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Auf einer Wanderung in Südtirol entdecken Marianne und Gerhard Berger einen abgetrennten Kopf in einem idyllischen Gebirgsbach. Nur wenige Wochen später finden die beiden bei einem Waldspaziergang in Münchens Süden einen weiteren Toten. Kann das Zufall sein? Hauptkommissar Martin Behringer und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Warum wurde das Mordopfer über eine Woche lang nicht vermisst? Und warum sind alle Familienangehörigen nicht erreichbar? Als wäre dies noch nicht genug, wird auch noch ein Ermordeter in der Isar gefunden, ohne Kopf. Zum Glück erhält das Team Unterstützung: Die neue Mitarbeiterin Irene Meier ist eine ambitionierte Ermittlerin. Obwohl Martins trickreiches Verhalten sie verstört, ist sie dennoch von ihm fasziniert. So sehr, dass sie ihren Spürsinn auch hier einsetzt. Mit einem sonderbaren Ergebnis: Er könnte tatsächlich ihr Traummann sein. Aber was für ein Traum wird das?
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Das Team
Dienstag, 16.10.
Sonntag, 04.11.
Montag, 05.11.
Dienstag, 06.11.
Mittwoch, 07.11.
Donnerstag, 08.11.
Freitag, 09.11.
Samstag, 10.11.
Sonntag, 11.11.
Montag, 12.11.
Dienstag, 13.11.
Mittwoch, 14.11.
Donnerstag, 15.11.
Freitag, 16.11.
Montag, 19.11.
Dienstag, 20.11.
Mittwoch, 21.11.
Donnerstag, 22.11.
Freitag, 23.11.
Sonntag, 25.11.
Montag, 26.11.
Dienstag, 27.11.
Mittwoch, 28.11.
Freitag, 30.11.
Samstag, 01.12.
Sonntag, 02.12.
Montag, 03.12.
Dienstag, 04.12.
Mittwoch, 05.12.
Donnerstag, 06.12.
Freitag, 07.12.
Samstag, 08.12.
Montag, 10.12.
Dienstag, 11.12.
Mittwoch, 12.12.
Donnerstag, 13.12.
Freitag, 14.12.
Samstag, 15.12.
Montag, 17.12.
Dienstag, 18.12.
Mittwoch, 19.12.
Donnerstag, 20.12.
Freitag, 21.12.
Samstag, 22.12.
Sonntag, 23.12.
Donnerstag, 27.12.
Samstag, 29.12.
Sonntag, 30.12.
Donnerstag, 03.01.
Anmerkung
Impressum
Irene Meier, frisch aus Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder. Martin Behringer, ihr neuer Chef, hat die höchste Aufklärungsquote. Aber wodurch? Ganz sicher nicht durch seine Qualitäten als Chef. Seine jüngeren Mitarbeiter Hans Baumann und Stefan Burghoff beteiligen sich überhaupt nicht an den Mordermittlungen und er akzeptiert dies. Auch Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, lässt keine Gelegenheit aus, sich über seinen Chef lustig zu machen. Er ermittelt zwar, aber noch immer mit Methoden aus dem letzten Jahrtausend. Seinen Computer hat er noch kein einziges Mal eingeschaltet. Für ihn übernimmt Werner Mohr alle Nachforschungen in den Polizeidatenbanken. Der langjährige Innendienstmitarbeiter unterhält ein umfangreiches Netzwerk zum Austausch von Informationen auf dem ganz kurzen Dienstweg.
Weitere Personen, die an den Ermittlungen beteiligt sind oder sie behindern:
Ulrich Weinziertl: Behringers Chef Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner Maria Zeilinger: Spurensicherung Erwin Lehmann: Spurensicherung Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale
Daniel Ott: Leiter der Organisationsabteilung Roland Schuster: Kriminalrat Eberhard Krawinkl: Einsatzleiter
Andi Larcher: Kriminalpolizei Brixen Achim Wagner: Kriminalpolizei Frankfurt a. M.
„Nicht schon wieder!“, schimpfte Marianne Berger leise vor sich hin. Ihr Mann Gerhard stand auf einem schmalen Waldweg etliche Meter hinter ihr und fotografierte „schon wieder“. Sie richtete den Blick zum blauen Himmel über den hohen Baumwipfeln. Eigentlich ideales Wanderwetter hier in Südtirol, dachte sie frustriert. Wut stieg in ihr hoch: Ständig kommen neue Kameras auf den Markt. Aber nicht eine davon verhindert, dass andauernd dasselbe Motiv abfotografiert wird. Würde zur Abschreckung ein lauter Signalton reichen? Bei Gerhard bestimmt nicht! Also doch eher ein Stromschlag? Ja, und zwar einer, der ihn wie ein Peitschenhieb vorantreibt!
Der, dem diese Rachephantasien galten, wollte nur noch schnell ein paar Fotos machen. Er nahm den Gebirgsbach ins Visier und geriet dabei ins Schwärmen: Wasser, diese elementare Urkraft, die sich über jedes Hindernis hinweg sein eigenes Bett gräbt, wer kann daran achtlos vorübergehen? Ein kurzer, kritischer Blick streifte seine Frau. Doch wenig später fingerte er bereits euphorisch an seinem Fotoapparat herum. Die ersten schnell geschossenen Bilder waren leicht verwackelt. Gerhard versuchte es mit einem lichtstärkeren Modus. Nun waren die Bilder zwar scharf, aber Gerhard war immer noch nicht zufrieden. Und so zoomte er einige glatt geschliffenen Steine samt der sie umspülenden Wirbel heran. Die automatische Gesichtserkennung wurde aktiviert. Gebannt schaute er auf das Display.
Ein durchdringender Schrei ließ Marianne überrascht aufhorchen: Na so was, gibt es etwa den Starkstrom-Modus schon? Nun dann muss Gerhard jetzt büßen! Lachend ging sie auf ihn zu. Ihr Mann zeigte aufgeregt zum Bach und dann auf das Display: „Der Stein da, das ist ein Kopf!“ Marianne schaute ihren Mann irritiert an. Was hat er denn? Ein Stein kann doch wie ein Kopf aussehen. Oder … Nein, das darf nicht wahr sein! Zitternd nahm Marianne ihr Handy aus der Tasche. „Wir müssen die Polizei rufen!“ Gerhard nickte nur, setzte sich auf einen Baumstumpf und schlug die Hände vors Gesicht. Marianne wählte die Notrufnummer und war froh, dass sie mit dem Beamten in Brixen Deutsch sprechen konnte. „Hier Berger. Bitte kommen Sie sofort! Wir haben in einem Gebirgsbach einen abgetrennten Kopf gefunden.“ „Was haben Sie gefunden?“ „Einen Kopf. Den Kopf eines Mannes.“ „Einen Toten?“ „Ja.“ Marianne schenkte sich eine sarkastische Bemerkung und fragte nur: „Sollen wir an der Fundstelle auf Sie warten?“ „Unbedingt. Wo sind Sie genau?“ Als Marianne den Weg beschrieben und das Gespräch beendet hatte, schaute sie auf die Uhr.
Nach etwa zwanzig Minuten ertönte oberhalb von der Straße her die Sirene eines Polizeiautos. Kurze Zeit später näherten sich zwei junge Polizisten über einen abschüssigen, schmalen Weg. Auf den letzten Metern gerieten sie ins Rutschen. Den Carabinieri war der spöttische Blick der Frau nicht entgangen. Mit durchgestrecktem Rücken und mürrisch-autoritärem Gesichtsausdruck bauten sich die Männer vor ihr auf. Weil Marianne ebenso wie ihr Mann die beiden jungen Polizisten um einen Kopf überragte, verfehlte auch das die gewünschte Wirkung. Sprechen die Polizisten nun aus Trotz nur Italienisch mit uns, oder können die wirklich kein Deutsch?, fragte sie sich, während Gerhard unermüdlich auf die beiden Polizisten einredete. Mehrmals wiederholte er ein paar lateinische Vokabeln. Doch nach wie vor blickte er in verständnislose Gesichter. Schließlich wandte er sich resigniert seiner Frau zu: „Ich glaube, die verstehen mich tatsächlich nicht. Dann machen wir das eben anders.“ Gerhard deutete nun einfach mit der Hand auf den Stein im Bach. Endlich zeigten die Polizisten eine deutliche Reaktion. Der etwas ältere schrie mit sich überschlagender Stimme und wild gestikulierend in sein Handy. Marianne schüttelte müde den Kopf: „Die nehmen uns erst jetzt ernst! Und ich dachte, ich habe überzeugend geklungen.“ „Ich hätte dir geglaubt“, sagte Gerhard und strich Marianne sanft über ihre langen blonden Haare.
Und so dauerte es noch einmal vierzig Minuten, bis das Team der Spurensicherung anrückte. Die Carabinieri, die sich mittlerweile entspannt miteinander unterhielten, wandten sich nun wieder den Touristen zu. Der ältere deutete zur Straße hinauf. Marianne flüsterte entsetzt: „Jetzt sollen wir auch noch mitfahren, und nicht mal das kann er uns sagen. Wie lange wird es dann erst dauern, bis sie unsere Aussage protokolliert haben?“ „Was meinst du, werden sie uns in den Rücken schießen, wenn wir einfach weglaufen?“ „Dass sie uns nur Unverständliches hinterherrufen werden, wissen wir ja bereits. Wir sollten es besser nicht riskieren.“ Widerwillig stiegen Marianne und Gerhard Berger zur Straße hoch.
