Strom-Schläge - Sophie Lenz - E-Book

Strom-Schläge E-Book

Sophie Lenz

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Beschreibung

Alfred Heller, der Eigentümer einer Elektronikfirma, wird in der Villa seines Kompagnons erschossen aufgefunden. Passenderweise wird am Tatort die Leiche des Mörders gleich mitgeliefert. Somit scheint dem lange geplanten gemeinsamen Osterurlaub von Irene und Martin nichts mehr im Wege zu stehen. Doch bald kommen Zweifel auf: Ist der Täter wirklich aus Versehen über ein defektes Stromkabel gestolpert? Oder steckt hinter dem scheinbar so einfachen Fall ein genialer Plan? Im Wellnesshotel in Bad Füssing werden Irene und Martin Zeugen von Eifersüchteleien des Ehepaars Lohner. Am übernächsten Morgen wird ihnen zum Frühstück brühwarm die schreckliche Nachricht serviert, dass Herr Lohner vom Liebhaber seiner Frau erschossen worden ist. Doch auch diese offensichtliche Beziehungstat wirft Fragen auf: Wie gelang es dem namenlosen Liebhaber, so schnell unerkannt zu fliehen? Sogleich ist bei Irene und Martin das Interesse an dem mysteriösen Fall geweckt. Doch ausgerechnet Irenes chauvinistischer Ex-Chef von der Polizeiinspektion Passau leitet die Ermittlungen. Und auch das Wiedersehen mit einer Schulfreundin reißt alte Wunden auf.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Das Team

Montag, 25.03.

Dienstag, 26.03.

Mittwoch, 27.03.

Donnerstag, 28.03.

Karfreitag, 29.03.

Samstag, 30.03.

Ostersonntag, 31.03.

Ostermontag, 01.04.

Dienstag, 02.04.

Mittwoch, 03.04.

Donnerstag, 04.04.

Freitag, 05.04.

Samstag, 06.04.

Sonntag, 07.04.

Montag, 08.04.

Dienstag, 09.04.

Mittwoch, 10.04.

Donnerstag, 11.04.

Freitag, 12.04.

Samstag, 13.04.

Sonntag, 14.04.

Montag, 15.04.

Anmerkung

Impressum

Das Team

Irene Meier, vor vier Monaten von Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder: Ihr Chef, Martin Behringer, verzeichnet die höchste Aufklärungsquote und erreichte dies mit allerhand Tricksereien.Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, ermittelt mit Menschenkenntnis und Gespür für Details. Um moderne Technik machte er lange Zeit einen großen Bogen. Erst ein Mordfall in einer Softwarefirma brachte ihn in intensiven Kontakt mit diesem „Neuland“ und einer schrägen Gräfin.Werner Mohr nutzt sein weitverzweigtes Kontaktnetzwerk, um das Team mit wichtigen Informationen auf dem kurzen Dienstweg zu versorgen. Als sich für ihn die Gelegenheit bot, an der Seite von Freddie im Außendienst mitzumischen, ergriff er diese Chance.Stefan Burghoff hatte lange Zeit Probleme, seinen Platz im Team zu finden. Nachdem er bei der Lösung eines Falls den entscheidenden Beitrag geleistet hat, übernahm er Werners Innendiensttätigkeit und auch dessen Kontaktnetzwerk.Hans Baumann lässt sich durch nichts dazu bewegen, sich an den Ermittlungen zu beteiligen. Er verbringt seine Arbeitszeit größtenteils auf Schnäppchenjagd im Internet und mit ausgedehnten Rauchpausen. Mit ihrem Ideenreichtum und Scharfsinn hat sich Irene einen festen Platz im Team erobert. Aber nicht nur das: Sie und Martin sind längst ein Liebespaar, was sie vor Hans nach wie vor geheim halten.

Weitere Personen:

Ulrich Weinziertl: Behringers Chef Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner Maria Zeilinger: Spurensicherung Erwin Lehmann: Spurensicherung Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale Berthold: Leiter einer Spezialabteilung Mario: Mitarbeiter dieser Spezialabteilung Willy Harlander: Mitarbeiter dieser Spezialabteilung Heinz Ernst: Experte für Unfälle mit Strom Robert Merl: BND-Mitarbeiter Richard Härtelt: SEK-Mitarbeiter

Bernd Sommer: Inhaber von S.Systems Nadine Sommer: seine Tochter Alfred Heller und Rolf Rupprecht: Geschäftsführer von First Security Clarissa Senslinger: Mitarbeiterin von First Security Veronika und Günter Lohner: Hotelgäste in Bad Füssing Anton Winter: Leiter der Polizeiinspektion Passau Max Strasser: sein Stellvertreter

Dr. Peter Sommerfeld: Firmenchef der Isar Software AG Viktoria von Herrmsdorff (Vicky): Software-Entwicklerin Dr. Brigitte Horten: Software-Entwicklerin Evelyn Schäfer: Sekretärin Nina Fisher, Freundin von Evelyn

Moni Grobowski: U-17-Fußballspielerin Sandra Meisner: U-17-Fußballspielerin Familie Knaak mit Tochter Mellie: Nachbarn von Martin Dr. Burmeister-Zwickl, behandelnde Ärztin von Werner Lisa Lindholm, Zahnärztin, ehemalige Freundin von Irene

Montag, 25.03.

