr spezielle Weise, wobei er auf moderne Technik gänzlich verzichtet. Die jüngeren Mitarbeiter, Stefan Burghoff und Hans Baumann zeigen an den Mordermittlungen wenig bis gar kein Interesse, und Martin nimmt dies hin.Werner Mohr leistet mit seinem ganz eigenen, etwas dubiosen Kontaktnetzwerk einen wichtigen Beitrag und umgeht so den beschwerlichen Dienstweg.

Irene hat sich mittlerweile mit ihrem Ideenreichtum und Scharfsinn einen festen Platz im Team erobert. Aber nicht nur das: Sie und Martin sind schon längst ein Liebespaar. Ausgerechnet Freddie weiß über ihr Geheimnis Bescheid und hütet es wie sein eigenes.

Weitere Personen

Ulrich Weinziertl: Behringers Chef Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner Maria Zeilinger: Spurensicherung Erwin Lehmann: Spurensicherung Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale Reinhard Loher: Computer-Forensiker Ana Maria Garcia Seco: Drogenfahnderin in Malaga Carlos Montes: Comisario in Malaga Monika Grobowski: U-17-Fußballspielerin Sandra Meisner: U-17-Fußballspielerin Regine Müller: Sozialpädagogin und ehemalige Tatverdächtige Marianne Berger: Physikerin und ehemalige Tatverdächtige Elke Flemming: Ehemalige Tanzpartnerin von Martin Manuel: Ehemaliger Tanzlehrer von Martin Dr. Peter Sommerfeld: Firmenchef der Isar Software AG Victoria von Herrmsdorff (Vicky): Software-Entwicklerin Dr. Brigitte Horten: Software-Entwicklerin Evelyn Schäfer: Sekretärin Robert Merl: ehemaliger Mitarbeiter der Isar Software AG Ludwig Handtke: ermordeter Ex-Mitarbeiter der Isar Software AG

Montag, 28.01.

„Die beiden hab ich ja völlig vergessen!“ Martin seufzte und deutete auf die Kleinwagen von Hans und Stefan, die vor der Dienststelle parkten. „Ist doch nur gut, dass wir diese Nervensägen aus dem Gedächtnis gestrichen haben“, sagte Irene, während sie den Motor abstellte. „Kannst du sie nicht in Dauerurlaub schicken, dann hätten wir endgültig Ruhe vor ihnen.“ „Jetzt werden sie dich wieder anbaggern …“ Irene schaute Martin liebevoll an. „Das sollen die mal bleiben lassen, sonst erzähle ich ihnen, wie glücklich ich mit dir bin … Wie schön die Nächte mit dir sind“, fügte sie mit zärtlicher Stimme hinzu. Martins Gesicht hellte sich schlagartig auf. Sie zwinkerte ihm zu. „Eine gute Gelegenheit, unser Versteckspiel zu beenden, findest du nicht? Warum schenken wir denen nicht endlich reinen Wein ein?“ „Der einzige Wermutstropfen ist, dass Werner ebenfalls die Wahrheit erfährt.“ „Stimmt schon, Werner kann ganz schön austeilen. Aber so spät, wie wir heute dran sind, erregen wir auch Verdacht, wenn wir zeitversetzt hineingehen.“ „Du meinst die Indizien sprechen gegen uns?“ „Ziemlich deutlich sogar. Oder findest du eine glaubwürdige Ausrede?“ „Na ja, ich werde einfach sagen: Ich musste dich ganz besonders verwöhnen, damit du es mit Hans und Stefan im Büro aushältst.“ „Hm … interessant. Und ich werde bestätigen, wenn nötig unter Eid, dass du weder Zeit noch Mühe gescheut hast.“ Übermütig scherzend stiegen sie aus. Vor der schweren Eingangstür küssten sie sich noch schnell. „Bühne frei!“, verkündete Martin feierlich, während er die Chipkarte mit einer bedeutungsvollen Geste in das Lesegerät führte. Die Sperre löste sich. Sogleich öffnete er kraftvoll die Tür und hielt sie auf galante Weise weit auf, um Irene den Vortritt zu lassen. Nach einem fröhlichen „Guten Morgen!“ blickten beide gespannt in den Raum. Alle vier Kollegen wandten sich ihnen überrascht zu. Freddie verdrehte die Augen. Warum trägt er sie nicht gleich über die Schwelle?, dachte er verärgert, bevor er fieberhaft überlegte, wie er ihr Geheimnis retten könnte. Mit einem theatralischen Wink zur Wanduhr sagte er in spöttischem Ton: „Das mit eurer Fahrgemeinschaft klappt ja wirklich super! Statt dass einer von euch zu spät kommt, trudelt ihr jetzt beide zu vorgerückter Stunde ein. Ich hab euch ja letzte Woche schon prophezeit, dass das nicht funktionieren wird. Und dann nehmt ihr auch noch das Auto von Martin! Die Karre ist doch so gut wie schrottreif. Wie oft warst du in der Tiefgarage?“ Irene und Martin wechselten einen vielsagenden Blick. Zum einen irritierte sie die überraschende Wendung, fanden es aber zugleich rührend, wie Freddie sich für sie ins Zeug legte. Schnell waren sie sich einig: Dann eben nicht! „Du übertreibst mal wieder!“, entgegnete Martin schließlich. „Der Wagen ist nur nicht gleich angesprungen.“ Freddie eilte zum Schwarzen Brett und zählte demonstrativ, wie viele Blechschäden er auf seiner Strichliste bereits dokumentiert hatte. „Hier hab ich schon mal sieben Gründe festgehalten, warum dein Auto nicht mehr anspringt.“ „Vielleicht hätte die Werkstatt einfach mal die Batterie überprüfen sollen, statt ständig nur den rechten Kotflügel auszutauschen!“ Freddie schüttelte grinsend den Kopf. „Du hast auch immer eine Ausrede.“ Zufrieden setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. Martin schaute nun in die braun gebrannten Gesichter von Hans und Stefan. „Und wie war euer Urlaub?“, fragte er ohne echtes Interesse. Begeistert antwortete Stefan: „Zum Snowboarden muss man schon ziemlich hoch ins Gebirge fahren, aber es hat sich gelohnt.“ „Wir haben dort sehr angenehme Frauen kennen gelernt …“, äußerte Hans mit einem abschätzigen Blick auf Irene. „Hier war es auch sehr angenehm“, entgegnete diese. Dabei strahlte ihr Gesicht geheimnisvoll. Stefan lächelte und fragte Martin: „Und ihr habt in dieser angenehmen Atmosphäre gleich ein paar Fälle gelöst?“ Bereitwillig berichtete Martin über die zurückliegende Ermittlungsarbeit. Kaum war er damit fertig, meinte Hans abfällig: „Also nur ein Ermordeter. Werner hat behauptet, es waren vier Morde und ebenso viele Mordversuche.“ Stefan widersprach ihm sofort: „Wieso, das stimmt doch! Dieser Ludwig Handtke hat sich eine Menge Feinde gemacht. Und die zwei Fußballspielerinnen können sich glücklich schätzen, dass sie noch leben. Auch der Kollege von Handtke war ja dicht davor, vergiftet zu werden.“ Als daraufhin eine längere Pause entstand, in der niemand etwas sagte, ging Martin lustlos weiter in sein Büro. Irene hatte sich mittlerweile an ihren Schreibtisch gesetzt und den Computer hochgefahren. Es dauerte nicht lange und sie spürte, wie Hans sie ständig von der Seite her angaffte. Sie schüttelte mehr amüsiert als verärgert den Kopf. Wie dumm muss eine Frau sein, um auf diesen Trottel abzufahren … Was soll's! Durch die offene Tür suchte sie Martins Blick. Ihre Augen trafen sich, tauchten tief ineinander ein. Irene lächelte und schätzte die Distanz ab: Nur knapp fünf Meter. Die hab ich in der Schule sogar mal im Weitsprung geschafft. Warum nehme ich nicht Anlauf und springe? Ach was! Mein Herz fliegt ihm auch zu, wenn ich hier sitzen bleibe. Martins Gedanken bewegten sich auf ähnlichem Niveau, während er mit seinem Bürostuhl wippte: Sie sieht einfach hinreißend aus! Wie soll ich das nur bis Mittag aushalten? Ich werde Herbert Reiser bitten, dass er uns irgendeinen Fall zuweist. Sogar ein Taschendiebstahl würde mir reichen. Hauptsache ich kann wieder mit Irene zusammen ermitteln … Schade, dass wir den Bericht schon verschickt haben, sonst könnte ich sie jetzt zu mir rufen. Sie schaut zu mir her … Martin geriet sofort ins Träumen.