In der Dienststelle in Brixen wurden sie zu einem Polizisten geführt, der sie auf Deutsch ansprach. Nebenher packte er hastig seine Brotzeit zusammen und ließ sie schnell in der Schreibtischschublade verschwinden. Dann strich er bedächtig über sein schütteres Haar. Dabei richtete sich sein Blick auf die sportliche Figur der Frau. Marianne setzte sich und las das Namensschild auf dem Schreibtisch: Andreas Larcher, Ispettore.Der Polizist verfolgte aufmerksam jede ihrer Bewegungen, was Marianne nicht entging. In wenigen Worten schilderte sie Larcher, was sich ereignet hatte. Die Fragen des Polizisten waren umständlich, aber bereits nach der dritten wusste Marianne warum: Er versucht, uns in die Enge zu treiben, weil er uns für die Mörder hält! Marianne begann daraufhin, bei ihren Antworten naiv zu lächeln und eine sanfte Unbedarftheit in ihre Stimme zu legen.
Die Rolle von Gerhard beschränkte sich darauf, hin und wieder bestätigend zu nicken. Doch seine Gedanken gingen in eine andere Richtung: Dieses Biest! Gleich beugt sie sich nach vorn und streicht sich aus Verlegenheit über die Wade. Den Mann möchte ich sehen, der ihr dann nicht in den Ausschnitt schaut. Ich mache das jedes Mal … Na also, er auch!
Gerade als Larcher die unterschriebene Aussage von Marianne entgegennahm und sich freundlich von ihr verabschiedete, klingelte sein Telefon. Er schaute die beiden wohlwollend an und wiederholte dabei bereitwillig die Auskünfte, die er über sie erhielt: „Die Angaben stimmen also: Der Mann ist 45 Jahre alt und die Frau 42, Wohnort München. Dann ist also kein Irrtum möglich? ... Beide sind nicht vorbestraft ... Und sie arbeiten an der Universität ... Was? Die Frau ist Physikerin und der Mann Bibliothekar? Nicht umgekehrt? … Ah ja … Nein, es haben sich keine Verdachtsmomente ergeben.“ Beim letzten Satz blickte Larcher misstrauisch zu Frau Berger. Sie lächelte, aber diesmal verzichtete sie auf den naiven Gesichtsausdruck. Schnell verließ sie mit ihrem Mann das Büro. Larcher schaute zweifelnd zur Tür, während er mechanisch das Protokoll abheftete. Doch dann schloss er mit einem verklärten Lächeln die Augen. „Bellissima“ murmelnd, zeichnete er runde Formen in die Luft. Mit einem leisen Seufzer öffnete er die Augen, griff in die Schublade, packte sein Speckbrot wieder aus und biss kräftig hinein.
***
Als der Vermieter einer Ferienwohnung wie vereinbart zur Abrechnung erschien, fand er zu seinem Ärger niemanden vor. Auf dem benutzten Bett lag ein Schlafanzug. Auch das Bad und der Kleiderschrank waren nicht ausgeräumt. Sicherheitshalber faxte der Vermieter eine Kopie des Personalausweises an die Polizeidienststelle. Dort stellte sich heraus, dass das Passfoto genau den Teil des Mannes zeigte, der im Gebirgsbach gefunden worden war. Somit stand fest: Der abgetrennte Kopf gehörte zu Frank-Werner Saalweg, einem Vermögensberater aus Frankfurt am Main.
Marianne und Gerhard Berger mussten nur eine der wenig befahrenen Seitenstraßen bis zum Ende gehen, und schon waren sie im Perlacher Forst, einem Naherholungsgebiet, das sich von hier aus fünf Kilometer in den Süden von München erstreckt. Die schnurgeraden Wege und das eintönige Bild des lichten Fichtenwaldes ließen beide bald in ihrer eigenen Gedankenwelt versinken …
Als Marianne mit dem Fuß einen Kieselstein über den asphaltierten Weg meterweit wegkickte, wurde sie durch das Geräusch wieder in die Realität zurückgeholt. „Wo sind wir denn überhaupt? Das sieht ja noch immer genauso aus, wie vorhin … Oh, es ist ja schon nach drei! Müssen wir nun den weiten Weg wieder zurück?“ Marianne wandte sich hilfesuchend an ihren Mann. Sofort kramte Gerhard im Rucksack nach seinem GPS-Navigationsgerät und zeigte dann nach links: „Wenn wir einen Kilometer in diese Richtung gehen, kommen wir zur S-Bahn-Station.“ Marianne deutete ein paar Meter geradeaus auf einen schmalen Pfad: „Na wenigstens müssen wir nicht durchs Unterholz latschen.“
Nachdem sie ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, fiel ihnen ein dicker, älterer Mann auf, der an einem Baumstamm angebunden war. „Wieder mal ein Großvater, der sich für seine Enkel zum Affen macht“, lautete Mariannes Kommentar. Als sie näher kamen und der Mann sich immer noch nicht regte, sagte Gerhard leise: „Nicht schon wieder!“ Ohne viel Hoffnung auf eine Antwort rief Marianne: „Hallo! … Also schön, Sie haben uns einen Schreck eingejagt. Aber jetzt sollten Sie ganz schnell mit dem Blödsinn aufhören!“ Mit zitterndem Finger deutete Gerhardauf einen dunklen Fleck am Pullover des Mannes: „Wenn er noch atmen würde, könnte man sicherlich auch dafür eine harmlose Erklärung finden. Aber so würde ich sagen, er wurde ermordet.“ Nach einer Weile meinte Marianne: „Und wenn wir diesmal einfach weiter gehen?“ „Außer uns kommt hier heute niemand mehr vorbei. Wir sind ja auch auf den Hauptwegen kaum jemanden begegnet.“ „Aber wir können doch nicht schon wieder einen Ermordeten melden.“ „Na ja, vielleicht wissen sie hier nicht, dass wir in Südtirol einen Kopf gefunden haben.“ „Also gut! Aber nur noch diesen hier! Den nächsten lassen wir einfach liegen, hängen oder was auch immer.“ Marianne nahm ihr Handy aus dem Rucksack, aber Gerhard hielt sie zurück: „Diesmal bin ich dran.“ Statt umständlich den Weg zu beschreiben, gab er einfach die per GPS ermittelten Koordinaten durch. In einiger Entfernung von der Leiche warteten sie auf das Eintreffen der Polizei. Die Sonne war mittlerweile hinter den Bäumen verschwunden. Schnell wurde es kühl, und die beiden begannen, in ihrer leichten Kleidung zu frösteln. In die Stille hinein fragte Gerhard zögerlich: „Sollen wir den Vorfall in Südtirol ansprechen? Wir können ja schließlich nichts dafür, dass Leute mittlerweile nicht nur ihren Müll, sondern auch Leichen neben Wanderwegen ablegen.“ Marianne schien erst unentschlossen, schüttelte dann aber vehement den Kopf: „Nein, lieber nicht! Ich hab noch nichts davon gehört, dass Morden im Grünen der neue Trend ist. Ich fürchte, wir sind die Einzigen, die so oft fündig werden. Ganz sicher würde die Polizei uns wieder eine Menge dummer Fangfragenstellen.“ Gerhard nickte. „Das kann dann locker bis Mitternacht dauern.“ „Und wenn wir uns dabei verdächtig machen, müssen wir die Nacht im Gefängnis verbringen“, fügte Marianne mit einem hörbaren Schaudern in ihrer Stimme hinzu. „Nein, kommt gar nicht infrage! Ich meine, wir helfen ihnen bei ihrer Arbeit. Und als Dank dafür halten sie uns für die Mörder.“
Bald danach näherte sich aus der anderen Richtung eine Gruppe Menschen, allen voran zwei Polizisten in Uniform. Sie trugen schwere Metallkoffer. Hinter ihnen folgte ein Team der Spurensicherung, das weitere Koffer heranschleppte. Marianne betrachtete die beiden Polizisten skeptisch. Sie waren in etwa gleich alt und komischerweise auch gleich groß wie die in Südtirol. Der jüngere begrüßte sie mit den Worten: „Vielen Dank, dass Sie uns angerufen haben. Soll ich Ihnen Decken bringen?“ Marianne war so angenehm überrascht, dass sie nur dankbar lächelte. Der Polizist ging zum Auto zurück und brachte zwei Polyester-Decken, die sich Marianne und Gerhard sofort umhängten. „Wir haben immer Decken dabei, falls wir mal einen Exhibitionisten einsammeln müssen.“ Als er sah, wie Marianne angewidert das Gesicht verzog, fügte er hinzu: „Diese Decken sind neu.“ Eine Frau von der Spurensicherung kam hinzu und fragte in sachlichem Ton: „Wie nahe sind Sie an den Toten herangetreten?“ Als Gerhard sie vorsichtig dorthin führte, sagte sie zufrieden: „Sie sollten öfter Leichen auffinden. Sie erleichtern mir meine Arbeit.“ Marianne verzog erneut das Gesicht, und auch Gerhard zeigte sich verunsichert.