Irene blickte ungeduldig zur Tür. „Wo bleibt denn Freddie? Er lässt sich heute aber wirklich Zeit.“ „Warum auch nicht. Der letzte Fall ist abgeschlossen“, sagte Martin. „Wir haben allen Grund zum Feiern.“ „Feiern ist eine prima Idee! Hast du noch irgendwo Schokokekse versteckt?“ „Wieso versteckt?“ Martin öffnete seine Schreibtischschublade. „Die haben wir doch alle aufgegessen.“ Irene musste erstaunt feststellen, dass Martin erneut heimlich für Nachschub gesorgt hatte. „Irgendwann finde ich schon noch heraus, wie dein Trick funktioniert: Eine sprudelnde Quelle Schokokekse, die nie versiegt. Die Unmengen, die wir bislang verdrückt haben, hast du nie und nimmer hier im Büro gebunkert.“ Mit kindlicher Freude öffnete Irene die Packung und nahm sich einen Keks. „Heute drücke ich nochmal ein Auge zu. Mhm … Beide sogar. Greif auch zu!“ Das Telefon läutete. Ein Anruf der Einsatzzentrale. Martin bemühte sich, rasch herunterzuschlucken, hob ab und stellte gleichzeitig den Lautsprecher an. „Herbert Reiser. Heute hab ich einen wahrhaft einzigartigen Fall für euch.“ Der schelmische Unterton war nicht zu überhören. Und so reagierte Martin ausgesprochen grantig: „Das sagst du jedes Mal, und dann liegt nicht mal eine Leiche am Tatort.“ „Diesmal braucht ihr euch wirklich nicht zu beschweren! Die Leiche wartet nebst zugehörigem Blutfleck am Tatort auf euch. Und außerdem …“ „Noch was? Das reicht uns völlig … Na sag schon!“ Eine Pause entstand, in der die Gedanken von Irene und Martin nur so brodelten, jedoch ohne greifbares Ergebnis. Trotzdem machte Herbert keine Anstalten, das Rätsel aufzulösen. „Wir wissen beim besten Willen nicht, worauf du hinaus willst. Also raus mit der Sprache: Was bedeutet in so einem Fall außerdem?“ „Der Mörder liegt praktischerweise gleich daneben!“, verkündete Herbert mit Genugtuung. Martin starrte ungläubig auf den Lautsprecher, fragte aber dennoch lässig: „Und warum liegt er dort? Hat ihn der Mord so sehr erschöpft, dass er sich ausschläft? Oder was ist mit ihm?“ „Er ist ziemlich tot.“ „Wow! Das ist ja wirklich einzigartig. Schade: Das zählt nie und nimmer als aufgeklärter Fall.“ „Doch, durchaus. Der landet in der Statistik. Auch wenn die Gerichtsverhandlung ausnahmsweise flachfällt.“ „Und woran ist der Täter gestorben? Müssen wir jetzt den Mörder vom Mörder finden?“ „Das ist ja gerade das Interessante: Bisher sieht es nach einem natürlichen Tod aus. Die Aufregung war wohl zu viel für ihn.“ „Eine blutrünstige Geschichte mit Happy End. Diesmal hast du all unsere Wünsche erfüllt. Lohnt es sich unter diesen Umständen überhaupt, zum Tatort zu fahren?“ „Ich dachte, ihr freut euch, wenn ihr raus dürft. Der Mord wurde übrigens in einer sehr schönen Wohngegend verübt … Aber falls ihr partout nicht wollt, ich kann auch jemand anderen fragen.“ „Jedes Mal, wenn du von einer schönen Wohngegend schwärmst, sind sämtliche Grundstücke bis oben eingezäunt, und wir kommen uns wie bei einem Zoobesuch vor … Na gut, dann schauen wir uns halt den Nobelschuppen an. Ist sicher besser, als in einer Illustrierten zum Thema Schöner Wohnen zu blättern.“ „Ja, macht das! Die Spurensicherung ist schon vor Ort. Bis ihr dort seid, müsst ihr nicht mal mehr aufpassen, wo ihr hintretet.“ Martin überlegte: Zwei Tote und nur noch eine Woche bis zum gemeinsamen Urlaub. Verdammt wenig Zeit! Aber vielleicht ist der Fall ja tatsächlich sonnenklar und der Mörder wurde quasi in flagranti durch eine höhere Instanz zur Rechenschaft gezogen. „Hallo! Martin bist du noch da?“, rief Herbert ins Telefon. „Man wird ja mal kurz nachdenken dürfen. Also wenn der Täter sich wirklich stillschweigend aus dem Leben verabschiedet hat, bleibt uns nur der leidige Papierkram.“ „Tja, kann ja sein, ihr habt Glück und der Fall ist komplizierter, als er auf den ersten Blick aussieht.“ „Wir fahren sofort los. Und anhand der Aufklärungsquote siehst du, wann wir unseren Bericht fertig getippt haben.“ „Die ist bei euch sehr gut, ihr schreibt wohl recht schnell …“ „Ja. Wir haben alle einen Maschinenschreibkurs besucht.“ „Ihr könnt schon einiges mehr. Für einen so klaren Fall seid ihr eigentlich überqualifiziert. Ich hab jedoch die Anweisung von ganz oben, euch zu bevorzugen. Jetzt darf ich euch aber nicht länger aufhalten, sonst muss ich womöglich den nächsten Fall einer anderen Abteilung melden.“ „Wir sind schon auf dem Weg! Am frühen Nachmittag kannst du uns den nächsten zuteilen.“ „Dann bis später! In der Zwischenzeit halte ich euch die weiteren Leichen warm.“ „Das wird ein Schmaus.“ „Nehmt euch ruhig Zeit für eine Mittagspause!“ Herbert Reiser beendete mit einem Lachen das Telefonat.