Gegen zehn Uhr klingelte Freddies Telefon. Er erkannte die Nummer und sagte, während er den Hörer abhob und den Lautsprecher anstellte: „Herbert Reiser!“ Der fragte verwirrt: „Soll ich mich etwa mit Freddie melden?“ „Nein, nicht nötig. Ich wollte die anderen schonend darauf vorbereiten, dass die ruhige Zeit vorbei ist.“ „Ihr habt doch erst am Donnerstag den Abschlussbericht abgeschickt. So viel ruhige Zeit liegt da nicht dazwischen. Ich hab extra noch mal nachgefragt, ob ich euch anrufen darf. Der neue Fall führt ohnehin in ungewohnte Höhen.“ „Mir wird gleich schwindlig.“ „Also dann bringen wir es hinter uns: Ihr kennt ja vielleicht diese Hochhäuser in Feldmoching. Und im 10. Stockwerk ist es passiert …“ Herbert Reiser legte eine bedeutsame Pause ein. Freddie zählte langsam mit den Fingern bis fünf. „Mord oder Selbstmord?“ „Ganz eindeutig Mord. Der Mann landete nicht etwa auf der Straße, weil er sich aus Verzweiflung über die vielen Rechtschreibfehler in seinem Abschiedsbrief aus dem Fenster gestürzt hat. Nein, er wartet tatsächlich noch im 10. Stock auf euch. Er liegt dort mit einer Schusswunde und wahrscheinlich mit einem Blutfleck auf dem Teppich.“ „Und warum passt dieser Fall nicht zu uns?“ „Nun, ihr habt ja selten in solchen Gegenden zu tun.“ „Wir nehmen auch arme Ermordete an. Eigentlich sind alle Ermordeten irgendwie arm dran.“ „Das ist die richtige Einstellung! Ich hab euch schon die Adresse übermittelt. Vorsichtshalber an euch alle, weil ich nicht wusste, wer von euch den Fall bearbeitet. Also dann, teilt ihn euch ein, aber lasst dabei die Leiche ganz!“ Herbert Reiser legte lachend auf. Irene hatte die E-Mail bereits geöffnet und las begierig die Nachricht. Mit einem Augenzwinkern wandte sich Freddie Werner zu: „Martin gebührt der Vortritt. Wenn sein Wagen allerdings wieder nicht anspringt, fahren wir.“ „Ich habe schon Name und Adresse notiert“, sagte Irene und zwang sich, nicht zu euphorisch zu klingen. Beide griffen sich sofort ihre Winterjacken und verließen fast fluchtartig das Büro. Im Flur steckte Irene Martin den Notizzettel zu. Aufgeregt setzte sie sich auf den Fahrersitz und betätigte den Anlasser. Der Motor stotterte kurz … und sprang an. Irene wischte sich erleichtert über die Stirn und fuhr etwas zu schnell durch die Ausfahrt. „Also los! Schauen wir uns das arme Opfer mal an!“ Martin gab das Ziel ins Navi ein. „Stand noch mehr in der E-Mail von Herbert?“ „Nichts, was er nicht bereits telefonisch mitgeteilt hat. Also verschaffen wir uns vor Ort einen ersten Eindruck.“ Sie fügte schmunzelnd hinzu: „Der Ermordete heißt Raabe. Langsam komme ich mir wie ein Aasgeier vor, der froh ist, wenn irgendwo ein Kadaver herumliegt. Ist schon makaber, dass immer jemand sterben muss, damit wir zusammenarbeiten dürfen.“ „Ich hab die ganze Zeit überlegt, wie ich dich in mein Büro locken könnte. Und ein neuer Fall ist … das einfachste.“ Als sie an der nächsten Ampel anhielten, zog Martin am Sicherheitsgurt, um sich Bewegungsfreiheit zu schaffen. Er beugte sich zu Irene hinüber und sie kam ihm mit ihren Lippen ein Stück entgegen. Auf ein drängendes Hupen hin lösten sie sich ganz sanft voneinander. „Schon wieder so ein Aufpasser“, sagte Irene lachend, schaute kurz in den Rückspiegel, winkte lässig nach hinten und startete durch. „Ob wir Hubert auch dort treffen? Das wäre schön.“ Sie verzog die Mundwinkel. „Wir sind wirklich wie Geier. Aber immerhin gesellige Geier.“

Der Fernsehturm des Olympiaparks lag schon eine Zeitlang hinter ihnen, als Irene nachdenklich sagte: „Es ist wie verhext: Jedes mal wenn wir zu unserer Beziehung stehen wollen, werden wir daran gehindert. Dank Freddie dürfen wir die anderen weiterhin anlügen. Was meinst du? Hat er die Erklärung für unser Zuspätkommen spontan erfunden?“ „Er ist schon ziemlich schlagfertig. Aber es kann genauso gut sein, dass er sich auf Vorrat passende Ausreden für uns ausdenkt.“ „Einerseits bin ich gerührt, wie sehr er auf unser Geheimnis bedacht ist, andererseits kommt es mir dann so vor, als sei unsere Liebesbeziehung etwas Anrüchiges. Bei nächster Gelegenheit werde ich ihm verklickern, dass ich das nicht länger mag!“ „Na ja, bei dieser Gelegenheit hat er die alten Geschichten von meinen Streifzügen in der Tiefgarage wieder aufgewärmt. Und es hat ihm offensichtlich Spaß gemacht.“ „Er rettet unseren Ruf und ruiniert so ganz nebenbei deinen.“ „Sieben Blechschäden in einem knappen Jahr. Ich bin so froh, dass du das Lenkrad übernommen hast. Ich neige nun mal zum Träumen. Und jetzt, wo es so schön mit dir ist, wie ich es mir nie erträumt habe, würde ich wohl noch viel öfter eine Wand übersehen.“ Ein glückliches Lächeln breitete sich in Irenes Gesicht aus. Sie fuhr nun etwas langsamer. Auch sie wollte ein wenig vor sich hinträumen.

Das zwölfstöckige Hochhaus stammte aus den 80er Jahren. Eine Fassadenrenovierung wäre längst fällig. Vor diesem Hintergrund wirkte der auf dem Gehsteig parkende Kleinbus der Spurensicherung strahlend weiß. Unter der geöffneten Eingangstür steckte ein Holzkeil. „Das macht es uns um einiges leichter“, sagte Martin. „Dann fahren wir erst mal in den 10. Stock und suchen die Wohnung von Manfred Raabe.“ Oben angekommen stach ihnen am Ende des Ganges ein glänzender Metallkoffer ins Auge, der sie wie ein Wegweiser zum Tatort führte. Aus der Wohnungstür trat eine zierliche Frau im weißen Overall und begann, im Koffer zu kramen. Sie richtete sich auf, als die beiden näher kamen. Durch den Mundschutz klang ihre Stimme gedämpft: „Ach du bist es, Martin! Unsere uniformierten Kollegen machen wohl noch immer Frühstückspause.“ Maria Zeilinger begrüßte Irene mit einem abwesenden Nicken und sagte entschieden: „Wartet hier, bis ich euch reinlasse!“ Und schon war sie wieder in der Wohnung verschwunden. Etwas verloren schauten sich die zwei im Gang um, dessen dunkelbrauner Anstrich etliche Abschürfungen aufwies. „Diese Tür ist nur angelehnt“, meinte Irene und zeigte nach links. „Mal sehen, was das zu bedeuten hat“, murmelte Martin. Sie legten die wenigen Schritte zurück. Martin klopfte gegen den Türrahmen und las gleichzeitig das Namensschild. Ein drahtiger Herr mit schlohweißem Haar und frischer Gesichtsfarbe öffnete sogleich mit einem breiten Lächeln die Tür. „Grüß Gott! Nur hereinspaziert, drinnen ist es gemütlicher.“ „Hallo, Herr Freundorfer!“, begrüßte Martin ihn und fingerte nach seinem Ausweis. Doch der jung gebliebene Alte winkte ab. „Lassen Sie nur! Ich sehe Ihnen an, dass Sie Gesetz und Ordnung vertreten.“