Nachdem die ersten Untersuchungen des Tatortes abgeschlossen waren, sagte der etwas ältere Polizist freundlich: „Sie können jetzt heimgehen. Wir haben ja Ihre Personalien, falls es noch Fragen gibt. Wenn Sie allerdings mit uns in die Stadt fahren wollen, müssten Sie sich leider noch etwas gedulden.“ Marianne und Gerhard überlegten nicht lange. Sie gaben die Decken zurück und verließen den mittlerweile grell ausgeleuchteten Tatort. Aber schon nach wenigen Schritten blieben sie stehen. Gerhard blickte zurück und meinte: „Die waren ja überaus freundlich und dankbar. Sollen wir ihnen doch noch erzählen, dass uns in Südtirol etwas Ähnliches passiert ist?“ „Nein, auf gar keinen Fall! Diese Frau von der Spurensicherung hatte ja ohnehin den Verdacht, dass wir professionelle Leichensucher sind.“ „Dann fahren wir jetzt doch lieber heim.“ „Und überhaupt, wir machen uns so viele Gedanken, und dabei hat sich die Brixener Polizei gar nicht mehr bei uns gemeldet.“ „Dein Busenfreund dort hätte dich bestimmt angerufen, wenn es neue Erkenntnisse gäbe.“ „Na, wenigstens hat er mir geglaubt.“ „Wundert mich schon, dass er sich von deinem Ausschnitt losreißen konnte.“ „Was blieb ihm anderes übrig. Ich war doch unschuldig.“ „Meine Mutter hat mich immer vor dir gewarnt.“ „Und meine Mutter fand Bibliothekare langweilig.“ Ein Rascheln im Unterholz schreckte beide auf. Schnell liefen sie weiter. Dabei zogen beide den Kopf ein, bemerkten dies und lachten. Und so übersahen sie den großen, breitschultrigen, korpulenten Mann,der geradewegs auf sie zumarschierte. Marianne zuckte zusammen, als eine autoritär klingende Stimme fragte: „Wer sind Sie? Und warum haben Sie es so eilig?“ Gebannt schaute Marianne auf den etwa 50-jährigen Mann im dunklen Mantel, der eine bauchige Ledertasche trug: „Wir … wir haben den Toten gefunden. Berger Marianne und mein Mann Gerhard.“ „Sein Tod scheint Ihnen ja nicht sehr nahe zu gehen.“ In Mariannes Gehirn klingelten die Alarmglocken. Sie schaute kurz, ob sich Gerhard zu einer Äußerung hinreißen ließ. Als er ansetzte, etwas zu sagen, erzählte sie lieber, was ihr spontan einfiel: „Nein, wir haben nur so gefroren, und deshalb sind wir gelaufen. Dabei ist mein Mann gestolpert und hätte sich fast das Genick gebrochen. Und so mussten wir lachen bei dem Gedanken, dass Ihre Kollegen gleich zwei Leute abtransportieren müssen. Sie sind doch von der Polizei?“ „Nicht ganz. Ich bin Rechtsmediziner. Hubert Reinmüller. Und deshalb kann ich Ihnen glaubhaft versichern, dass es nicht leicht ist, sich auf einem Waldboden das Genick zu brechen.“ Marianne lächelte nun wieder naiv: „Oh, daher die große Tasche. Ich konnte mir nicht erklären, was Sie damit im Wald suchen.“ Der Rechtsmediziner wandte sich kopfschüttelnd ihrem Mann zu: „Ich bin ebenfalls verheiratet. Meine Frau hat sich diese naive Tour ganz schnell abgewöhnt, weil sie bei mir damit nichts erreicht hat. Nun, was wollen Sie verbergen?“ Gerhard Berger lachte. „Ich falle leider noch manchmal auf diese Masche rein. Aber hin und wieder macht es mir auch Spaß, wenn meine Frau sich so viel Mühe gibt, mich von etwas zu überzeugen, was ich ja sowieso machen wollte.“ Marianne warf ihrem Mann einen verächtlichen Blick zu und sagte nun in resolutem Ton: „Also gut, wenn alle Welt mich durchschaut, dann erzähle ich Ihnen jetzt die Wahrheit. Wir haben in Südtirol einen Toten gefunden. Aber glauben Sie mir, wir haben damals und auch heute den Toten wirklich nur gefunden. Nur weil man uns damals in Südtirol verdächtigt hat, haben wir heute der Polizei den ersten Fund verschwiegen. Deswegen waren wir diesmal schon kurz davor, dem nächsten Spaziergänger die Leiche zu überlassen.“ Ohne zu zögern, antwortete der Rechtsmediziner: „Ich glaube Ihnen! Und wann war damals?“ Marianne starrte ihn an: „Vor nicht ganz drei Wochen. Woher wussten Sie …?“ „Sie haben zweimal damals gesagt und es besonders betont. Aber das macht für mich keinen Unterschied. Ich glaube Ihnen, dass Sie keine Mörder sind, und ich bin echt froh, wenn die Leichen in einem guten Zustand in meine Hände gelangen. Vielen Dank und noch schönen Abend!“ „Sie lassen uns einfach gehen?“, fragte Marianne nun zu ihrer eigenen Verwunderung. „Aber natürlich. Warum sollte ich meinem Urteilsvermögen nicht trauen? Wenn es nichts taugen würde, wären Sie schon mit Ihrer gespielten Naivität durchgekommen.“ Marianne und Gerhard gingen eine Weile schweigend nebeneinanderher. Doch dann zischte Marianne ärgerlich: „Du … du hast mich so oft betteln lassen und hast es auch noch genossen! Es ist so entwürdigend …“ „... wenn man die Dumme spielt.“
Dichter Nebel lag über dem morgendlichen München. Die Stadt war wie in Watte gehüllt. Der Verkehr, der sich sonst hektisch durch die Straßen drängte, glich heute eher einer meditativen Prozession. Hauptkommissar Martin Behringer mochte diese gemächliche Fahrt. Er reihte sich in die Autoschlange ein. Seine Aufmerksamkeit beschränkte sich im Wesentlichen auf die Rücklichter, die sich im Schritttempo vorwärts bewegten. Und so konnte er in Ruhe seine Gedanken schweifen lassen.
Je näher er dem Kommissariat kam, desto mehr rückte der bevorstehende Arbeitstag in seinen Fokus. Eigentlich sollte heute die neue Kommissarin ihren Dienst bei uns antreten, fiel ihm ein. Dummerweise ist von Anfang an wirklich alles schiefgegangen. Wochenlang lagen ihre Bewerbungsunterlagen auf dem chaotisch überfüllten Schreibtisch des Abteilungsleiters für Organisierte Kriminalität herum. Und ausgerechnet dann, als Frau Meier bei mir telefonisch nachfragen wollte, war ich im Urlaub. Erst zwei Tage danach haben sie das Kuvert gefunden. Und um den Fehler auszubügeln, hat die Leitung sofort ein Vorstellungsgespräch angesetzt … Frau Meier muss die Chefsja ganz schön beeindruckt haben, wenn sie ihr gleich eine Stelle in der Organisationsabteilung anbieten. Und Frau Meier hat abgelehnt! Nicht einmal dankend. Sie wollte unbedingt zur Mordkommission. War das nur ein geschickter Schachzug von ihr, um ein besseres Angebot zu erhalten? Immerhin hat man ihr daraufhin eine Beförderung innerhalb von zwei Jahren in Aussicht gestellt. Da kann unsere Abteilung nicht mithalten. Leider. Dabei hätte Frau Meier bei uns ideale Bedingungen: Mordfälle lösen ohne Bürokratie. Wir haben nicht einmal mehr einen Dienstplan! Und das verdanken wir ausgerechnet dieser Organisationsabteilung. Sie wollte ja unbedingt unsere renovierten Räume im Präsidium für ihren aufgeblähten Apparat selber nutzen.
Im Vorbeifahren warf Behringer einen flüchtigen Blick zum Viktualienmarkt hinüber, auf dem die meisten Stände noch geschlossen waren. Gerade wollte er durch die schmale Toreinfahrtzu seiner provisorischen Dienststelle einbiegen, als ihm von der anderen Seite ein Auto entgegenkam. Er traute seinen Augen nicht: Was für ein Zufall! Dasselbe Modell, dieselbe Farbe. Aber im Gegensatz zu seinem Wagen sah er nagelneu aus. Er schaute die junge Frau am Steuer neugierig an. Sie wollte soeben zurücksetzen, um ihm die Vorfahrt zu lassen. Mit einem Lächeln winkte Behringer sie weiter. Daraufhin fuhr sie flott durch die Einfahrt und parkte vor dem Kommissariat. Beim Aussteigen winkte sie ihm zum Dank zu. Das ist ja eine Überraschung!, freute sich Behringer. Frau Meier hat also doch noch durchgesetzt, dass sie in mein Team kommt. Wie schwungvoll sie die Tür öffnet. So lässig und locker hätte ich sie mir gar nicht vorgestellt. Ihre Mails wirkten so nüchtern und entschlossen. Ein Hupen schreckte Behringer auf, und so hielt er schnell nach einem freien Parkplatz Ausschau. Jedoch vergeblich. Mit einem unguten Gefühl lenkte er seinen Wagen in die Tiefgarage und danach direkt auf den breiteren der beiden Stellplätze, die für seine Dienststelle reserviert waren. Sein Auto stand nun schräg über beide Parkplätze. Also setzte er zurück und fuhr geradlinig auf den Stellplatz zu. So würde er bequem aussteigen können. Ein kratzendes Geräusch auf der anderen Seite ließ Behringer zusammenzucken. Er stieg aus und besah sich den Schaden: Die hintere Tür und das Seitenblech über dem Rad waren angeschrammt. Am Betonpfeiler waren lediglich ein paar Lackspuren sichtbar. Dennoch rief er gleich den Parkhauswächter an. Dieser fragte nur: „Guten Morgen, Herr Behringer, war es wieder die Wand?“ „Nein, der Betonpfeiler.“ „Nun, das Parkhaus schwankt nicht. Es wird also auch diesmal nichts passiert sein.“ „Könnten Sie vielleicht doch vorbeischauen? Ich möchte nicht, dass jemand anders verdächtigt wird.“ „Keine Gefahr. Trotzdem danke.“ Behringer beendete das Telefonat. Das ist also erledigt, und Freddie hat davon nichts mitbekommen. Zufrieden lächelnd stieg er die Treppe hinauf.