Irene hatte bereits ihre Winterjacke übergezogen. Die geöffnete Packung mit den Schokokeksen legte sie sorgfältig in die Schublade zurück. „Schade, dann müssen wir uns ohne ordentliche Stärkung zwei Leichen anschauen.“ „Ein Mörder, der tot neben seinem Opfer liegt. Das lohnt sich allemal.“ „Nichts wie los!“, rief Irene und eilte zur Kaffeemaschine, wo sie für Freddie eine kurze Nachricht hinterließ. Martin öffnete die Tür, und Irene schlüpfte nach draußen.

Immer noch verdutzt, fragte sie im Auto: „Uns werden bevorzugt Fälle zugeteilt, obwohl wir dafür gesorgt haben, dass die korrupte Mannschaft der Lokalbaukommission im Untersuchungsgefängnis gelandet ist?“ „Wir waren ja nur die Überbringer der schlechten Nachricht, dass sich in München ein großer Sumpf gebildet hat.“ „Und der ist jetzt erst mal trocken gelegt … Wo müssen wir überhaupt hin?“ „In die Nähe vom Schloss Nymphenburg. Ich gebe die genaue Adresse ins Navi ein, damit wir rechtzeitig vorher abbiegen. So wie es aussieht, brauchen wir keinen Eintritt zu zahlen, um zum Tatort zu gelangen.“

Vom überraschenden Wintereinbruch der vergangenen Nacht war noch reichlich Schneematsch liegengeblieben. Martin lehnte sich zurück. „Bei diesen Straßenverhältnissen würde ich bestimmt wieder irgendwo den Lack abkratzen.“ „Und wenn schon. Freddie hat die Strichliste mit deinen Blechschäden in den Papierkorb geworfen. Die neuen gehen alle auf mein Konto.“ „Du hast ihm den Spaß gründlich verdorben.“ „Ja, mit dem größten Vergnügen!“ Irene grinste breit.