Das Wohnzimmer wirkte mit den massiven Möbeln reichlich überladen. Sie nahmen auf dem mächtigen, grün-weiß-beige kariertem Sofa Platz und sanken weich darin ein. „Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen heißen Tee?“ Auf dem Couchtisch mit beigen Kacheln stand eine volle Glaskanne auf einem Stövchen. „Nein danke, Herr Freundorfer“, sagte Irene lächelnd. „Würden Sie uns bitte erzählen, …“ „Nun, Sie wissen ja bereits“, wurde sie eilfertig unterbrochen, „dass ich Herrn Raabe gefunden habe.“ Er setzte sich kerzengerade in den Sessel gegenüber, dessen Sitzfläche durch ein Kissen erhöht war. Ein tiefer Atemzug und schon sprudelte es aus ihm heraus: „Also, ich wollte um halb Neun zum Einkaufen gehen. Dabei fiel mir auf, dass bei Herrn Raabe die Wohnungstür weit offen stand. Tja, so was kommt hier durchaus hin und wieder vor, wenn jemand sturzbetrunken heim torkelt. Es ist auch schon passiert, dass einer im Flur herumliegt und seinen Rausch ausschläft, weil er das Schlüsselloch nicht gefunden hat.“ Herr Freundorfer ließ ein leises Kichern hören. „Aber Herrn Raabe hab ich noch nie betrunken gesehen. Also rief ich mehrmals laut seinen Namen und klopfte an der Tür. Keine Reaktion. Eine Zeitlang stand ich unschlüssig herum. Doch dann gab ich mir einen Ruck. Vielleicht braucht er ja Hilfe, sagte ich mir. Nur deshalb hab ich seine Wohnung betreten! Ich dachte noch, wie kann man sich nur einen hellen Teppichboden ins Wohnzimmer verlegen lassen … Genau dort fand ich ihn. So viel Blut! Furchtbar … die schreckgeweiteten, gebrochenen Augen … Den Blick werde ich nie vergessen.“ Herr Freundorfer schüttelte sich, als würde er frieren. „Ich bin dann schnell in meine Wohnung zurückgelaufen und hab sofort den Notarzt gerufen. Aber ich hab denen gleich durchgegeben, dass Herr Raabe wahrscheinlich tot ist.“ „Sie haben sich genau richtig verhalten“, sagte Martin verständnisvoll. „Möchten Sie nicht eine Tasse Tee trinken?“, fügte er hinzu. „Danke, es geht schon.“ „Wir können gerne ein andermal kommen, wenn Sie sich jetzt ausruhen wollen.“ Herr Freundorfer winkte rasch ab. „Aber nein. Fragen Sie nur! Ich hab viel Schlimmeres durchgemacht: als Kind den Bombenhagel, die brennende Stadt, die Toten.“ Irene und Martin schauten sich betroffen an. „Ach was soll's, lassen wir die alten Zeiten! Meine Eltern und ich hatten großes Glück. Im Gegensatz zu Millionen anderen haben wir überlebt. Nur das zählt. Also, was möchte die Kriminalpolizei von mir wissen?“ Seine Aufmerksamkeit war nun wieder ganz auf die beiden gerichtet. „Wie Sie meinen. Ist Ihnen am Sonntag irgendetwas aufgefallen?“, fragte Irene. „Am Sonntag? Nein. Ich hab tagsüber meine Enkelin und meine zwei Urenkel in Rosenheim besucht. Die sind zehn und sieben Jahre alt. Hanna ist jetzt auf dem Gymnasium und der kleine Max ist schon in der zweiten Klasse. Das sind sie!“ Voller Stolz zeigte er auf ein Foto, das in der Nähe der Couch auf einer Kommode stand. Nachdemsowohl Irene als auch Martin anerkennende Worte gefunden hatten, erzählte Herr Freundorfer weiter: „Ich kam um 19 Uhr heim, und da war die Tür von Herrn Raabe geschlossen. Ich erinnere mich genau!“ „Haben Sie später noch etwas bemerkt?“ „Leider nicht. Herr Raabe schaute zwar viel fern, aber sein Fernseher war stets auf Zimmerlautstärke eingestellt. Da gibt es hier schon ganz andere Nachbarn. Die …“ „Kannten Sie Herrn Raabe näher?“, unterbrach Martin ihn. „Nicht näher. Hin und wieder trafen wir uns zufällig und da unterhielten wir uns kurz, über was man halt so redet: über das Wetter, die eine oder andere Fernsehsendung und die weniger rücksichtsvollen Nachbarn. Na so was! Herr Raabe war meistens zu Hause, ich meine auch tagsüber. Er war doch eigentlich noch gar nicht so alt …“ Herr Freundorfer stutzte. „Haben Sie ihn mal darauf angesprochen?“ „Nein, nie! Sie bringen mich ganz in Verlegenheit mit Ihren Fragen. Jetzt erst merke ich, wie oberflächlich der Kontakt war. Es lag auch an ihm. So richtig warm bin ich mit ihm nicht geworden.“ „Tut mir leid, wenn wir Sie in Bedrängnis bringen. Aber wir müssen uns ja ein Bild vom Toten machen. Hatte Ihr Nachbar öfter Besuch? Vielleicht haben Sie ja rein zufällig mal jemanden gesehen.“ Herr Freundorfer kratzte sich am Kopf. „Das ist ja sonderbar. Nein, nie! Nicht mal an Feiertagen. Er wirkte so … in sich gekehrt. Ich merke schon, Sie beide sind es gewöhnt, solche Verhöre zu führen. Nach ein paar Fragen kennen Sie Ihre Pappenheimer. Dass mir das alles nicht viel früher aufgefallen ist ...“ Ein ungläubiges Kopfschütteln begleitete diese Feststellung. „Ab und zu ist Herr Raabe ins selbe Lokal zum Mittagessen gegangen, auch da war er immer allein. Gleich nebenan ist eine Wirtschaft mit einem günstigen Mittagsmenü. Nichts Besonderes, aber für mich reicht's. Wenn ich nicht wegfahre, gehe ich dorthin. Außer meine Enkelin kommt zu Besuch, dann lade ich sie und die Kinder in den Ratskeller am Marienplatz ein.“ Herr Freundorfer hielt kurz inne und lächelte schelmisch. „Entschuldigen Sie bitte, ich quassele viel zu viel! Meine Enkelin sagt immer, mein Mundwerk ist in Topform. Aber ich bin auch sonst noch ganz fit. Ich bin viel draußen, wandere gern. Die Berge sind mit dem Zug ja leicht erreichbar, und die Zeit vergeht beim Plaudern wie im Flug.“ Erneut legte Herr Freundorfer eine Pause ein, als müsse er sich zur Ordnung rufen. „Also um auf Herrn Raabe zurückzukommen“, fuhr er grinsend fort. „Ich habe ihn hin und wieder beim Mittagessen gesehen. Er hat mich höflich gegrüßt und sich dann einen Tisch am Fenster gesucht. Dort hat er entweder stur auf seinen Teller oder nach draußen geschaut. Er war immer freundlich zu mir, aber eben auf seine distanzierte Art.“ „Können Sie uns sagen, wie lange Herr Raabe hier gewohnt hat?“, fragte Martin. Herr Freundorfer zog die Stirn in Falten. „Müssten etwa acht Jahre sein. Meine Frau hat er nicht mehr kennen gelernt. Sie ist vor neun Jahren leider verstorben. Das ist sie bei Hannas Taufe.“ Er deutete auf ein anderes gerahmtes Foto. Martin warf Irene einen Blick zu. Sie nickte. „Vielen Dank, Herr Freundorfer. Sie haben uns sehr geholfen“, sagte Martin, während er aufstand und ihm die Hand reichte. Auch Irene verabschiedete sich und fügte hinzu: „Bleiben Sie ruhig sitzen, wir finden alleine raus. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“ Martin gab ihm seine Karte. „Wie können wir Sie erreichen, falls wir weitere Fragen haben?“ Herr Freundorfer erhob sich und wuselte in seinen Filzpantoffeln an ihnen vorbei zum Flur. Er nahm einen Zettel von der Kommode und malte darauf große Ziffern. „Hier ist meine Telefonnummer.“ Als er Irene den Zettel entgegenhielt, entdeckte er die beschriebene Rückseite. „Tut mir leid. Das ist meine Einkaufsliste, die brauche ich noch.“ Rasch riss Irene ein Blatt aus ihrem Notizbuch und reichte es ihm. Dabei bemerkte sie ihre Notizen auf der Rückseite und meinte lachend: „Die brauche ich auch noch!“ Herr Freundorfer zwinkerte Martin zu. „Ihrer Frau geht es so wie mir, obwohl sie viel jünger ist. Das ist beruhigend.“ Erneut schrieb er seine Telefonnummer gut lesbar nieder, und Irene klemmte das lose Blatt in ihr Notizbuch. „Eine Frage noch: Könnte ein anderer Nachbar etwas gehört oder gesehen haben?“ Herr Freundorfer öffnete die Wohnungstür, streckte seinen Hals in den langen Gang und meinte leicht verärgert: „Die offene Tür wird den meisten aufgefallen sein, aber es hat wohl niemanden interessiert.“ „Zum Glück haben Sie nachgeschaut. Nochmals vielen Dank, Herr Freundorfer!“ Mit einem strahlenden Lächeln und vor Aufregung leuchtend roten Wangen schloss er die Tür. „Der ist ja drollig“, sagte Irene leise. „Seine Urenkel haben sicher eine Menge Spaß mit ihm.“ „Und zu erzählen hat er auch immer etwas. Langweilig wird es mit ihm bestimmt nicht.“ „Psst!“ Irene legte den Zeigefinger an die Lippen und deutete auf die Tür. Von drinnen war deutlich die Stimme von Herrn Freundorfer zu vernehmen: „Du, Marlies! Ich bin's noch mal. Gerade eben war die Kriminalpolizei bei mir … Ja, wegen dem Mord! … Nein, kein mürrischer Kommissar, sondern ein sympathisches Pärchen. Aber die haben mich trotzdem ganz schön in die Mangel genommen … Du hast ja recht. Um mich zum Reden zu bringen, braucht's nicht viel. Dennoch mit wenigen Fragen haben die alles über Raabe aus mir herausgekitzelt. Der Raabe war vielleicht ein sonderbarer Typ! So verschlossen und ein Eigenbrötler war er auch … Ich komm dann am Wochenende und erzähl dir und den Kindern sämtliche Einzelheiten. Du kennst mich ja … Freu mich schon!“