Als er das Büro betrat, war Irene Meier bereits in ein Gespräch mit Freddie Obermeier, seinem langjährigen Kollegen, vertieft. Der blickte erfreut auf und machte eine ausholende Geste: „Das ist unser Chef, Hauptkommissar Martin Behringer.“ Die junge Frau stand daraufhin betont langsam auf, strich dezent ihren schwarzen Wollrock übers Knie und schritt anmutig um den Schreibtisch herum auf Behringer zu. Das ist ja ein Kontrast zu meinem früheren Chef!, stellte sie positiv überrascht fest:Sportlich, groß, schlank. Dabei bewegt er sich so geschmeidig, elegant. Nicht eitel, sonst würde er nicht so legere Sportschuhe zu seinem Anzug tragen.Er ist bestimmt nicht älter als 35. Blonde Haare, blaue Augen ... Er wirkt irgendwie unerschütterlich. Aber warum schaut er mich auf einmal so kühl und distanziert an? Auch Behringer nutzte die Zeit, um routiniert seine Beobachtungen anzustellen: Circa 1,70 Meter groß. Braune Augen, dann sind vermutlich auch die dunklen Haare nicht gefärbt. Sportlich, aber nicht übertrieben. Sie hat eine tolle Fig… Schnell konzentrierte er seine Aufmerksamkeit nun auf ihren Gesichtsausdruck. Was mag sie für ein Mensch sein? Ihr Blick wirkt ja auf einmal so kritisch … Sie hat wohl bemerkt, dass ich versuche, sie einzuordnen. Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. „Willkommen, Frau Meier! Wir freuen uns sehr, dass Sie sich doch noch für unsere Abteilung entschieden haben.“ „Vielen Dank, Herr Behringer! Wir haben uns ja schon gesehen. Sie haben mir netterweise die Vorfahrt gelassen.“ Sofort schaltete sich Freddie in strengem Tonfall ein, als ginge es darum, einen Verdächtigen zu überführen: „Und wo warst du dann so lange? … Hast du etwa in der Tiefgarage geparkt?“ Behringer nickte stumm. Freddie ging behäbig zum schwarzen Brett und machte einen Strich auf einem Zettel in der unteren Ecke: „Schon der siebte.“ Behringer wollte gerade etwas erwidern, hielt es dann aber doch für besser, jetzt nichts zu sagen. Irritiert fragte Irene Meier: „Was bedeutet das? Muss man etwas bezahlen, wenn man in der Tiefgarage parkt?“ „Martins Fahrkunst kostet den Steuerzahler schon einiges“, erwiderte Freddie mit einem Augenzwinkern zu Frau Meier. Von wegen unerschütterlich!, dachte diese. Herr Obermeier hat ihn ganz schön aus der Fassung gebracht. Nur zögerlich schaute sie zu ihrem Chef, der noch immer regungslos im Raum stand. Jetzt wirkt er ja doch wieder unerschütterlich. Und wozu dann das Theater? Ach so! Er lässt diesem Herrn Obermeier seinen Spaß, und dann ist es gut.
Die Tür öffnete sich erneut. Hans Baumann und Stefan Burghoff betraten das Büro. Behringer hatte sie schon draußen beim Rauchen gesehen. Die beiden gingen freudestrahlend auf Irene Meier zu und stellten sich vor. Behringer beobachtete, wie sie dabei die Luft anhielt und schnell einen Schritt zurückwich: So geht es mir auch immer. Sie ist wohl ebenfalls Nichtraucherin. Gerade als er Frau Meier zu einem Gespräch in sein Büro bitten wollte, läutete Freddies Telefon. „Herbert Reiser, es gibt also etwas zu tun!“, rief Freddie für alle hörbar und stellte laut. Zur Begrüßung fragte er lässig: „Wer war der Mörder?“ „Hey, das ist mein Text! Du kannst nicht einfach meine Rolle übernehmen!“ „Schon gut. Dann sag uns wenigstens, wer ermordet wurde.“ „Das steht noch nicht fest. Gestern wurde im Perlacher Forst ein Mann an einen Baum gefesselt und erschossen. Er ist 1,65 Meter groß.“ Die Stille, die nun folgte, ließ genug Zeit für Spekulationen. Schließlich fragte Freddie mit Anspannung in der Stimme: „Haben wir es jetzt auch schon mit der Mafia zu tun?“ Herbert Reiser lachte. „Hab ich noch nicht erwähnt, dass er ziemlich bayrisch aussieht?“ „Nein. Hast du nicht.“ „Also dann: Er sieht wie ein Bilderbuch-Bayer aus.“ „Müssen wir noch zum Tatort fahren?“ „Nicht nötig. Unser Professor Reinmüller und die Leute von der Spurensicherung waren gestern Abend dort; sie haben den Toten beseitigt. Ich nehme an, dass er in einem dieser Kühlfächer verschwunden ist.“ „Ein super Versteck, da findet ihn so schnell niemand mehr.“ „Aber wie wär's, wenn ihr euch mal umhören würdet, ob jemand den Toten vermisst. Und wenn ihr dabei den Mörder findet, könnt ihr ihn von mir aus einsperren.“ „Machen wir.“ Freddie legte schmunzelnd auf. Dann jedoch schaute er hilfesuchend zum verwaisten Schreibtisch von Werner Mohr. Behringerfolgte seinem Blick. Ihm war klar, was dies bedeutete: Computer kamen in Freddies Welt nicht vor. Normalerweise erledigte Werner solche Arbeiten für ihn. „Ich schau gleich mal nach, ob wir schon eine Mail mit Fotos des Toten erhalten haben“, sagte Behringer in Richtung Freddie und machte sich auf den Weg in sein Büro. Dabei fiel ihm auf, dass Irene Meier verständnislos zwischen Hans und Stefan hin und her blickte, die völlig teilnahmslos an ihren Schreibtischen saßen. Er blieb stehen und sagte: „Frau Meier, wir können auch an Ihrem Computer nachschauen. Vorher richte ich Ihnen noch Ihre Zugänge ein.“ Behringer griff sich einen Stuhl und setzte sich zu ihr. Nachdem er geprüft hatte, welche Berechtigungen bereits eingetragen waren, startete er ein paar Programme. Anschließend ordnete er Frau Meier seiner Abteilung zu. In diesem Moment kündigten dezente Signaltöne neue E-Mails an. Behringer loggte sich aus und schob die Tastatur wieder der neuen Mitarbeiterin hin. Die klickte sofort die Nachricht der Spurensicherung an und scrollte dann zu den beigefügten Fotos. „Der sieht ja wirklich aus wie eine Werbung fürs Oktoberfest“, sagte sie lachend. „Wie alt mag er wohl sein?“ „Sechzig oder so. Aber vielleicht steht im Bericht der Rechtsmedizin etwas darüber.“ Behringer war angenehm überrascht. Er hatte auf die Schnelle die E-Mail mit dem Bericht gar nicht wahrgenommen. Und schon erschien auf dem Bildschirm ein langer Text, den Irene Meier in einem beeindruckenden Tempo überflog, bis sie schließlich auf die gesuchte Stelle deutete: „Alter ungefähr sechzig Jahre.“ Er nickte anerkennend. „Gut geschätzt … Dann schauen wir gleich noch nach, ob wir ihn unter den vermissten Personen finden.“ Irene Meier wurde unruhig: Wie geht das denn? Hoffentlich merkt dieser Behringer nicht, dass ich noch nie selbst ermitteln durfte. Warum bin ich nur ganze drei Jahre in Passau geblieben? Mir war doch sofort klar, dass ich dort als Frau nichts erreichen kann. Und jetzt verbaue ich mir schon am ersten Tag meine Chancen! Ihre plötzliche Nervosität blieb Behringer nicht verborgen: Ist doch völlig egal, ob sie bereits weiß, wie man auf diese Datenbank zugreift. Er setzte ein nachdenkliches Gesicht auf und fragte dann verhalten: „Darf ich das übernehmen? Üblicherweise kümmert sich Werner Mohr darum. Ich bin also etwas aus der Übung. Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich mich nicht mehr zurechtfinde.“ Irene Meier rückte erleichtert zur Seite. Behringer startete das Programm. Als die unübersichtliche Eingabemaske erschien, nahm er aus den Augenwinkeln die Unsicherheit von Frau Meier wahr. Er hob beschwichtigend die Hand, als müsste er ihren Eifer bremsen: „Bitte nichts sagen! Ich erinnere mich noch ganz genau … Diese drei Auswahlfelder sind wichtig. Und hier muss ich unbedingt ankreuzen.“ Bei den nächsten zwei Eingabemasken kommentierte Behringer die notwendigen Schritte mit den Worten: „Das ist schon etwas schwieriger. Oder eher verwirrend, weil die Eingaben nicht unbedingt logisch sind.“ Er tippte sehr langsam, um Frau Meier zusätzlich Zeit zu geben. Bevor er die eigentliche Abfrage mit OK bestätigte, linste er noch mal zu ihr hinüber. Vielleicht möchte sie sich ja ein paar Notizen machen? Er lächelte unmerklich und sagte, während er sich zurücklehnte: „Die Ergebnissuche kann länger dauern, unsere Netzwerkanbindung ist manchmal etwas langsam.“ Stefan blickte kurz auf, konzentrierte sich dann aber wieder auf seinen Monitor. Sofort nahm Irene Meier ihr Notizbuch zur Hand und tat so, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, was sie sich aufschreiben müsste. Gut, dass er so lange gebraucht hat, dachte sie erleichtert. Sonst hätte ich die Hälfte der Schritte nicht mitbekommen. Oder hat er sich extra für mich so angestellt?