Martin verfolgte entspannt die Fahrt, die am Karlsplatz und Hauptbahnhof vorbeiführte und exakt die Strecke der Trambahnlinie 17 nahm. Erst kurz vor dem Schloss leitete das Navi Irene durch enge Nebenstraßen, bis sie schließlich das Ziel erreichte: Ein Haus wohl an die 100 Jahre alt mit Stuckarbeiten an den Fenstern. Das mattgelbe Mauerwerk war an einem Teil der Fassade fast bis oben hin mit einem dichten, immergrünen Gewand aus Efeu bekleidet. Eine etwa zwei Meter hohe Steinmauer schirmte das verträumte Anwesen und den Garten mit hochgewachsenen Tannen vor zudringlichen Blicken ab. Irene wendete und musste das Auto leicht schräg hinter dem weißen Kleinbus der Spurensicherung abstellen, weil die Parklücke sogar für Martins Kleinwagen kaum Platz bot. Beide stiegen aus und schritten auf das offene Gartentor zu. Vor der Haustüre stand die hünenhafte Gestalt des Rechtsmediziners Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller. Er trug einen Mantel und wartete offensichtlich darauf, dass die Spurensicherung ihn zu den beiden Leichen vorließ. „Auf München ist Verlass“, rief er den beiden zu. „Immer wenn es mal wieder an der Zeit ist, dass wir uns zum Plaudern treffen, begeht jemand ein Gewaltverbrechen.“ Martin nickte freudig. „Wir wollten uns sowieso vor unserem Urlaub bei dir melden. Aber bevor ich den Hörer in die Hand nehmen konnte, hat Herbert Reiser angerufen und uns hierher geschickt. Weißt du schon Näheres?“ „Nein. Maria und Erwin gehen wie üblich sehr gründlich vor. Das dauert. Sie wollen auf keinen Fall Spuren übersehen.“ Irene zuckte beim Namen Maria zusammen. Daraufhin meinte Hubert lachend: „Denkst du immer noch an das letzte Telefonat mit ihr zurück? Ihre schonungslose Art der Kommunikation geht auch an mir nicht spurlos vorbei. Aber ihren Job macht sie hervorragend.“ „Ich weiß. Trotzdem muss sie nicht so abwertend über Martin und sein Junggesellendasein reden. Ich bin echt froh, wenn ich sie nur mit Mundschutz vor dem Gesicht antreffe. Noch lieber wäre mir ein Knebel.“ „Wäre mir manchmal auch lieber. Heute hat sie mich zur Begrüßung gefragt, ob ich froh über den Wintereinbruch bin, weil mein kugelrunder Bauch unter dem Mantel nicht so auffällt.“ Entrüstet schüttelte Irene den Kopf. „Charmant geht anders.“ „Solange sie dort drinnen gut arbeitet, darf sie so daherreden.“ „Wo ist denn der Mord passiert?“ „Im Wohnzimmer.“ „Und warum wartest du hier draußen?“ „Maria soll nicht auch noch Gelegenheit haben, über euch beide herzufallen. Hier seid ihr auf sicherem Terrain, und wir können ganz in Ruhe miteinander plaudern. Kommt her, unter dem Vordach bläst der Wind nicht so scharf.“ „Danke für diese charmante Einladung. Wir sind ohnehin schon fast in Urlaubsstimmung: Eine Woche Wellness mit Sauna, das entschädigt uns für den überraschenden Kälteeinbruch.“ Irene rieb sich an ihren Jeans die klammen Finger warm. „Hoffentlich erholt ihr euch dabei. In letzter Zeit war ja ständig etwas los.“ „Ich muss zugeben, mir ist es so am liebsten.“ „Du solltest Irene sehen, wenn ihr langweilig ist“, warf Martin ein. Freudestrahlend fügte die hinzu: „Glücklicherweise passiert das in der Arbeit nur ganz selten. Und daheim sorgt Martin für Unterhaltung.“ Sie legte ihre Hand auf Martins Arm und kuschelte sich an ihn. In diesem Moment öffnete sich ruckartig die Eingangstür und Maria stürzte heraus. Ein überraschter Blick traf die zwei. „Hallo, wir haben uns schon gefragt, wer den Fall bearbeiten darf“, begrüßte sie die beiden. Irene richtete sich auf und zog wie beiläufig ihre Hand zurück. Dabei achtete sie auf die Reaktion von Maria, deren wachsamen Augen sie fixierten. Mehr konnte sie hinter dem Mundschutz nicht ausmachen. „Du bist ja ganz schön erschrocken, wenn du dich an Martin festhalten musst. Tut mir leid, dass ich die Tür so aufgerissen hab. Ich wollte Hubert nur sagen, dass er jetzt ins Wohnzimmer darf. Ihr könnt derweil genauso gut im warmen Flur warten. Wir sind da längst fertig. Nur weil er so ein Frischluftfanatiker ist, müsst ihr nicht ebenfalls frieren.“ „Wir sind gerade erst gekommen“, log Martin leichthin. „Wir konnten Hubert noch nicht mal fragen, ob der Mörder tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Maria zuckte mit den Schultern. „Was denn sonst: Er ist unverletzt. Nicht mal Nasenbluten.“ „Und das Opfer?“ „Wurde erschossen. Die übliche Sauerei halt. Aber das ist Huberts Bereich.“ „Gut, dass du mich daran erinnerst.“ Hubert verschwand eilig nach drinnen. Maria deutete indessen auf das Messingschild am Eingang. „Der Name des Opfers steht nicht am Türschild.“ Irene und Martin blickten sie fragend an. „Hier steht R. Rupprecht“, erklärte Maria. „Ermordet wurde Alfred Heller. Und der tote Täter heißt Bernd Sommer.“ Martin bedankte sich, nahm sein Telefon zur Hand und rief Freddie an. Der nahm sofort ab: „Hab den Zettel von Irene gelesen. Der Mörder wartet somit geduldig auf euer Eintreffen.“ „Es gibt allerdings Ungereimtheiten. Wir wissen zum Beispiel nicht, wer an unserem Tatort wohnt. Und wenn du dich schon im Meldeamt herumtreibst, such bitte dort nach Informationen über einen Alfred Heller und einen … Bernd Sommer.“ „Ihr kennt also bereits die Namen der Toten. Das ist ja ein guter Anfang. Habt ihr auch die Adressen? Ansonsten schaue ich mal, wie viele es mit diesen Namen gibt.“ Maria warf ein: „Ich kann Freddie sogar die Nummern der Personalausweise diktieren. Beide haben ihren Ausweis dabei. Ich rufe ihn von drinnen aus an und gebe sie ihm durch.“ „Du hast ja mitbekommen, die Zusatzinformationen erhältst du von Maria. Ich melde mich wieder.“ „Prima! Ich mach mich gleich an die Arbeit.“ Irene und Martin folgten Maria bis in den Flur. Kurz darauf hörten sie deren aufgeregte Stimme durch die offene Wohnzimmertür. „So jetzt hat er die Nummern“, verkündete ihnen Maria wenig später stolz. „Danke. Dann kann Freddie ja gleich loslegen“, sagte Martin. „Wieso loslegen?“ Sie blickte vorwurfsvoll zu Hubert, der neben ihr mit einigen Mühen in seinen Schutzanzug schlüpfte. „Der Mörder ist unverletzt. Ob er Drogen genommen hat und deswegen umgekippt ist, wirst du ohnehin erst im Institut feststellen.“ „Und wenn beide von einem Dritten ermordet wurden?“, entgegnete Hubert wenig freundlich. „Ach was! Der Mörder hält sogar jetzt noch die Waffe in der Hand. Und die frischen Schmauchspuren daran sind auch nicht zu übersehen. Der Fall ist sonnenklar!“ „Wird Zeit, dass ich ebenfalls loslege“, sagte Hubert und drängte sich an Maria vorbei ins Wohnzimmer. Widerwillig trottete sie hinter ihm her. „Kannst du dir das eben erklären?“, flüsterte Irene und ging ein paar Schritte von der Wohnzimmertür weg. „Ich meine, das ist doch absolut ungewöhnlich, dass der Mörder tot neben seinem Opfer liegt. Und Maria lässt das kalt.“ „Ich würde zu gerne selbst einen Blick auf die Leichen werfen. Vielleicht verstehe ich dann, weshalb sie sich so verhält. Aber zum Glück hat sie nicht erkannt, dass wir beide … Sie scheint heute so einiges auszublenden.“ „Oder sie ist eine gewiefte Schauspielerin. Jedenfalls sollten wir schleunigst abchecken, ob Maria auch hier Spuren geflissentlich ausgeblendet hat.“ Sie blickten sich um. Der lange Flur war durch mehrere Strahler auf Metallstativen in grelles Licht getaucht. „Siehst du die vielen Schrammen? Erwin eckt mit denen fast genauso oft an, wie ich mit dem Auto in der Tiefgarage“, meinte Martin schmunzelnd. „Musst du immer deine Blechschäden zum Vergleich heranziehen?“ „Ich bin nun mal ein lausiger Autofahrer.“ „Das ist längst Geschichte.“