Irene und Martin wichen von der Tür zurück und gingen erheitert die wenigen Meter zu Raabes Wohnung. Just in diesem Moment kam Maria erneut heraus. „Sorry, dass ich euch hier ewig warten lasse. Aber ich hab bis gerade eben den Flur nach DNA-Spuren durchkämmt. Kein einziger Hinweis auf den Täter. Alle Fingerabdrücke stammen ausschließlich vom Opfer. Das ist mir … noch nie untergekommen.“ Mit gesenktem Kopf und Zornesfalte zwischen den Augenbrauen stierte sie auf den grauen Fußabstreifer. Doch dann machte sie einen Schritt zu Seite und ließ die beiden widerwillig eintreten. Vom Flur aus warf Irene einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer. Über das schmale Bett war eine Wolldecke akkurat ausgebreitet. Der Kleiderschrank schien eher in ein Jugendzimmer zu passen und wirkte an der Wand verloren. Beide Schranktüren waren weit geöffnet. Die darin aufbewahrte Kleidung ließ auf einen pedantischen Ordnungsfanatiker schließen. Wie magisch angezogen, trat sie näher und dachte fassungslos: Wie kann man nur so leben? Na ja, bei Martin war es auch mal ganz ordentlich, bevor ich meine Sachen überall verstreut habe. Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich Maria aufgeregt vordrängte und sich energisch vor ihr aufbaute. „Ins Schlafzimmer könnt ihr noch nicht rein, sonst werdet ihr am Ende als Tatverdächtige verhaftet.“ Irene lachte und erntete einen verstörten Blick von Maria. Die meint das Ernst, stellte sie irritiert fest. Mit einer Handbewegung deutete Maria zum Wohnzimmer. „Da drinnen bin ich fertig. Nichts! Der Täter wusste genau, was es zu vermeiden gilt.“ Martin fragte neugierig: „Ist Hubert hier?“ „Ja. Der braucht aber noch Zeit. Könnte sein, dass er euch verscheucht, wenn ihr ihn stört.“ So blieben sie zunächst an der Wohnzimmertür stehen und betrachteten stumm Professor Dr. Dr. Hubert Reinmüller, der mit seinem massigen Körper wie ein andächtiger Kirchenbesucher vor der Leiche kniete. „Hallo Irene, hallo Martin, kommt nur rein, lasst euch von Maria nicht abschrecken!“, rief er vergnügt in ihre Richtung. In der Hand hielt er ein stiftähnliches Instrument, mit dem er den Eintrittswinkel der Kugel gemessen hatte. Die beiden traten etwas näher heran, blieben aber trotzdem auf Distanz. Wie eingeübt sagten sie nacheinander: „Hallo Hubert!“ Irene fügte ein „Schön, dich wiederzusehen!“ hinzu. „Ich freue mich auch. Zum Glück hat das Haus einen funktionierenden Lift, sonst hätte mich sein Tod erheblich mehr mitgenommen. Denkt euch nur, Maria hat den Aufzug blockiert, um Fingerabdrücke von den Knöpfen zu nehmen. War ich froh, als sich kurz darauf der Lift doch noch in Bewegung setzte, aber nur bis er beim Einsteigen unter meinem Gewicht ächzte.“ „Das lag bestimmt nur an deiner schweren Tasche“, meinte Irene. Hubert lachte. „Uns sind die Leichen im Erdgeschoss auch lieber“, sagte Martin. „Und das viele Blut hätte es ebenfalls nicht gebraucht.“ Zögerlich richtete nun Irene den Blick auf den Toten. Mit seinen weit aufgerissenen Augen schien er sie anzustarren. Schaudernd und nur mit Mühe konnte sie sich dem Bann entziehen. Die in Herzhöhe dunkelrot glänzende Blutlache blendete sie schnell aus, indem sie sich von den Beinen her nach oben arbeitete. „Mit dem dunklen Anzug sieht er aus, als ob er an seiner eigenen Beerdigung teilnehmen wollte“, stellte sie erstaunt fest. „Stimmt. Dafür, dass er am frühen Morgen zu Hause ermordet wurde, war er tadellos gekleidet.“ Irritiert betrachtete Martin die vielen Programmzeitungen und Illustrierten, die auf dem Teppich verstreut herum lagen und so gar nicht zur ansonsten peniblen Ordnung passte. Als könnte er Martins Gedanken lesen, erklärte Hubert: „Die Unordnung hat Erwin veranstaltet. Die Zeitschriften waren auf dem Stuhl dort fein säuberlich gestapelt.“ „Das ist ja noch sonderbarer! Raabe führt seinen Mörder ins Wohnzimmer, aber er räumt vorher nicht einmal den zweiten Stuhl frei. Raabe ist also davon ausgegangen, dass der Besucher sich nicht allzu lange bei ihm aufhält.“ Irene verzog die Mundwinkel. „Laut Aussage von Herrn Freundorfer war Raabe ein strikter Einzelgänger. Warum zum Teufel lässt er dann ausgerechnet seinen Mörder in die Wohnung?“ Sie besah sich erneut den feierlichen Anzug des Toten. „Es könnte ein formelles oder geschäftliches Zusammentreffen gewesen sein, das tödlich endete. Wie wäre es, wenn wir Herrn Freundorfer fragen, wie Raabe üblicherweise angezogen war.“ „Ja, aber nicht gleich. Er soll erst mal wieder zur Ruhe kommen. Hubert, kannst du uns schon etwas sagen?“, fragte Martin, weil der nun anfing, die gebrauchten Utensilien in seine große Ledertasche zu verstauen. „Es gibt nur zwei Schusswunden und die wurden von derselben Waffe abgefeuert. Beide Male mitten ins Herz. Der Schütze stand dicht vor ihm, als er abdrückte.“ „Na wenigstens keine fünf Täter wie beim letzten Mal.“ „Nein, das war wirklich ein einzigartiger Fall. Also Gift kann ich bereits jetzt ausschließen.“ „Trotzdem ist er genauso tot, wie Handtke es war.“ „Absolut! Auch bei diesem hätte ein Schuss vollauf genügt. Der Todeszeitpunkt dürfte irgendwann zwischen 6:30 und 8:30 gewesen sein. Genauer möchte ich mich noch nicht festlegen. Was haltet ihr von einem gemeinsamen Mittagessen?“ Für diese Frage erntete Hubert ein amüsiertes Kopfschütteln. „Bedeutet das trotzdem 'Ja'?“ „Wie kannst du bei diesem Anblick ans Essen denken?“, fragte Martin und zeigte dabei ein betont angewidertes Gesicht. „Auch wenn ich meinen Beruf liebe, freue ich mich doch auf die Pausen.“ „Falls alle Nachbarn so redselig sind wie Herr Freundorfer, dann treffen wir uns wohl erst zum Abendessen.“ „Als Student hab ich in so einem Haus gewohnt. Ich könnte jetzt schon darauf wetten, dass außer dem einen keiner etwas Ungewöhnliches bemerkt hat.“ „Warte trotzdem nicht auf uns! Wir rufen dich an, wenn wir hier fertig sind.“ In diesem Moment kam ein schlanker Mann mit Mundschutz aus der Küche. Er steuerte direkt auf Irene zu, um sich vorzustellen. Doch Maria pfiff ihn sogleich zurück: „Erwin, mach du inzwischen mit den Fingerabdrücken weiter! Ich fotografiere derweil das Schlafzimmer.“ Mit hängenden Schultern und etwas vor sich hin maulend kehrte er um. Während Irene ihm noch verwundert nachschaute, sagte Martin schnell: „Komm! Mal hören, was die Nachbarn zu erzählen haben.“

Wie Staubsaugervertreter klapperten sie eine Wohnungstür nach der anderen ab und wie auch diese mit nur mäßigem Erfolg. Die meisten Türen blieben verschlossen. Und die wenigen, die ihnen öffneten, hatten nichts Besonderes wahrgenommen. Niemand kannte Herrn Raabe näher. Nachdem sie auch im Stockwerk darüber und darunter keinerlei Hinweise erhielten, machten sie sich auf den Rückweg zu dessen Wohnung. Dort waren die zwei von der Spurensicherung gerade am Zusammenpacken. „Ich schicke euch die Dokumente zu, sind ja nicht allzu viele“, sagte Maria und legte eine Mappe sowie einen Hefter mit Kontoauszügen säuberlich verpackt auf einem der Koffer ab. Mürrisch fügte sie hinzu: „Ich könnte schon jetzt wetten, dass auch die weiteren Untersuchungen nichts bringen … So, endlich kann ich euch herumführen. Sind ja nur zwei Zimmer.“ Sie zeigte ihnen die kleine, aber hochwertige Küche, die blitzblank geputzt und aufgeräumt war. Maria öffnete die Kühlschranktür und meinte trocken: „Gehungert hat er jedenfalls nicht. Das reicht locker für eine Familie.“ Und tatsächlich war jedes Fach bis oben mit allerlei Vorräten befüllt und erweckte so den Eindruck eines Supermarkts im Miniformat. Weiter ging es ins Wohnzimmer. Diesmal ignorierten sie die Leiche, den quadratischen Esstisch mit den zwei Stühlen sowie die Zeitschriften am Boden. Stattdessen mokierten sie sich über den bombastischen Flachbildschirm an der Wand, um danach den luxuriösen Relax-Ledersessel mit elektronischer Steuerung samt Hocker zu bewundern. Maria öffnete die Türen eines Schränkchens gleich daneben. „Randvoll mit Pralinenschachteln. Sozusagen griffbereit. Damit hat er sich wohl seine ausgiebigen Fernsehstunden versüßt.“ „Woher weißt du, dass er …“ „In seinen Programmzeitschriften waren etliche Sendungen angekreuzt. Ein paar jugendfreie Filme hat er gesondert markiert. Ansonsten bevorzugte er Thriller.“ Nun durften sie auch das Schlafzimmer betreten, das seine ursprüngliche kalte Makellosigkeit verloren hatte. Auf dem Bett lagen Hosen, Sakkos, Pullover, Unterwäsche und Socken achtlos übereinander und bildeten ein wirres Knäuel. Die besseren Stücke waren aus ihren Schutzhüllen gerissen, die Innentaschen nach außen geklappt. Amüsiert stellte Irene fest, dass die nun herrschende Unordnung ihr ebenso wenig behagte. Maria wandte sich an Martin: „Sieht für mich so aus, als ob er etwa jedes halbe Jahr eine gründliche Reinigung auf dem Plan hatte. Wenn hier mal jemand übernachtet hat, ist das schon länger her.“ Sie zeigte auf ein Klappbett, das unscheinbar in der Ecke stand. „Alles außer dem Fernsehsessel wirkt auf mich steril und unpersönlich.“ „Umso mehr ärgert es mich, dass wir keinerlei Spuren gefunden haben.“ Maria führte sie mit einem Kopfschütteln weiter. Vom Flur erreichten sie das Bad, das wohl vor ein paar Jahren modernisiert worden war. Auch hier herrschte der Eindruck von akribischer Sauberkeit und Ordnung. Unter dem Waschbecken reihten sich etliche Reinigungs- und Desinfektionsmittel aneinander. „Von was wollte der sich reinwaschen?“, murmelte Martin in Gedanken vor sich hin. Irene ging indessen noch mal in die Küche. „Die ist ebenfalls relativ neu. Und die Teppichböden auch.“ Maria blätterte in ihren Notizen und schrieb daraufhin etwas an den Rand. Doch plötzlich erschrak sie. „Das hab ich ja total vergessen! Hubert wartet drunten auf euch. Vielleicht hat er irgendeine Spur gefunden. Er tat so geheimnisvoll.“ Wieder grub sich eine Zornesfalte in ihre Stirn. „Danke, dann lassen wir ihn nicht länger warten. Tschüss, Maria!“ An der Wohnungstür ging der schlanke, mittelgroße Mann nunmehr ohne Vermummung auf Irene zu, wurde aber von Maria erneut gestoppt: „Erwin, bring mir rasch eine andere Schutzhülle für die Unterlagen!“ Missmutig streifte er sich die Einmalhandschuhe erneut über und trabte dann mit einer Klarsichtfolie an ihnen vorbei. Martin stellte sich vor Irene und rief ihm zu: „Wir müssen weiter. Tschüss!“