Behringer grenzte die Suche auf „männlich, älter als fünfzig“ ein. Gemeinsam durchsuchten sie die zwölf Ergebnisse. Schließlich meinte er: „Alle Vermissten sind über siebzig oder knapp über fünfzig. Hm, Fehlanzeige.“ Irene Meier blätterte noch einmal durch die Suchergebnisse: „Wenn jemand unseren Toten vermisst, hätte er doch wohl den gezwirbelten Bart, die dunklen buschigen Augenbrauen und das Muttermal am Kinn erwähnt.“
Freddie wurde nun auch neugierig und ließ sich die Fotos des Ermordeten zeigen. Nachdenklich sagte er zu Martin: „Stimmt, das sind doch markante Kennzeichen. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Suchmeldung im Radio einen Hinweis auf seine Identität bringt.“ „Ja, du hast Recht. Wir sollten aber vorerst mitteilen, dass der Tote in einen Unfall verwickelt war.“ „Dann rufe ich gleich mal beim Bayerischen Rundfunk an.“
Weil sich Irene Meier mittlerweile ihren Mails widmete, stand Behringer auf und schob den zusätzlichen Bürostuhl zurück. Dabei blieb sein Blick an ihren wohlgeformten Beinen hängen, die sie übereinandergeschlagen hatte. Aber statt sie weiter anzustarren, drehte er sich entschieden um und murmelte: „Ich sollte jetzt auch meine Mails lesen.“ Sie schaute ihm nach: So hätten sich die Ex-Kollegen in Passau auch mal verhalten sollen … Auf dem Weg in sein Büro dachte er: Ich werde einfach ignorieren, dass sie … eine schöne Frau ist. Wenn sie weiterhin alles so schnell erfasst, haben wir Glück mit ihr gehabt. „Stopp“, rief Freddie. „Du hast noch gar nicht erzählt, was du letzte Woche auf Kosten des Steuerzahlers getrieben hast.“ Behringer blieb abrupt stehen und wandte sich um. „Na ja, die Leitung hat ja vorher ein ziemliches Geheimnis um unseren Ausflug gemacht. War schon eine sonderbare Idee, fünf Hauptkommissare aus verschiedene Abteilungen auf eine mehrtägige Bergtour zu schicken. Alle Handys wurden kassiert. Outdoor Teambuilding nennt man das heutzutage. Ich war der Einzige, der noch einigermaßen in Form war, die anderen wollten ständig Pausen einlegen. Und statt sich auszuruhen, haben sie dann damit geprahlt, wie effektiv sie delegieren, sodass sie in der Arbeit eigentlich nur noch Zeitung lesen. Da ist mir wieder klar geworden, wie gerne ich selbst ermittle.“ Freddie schüttelte angewidert den Kopf. „Ständig Zeitung lesen … Auf so einen Chef können wir getrost verzichten.“ Irene Meier schaute Behringer verwundert nach: Er ermittelt also am liebsten selbst. Lässt er deshalb diese zwei hier außen vor? Aber wie schafft er alleine eine so gute Aufklärungsquote?
In seinem Büro schaltete Behringer seinen Computer ein und lehnte sich dann im Bürostuhl zurück, um sanft mit der Rückenlehne zu wippen. Die schaukelnde Bewegung half ihm bei vielerlei, sei es nun, sich zu beruhigen oder auch seine Gedanken zu fokussieren. Schließlich gab er sein Passwort ein und öffnete die E-Mail des Rechtsmediziners. Wie üblich enthielt der Bericht von Professor Dr. Dr. Hubert Reinmüller lange Passagen mit unverständlichen Fachausdrücken. Doch darunter hatte er in wesentlich kleinerer Schrift vermerkt: „Wenn ich gleich geschrieben hätte, dass das Mordopfer zwischen neun und halb zehn am Vormittag an der Schussverletzung gestorben ist, hätte sich niemand die Mühe gemacht, meine exzellenten Ausführungen zu lesen. Die Analyse des Mageninhalts hat ein typisches Fast-Food-Menü zu Tage gefördert. Ich kann euch gerne den Behälter mitgeben, falls ihr bei den infrage kommenden Ketten nachforschen wollt.“ Hubert hat schon eine spezielle Art, dachte Behringer amüsiert.
Als nächstes las er den Bericht der Spurensicherung: „Um den Baum herum und ein ganzes Stück bis zum Weg wurde der Waldboden aufgeraut.“ In Klammern hatte Maria Zeilinger dazugeschrieben: „Diese viele Mühe hätte er sich sparen können. Auf einer Schicht Fichtennadeln lassen sich Fußspuren nicht nachweisen.“ Schon im nächsten Absatz stand, was Behringer suchte: „Eine ganze Menge DNA an der Kleidung des Toten. Pullover und Hose stammen wohl aus einem Secondhandshop. Kein Match in der DNA-Datenbank. Der verwendete Strick ist Massenware aus dem Baumarkt. Der Mann wurde mit einem ganz speziellen Seemannsknoten an den Baum gefesselt. Der Knoten ist eindeutig über dem Niveau vom Sportbootführerschein. Im Internet gibt es selbstverständlich mehrere Anleitungen, wie der Knoten ausgeführt wird. Also kann sich jeder dieses Wissen aneignen.“ Na super!, dachte Behringer. Keine Fußspuren und eine Menge DNA. Der Mörder hat sich enorm viel Mühe gegeben. Aber warum? Machte es ihm Spaß, den Waldboden zu fegen oder ist er ein überdrehter Pedant? Beides macht es uns nicht gerade leicht, ihn zu überführen. Ich werde das Ganze nochmal gründlich durchdenken. Aber erst muss ich mich um die vielen Mails kümmern.
Behringer scrollte nun durch die lange Liste der E-Mails, die während seiner dienstlichen Bergtour bei ihm eingegangen waren. Dabei stach ihm ein Betreff förmlich ins Auge: „Bewerbung Irene Meier“. Er rief die Mail sofort auf und erfuhr nun offiziell, dass Frau Meier seiner Abteilung zugeteilt worden war. Echt toll, dass sie sich für uns entschieden hat, freute sich Behringer und lehnte sich voller Genugtuung zurück. Jetzt erst fand er die Muße, den Sieg über die von ihm verachtete Organisationsabteilung genüsslich auszukosten. Dann las er weiter: „Um ihre Einarbeitung zu gewährleisten wird Frau Meier das verbindliche Schulungsprogramm durchlaufen.“ Er folgte dem Link und landete auf einer Intranet-Seite mit der Überschrift „Einarbeitung Tag 1“. Behringer vertiefte sich in die Lerninhalte mit rasch abnehmendem Interesse und war nun neugierig, wie viele Tage noch folgten: Volle zwei Wochen waren dafür angesetzt, und am Ende jedes Tages wurde der Stoff durch einen Test abgeprüft. Wie wird Frau Meier damit zurecht kommen? Kann ich ihr helfen, falls es nötig sein sollte? Er nahm er sich Tag 1 vor. Aus drei Antworten konnte im Multiple-Choice-Verfahren ausgewählt werden. Behringer musste nicht lange überlegen: B ist bestimmt die richtige. Die anderen sind geradezu absurd. Bei der zweiten Frage gibt es ja wieder nur eine plausible Antwort. Wer hat sich denn so einen Blödsinn ausgedacht? Hier steht es: Das Programm wurde von der Organisationsabteilung erstellt. Von wem auch sonst!
Behringer leitete die E-Mail an die neue Mitarbeiterin weiter, erhob sich und öffnete die Tür. Frau Meier blickte bereits in seine Richtung. „Danke. Ich hab sogar ein richtiges Schreiben mit der Hauspost erhalten. An dem Test bin ich schon dran. Der für den ersten Tag ist ja nicht besonders schwer.“ Behringer nickte und schloss die Tür.
Wenig später schrieb er in Stichpunkten die wenigen Fakten zum neuen Mordfall zusammen und ließ dann seinen Gedanken freien Lauf: Das Opfer trug gebrauchte Klamotten. Ist heutzutage eigentlich nichts Besonderes. Kann ja auch eine Art Konsumverweigerung sein. Wenn er auf dem Ökotrip war, warum ernährt er sich dann von Fast Food? Hm. Aber die viele fremde DNA an der Kleidung? Hat der Mörder ihn etwa extra anders angezogen, bevor er ihn getötet hat? Wo liegt das Motiv? Eine Abrechnung unter Gaunern? Na ja, wir stehen noch ganz am Anfang. Seine Gedanken wanderten zur neuen Kollegin weiter: Kein Vergleich zu Hans und Stefan! Mit einem strengen Blick, der ihm selbst galt, zügelte er seine Begeisterung: Ich darf nicht zu viel von Frau Meier erwarten. Dann jedoch entspannte er sich wieder: Ich werde einfach mal wie üblich meine Plauderstunde mit ihr abhalten. Bei Hans wurde mir dadurch gleich klar, dass er keine große Hilfe sein wird. Schade, dass ich ihn nicht ablehnen konnte. Während unserem lockeren Gespräch hat er gar nicht gemerkt, dass ich dabei seine besonderen Fähigkeiten abprüfen wollte. Seine Vorlieben? Erzählt er mir doch rotzfrech, dass er nur zur Mordkommission wollte, um die Kolleginnen zu beeindrucken. Und dabei zwinkert er mir noch kumpelhaft zu. Behringer schüttelte angewidert den Kopf. Und Stefan? Er hat recht schnellbegriffen, worauf meine eher beiläufigen Fragen abzielten. Schon deshalb hatte ich große Erwartungen in ihn gesetzt. Und dann verhält er sich genauso wie Hans. Bei den Teambesprechungen werden sie erst wieder lebendig, wenn ich sie gehen lasse ... Ich wüsste zu gerne, warum Frau Meier zur Polizei gegangen ist. Er wandte sich seinem PC zu, rief die digitalisierte Personalakte auf und begann zu lesen: Frau Meier ist also 28 Jahre alt, 13 Jahre jünger als ich … Seit neun Jahren ist sie bei der Polizei … Das Studium für den gehobenen Polizeidienst hat sie in Nürnberg absolviert mit einem ausgezeichneten Ergebnis. Das wundert mich nicht! … Auf eigenen Wunsch wurde sie von Passau hierher versetzt. Er blätterte die eingescannten Beurteilungen aus Passau durch. Sonderbar. Alle sind mit der Hand geschrieben. Gab es dort irgendwelche Probleme? Ach was, das soll sie mir selbst erzählen oder weglassen. Der Signalton einer eingegangenen E-Mail riss ihn aus seinen Überlegungen. Das Protokoll der Polizisten, die den Tatort im Perlacher Forst gesichert haben, war eingegangen: Nichts, was wir nicht schon wissen … Der Tote wurde von dem Ehepaar Marianne und Gerhard Berger gefunden. Ich schaue gleich mal, ob es über sie Einträge gibt … Das ist ja seltsam: Eine Anfrage der Polizei in Südtirol wegen eines Mordfalls bei Brixen. Die beiden haben dort am 16. Oktober den Fund einer Leiche gemeldet! Behringer zog die Augenbrauen zusammen, sprang auf und wollte so schnell wie möglich mit Freddie darüber sprechen. Doch im Büro nebenan saß nur die neue Kollegin, die auf seinen suchenden Blick gleich reagierte: „Die beiden sind vor der Tür. Und Herr Obermeier ist beim Mittagessen.“ „Es gibt etwas Neues zu unserem Fall. Das Ehepaar, das die Leiche im Perlacher Forst gefunden hat: Vor nicht mal drei Wochen hat es in Südtirol ebenfalls einen Toten entdeckt.“ Irene Meier räusperte sich und sagte mit Anspannung in der Stimme: „Interessant. Ob das nur Zufall war?“ „Wir reden gleich noch mal darüber, wenn Herr Obermeier ... ähm … die anderen zurück sind.“
Behringer ging wieder in sein Büro. Gewohnheitsmäßig lief er zwischen seiner Garderobe und dem mit alten Akten gefüllten Schrank auf und ab. Dabei wich er mit einer eleganten Drehung dem hell furnierten Schreibtisch aus und schlängelte sich mit einer weiteren Drehung in die andere Richtung zwischen seinem Stuhl am Besprechungstisch und der Zimmerpalme durch. Er stoppte kurz und wiederholte dann das Ritual in umgekehrter Reihenfolge. Und schon kamen ihm die ersten Fragen in den Sinn: Können diese beiden Fälle irgendwie zusammenhängen? Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses Ehepaar so kurz hintereinander zwei Ermordete findet? Aber wie krank wäre es, zwei Morde zu begehen und jedes Mal die Polizei zu rufen … Ich sollte jetzt gleich zum Mittagessen gehen, dann bin ich zurück, wenn Freddie wieder da ist. Der wird schauen! Ob Frau Meier mitkommen möchte? Das wäre ja die Gelegenheit, ganz ungezwungen mit ihr zu reden. Mit einer schnellen Bewegung nahm er seine Winterjacke vom Haken und öffnete die Tür zum Nachbarbüro. Alle waren ausgeflogen. „Schade“, murmelte er vor sich hin und ging alleine los.