In den nächsten Minuten wuselte Irene im Flur hin und her. An der Garderobe hing eine einzelne Winterjacke, in der ein Führerschein auf den Namen Alfred Heller steckte. Im Schrank daneben befanden sich etliche Jacken und Mäntel fein säuberlich aufgereiht, jedoch allesamt zwei Nummern größer. Danach bückte sich Irene mehrmals und hielt nach Spuren jeglicher Art Ausschau. Schließlich richtete sie sich wieder auf und resümierte: „Ich geb’ auf. Hier deutet rein gar nichts auf ein Gewaltverbrechen hin.“ „Ein paar geschmacklose Bilder an der Wand. Aber auch das ist kein unmittelbares Mordmotiv.“ „Stimmt, hier ist alle Mühe umsonst. Und wenn wir schon dabei sind: Das Tapetenmuster ist ebenfalls seit den Achtzigern outdated.“ „Kein Wunder, dass Maria beide Augen zudrückt.“ „Der Mörder wird doch nicht aus purer Solidarität mit seinem Opfer gestorben sein.“ „Vielleicht bringt Freddie Licht ins Dunkel.“ Martin rief ihn nochmals an. Als würden sie übergangslos weiterreden, erzählte der: „Das Haus gehört einem Rolf Rupprecht. Alfred Heller und er sind Geschäftsführer einer Elektronikfirma. Ist Heller der Mörder oder das Opfer?“ „Das Opfer.“ „Bernd Sommer ist also der Täter. Er war ebenfalls Chef einer Elektronikfirma.“ „Interessant. Ich traue mich kaum zu fragen, ob du schon nachgeforscht hast, ob sie Konkurrenten sind.“ „Ist nicht so einfach. Die Firma von Heller heißt First Security, die von Sommer S.Systems. Sommer scheint Probleme zu haben: Die Umsätze sind im letzten halben Jahr zurückgegangen. Die Firma von Heller und Rupprecht veröffentlicht leider keine Bilanzdaten, sonst könnte ich euch sagen, ob die ebenfalls Rückgänge verzeichnet. Beide Unternehmen betonen ihre Expertise in modernster Elektronik. Das hört sich zwar eher nach innovativen Start-ups an, aber die Betriebe bestehen schon seit mehr als 50 Jahren.“ „Vielleicht gibt es ja andere Berührungspunkte.“ „Durchaus möglich. Deshalb hab ich bereits begonnen, das Privatleben der Beteiligten zu durchleuchten. Am besten schicke ich euch gleich mal alles per Mail, was ich bislang herausgefunden habe. Dann langweilt sich Irene nicht allzu sehr. Ich nehme an, dass ihr noch vor der Tür wartet.“ „Nein, inzwischen sind wir im warmen Flur angelangt.“ Martin fragte irritiert nach: „Woher weißt du, dass wir vorhin noch vor der Tür standen?“ „Maria war ziemlich aufgeregt, weil sie Irene so erschreckt hat. Ich konnte sie nur mühsam dazu bringen, mir die Personalausweisnummern durchzugeben. Sie meinte, es sei ganz allein die Schuld von Hubert. Wenn er nicht draußen auf euch gewartet hätte, wäre das nicht passiert.“ „Von wegen! Sie hat uns nicht erschreckt, sondern … ertappt.“ „Was … Wirklich?“ „Ich bin richtig froh, dass Maria nichts gemerkt hat. Ab jetzt werden wir besser aufpassen.“

Mittlerweile hatte Irene die Mail von Freddie empfangen. „Wie ist das so schnell möglich?“, wunderte sie sich, während sie durch die Seiten scrollte. „Super, Freddie! Mit diesen Infos können wir die Wartezeit hier gut überbrücken.“ „Das dachte ich mir schon. Ich hab noch etwas für euch: Dieser Sommer ist bzw. war recht groß: Ein Gardemaß von 1,90. Heller brachte es hingegen lediglich auf 1,72. Maria hat mir in ihrer Aufregung diese Angaben aus dem Personalausweis gleich mit vorgelesen. Sommer hinterlässt übrigens eine Tochter. Um die müssen wir uns später kümmern.“ „Wie alt ist sie denn?“, fragte Irene besorgt. „26.“ „Dann ist sie wenigstens kein Kind mehr. Ob sie wusste, was ihr Vater vorhatte? Andernfalls bricht für sie in zweierlei Hinsicht eine Welt zusammen: Ihr Vater ist tot, und er ist ein Mörder.“ „So oder so müssen wir uns mit ihr in Verbindung setzen. Ich kümmere mich darum. Sagt mir Bescheid, wenn ihr noch weiteren Lesestoff braucht.“