Vor dem Hauseingang stießen sie auf Hubert, der an seinen Wagen gelehnt, sich von der Sonne bescheinen ließ. Er schlug die Augen auf und meinte erfreut: „Ah, da seid ihr ja! Ich habe nur ein bisschen Vitamin D für meine alten Knochen getankt.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass wir mit den Befragungen so schnell durch sind“, sagte Martin. „Aber du hattest recht: Niemand wollte mit uns reden.“ „Damit ist jetzt Schluss! Ich brenne darauf, mit euch zu plaudern. Ich hab auch schon unseren Tisch vorbestellt. Manchmal hab ich das Gefühl, dass der sowieso nur für mich reserviert ist. Na dann nichts wie los!“

Irene folgte Huberts Auto durch den dichten und dennoch konstant dahinfließenden Stadtverkehr. Doch kurz vor dem Restaurant bog sie links ab und so erreichte sie vor ihm den Parkplatz. Breit grinsend stieg Hubert aus und sagte zu Martin: „Gegen dich hätte ich eine Chance gehabt, aber Irene ist mir in jeder Hinsicht überlegen. Den Bericht zu Raabe schicke ich euch im Klartext.“ Enttäuscht widersprach Irene sofort: „Du willst tatsächlich diese liebevoll gepflegte Tradition beenden? Das geht gar nicht! Wer übt denn sonst mit uns Latein?“ „Ach was! Ich mach mir ewig lang Gedanken, und dann kommst du mir in Windeseile auf die Schliche.“ „Von wegen! Martin hat deinen erotischen Text übersetzt“, korrigierte sie sogleich. „Aber du wusstest sofort, dass es sich dabei nicht um den Bericht handeln kann“, warf Martin schnell ein. „Ich geb auf, ihr seid ein unschlagbares Team.“ Hubert wirkte entmutigt. „Ach komm! Du hast doch einen exzellenten Ruf. Maria traut dir eine Menge zu. Sie hat übrigens gemeint, dass du uns etwas Interessantes über Raabes Ermordung anvertrauen möchtest.“ „Alles deutet darauf hin, dass sich ein professionell arbeitender Mörder in eine bescheidene Zwei-Zimmer-Wohnung verirrt hat.“ „Ein Profi? Aber weshalb?“ „Hm … der hier war zwar besser gekleidet als das letzte Opfer, aber er hat sicherlich kein so gut gefülltes Bankkonto aufzuweisen.“ Die beiden dachten an den ermordeten Diplom-Informatiker zurück, den sie wegen seiner ausgewaschenen Jeans und dem schlabbrigen T-Shirt eher für den Hausmeister hielten. Martin fragte interessiert: „Gibt es denn wirklich keine Spuren? Der Mörder war immerhin im Wohnzimmer.“ „Tja, da muss ich leider passen. Maria war heute auch mir gegenüber recht schweigsam. Ich vermute, Erwin war am Wochenende mal wieder auf Streifzug durch sämtliche Münchner Bars. Er sah jedenfalls ziemlich verkatert aus. An solchen Tagen kriegt er nichts alleine auf die Reihe. Maria hasst das. Manchmal erinnern mich die beiden an ein altes Ehepaar, wenngleich sie ja nur in der Arbeit ein Team sind. Da fällt mir ein: Wie steht es denn mit eurem Geheimnis?“ Irene antwortete mit gemischten Gefühlen: „Gerade heute Morgen wollten wir mit der Heimlichtuerei Schluss machen. Wir sind gemeinsam zu spät gekommen, und Freddie erzählte, dass wir nun eine Fahrgemeinschaft bilden.“ „Sehr schlau. Er hat sich also Gedanken gemacht, wie man euren täglichen Synchronauftritt erklären kann.“ „Wir haben jetzt zwar einen Freibrief, aber andererseits wäre ich froh, wenn dieses Versteckspiel endlich ein Ende hätte.“ Martin überlegte, ob Freddie auch eine Erklärung dafür hätte, wenn er mit Irene zusammenziehen würde. Hubert beobachtete dessen Mimik. „Falls ihr jetzt zusammenzieht, wird Freddie behaupten, dass ihr aus Umweltschutzgründen nur eine Wohnung heizen wollt.“ „Kannst du Gedankenlesen, oder hab ich laut geredet?“ „Nein und nein. Ich konnte mir nur keinen anderen Grund für dein Grinsen vorstellen.“ Die beiden schauten sich verunsichert an, und so begann Hubert zu erzählen: „Meine Frau hat sechs Monate quasi zur Probe bei mir gewohnt, bevor wir dann endgültig zusammengezogen sind. Bei uns ist damals ein ziemlicher Machtkampf entbrannt. Unterm Strich hat sie erreicht, dass ich auch am Ende eines langen Arbeitstages nicht nach Spiritus rieche, und wir noch immer viel gemeinsam unternehmen, wenn sie nicht gerade verreist ist. Sie brachte die Oper und Theaterbesuche in unsere Ehe ein, und ich hab dafür gesorgt, dass wir den Urlaub immer an ruhigen Orten verbringen.“ „Ich fühle mich bei Martin wie zu Hause. Leider sieht es nun bei ihm entsprechend chaotisch aus.“ Irene lächelte verschämt. „Ach was. In der Wohnung ist es viel gemütlicher, seit Irene ihre Sachen verstreut.“ „Ihr zwei passt zusammen! Deshalb hab ich ja gleich gemerkt, dass ihr beide …“ Scheinbar überrascht fragte Martin: „Erkennt denn gleich jeder, wie glücklich ich mit Irene bin? Na ja, sogar der redselige Nachbar von vorhin hat sie für meine Frau gehalten.“ In diesem Moment betrat der Ober mit einem großen Tablett den Raum. Hubert begann sofort, eine tiefe Schusswunde detailgetreu zu beschreiben. Mit deutlichem Abscheu im Gesicht stellte der Ober die geschmackvoll dekorierten Teller vor ihnen ab und suchte dann eilig das Weite. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, stoppte Hubert abrupt. „Tut mir leid. Es ist wirklich eine Sünde, solche schaurigen Geschichten aufzutischen, wenn der Koch sich soviel Mühe gegeben hat. Aber nur so ist mir der Platz in dieser ruhigen Ecke sicher.“ Er streifte sorgfältig die Serviette über seinen Bauch. Dann fächelte er sich mit der Hand den Duft des Gerichts zu und sog ihn genießerisch ein. „Einen guten Appetit dürftet ihr nach dem anstrengenden Morgen haben. Also deshalb nur Wohl bekomms! euch beiden!“ Eine Zeitlang blieb es still. „Vorgestern haben wir Sandra getroffen“, unterbrach Irene das andächtige Schweigen. „Das Mädchen, das du auf dem Trainingsgelände des FC Bayern ärztlich versorgt hast.“ „Wie geht es ihr? Ist ihr Zustand mittlerweile stabil?“ „Das kann man mit Gewissheit sagen: Sie wollte unbedingt ein Fußballspiel ihres Team sehen und auf den Weg dorthin, musste sie sich nur noch auf eine Krücke stützen. Ihre Ärztin hat diese Auszeit vom Krankenhaus genehmigt.“ „Kaum vorstellbar! Vor knapp drei Wochen dachte ich, sie sei der schweren Schussverletzung erlegen.“ „In ein paar Wochen möchte sie sogar mit dem Training beginnen. Sie macht sich nämlich Sorgen um ihren Platz im Team.“ „Und da meint die katholische Kirche, sie hat die einzige Wiederauferstehung verbucht. Ich dachte damals erst mal, dass ich ganz in Ruhe meiner üblichen Arbeit nachgehen kann. Ihr könnt euch mein dummes Gesicht vorstellen, als mir bewusst wurde, dass ich erste Hilfe leisten muss.“ Martin fragte neugierig: „Hast du überhaupt den richtigen Besteckkasten dabei gehabt? Ich meine: Normalerweise brauchst du nicht einmal ein Pflaster.“ „Doch schon! Es kommt immer wieder mal vor, dass jemand beim Anblick einer Leiche umfällt und sich eine Platzwunde holt. Wollt ihr noch Nachtisch, oder darf ich ins Detail gehen?“ Martin bremste ihn sofort mit erhobener Hand. „Nichts da! Ich möchte mir die Pflaumen in Rotwein auf Mascarponebett einverleiben.“ Mit einem Lachen meinte Irene: „Dann nehme ich die Crème Brulee.“ „Beides erinnert mich an etwas … Mir fällt nur gerade nicht ein, an was … Bestellt mal ruhig! Wenn alles auf dem Tisch steht …“ Während sie sich die Nachspeisen schmecken ließen, setzte Hubert mehrmals theatralisch an, seine Sperenzchen fortzuführen, die drei kleinen Kunstwerke stets im Auge. Doch jedes Mal traf ihn Martins drohender Blick. Und so gab er auf und widmete sich hingebungsvoll seiner Zabaione.