Als er nach dem Mittagessen das Kommissariat betrat, traute er seinen Augen nicht: Hans und Stefan sprachen lebhaft auf Frau Meier ein, während sie sich zu ihrem Bildschirm hinunter beugten. Im Vorbeigehen schnappte Behringer Internet und Firewall auf. Unbemerkt verschwand er in seinem Büro und schloss die Tür hinter sich. Unruhig wippte er mit seinem Bürostuhl hin und her. Doch schon bald kreisten seine Gedanken um den neuen Mordfall. Schließlich kam ihm eine Idee: Ich könnte bei den Kollegen in Brixen nachfragen, wie weit sie mit ihren Ermittlungen sind. Vielleicht gibt es ja doch einen Zusammenhang. Im Internet fand er die Telefonnummer und rief auch gleich an, während sein Blick starr auf die Tür zum Nachbarzimmer gerichtet blieb. Seit wann ist Hans unser IT-Experte?, fragte er sich verärgert. Plötzlich meldete sich ein Mann mit schriller Stimme am anderen Ende der Leitung in unverständlichem Italienisch. Irritiert nannte Behringer seinen Namen und seine Dienststelle. Daraufhin ertönte schlagartig eine Opernarie, bevor er unvermittelt auf Deutsch angesprochen wurde: „Polizei Brixen. Mein Name ist Larcher.“ Schnell sagte Behringer: „Ich habe gerade gelesen, dass Marianne und Gerhard Berger bei Ihnen eine Leiche gefunden haben.“ Und schon ärgerte er sich, dass er sich nicht auf das Gespräch vorbereitet hatte. Aber der Kollege in Südtirol antwortete bereits: „Ja. Bei uns werden nicht allzu viele derartige Verbrechen verübt. Wir konnten den Fall bislang noch nicht aufklären. Aber es war keine Leiche, sondern nur ein Kopf.“ Behringer schluckte und fragte rasch: „Was hatten Sie für einen Eindruck von den Bergers?“ „Ich habe eigentlich nur mit Frau Berger gesprochen. Sie hat alle Fragen korrekt beantwortet.“ „Könnten Sie mir den Bericht der Spurensicherung zuschicken?“ „Gerne. Aber der Kopf lag in einem Gebirgsbach in der Nähe von Brixen, und das Institut in Bozen versucht noch immer herauszufinden, womit er abgetrennt wurde.“ Behringer teilte seine Kontaktdaten mit und wollte sich gerade verabschieden, als Larcher fragte: „Warum interessiert Sie der Fall?“ „Die Bergers haben gestern hier in München einen Toten gefunden.“ „Handelt es sich um ein Verbrechen?“ „Ja, der Mann wurde erschossen.“ „Das ist ja interessant. Ich werde mit meinem Chef darüber reden. Ciao!“ Während Behringer den Hörer noch immer in der Hand hielt, blickte er gebannt auf seinen Bildschirm. Wo kommt das denn her? Er scrollte nach oben. Stimmt ja! Die Polizei in Südtirol hat Erkundigungen über die Bergers eingeholt. Und dies hier ist die Antwort. Sehr detailliert. Sogar mit Passbildern. Vielleicht sind sie ja doch nicht nur harmlose Passanten, die ganz zufällig zwei Leichen gefunden haben. Er schluckte erneut und korrigierte sich sogleich: einen Kopf!
Behringer betrachtete zunächst das Passbild von Marianne Berger in der Vergrößerung: Der starre Blick, damit würde sie gut in eine Verbrecherkartei passen. Typisch Passfotoautomat! Meine Schwestern haben sich für den Gang zum Fotografen sogar extra fein angezogen, auch wenn davon später so gut wie nichts zu sehen war. Was steht da noch? Frau Berger betreut als Diplom-Physikerin an der TU München Forschungsprojekte und kümmert sich um die erforderlichen Computersimulationen. Das ist nicht unbedingt ein Hinweis auf Mordpläne. Oder ist ihr Mann ein potenzieller Täter? Sein Passfoto wirkt so ganz anders, als ob er sich nur um den Weltfrieden sorgen würde … Auch hier keine Auffälligkeiten im Lebenslauf. Er ist Bibliothekar an der TU. Die beiden arbeiten also sozusagen zusammen. Ob sie auch gemeinsam Mordpläne schmieden? Perfekte Verbrechen ausgeführt von einem Krimi affinen Bibliothekar und einer genialen Physikerin? Der Fall könnte sehr interessant werden.
In den nächsten eineinhalb Stunden spielte Behringer gedanklich mögliche Motive und Mordvariationen durch. Schließlich betrachtete er wieder nüchtern die wenigen Fakten: Im Grunde macht die Bergers nur verdächtig, dass sie sich zweimal nachweislich an einem Tatort aufgehalten haben. Auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass jemand innerhalb von drei Wochen zwei Ermordete findet, kann es ja doch solche Zufälle geben. Bislang deutet kein Indiz darauf hin, dass sie mit den Morden in Verbindung stehen. Plötzlich schreckte er hoch: Jetzt sollte ich aber doch endlich mit Freddie reden! Ich muss ja heute pünktlich weg. Er öffnete die Bürotür etwas zu hastig. Als sie krachend gegen den Besprechungstisch knallte, waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Das ist ja mal ein gelungener Auftritt!, freute er sich. Aber im nächsten Moment fiel ihm ein, dass er ganz vergessen hatte zu fragen, ob das Mordopfer identifiziert werden konnte. Behringer holte tief Luft: „Ich habe gerade in Südtirol angerufen.“ Irene Meier schaute ihn verwundert an. Das war nicht ganz dasselbe, was er ihr erzählt hatte. Auch Freddie warf ihm einen verständnislosen Blick zu. „Hast du deinen nächsten Urlaub gebucht?“ „Urlaub? Nein, wieso? Das Ehepaar Berger …“ Freddie unterbrach ihn rasch: „Frau Meier hat uns das mit der zweiten Leiche schon berichtet.“ „Es war nur ein Kopf. In einem Bach in der Nähe von Brixen.“ „Dann besteht zumindest ein Anfangsverdacht gegen die Bergers. Und ich dachte schon, ich hab die beste Neuigkeit zu verkünden.“ Freddie beobachtete Martin, als hätte er alle Zeit der Welt, und wartete genüsslich auf dessen Reaktion. Weil der ihm tatsächlich alle Zeit der Welt ließ und nicht nachfragte, sagte er schließlich deutlich gedämpft: „Der Tote vom Perlacher Forst ist höchstwahrscheinlich identifiziert. Der Rundfunksender hat einen vielversprechenden Hinweis erhalten. Unsere uniformierten Kollegen sind schon unterwegs.“ Begeistert blickte Behringer in die Runde. Hans und Stefan zeigten keinerlei Reaktion. Und Frau Meier? Sie freut sich ja richtig über den unerwarteten Fortschritt! „Das mit der Durchsage war deine Idee, Freddie. Dann kannst du jetzt auch die weiteren Ermittlungen übernehmen.“ „Ich warte noch ab, was die Kollegen melden, und suche die Angehörigen morgen auf, falls sie tatsächlich unseren Toten identifiziert haben.“
Erst als Behringer wieder in seinem Büro saß, erkannte er seinen Irrtum: Eigentlich haben wir diesen Fortschritt ja Frau Meier zu verdanken. Sie hat auf die besonderen Merkmale des Toten hingewiesen und nur deshalb ist Freddie neugierig geworden. Fast so als hätte sie die Suchmeldung diktiert. Sehr gut, Frau Meier! Ein Blick auf seine Uhr ließ Behringer vom Stuhl hochschnellen: Höchste Zeit für das Abschlusstraining! Eilig packte er seine Jacke. Als er das Büro verließ, sah er, wie sich Irene Meier und Freddie angeregt unterhielten und er anerkennend nickte.