Sofort widmeten Irene und Martin ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Smartphone. Wange an Wange lasen sie auf dem Display Freddies Informationen. Irene scrollte durch die Hintergrundinformationen zu den drei Beteiligten und gemeinsam betrachteten sie die mitgesandten Fotos. Die Telefonnummer von Rupprecht war rot markiert. Urplötzlich stand Maria im Flur. Beide schreckten auf und starrten sie wie einen Geist an. Sie stutzte kurz und meinte dann: „Ich kann auf diesen Dingern auch nichts erkennen. Eine Freundin von mir liest sogar Bücher nur noch so. Verstehe ich nicht. Ich bin da irgendwie altmodisch. Was habt ihr euch angeschaut?“ Martin antwortete betont sachlich: „Freddie hat uns Infos zu den Beteiligten geschickt. Du hattest recht, dieses Haus gehört einem Rolf Rupprecht. Wir müssten ihn eigentlich gleich anrufen und ihm Bescheid geben. Andererseits sollt ihr in Ruhe eure Arbeit abschließen können.“ „Wir hätten schon längst eingepackt. Aber Hubert möchte unbedingt, dass wir noch dableiben. Ist doch reine Zeitverschwendung!“ „Warte bitte solange, bis er mit seinen Tests durch ist.“ „Ich verstehe ihn nicht. Im Institut hat er es doch viel bequemer. Dort muss er nicht wie ein Kleinkind auf dem Boden herumkriechen. Das ist doch würdelos.“ Maria seufzte. „Wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt rein.“ Genervt streiften sich beide Einweghandschuhe über und folgten Maria ins Wohnzimmer. Routiniert blickten sie sich um. Der hochmodern eingerichtete Raum stellte einen deutlichen Kontrast zum altbackenen Flur dar. Die helle Sitzlandschaft bot Platz für etliche Personen. Die Acryltische und das Sideboard schienen unmittelbar einem Designerkatalog entsprungen zu sein. Das Setting mit Alfred Heller hingegen erinnerte an eine Filmszene aus dem Tatort. Der Ermordete saß mit hängendem Kopf auf der Couch, vor sich eine abgestellte Espressotasse. Das weiße Hemd des Toten zeigte gleich drei dunkelrot glänzende Blutflecke, von denen zwei zu einem großen zusammenflossen. Seitlich hinter Heller stand ein riesiger, zersplitterter Spiegel mit zwei Einschusslöchern. Irene und Martin näherten sich mit einem weiteren Schritt und erblickten vor sich am Boden die zweite Leiche. Sommer lag auf dem Gesicht, dennoch erkannten sie ihn an der schieren Größe. Er hatte noch immer volles blondes Haar, obwohl er bereits jenseits der 50 war. Verwundert fragte sich Martin, ob Sommer über das Stromkabel gestolpert war. Der Stecker lag unterhalb der Steckdose auf dem Teppichboden. Das Kabel führte zu einer wuchtigen, gut zwei Meter emporragenden Messing-Stehlampe. Trotz der Anspannung musste Martin über die ungewöhnliche Form schmunzeln: Sie war einem Leuchtturm nachgebildet. Dennoch wirkte die Leuchte im Hinblick auf die hohen Wände des Raumes nicht übertrieben. Martin trat zum massiven Sockel und drückte mit dem Fuß dagegen, zuerst sanft, dann kräftig. „Der bewegt sich keinen Millimeter!“ „Es sieht so aus, als wäre er an einem Stromschlag gestorben“, meinte Hubert, während er die Hautverbrennungen oberhalb des Fußknöchels begutachtete. Erwin lachte durch seine Maske. „Bekommen wir jetzt Probleme mit Amnesty International?“ Hubert überging diese Bemerkung und sagte stattdessen: „Das Kabel scheint die Ursache zu sein. An einigen Stellen ist der blanke Draht sichtbar. Allerdings hatte ich schon seit ewigen Zeiten keinen Todesfall mehr durch Stromschlag. Ein Elektriker hat mir mal erklärt, dass es seit Längerem Pflicht ist, Schutzschalter einzubauen, die den Stromkreis sofort unterbrechen, wenn ein Mensch an der Leitung zappelt. Das Haus ist ziemlich alt, könnte es sein, dass hier noch uralte Sicherungen eingebaut sind?“ Martin eilte in den Flur hinaus und fand dort den Sicherungskasten, der ebenfalls mit der altbackenen Tapete beklebt war. Der Plastikgriff zum Öffnen ragte aus der Wand. Bevor Martin ihn berührte, zog er seine Hand zurück. Er rief Maria herbei und bat sie, den Sicherungskasten auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Nach einer Minute schüttelte sie den Kopf und sagte lapidar: „Nichts. Sieht so aus, als ob der Griff vor Kurzem abgewischt wurde.“ Sie öffnete die metallene Klappe für Martin. Er blickte hinein und verkündete: „Der FI-Schalter hat tatsächlich ausgelöst. Vielleicht hatte Herr Sommer ein schwaches Herz. Oder der Schalter hat nicht schnell genug reagiert.“ „Dann brauchen wir einen Techniker, der das für uns feststellt. Sommer weist jedenfalls deutliche Hautverbrennungen auf“, warf Hubert ein. Maria zog schuldbewusst den Kopf ein, und so sagte Martin: „Zu solchen Verbrennungen kann es nur kommen, wenn dieser Schalter hier eine Attrappe ist. Hubert, du hast recht, das muss sich ein Fachmann anschauen.“