„Das hat richtig gut getan!“, sagte Irene, während sie das Auto zum Parkplatz des Kommissariats lenkte. „Mit Hubert ist es immer eine Freude … Mit diesen beiden aber nicht!“, fügte sie mit finsterer Miene hinzu, als sie Hans und Stefan rauchend vor der Tür stehen sah. „Von denen lasse ich mir die gute Laune nicht verderben!“ Kurzerhand fuhr sie geradeaus die Rampe in die Tiefgarage hinunter. „Denkst du das gleiche wie ich?“, fragte Irene beinahe frohlockend, nachdem sie den Motor abgestellt hatte. „Wenn wir uns beeilen, haben wir uns in meinem Büro versteckt, bevor die beiden ihren Tratsch beenden.“ „Dann nichts wie los!“ Sie rannten zur Treppe, lauschten kurz nach oben und hetzten die Stufen hoch. Während im Gang die Stimmen von Hans und Stefan sich deutlich näherten, öffnete Martin die Stahltür mit der Chipkarte. Irene betrat leise den Raum, und Martin bremste von innen her die Tür ab. Für einen Moment verharrten sie reglos und sondierten die Lage. Aus der Küche drang das Kratzen des Schöpflöffels in der Kaffeedose. Werner war ganz in sein Telefonat vertieft. Ein wechselseitiger Blick und sie schlichen hinter seinem Rücken vorbei. Rasch schlüpften sie in Martins Büro und schlossen von innen vorsichtig die Tür. Wie kleine Kinder kicherten sie leise und freuten sich über den gelungenen Streich.

In der nächsten Stunde übernahm Martin den Papierkram, während Irene an ihn gelehnt einen Plan von Raabes Wohnung in ihr Notizbuch zeichnete und die Lage der Leiche markierte. Sie notierte ihre Beobachtungen und malte Wolken, in die sie ihre Gedanken eintrug. Ein sachtes Klopfen an der Tür und schon spannte sich ihr Oberkörper. Schnell rückte sie ihren Stuhl von Martin weg, wobei ihr der Stift zu Boden fiel. Auf das übliche „Komm herein!“ öffnete Freddie die Tür und sagte lachend: „Hat sich Werner also nicht getäuscht! Dann hat er doch keinen Schatten, weil er einen Schatten vorbeilaufen sah. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass ihr aus eurem Versteck herauskommt. Die Unterlagen aus der Wohnung von Raabe sind da.“ „Das ging ja schnell!“ Martin sprang erfreut auf. Irene suchte ihren Stift am Boden und eilte sodann ebenfalls ins Nachbarbüro.

Mit einem klassischen Brieföffner schlitzte Werner das Kuvert auf und breitete den mageren Inhalt auf seinem Schreibtisch aus. „Aha, der Kaufvertrag für die Wohnung“, freute sich Martin und nahm ihn an sich. „Raabe ist also 46 Jahre alt. Die Wohnung hat er vor acht Jahren gekauft. Damals allerdings noch nicht zu einem so astronomisch hohen Preis wie heute. Aber 120.000 Euro sind trotzdem eine Menge Geld.“ Irene hatte sich indessen die Kontoauszüge geschnappt und blätterte rasch durch die letzten Monate. „Das ist ja interessant. Raabe erhält monatlich eine Überweisung in Höhe von 1.500 Euro. Allerdings nicht von einer Firma, sondern von einer Anwaltskanzlei. Immer mit dem Betreff Konto 7659875673125. Hm, was bedeutet das? Als erstes kann man schon mal sagen, dass er seinen Lebensunterhalt nicht mit Arbeit verdient hat.“ Freddie beugte sich vor und fragte interessiert: „Seit wann erhält er diese Zahlungen?“ Irene blätterte zurück. „Zumindest die letzten zwei Jahre, weiter reichen die Auszüge nicht.“ „Also hat er wohl jemanden stetig gemolken. Sieht ganz nach Erpressung aus.“ „Hm.“ Irene betrachtete die wenigen Unterlagen. „Kann es sein, dass der Täter alle Beweise mitgenommen hat? Das würde auch erklären, warum wir nur den Kaufvertrag und diese paar Kontoauszüge erhalten haben. Oder war die Spurensicherung etwas nachlässig?“ „Nein, Maria ist immer sehr gründlich, du kennst sie noch nicht“, verteidigte Martin diese sogleich. „Zu mir war sie ja ziemlich abweisend.“ „Mein Fehler. Ich hätte dich vorstellen sollen. Zu dumm, dass ich wegen Erw…“ Martin unterbrach sich. Freddie schien indessen so richtig Fahrt aufzunehmen, wurde allerdings schlagartig gebremst, als er in das teilnahmslose Gesicht von Hans blickte. Also richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Irene. „Erpressung ist doch ein klassisches Motiv für einen Mord!“ „Und weshalb erhält Raabe dann das erpresste Geld von einer Anwaltskanzlei?“ „Wenn er, sagen wir mal, etwas Brisantes über eine namhafte Persönlichkeit herausgefunden hat, sorgt dies dafür, dass wir nicht erfahren, um wen es sich handelt.“ „Und von so einer Persönlichkeit bezieht er gerade mal 18.000 Euro pro Jahr?“ Freddie kratzte sich am Kopf und war knapp davor, klein beizugeben. Doch dann blühte er wieder auf: „Und wenn dieser Raabe plötzlich gierig geworden ist und den Hals nicht mehr voll kriegen konnte? Wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Auftragsmörder preisgünstiger ist.“ „1.500 pro Monat. Eine Erpressung auf Leibrenten-Basis … Irgendwie passt das für mich nicht zusammen. Raabe hat selten die Wohnung verlassen, war ein Einzelgänger. Am Tatort hatte ich den Eindruck, dass er sich in seinen vier Wänden alle seine Wünsche erfüllt hat, so nach der Art My home is my castle. Seine großen Leidenschaften waren Fernsehen und Putzen. Für was hätte Raabe mehr Geld gebraucht?“ „Also keine Erpressung? … Tja, es könnte ja auch anders herum sein. Wenn Raabe durch fremdes Verschulden geschädigt worden ist, dann wären die Zahlungen sozusagen seine Invalidenrente.“ Er schmunzelte, weil Irene sich diese Frage sofort in ihr Notizbuch schrieb. „Nehmen wir mal an“, fuhr er fort: „Ein Prominenter fährt Raabe betrunken an, wodurch der arbeitsunfähig wird. Um einen Prozess zu verhindern, zahlt der öffentlichkeitsscheue Mann auf freiwilliger Basis, und schon hat Raabe ausgesorgt.“ Irene wollte gerade etwas erwidern, als Freddie sich eilig erhob: „Ich werd jetzt mal … losfahren!“ Ohne sich umzudrehen, nahm er seine Jacke und bewegte sich schnell Richtung Tür. Martin blickte zur Wanduhr, die 15:30 zeigte. Üblicherweise bleibt er doch bis fünf, wunderte er sich und verkündete: „Unsere Besprechung ist hiermit beendet. Werner, du hörst dich bitte um, ob dieser Raabe mit irgendwelchen Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden kann.“ „Ich lasse ihn mal durchleuchten. Vielleicht gibt es ja dunkle Flecken in seiner Vergangenheit.“ „Danke. Irene und ich schauen uns die Unterlagen genauer an. Wir haben ja noch immer kein Mordmotiv, das uns alle überzeugt.“ Unschlüssig steuerte Martin Irenes Schreibtisch an, worauf Werner meinte: „Geht ruhig wieder in dein Büro. So bekommt ihr nicht mit, wann ich mich aus dem Staub mache.“ „Also schön, bis morgen!“ „Bis morgen!“ Werner stand auf, als wollte er sofort verschwinden, griff dann aber grinsend zum Telefonhörer.

Irene setzte sich neben Martin an den Schreibtisch. „Ist schon seltsam, jetzt fängt Werner auch noch an, uns eine gemeinsame Zeit zu gönnen.“ Doch sogleich begann sie, ihre ganze Aufmerksamkeit den Kontoauszügen zu widmen. Dabei nutzte sie ihr Smartphone als Taschenrechner. „Ich dachte erst, er gibt jeden Cent aus, aber das stimmt gar nicht. Seine monatlichen Ausgaben liegen zwischen 750 und 1.200 Euro, den Rest überweist er an sich selbst auf ein anderes Konto. Genau 12.750 in den letzten zwei Jahren. Ist schon sonderbar. Raabe erhält Monat für Monat unverändert die 1.500 Euro. Und plötzlich wird dieser Putzteufel von jemandem aus dem Weg geräumt, der keinerlei Spuren hinterlässt. Zumindest war der Mörder insoweit rücksichtsvoll.“ Martin schaute vom Monitor auf. „Keine Vorstrafen! Das kann ich auch ohne Werners Verbindungen sagen. Aber vielleicht ist er ja in einem anderen Milieu unterwegs.“ „Meinst du etwa, Raabe war ein Geheimagent?“ „Wohl kaum! So armselig lebt kein Agent. Wer sollte ihm Geheimnisse anvertrauen?“ „Dann darf ich mir also weiterhin einen Highsociety-James-Bondvorstellen …?“ Martin schluckte und so ergänzte Irene rasch: „… der Alkoholiker ist und jeder Frau hinterherläuft. Ich bin so froh, dass du nicht so bist.“ „Da hab ich ja Glück gehabt, dass du nicht auf solche Typen reinfällst.“ Martin zog sie zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich.