Wie üblich, wenn er von der Arbeit mit dem Auto zur Tanzschule fuhr, parkte er in einer entfernten Seitenstraße und ging die letzten 400 Meter zu Fuß. Erst als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, wagte er es, die Eingangstüre mit den Fotos glücklicher Kursteilnehmer zu öffnen. Zu seiner Verwunderung wartete Elke nicht bereits auf ihn. Bisher war sie bei den Generalproben vor Turnieren immer überpünktlich. Behringer begrüßte die anderen Tanzpaare und zog sich schnell um. Als er sich wieder zur Tanzfläche begab, kam Elke gerade im Businessdress abgehetzt durch die Tür. „Ein wichtiger Kunde. Bin gleich soweit!“ Und schon verschwand sie in der Umkleide. Erstaunt blickte er ihr nach.
Nach drei Minuten stürmte Elke in der gewohnten Sportkleidung auf ihn zu und sagte augenzwinkernd: „Wenn dieser Immobiliendeal klappt, kann ich mich zur Ruhe setzen.“ Behringer kannte dieses Gerede nur zu gut. Seit er mit ihr trainierte, sprach sie von ihrem baldigen Ruhestand, obwohl sie noch nicht mal dreißig war. Ihr Job muss wirklich die Hölle sein, dachte Martin. Zum Glück hab ich einen Beruf, der mir Spaß macht. „Dann muss ich mir ja eine neue Partnerin suchen“, meinte er scherzhaft. „Was? Nein! Ich geh doch nicht weg!“ Elke wirkte ziemlich erschrocken.
In diesem Moment stolzierte der Tanzlehrer Señor Montez in den Raum. Seine schwarzen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Bereits im Vorübergehen wies er die vier anderen Paare mit spanischem Akzent an, bestimmte Schrittfolgen zu üben. Martin beobachtete seinen theatralischen Auftritt: Er schaut wie ein typischer Spanier aus, obwohl er den gleichen Bart wie unser ermordeter Bilderbuchbayer trägt. Er hat auch ungefähr die gleiche Größe, aber wohl nur ein Drittel des Gewichts.
Mit hektischen Gesten teilte Señor Montez Elke und Martin einen Teil der Tanzfläche zu. Die beiden probten zunächst selbstständig die schwierigen Passagen mit den Hebefiguren. Zwischendurch erlebten sie die lautstarken Wutausbrüche von Montez, der jeden Fehler der Anfänger als eine persönliche Beleidigung empfand. Er fluchte auf Spanisch und sagte dann in kindlichem Deutsch: „Du musst halten die Dame wie eine Blume, nicht wie eine Besenstiel.“ Normalerweise lachte Elke über solche Stilblüten. Aber diesmal war sie angespannt und patzte selbst des Öfteren. Auch Martin hatte seine Probleme. Als er sich wieder besann, stand er mit dem Rücken zu Elke und musste sich mit ungelenken Schritten zu ihr umdrehen.
Kurz vor 21 Uhr verabschiedeten sich die anderen Paare, die wegen ihrer schmerzenden Füße kaum noch gehen konnten. Martin schaute sich nach Señor Montez um: Da lauert er ja schon! Wenn Elke und ich jetzt nicht bei der Sache sind, lässt er uns die ganze Nacht durchtrainieren. Sie wiederholten die gesamte Choreografie, und diesmal gelang sie ihnen fast fehlerlos. Zum Abschluss gab ihnen Señor Montez, nun in einwandfreiem Deutsch, ein paar Übungen für die Woche mit und betonte noch mal: „Am Sonntag um 14 Uhr.“ Martin zog verwundert die Augenbrauen hoch. Der verwendet seinen Akzent tatsächlich nur für die Anfängerkurse.
Elke verabschiedete sich mit einer ungewohnt langen Umarmung. Sie ist ganz schön erledigt, dachte Martin und blickte auf die Uhr. Schon nach elf. Mir reicht es auch.
Behringer passierte die Einfahrt zum Kommissariat. Schon von hier aus konnte er sehen, dass nur noch ein Parkplatz frei war, der Wagen von Frau Meier jedoch fehlte. Kurz entschlossen fuhr er in die Tiefgarage: Für eine junge Frau ist es sicherlich angenehmer, hier oben zu parken. Im Untergeschoss steuerte er wie üblich den breiteren Stellplatz an und bremste dann abrupt ab. Auf dem schmaleren daneben stand der Wagen von Irene Meier. Sie hatte ihm also den Parkplatz oben überlassen. Langsam setzte Behringer zurück, lenkte dagegen, bremste weit vor der Wand und fuhr dann wieder nach vorn. „Das war knapp“, seufzte Behringer, als er erneut fast frontal gegen die Autotür von Irene Meier gefahren wäre. Beim dritten Versuch klopfte der Parkhauswächter lachend an sein Seitenfenster: „Ich dachte heute Morgen, ich träume noch. Aber dann sah ich das Passauer Kennzeichen. Ich habe der jungen Frau beim Einparken zugeschaut. Sie hat es auf Anhieb geschafft. Aber ich sehe schon, diese Geschichte wollen Sie jetzt nicht hören. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie Bremse und Gaspedal nicht verwechseln, dann weise ich Sie ein.“ „Ich werde mir Mühe geben“, sagte Behringer und atmete tief durch.
Von seinem Schreibtisch aus hatte Freddie Martins Ankunft auf dem Parkplatz zunächst ohne viel Interesse verfolgt. Aber dann eilte er, so schnell es ihm möglich war, zum Fenster und sagte zu Frau Meier: „Das gibt es doch nicht! Martin fährt in die Tiefgarage.“ Sofort sprangen Irene Meiers Gedanken hin und her: Ich hab ihm doch extra den Parkplatz vor der Tür überlassen. Baut er jetzt unten den nächsten Unfall? Oder wollte er mir als Frau ersparen, in der schlecht beleuchteten Tiefgarage zu parken? Seine Frau hat es bestimmt gut bei ihm … Einen Ehering trägt er allerdings nicht.
Freddie blickte indessen pausenlos auf seine Uhr, als könnte er am Lauf der Zeiger die Höhe des entstandenen Sachschadens ablesen. Als sich endlich die Tür öffnete, näherte sich Freddie lachend dem schwarzen Brett: „Du warst zehn Minuten im Parkhaus. Wie sieht der Wagen von Frau Meier aus? Ich werde zwei Striche machen.“ „Es ist nichts passiert.“ Freddie fiel der Stift aus der Hand. Er hob ihn mühsam wieder auf und sagte dann zu Irene Meier: „Schade! Sie hätten sich ein neues Auto aussuchen können.“ „Ich habe mir dieses Auto ausgesucht und bin sehr zufrieden damit.“ Behringer nickte: „Ich auch. Es ist sehr sparsam im Verbrauch und auch zuverlässig.“ Freddie wollte einen Kommentar abgeben, aber Irene Meier kam ihm zuvor: „Genau! Das ist mir auch wichtig.“ Irritiert setzte Freddie gerade erneut an, als sie betont sachlich zu ihm sagte: „Ich hab gestern gar nicht mehr mitbekommen, ob der Tote vom Perlacher Forst identifiziert werden konnte.“ Sogleich fing Freddies Gesicht zu strahlen an. „Sein Name ist Max Willinger“, verkündete er stolz. „Aber die Kollegen haben nicht schlecht gestaunt. Es war nicht die Familie, die sich gemeldet hat, sondern das Personal. Ein Butler und ein Hausmädchen.“ Irene Meier und Behringer schauten Freddie verwundert an. „Ich wäre ja schon losgefahren, um die Dienstboten zu befragen. Aber erst musste ich noch wissen, was du in der Tiefgarage angestellt hast. Möchtest du jetzt mitkommen?“ „Ja, aber fahr vorsichtig!“ Irene Meier lachte und setzte sich an ihren Schreibtisch.