Mehrmals wurde Martin weiter verbunden, und jedes Mal hieß es: „Tut uns leid, dafür sind wir nicht zuständig.“ Beim fünften Versuch meldete sich ein Heinz Ernst. „Fragen Sie jetzt nicht, welcher der Vorname ist“, fuhr der nahtlos fort. „Das sage ich Ihnen erst, wenn ich weiß, dass Sie wirklich mit mir sprechen wollen.“ „Wir haben hier einen Toten, der an einem Stromschlag gestorben ist, obwohl der FI-Schalter ausgelöst hat.“ „Heinz ist der Vorname. Ich komme sofort! Verraten Sie mir nur noch wohin.“ Martin diktierte ihm die Adresse. „Bin schon unterwegs.“ Erwin war nun anzusehen, wie unwohl er sich fühlte. Mit gesenktem Kopf sagte er: „War auch mein Fehler. Ich hab natürlich gemerkt, dass das Licht im Flur nicht funktioniert. Aber wir haben ja immer Taschenlampen und eigene Strahler dabei. Deshalb war das für mich kein Problem. Wir hatten so viel zu überprüfen, sodass ich später nicht mehr daran gedacht habe.“ Er deutete auf das Wohnzimmer. Martin weitete seinen Blick und nickte. „Kann ich gut verstehen.“ Dann fragte er Maria: „Habt ihr Spuren von anderen Personen gefunden?“ „An einigen Stellen waren Fingerabdrücke von Heller nachweisbar. Sommer hat nur an dieser Türklinke Spuren hinterlassen. Die Putzfrau, Frau … Rombach, hat die Polizei gerufen. Klar, dass sie beim Putzen alles anfasst. Sie war ziemlich durch den Wind. Immer wieder mussten wir uns anhören: Sie sei sofort aus dem Wohnzimmer gerannt, nachdem sie die zwei Leichen entdeckt hat. War ziemlich nervig … Ansonsten wimmelt es hier von anderen Fingerabdrücken, die wir noch nicht zuordnen können.“ „Der Eigentümer, Rolf Rupprecht, muss ja auch Spuren hinterlassen haben.“ „Mit Sicherheit. Ich kann trotzdem mal überprüfen, ob die in unserer Datei registriert sind.“ „Ja, mach das bitte. Vielleicht findest du auf diese Weise wieder einen Tatverdächtigen.“ Martin nahm damit Bezug auf einen Mordfall, bei dem Maria bereits am Tatort die Fingerabdrücke einem polizeibekannten Straftäter zuordnen konnte. Maria winkte ab. „Die Spur führte allerdings nur zu einem Verdächtigen und nicht zum Täter.“ „Dennoch war dies für unsere Ermittlungen sehr wichtig.“ „Habt ihr das etwa in eurem Bericht an den Chef geschrieben? Jetzt verstehe ich, warum Weinziertl mich für den nächsten Mittwoch eingeladen hat. Ich dachte schon, ich habe ein Dienstjubiläum übersehen.“ Maria schluckte und fügte hinzu: „Eine halbe Stunde. Das kann sich ganz schön hinziehen.“ Irene verdrehte die Augen und flüsterte Hubert zu: „Für mich bedeutete bereits ein Telefongespräch wie neulich von ein paar Minuten eine Überdosis!“ Hubert nickte lächelnd, begab sich zu Maria und bombardierte sie mit Fragen. Zwischendurch blinzelte er Irene zu.

Gegen 11:30 Uhr beendete ein Läuten an der Tür Huberts Ablenkungsmanöver. Die angelehnte Tür wurde aufgestoßen und ein Mann mit Halbglatze lugte zunächst vorsichtig herein, um dann forsch in den Flur zu treten. Martin kam ihm einladend entgegen. „Ah, Herr Ernst! Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Sehen Sie sich ruhig alles an.“ Doch statt dies zu tun, blieb der Techniker mit geschwellter Brust und einem glücklichen Lächeln stehen. „Ich musste unbedingt vorher in eine Elektrikerkluft schlüpfen. Ist schon ewig her, dass ich an einen Tatort gerufen wurde. Man sieht, ich bin seither um einiges schlanker.“ Wie zum Beweis fuhr Herr Ernst mit der Hand unter den Stoff und lüftete den blauen Overall, der über dem weißen Hemd locker an ihm herumhing. Martin nickte beeindruckt. „Nun packen wir’s an!“ Bereits im Vorbeigehen warf Herr Ernst einen flüchtigen Blick in den Sicherungskasten und steuerte danach schnurstracks auf den Toten am Boden zu. Der Techniker zog sich Einweghandschuhe über und schaute sich die Hautverbrennungen oberhalb der Fußknöchel genau an, ebenso wie das Kabel, das zum Messingleuchtturm führte. „Die Ummantelung ist an mehreren Stellen durchgewetzt. Auch wenn der blanke Draht hervortritt, stellt das alleine noch keine unmittelbare Lebensgefahr dar. Ich werde einfach mal einen kleinen Test durchführen.“ Herr Ernst hastete zum Sicherungskasten und aktivierte den FI-Schalter. Im Wohnzimmer bückte er sich und befreite das defekte Kabel, das er unter Sommers Beinen hervorzog. Der Techniker steckte ein, nichts tat sich. Dann sorgte er dafür, dass Strom abfloss und sofort löste der FI-Schalter aus. Herr Ernst stemmte die Hände in die Hüften. „Ein unangenehmer Stromstoß, aber keine akute Lebensgefahr.“ Danach senkte der Experte den Kopf und versank in Gedanken. Martin wollte gerade nachfragen, als ein mittelgroßer Mann, der um die 40 sein mochte, die angelehnte Eingangstür aufdrückte, in den Flur stürmte und aufgeregt rief: „Was ist hier los?“ Natürlich erkannte Martin den Neuankömmling aufgrund des Ausweisfotos, das Freddie ihm geschickt hatte, sofort. Dennoch erkundigte er sich: „Wer sind Sie?“ „Mein Name ist Rupprecht. Dies ist mein Haus. Was machen Sie hier?“ „Martin Behringer, Kripo München. Frau Rombach hat die Polizei gerufen, weil etwas … passiert ist.“ „Was ist los? Ist Alfred etwas zugestoßen? Ich meine: Alfred Heller, meinem Geschäftspartner.“ „Wussten Sie, dass er sich in Ihrem Haus aufhält?“ „Nicht direkt, aber er hat einen Schlüssel, und sein Auto parkt ja quasi vor der Eingangstür.“ „Ist er der einzige, der einen Hausschlüssel hat?“ „Was …? Ja, nur er … und natürlich die Putzfrau.“ Rupprecht schaute nun zu dem Mann im Overall. „Handelt es sich etwa um einen Einbruch?“ Martin antwortete: „Nein, Ihr erster Impuls war leider zutreffend. Ihr Geschäftspartner … ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“ „Das dachte ich mir schon, weil so viele Leute hier sind.“ „Ich sehe, Sie ziehen die richtigen Schlüsse.“ Martin deutete zur Wohnzimmertür: „Könnten Sie bitte Herrn Heller identifizieren?“ „Muss ja wohl sein. Seine Mutter ist für drei Wochen nach Norddeutschland gereist. Hoffentlich hat sie diesmal das Handy mitgenommen.“ „Hinterlässt er eine Familie?“ Auch darauf wusste Martin dank Freddie bereits die Antwort. „Alfred?“ Rupprecht schüttelte den Kopf. „Nein. Er war nicht so der Familienmensch.“ „Hatte er eine Freundin?“ „Nein.“ „Wollen Sie mir dann bitte folgen.“