Fast gleichzeitig kündigten gegen 17 Uhr zwei Signaltöne die zugehörigen Mails an. Martin beugte sich zum Monitor. „Von der Spurensicherung und von Hubert. Haben die sich extra abgesprochen, damit wir beide gleichzeitig bekommen?“ Unschlüssig, welche Nachricht er zuerst aufrufen sollte, fuhr er mit der Maus hin und her. „Zuerst die von der Spurensicherung“, entschied Irene. „Huberts Bericht heben wir uns als Zuckerl für später auf.“ „Maria entschuldigt sich dafür, dass sie nicht alle Unterlagen mitgeschickt hat.“ Lachend las Martin weiter: „Erwin hat einen der Koffer auf die zweite Klarsichthülle gestellt. Das passt zu diesem Chaoten.“ Irene sah Martin kurz amüsiert an und widmete sich der nachfolgenden Information: „47.763 Euro auf dem Sparkonto! Doch eine ganze Menge.“ Ärgerlich fügte sie hinzu: „Seine monatlichen Überweisungen zu addieren, hätte ich mir also sparen können.“ Martin scrollte weiter. „Hier sind eingescannte Briefe angehängt. Na wenigstens ist die Schrift einigermaßen lesbar.“ Er blätterte zum Ende des Briefes, um festzustellen, von wem er stammt. „Martha“, entzifferte er. „Hoffentlich erfahren wir durch sie mehr über Raabe. Bisher ist er ja ein unbeschriebenes Blatt.“ Gemeinsam vertieften sich in den Inhalt. Doch schnell wandelte sich ihre Erwartung in Enttäuschung, da die Korrespondenz hauptsächlich aus nichtssagenden Floskeln bestand, die sie keinen Schritt weiterbrachte. Irene deutete auf eine Stelle: „Immerhin wissen wir jetzt, dass die Frau in Oldenburg wohnt. Aber ohne Nachnamen können wir diese Martha nicht ausfindig machen.“ „Ich schau mal, ob Umschläge beigefügt sind.“ Doch schon bald lehnte sich Martin resigniert zurück. „Nichts. Das war's dann. Im letzten Jahr hat sie drei Briefe geschrieben: an Weihnachten, zu seinem Geburtstag im März und eine Antwort auf seine Glückwünsche zu ihrem Geburtstag im Oktober. Und nirgends findet sich ein Hinweis, was Raabe mit dieser Frau verbindet. Auch keine sonstigen Details aus seinem Leben, die uns eine Spur aufzeigen könnten.“ Irene starrte noch immer auf eine Textpassage. „Meinst du, sie haben einen Geheimcode verwendet?“ „Was …? Nein, das hier liest sich so, als ob die Frau eine Zeitlang in München gelebt hat, bevor sie in ihre Heimat, also nach Oldenburg, zurückgekehrt ist.“ „Alle drei Briefe sind total leidenschaftslos … und todlangweilig. Lesen wir mal weiter, was uns Maria sonst noch mitteilt.“ Martin lachte höhnisch. „Das passt wieder mal zu Erwin!“, erregte er sich. „Er vermutet, dass diese Martha eine frühere Freundin von Raabe ist.“ „Kann es vielleicht sein, dass du ihn nicht magst? Ich hatte heute Morgen das Gefühl, dass du ihn von mir fernhalten wolltest.“ „Stimmt schon. Erwin ist verheiratet, ist aber dennoch ständig auf der Suche nach amourösen Abenteuern. Und die sieht er auch überall.“ Irene ließ das Gesagte so stehen, da Martin nach unten scrollte: „Weitere Schriftstücke wurden nicht gefunden. Seine Geldbörse enthielt 23,95 Euro, eine Bankcard der Stadtsparkasse und die Gesundheitskarte der AOK.“ „Das ist wirklich wenig. Und was hat Hubert geschickt? Ich bin schon gespannt, ob er uns wieder herausfordert.“ Martin schloss Marias Mail und rief die von Hubert auf. „Sein vorläufiger Bericht ist in Latein. Er lässt sich doch noch nicht ganz entmutigen.“ Mit Begeisterung beugte sich Irene nahe an den Monitor. „Hubert hat die Leiche gleich nach dem Mittagessen seziert.“ „Dem graust ja vor gar nix! Mal sehen, was er herausgefunden hat.“ Während Irene klassisch an die Übersetzung heranging, gelang es Martin, mit Hilfe seiner Spanischkenntnisse die wesentlichen Fakten rasch zu erfassen. „Todeszeitpunkt zwischen 7:00 Uhr und 7:30 Uhr.“ Er deutete auf die Fußnote. „Das ist ja mal präzise: 7:20 Uhr, wenn er kein Fieber hatte. Hubert ist schon ein Witzbold … Zwei Schüsse ins Herz aus derselben Tatwaffe. Die Entfernung zum Täter betrug maximal eineinhalb Meter. Also nicht viel Neues, außer der Übersetzungsarbeit.“ „Dein Latein ist wirklich gut.“ „Ach was! Hubert schreibt doch fast immer dasselbe“, wiegelte Martin ab. Bevor Irene ihm weitere Fragen stellen konnte, schlug er vor: „Lass uns gleich mal Freddies Unfallopfer-Theorie mit Hubert durchsprechen.“ Der meldete sich gleich mit einem Vorwurf: „Ich hab eine Ewigkeit gebraucht, den Bericht mit Floskeln auszuschmücken, und ihr habt ihn in fünfzehn Minuten durch!“ „Wieso bist du dir so sicher, dass wir dich nicht bitten, ihn für uns zu übersetzen?“ „Dann hättet ihr euch nicht ganze fünfzehn Minuten damit abgemüht. Was wollt ihr wissen?“ „Hatte der Tote irgendeine Behinderung?“ „Ich schau gleich mal nach. Er liegt ja bei mir noch auf dem Tisch.“

Nach wenigen Minuten rief Hubert zurück: „Eine Behinderung ist nahezu auszuschließen. Außer einer sehr alten Fraktur des linken Schultergelenks ist sein Knochengerüst intakt. Ich würde lediglich einen chronischen Bewegungsmangel attestieren. Raabe hat sich ganz sicher die Beiträge für ein Fitnessstudio gespart. Seine Muskulatur ist lapidar als schlaff zu bezeichnen. Eine neurologische Erkrankung, soweit sie im Gehirn nachweisbar ist, kann ich ebenfalls ausschließen. War gut, dass ihr telefonisch bei mir nachgefragt habt. Ein paar Vokabeln hätte ich wohl nachschlagen müssen.“ „Wir aber auch“, sagte Irene lachend. „Glaub ich nicht. Ich hatte bei Martin bisher schon den Eindruck, dass er im Alten Rom ganz gut zurechtgekommen wäre. Doch seit du mit rätselst, stehe ich auf verlorenem Posten. Ich geh jetzt heim.“ „Hast du dir deshalb kein neues Rätsel ausgedacht?“ „Eigentlich hatte ich es vor. Doch dann hat mir Maria erzählt, wie peinlich es ihr sei, dass sie nicht gleich alle Unterlagen mitgeschickt hat. Um sie aufzuheitern und euch zu irritieren, habe ich vorgeschlagen, unsere Nachrichten gleichzeitig abzuschicken. Habt ihr die Mail von Maria schon bemerkt?“ „Die haben wir zuerst gelesen“, sagte Irene und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. „Das gibt mir den Rest! Ich geh jetzt total frustriert nach Hause. Wir sollten nur noch telefonieren, das geht schneller.“ „Beim nächsten Mal sind wir mit unserem Latein am Ende und kommen ins Rudern wie Galeerensklaven. Ganz bestimmt!“ Hubert lachte. „Also schön, einen weiteren Versuch habt ihr noch gut bei mir.“