Behringer schwang sich lässig auf den Beifahrersitz. Doch sofort bremste ihn sein Muskelkater, der sich nach dem Tanztraining schmerzhaft bemerkbar machte. Auch beim Angurten hatte er Mühe, mit der Hand nach hinten zu greifen. Freddie schaute ihn spöttisch an. „Du solltest etwas Sport treiben. Wenn ich deine Figur hätte, würde ich meinen Körper auch mehr bewegen.“ Martin verbarg ein Schmunzeln, indem er zum Seitenfenster hinausschaute: Ausgerechnet Freddie muss mich zum Sport animieren! Dabei war es sein Einfall, mir zum 35. Geburtstag einen symbolischen Gutschein für einen Tanzkurs zu schenken. Gesellschaftstanz war rot unterstrichen. Sogar die Anmeldekarte hatte Freddie bereits ausgefüllt. Aber bis heute weiß er nicht, dass ich die noch am selben Tag in der Tanzschule abgegeben habe. „Und was kannst du mir empfehlen?“, wandte er sich nun wieder Freddie zu. „Ich hab früher Fußball gespielt.“ „Solche Sportarten sind nichts für mich.“ „Stimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich freiwillig auf einen matschigen Boden fallen lässt, um einen Elfmeter zu bekommen.“ „Hast du etwa?“ „Ich war Torwart.“ „Und das heißt?“ „Mann, du weißt ja überhaupt nichts vom Fußball. Ich stand im Tor.“ „Ich hab bei den Weltmeisterschaften auch Spiele angeschaut, aber dabei den Ton stumm geschaltet und Musik dazu gehört.“ „Das sieht dir ähnlich. Und hat das Spiel zur Musik gepasst?“ „Meistens schon. Nur bei den Wiederholungen ist die Musik einfach weitergelaufen.“ Irritiert hakte Freddie nach: „Wie kann man in Bayern aufwachsen, ohne Fußball zu spielen?“ „Ich war nie besonders gut bei Ballspielen. Ich wurde meist als Letzter in die Mannschaft gewählt, und so hat mir mein Sportlehrer Volleyball empfohlen.“ „Aber da gibt es ja keine Fouls, keine gelben und roten Karten! Du wirst nicht mal nass dabei. Das ist doch total langweilig.“ „Mir hat es trotzdem gereicht.“ „Sag bloß! Da warst du also auch nicht der Bringer?“ „Jetzt sollten wir uns mal wieder mit unserem Fall beschäftigen.“ „Es eilt noch nicht. Wir haben noch eine schöne Strecke bis Gräfelfing vor uns. Und ich kann auch noch einen Umweg fahren, falls du mit mir ausführlicher über deine sportlichen Erfolge reden möchtest.“ „War das die Paulskirche?“ „Du möchtest also wirklich das Thema wechseln?“ Behringer schwieg. Warum hab ich plötzlich ein Problem damit? Kann mir doch egal sein, was Freddie über mich erzählt. „Na gut. Ja, das war die Paulskirche. Erzähl mal, wie hat dir Volleyball gefallen?“ „Es sieht nach Regen aus. Diese Gegend hier hat auch bei schönem Wetter nichts zu bieten. Die breiten Straßen, überall nur Werkshallen und dazwischen riesige Parkplätze.“ „Ja doch, aber wir waren gerade bei einem anderen Thema.“ „Wissen wir schon mehr über diesen Max Willinger?“ „Nein, die Kollegen haben nur brav das Foto vorgezeigt. Und als der Butler ihn erkannt hat, haben sie ihn in die Rechtsmedizin gefahren. Dort hat er Max Willinger eindeutig identifiziert.“ „Schade, dass Werner im Urlaub ist. Und das noch fast sechs Wochen. Er hätte unsere Datenbanken nach ihm durchforstet.“ Diese Bemerkung traf ins Schwarze. Freddie blieb nun seinerseits in sich gekehrt, bis sie Gräfelfing erreichten. Er hielt an einer Mauer und meinte knapp: „Wir sind da!“
Sie stiegen aus und gingen auf das breite, schmiedeeiserne Flügeltor zu. Freddie läutete und sagte über die Sprechanlage: „Mein Name ist Obermeier. Wir haben telefoniert.“ Das Tor öffnete sich. Beide näherten sich der geschwungenen Vortreppe und warteten dort erst mal geduldig. Behringer war schon mental darauf eingestellt, dass der Butler die Türe öffnet. Als er jedoch den gepflegten älteren Herrn mit den weißen Handschuhen wie eine Erscheinung aus einem vergangenen Jahrhundert vor sich stehen sah, konnte er sich nur mühsam ein Lachen verkneifen. Freddie jedoch sagte mit ernster Miene: „Grüß Gott! Wir möchten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie Herrn Willinger eindeutig identifiziert haben. Wir sind von der Mordkommission und versuchen, dieses Verbrechen aufzuklären.“ Der Butler schien über Freddies laute Stimme erschrocken und wich einen Schritt zurück. Schließlich bat er die beiden Besucher mit einer einladenden Geste ins Foyer, das mit Marmorboden und Kübelpalmen an Hollywoodfilme erinnerte. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Indem Sie unsere Fragen beantworten. Wann haben Sie Herrn Willinger zuletzt gesehen?“ „Bei der Identifizierung der Leiche.“ „Ist klar“, sagte Freddie unwillig. „Ich erwähne das deshalb, weil ich tatsächlich Mühe hatte, Herrn Willinger aufgrund der Fotos zu identifizieren. Er war so seltsam gekleidet, was so gar nicht seinem Stil entsprach.“ „Können Sie sich das erklären?“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Willinger von sich aus so billiges Zeug angezogen hätte. Er war in puncto Kleidung immer sehr penibel.“ „Interessant.“ „Und wann haben Sie Herrn Willinger zuletzt lebend gesehen?“ „Am Samstag beim Abendessen.“ „Dann wurde er ja am darauffolgenden Tag ermordet.“ „Nein. Am Samstag, dem 27. Oktober, habe ich Herrn Willinger zuletzt gesehen.“ „War es ungewöhnlich, dass er so lange nicht nach Hause kam?“ „Nein. Er besitzt noch eine Wohnung in der Nähe seiner Firma.“ „Was ist das für eine Firma?“ „Herr Willinger ist … war Tabakgroßhändler. Seine Firma beliefert Fachgeschäfte in ganz Deutschland, und wenn Sie …“ „Nein. Wir sind Nichtraucher“, wehrte Freddie sogleich ab. „Wer sind die nächsten Angehörigen?“ „Seine Gattin, die Tochter Maria, sein Sohn Josef sowie sein Bruder Moritz.“ „Max und Moritz. Maria und Josef,“ murmelte Freddie vergnügt und vergaß dabei, die Befragung weiterzuführen. Und so fragte stattdessen Behringer: „Können wir jetzt mit den Angehörigen sprechen?“ „Ich bedaure. Alle sind seit Freitag gemeinsam verreist.“ „Gemeinsam?“ „Ja, das ist außergewöhnlich, insbesondere weil Frau Willinger schon seit zwei Jahren nicht mehr verreist ist.“ Behringer verzog das Gesicht. „Können wir die Familie telefonisch erreichen?“ „Auch das ist zurzeit nicht möglich. Frau Willingers Handy liegt auf ihrem Schreibtisch. Die jungen Leute scheinen wohl wieder neue Telefonnummern zu haben. Und Herr Moritz Willinger besitzt kein Handy.“ Freddie schüttelte verständnislos den Kopf. Dann fragte er: „Ist die Familie spontan verreist?“ „Am letzten Mittwoch gegen zehn Uhr haben sich alle hier versammelt und sind dann am Freitagmittag losgefahren.“ „Wie war die Stimmung innerhalb der Familie?“ „Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.“ „Können Sie uns wenigstens sagen, für wann die Rückreise geplant ist?“ „Darüber habe ich noch keine Mitteilung erhalten.“ „Rufen Sie uns bitte an, wenn wir mit einem Angehörigen sprechen können.“ Etwas mürrisch reichte Freddie dem Butler seine Karte und wandte sich zum Gehen. Behringer blieb jedoch stehen und machte einen weiteren Vorstoß: „Hatte Herr Willinger Feinde?“ „Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft erteilen.“ „Diskretion ist schon etwas Schönes. Wenn dadurch allerdings ein Mörder geschützt wird …“ Behringer ließ den Satz unvollendet. Der Butler schluckte. „Nun denn, Herr Willinger hatte einen erbitterten Konkurrenten. Vor fünf Jahren trafen wöchentlich anonyme Drohbriefe hier ein. Ihm war jedoch sofort klar, dass ein bestimmter Konkurrent der Verfasser war. Herr Willinger hatte ihn durch seinen eigenen Geschäftserfolg fast in den Ruin getrieben. Nun, die beiden haben sich getroffen und schließlich ein Arrangement gefunden, sodass jeder sein Auskommen hatte. Seither ist Herr ...“ Der Butler unterbrach sich. „Seither ist er hier im Hause ein gern gesehener Gast.“ „Kann es zu einem erneuten Zerwürfnis gekommen sein?“ „Das schließe ich aus. Einen Moment bitte!“ Nach einer angedeuteten Verbeugung schritt der Butler würdevoll davon und kam mit einem gerahmten Foto zurück. „Hier sehen Sie die beiden heuer beim Oktoberfest. Das Bild hängt im Arbeitszimmer von Herrn Willinger.“ Die Fotografie zeigte zwei angetrunkene ältere Herren, die sich umarmten und bierselig in die Kamera lachten. „Käme sonst noch jemand in Betracht?“ „Das war der letzte Familienunternehmer, mit dem Herr Willinger zu tun hatte. Die anderen Konkurrenten sind deutschlandweit agierende Firmen. Und im Preiskampf mit ihnen ist Herr Willinger auch nicht immer erfolgreich.“ „Und private Feinde?“ Der Butler antwortete bedächtig: „Auch das kann ich ausschließen. Nur im Geschäftsleben hat … hatte Herr Willinger … eine gewisse Durchsetzungskraft. Sind damit Ihre Fragen beantwortet?“ „Nicht ganz. Mich interessiert noch diese Wohnung in der Nähe seiner Firma.“ „Ich notiere Ihnen selbstverständlich die Adresse. Ich möchte ja auch, dass der Mörder gefasst wird.“ „Danke! Haben Sie einen Schlüssel?“ Der Butler rümpfte diskret die Nase, bevor er sich artig verbeugte und nach oben entschwand. Wenig später kam er mit Stift und Papier sowie einem Schlüssel zurück, um sich von Behringer den Empfang quittieren zu lassen.
Auf der Rückfahrt regnete es in Strömen. Mit angestrengtem Blick nach vorn achtete Freddie auf den dichten Straßenverkehr, während die Scheibenwischer das auftreffende Wasser im Sekundentakt zur Seite drückten. Vor dem Präsidium hielt Freddie an und Martin gab den Schlüssel für die Spurensicherung ab.
Kurz vor der Dienststelle hörte der Regen ebenso plötzlich wieder auf, wie er begonnen hatte. Freddie hielt an der Einfahrt zum Parkplatz und blickte unschlüssig zu Martin: „Vielleicht haben ja unsere Leichenfinder doch etwas mit dem Mord zu tun.“ Behringer hatte die Bergers schon fast vergessen. „Ganz ausschließen können wir es nicht. Aber ich hab bislang weder ein Tatmotiv noch sonst etwas Verdächtiges gefunden. Ich kann Ihnen ja mal einen Besuch abstatten.“ Freddie deutete auf Hans und Stefan, die rauchend vor der Tür standen: „Vielleicht solltest du sie die Befragung durchführen lassen. Unsere neue Kollegin wundert sich schon sehr darüber, dass du von den beiden nichts forderst.“