Martins Blick wanderte zur Uhr, aber Irene hielt ihm die herausgerissene Seite aus ihrem Notizbuch hin. „Das klären wir am besten gleich. Und dann ist Schluss für heute!“ Martin lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück und wählte mit einem Augenzwinkern die Nummer von Herrn Freundorfer. „Kripo München, Behringer hier! Entschuldigen Sie bitte die Störung.“ „Ach ja, der Herr von der Mordkommission! Aber Sie stören doch nicht. Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, sehr gerne.“ „Wir wollten Sie fragen, wie Herr Raabe sich üblicherweise gekleidet hat. Er wurde ja in einem dunklen Anzug aufgefunden.“ „Stimmt! Dazu kann ich Ihnen tatsächlich etwas sagen: So war er immer gekleidet, wenn er unterwegs war. Ich hab mir oft gedacht, der wirkt wie ein Versicherungsvertreter. Aber sein Gesichtsausdruck war … so teilnahmslos, falls Sie wissen, was ich meine.“ „Wissen wir. Was wir außerdem noch fragen wollten: Hatte Herr Raabe vielleicht irgendeine … nun ja … Behinderung?“ „Lassen Sie mich mal nachdenken ...“ Nach einer Weile kam die Antwort: „Er hat zumindest keinen Tick gehabt und gehinkt hat er auch nicht. Aber ich bin da kein Experte. Für mich war er gesund. Na ja, er war halt ein Stubenhocker. Das wäre nichts für mich. Morgen fahre ich mit der S-Bahn zum Starnberger See, es soll ja sonnig werden. Die Stimmung im Winter ist dort einmalig. Friedlich und unheimlich schön. Das tiefblaue Wasser und dahinter die verschneiten Bergketten … “ „Danke, Sie haben uns wieder weitergeholfen“, warf Martin schnell ein. „Das ist doch selbstverständlich … Ich hätte da auch eine Frage: Muss ich über … den Stand Ihrer Ermittlungen Stillschweigen bewahren?“ Herr Freundorfer klang plötzlich besorgt. Martin atmete tief durch, bevor er widerwillig antwortete: „Solange Sie der Presse keine Interviews geben …“ „Der Presse? Aber nein! Es ist nur wegen Theresa, ähm … Frau Vierthaler. Sie war bis vor zwei Jahren Lehrerin. Sie unterhält mich immer wieder mit lustigen Anekdoten aus ihrem Schuldienst. Und morgen würde ich ihr gern von der Mordermittlung erzählen.“ „Also schön! Wenn Sie uns im Gegenzug weiterhin Ihr Insiderwissen anvertrauen …“ „Insiderwissen? Das ist gut!“ Herr Freundorfer war nun vollends aus dem Häuschen. „Aber gern! Jederzeit. Falls Sie noch Fragen haben: Nur zu!“ „Vielen Dank, Herr Freundorfer, für heute ist alles geklärt. Auf Wiederhören.“ „Auf Wiederhören. Wie gesagt: Jederzeit.“ Martin legte auf. „Der ist schon eine Marke. Plaudert bei einem Ausflug über unsere Mordermittlungen, um einer Frau zu imponieren. Na ja, vielleicht brauchen wir ihn ja tatsächlich noch mal.“ „Mit seinem Insiderwissen, das hat ihm gefallen“, meinte Irene lachend. „Fest steht jedenfalls: Für den Besucher hat Raabe sich nicht extra herausgeputzt. Und die monatlichen Zahlungen stehen nicht mit einem Unfall in Verbindung, wie Freddie erwogen hat.“ „Herr Freundorfer scheint mir ein richtiger Lebenskünstler zu sein. Seine Begeisterung ist irgendwie ansteckend“, meinte Irene vergnügt. „Und wir haben auch einen guten Grund, uns zu freuen. Feierabend!“ Während Irene schon beschwingt ins Nachbarbüro eilte, fuhr Martin den PC herunter, nahm seine Jacke, knipste das Licht aus und folgte ihr. „Alle ausgeflogen!“, rief Irene und lief ihm ein paar Schritte entgegen. Martin breitete die Arme aus und fing sie auf. Sie schmiegten sich aneinander und küssten sich. Danach strebten sie händchenhaltend dem Ausgang zu.

Auf dem Heimweg stoppte Irene vor dem Biosupermarkt, um noch schnell Sahne einzukaufen. Martin blieb im Auto sitzen, seine Gedanken drifteten weg und landeten schließlich beim Telefonat mit Herrn Freundorfer. Er will mit einer ehemaligen Lehrerin über unseren Toten plaudern. Was war Raabe eigentlich von Beruf? Selbst wenn er die letzten Jahre nicht mehr gearbeitet hat, irgendwann wird er doch eine Ausbildung gemacht haben. Plötzlich wurde Martin klar, wie wenig sie über Raabe wussten. Die Briefe dieser Frau aus Oldenburg waren der einzige Bezug zu dessen Vergangenheit. Und auch der gab nicht viel her. Martha ist nicht gerade ein moderner Name … In diesem Moment öffnete Irene die Autotür und Martin fuhr erschrocken zusammen. „Hab ich dich beim Nachdenken gestört?“, fragte sie halb entschuldigend. „Wir wissen so gut wie gar nichts über Raabe. Das ist mir erst jetzt so richtig bewusst geworden. In seiner Wohnung wurde keine Geburtsurkunde, kein Personalausweis oder Reisepass gefunden. Auch keine Zeugnisse, weder von einer Schule noch von einem Arbeitgeber. Unklar ist auch nach wie vor, warum er nicht gearbeitet hat. Sieht ganz so aus, als hätte er gründlich mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und komplett neu angefangen.“ „Mittlerweile gibt es ja eine Menge Ratgeber, die einem empfehlen, sich von überflüssigem Ballast zu trennen. Vielleicht ist er ja ein radikaler Anhänger dieses Trends. Aber da behält man doch sicher die offiziellen Dokumente. Das ist schon seltsam. Na ja, morgen ist auch noch ein Tag. Heute sind unsere Gedanken schon lange genug um diesen seltsamen Raabe gekreist.“ „Stimmt. Der war wirklich ein komischer Vogel.“ „Jetzt ist mir nach was anderem zumute.“ Sie startete den Motor und reihte sich in den dichten Verkehr ein.

Dienstag, 29.01.

Übermüdet aber viel früher als sonst, kamen die beiden im Kommissariat an. Während Martin Kaffee kochte, überprüfte Irene bereits, was sie über Raabe in Erfahrung bringen konnte. Wenig später rief sie ins leere Nachbarbüro: „Raabe war nicht verheiratet und hatte auch keine Kinder. Von Beruf war er technischer Zeichner.“ „Soviel ich weiß, wurde diese Art der Tätigkeit weitgehend mit der Umstellung auf CAD wegrationalisiert.“ „Bald wissen wir mehr über seine Vergangenheit! Ich hab gerade eine Anfrage an das Finanzamt geschickt, um seine Steuerbescheide einzusehen.“ „Unter meinem Namen oder unter deinem?“ „Unter deinem. Vielleicht geht es dann schneller. Ist dir das recht?“ „Aber natürlich.“ Mit diesen Worten betrat Martin sein Büro. Er servierte zwei Tassen Kaffee auf einem altmodischen Klemmbrett, den linken Arm nach hinten gebeugt in eleganter Ober-Manier. Als Irene aufstehen wollte, winkte er ab. „Bleib ruhig sitzen und lass dich verwöhnen. Voilà!“ Er zauberte eine Packung Schokoladenkekse hinter seinem Rücken hervor. Irene lächelte. „Wie machst du das nur? Wir gehen doch immer gemeinsam zum Einkaufen. Ach so, während ich beim Friseur war. Und ich hatte befürchtet, du amüsierst dich nur mit den Bedienungen in deinem Lieblingscafé.“ „Dann würde ich jetzt mit leeren Händen dastehen.“ „So ist es mir lieber.“ Irene riss die Verpackung auf, fingerte einen Keks heraus und stopfte ihn in den Mund. Genüsslich schloss sie die Augen. Sie schluckte den Rest hinunter und sagte: „Ich hab auch gleich noch eine E-Mail an die Arbeitsagentur geschrieben, vielleicht hat Raabe beruflich umgesattelt.“ „Prima. Wir werden seine Geheimnisse schon noch lüften.“ In diesem Moment wurde draußen die Eingangstür geöffnet. Blitzschnell ließ Irene die Packung Kekse im Schreibtisch verschwinden als sie die Stimmen von Werner und Freddie hörte. Martin erhob sich und positionierte sich betont lässig, indem er sich mit einem Arm am Türrahmen abstützte. „Hast du etwa mit Werner auch eine Fahrgemeinschaft gebildet?“ Freddie erwiderte breit grinsend: „Ich hab den Burschen auf dem Parkplatz getroffen und denk dir nur, überraschenderweise hatten wir den gleichen Weg. Und ihr habt bereits Kaffee gekocht, wie mir meine Spürnase zweifelsfrei verrät.“ „Nicht nur. Irene hat schon offizielle Informationen über Raabe angefordert.“ Werner wirkte leicht verärgert. „Das hätte ich gestern doch anleiern können. Aber ich hab mich nur erkundigt, ob Raabe einen kriminellen Hintergrund hat.“ Irene mischte sich ein. „Martin ist aufgefallen, dass die Spurensicherung noch nicht mal einen Ausweis in der Wohnung gefunden hat.“ „Du warst ja nicht am Tatort“, sagte Martin beschwichtigend zu Werner. „Trotzdem. Ich hätte weiter denken müssen.“ Er wandte sich an Irene: „Dann zeig ich dir jetzt wenigstens, wie du deine dringende Anfragen beschleunigen kannst.“ „Ich … wir haben sie unter Martins Namen abgeschickt. Ich dachte, das genügt.“ Werner lächelte. „Schon. Aber bis sie bei der richtigen Stelle landen, das dauert.“ „Dann bin ich mal gespannt.“ Irene schaltete ihren Computer ein und wartete. Als er betriebsbereit war, winkte sie Werner heran, stand auf und überließ ihm ihren Platz. Sie nahm ihr Notizbuch zur Hand und deutete auf die Mails, die sie auch an sich selbst geschickt hatte. „Gut. Die Anfrage an die Arbeitsagentur werde ich gleich mal an Marc weiterleiten. Der sitzt sozusagen an der Quelle.“ Er fügte ein paar erklärende Sätze hinzu und drückte dann auf Senden. „Und beim Finanzamt habe ich Susi als direkten Kontakt.“ Wieder tippte er einen Text und setzte auch diesmal Martin auf cc. „So und jetzt könnt ihr beide mal überprüfen, wer sich zuerst meldet.“ Freddie, der bisher ruhig zugehört hatte, drängte nun: „Martin hat durch dich so viel Zeit gespart und die vertrödeln wir gleich mal in der Küche. Du hast dir eine Kaffeepause verdient.“ Mit beiden Händen stützte er sich auf den Schreibtisch, um sich zu erheben. Da klingelte sein Telefon. Grummelnd ließ sich Freddie in seinen Stuhl zurückfallen, hob den Hörer ab und stellte den Lautsprecher an. Herbert Reiser meldete sich.

---ENDE DER LESEPROBE---