Als Rolf Rupprecht das Wohnzimmer betrat, heftete er seinen Blick zunächst auf die beiden Frauen und musterte sie von oben bis unten. Erst danach sah er zu dem noch immer auf der Couch sitzenden Alfred Heller. Er schritt auf ihn zu. Dabei wäre er beinahe auf die am Boden liegende Leiche getreten. „Aber das ist ja Bernd … Bernd Sommer!“ Ratlos wandte er sich an Martin: „Was ist hier vorgefallen?“ „Soweit wir den Tathergang rekonstruieren konnten, hat Herr Sommer Ihren Geschäftspartner erschossen. Danach ist er allerdings über dieses Kabel gestolpert und an einem Stromschlag gestorben.“ „Also hat er seine gerechte Strafe erhalten.“ „Steht diese … Lampe immer an diesem Platz?“ Martin deutete auf den Leuchtturm. „Ja. Aber üblicherweise verwende ich die Steckdose beim Fenster.“ „Und warum war das gerade heute nicht der Fall?“ „Das ist schon seit ein paar Wochen so. Ich habe für die Übergangszeit eine elektrische Zusatzheizung aufgestellt, und die konnte ich nur dort anschließen.“ Martin trat zu dem Heizkörper, der sich auf Rollen verschieben ließ und direkt unter dem Fenster stand. Er hielt die Hand darüber, schritt daraufhin bis zur Steckdose und beugte sich nach unten, bevor er vor sich hin murmelte: „Das erklärt ja dann alles.“ „Ich hatte nicht gedacht, dass dieses Kabel ein Problem werden könnte. Aber so hat es den Richtigen erwischt.“ „Sie sind auf Herrn Sommer nicht gut zu sprechen.“ „Er war allgemein bekannt für seine Wutausbrüche, ein regelrechter Choleriker. Ich bin ihm lieber aus dem Weg gegangen. Doch da wir in der gleichen Branche tätig sind, traf man sich doch hin und wieder.“ „Kann es sein, dass Herr Sommer eigentlich vorhatte, Sie zu töten und er den Falschen getroffen hat?“ Rupprecht strich sich über die akkurat geschnittenen, dunkelbraunen Haare. „Mich? Nein, wieso? Ich kannte ihn ja kaum. Alfred dagegen schon. Die beiden haben längere Zeit bei diversen Projekten zusammengearbeitet.“ „Warum wurde Herr Heller in Ihrem Haus ermordet?“ „Nun, mein Geschäftspartner konnte hier jederzeit ein- und ausgehen. Er selbst wohnte in einer Wohnung in Thalkirchen, und so hat es sich eingebürgert, dass er unsere Kunden generell hierher eingeladen hat. Das war natürlich auch ihm bekannt.“ Rupprecht deutete abfällig auf den toten Bernd Sommer. „Sie und Herr Heller sind die Inhaber einer Elektronikfirma. Wo befinden sich Ihre Büros?“ „In Perlach. Aber Sie werden zugeben, dass diese Umgebung eine bessere Wirkung auf unsere Kunden hat.“ Rupprecht holte mit einer Geste weit aus. „Hmm“, murmelte Martin. Er schaute sich dabei betont langsam im Raum um, blickte danach zur Decke, verlor sich im Glasperlenspiel des Kristallkronleuchters und nickte nach einer scheinbar endlos wirkenden Weile. Rupprecht schien die lange Leitung des Ermittlers auf die Nerven zu gehen. Und so fügte er rasch eine weitere Erklärung hinzu: „Außerdem gibt es in dieser Gegend ein paar hervorragende Restaurants. Sie wissen vielleicht, dass man bei einem guten Essen zu einem besseren Abschluss kommt.“ Martin legte abermals eine Denkpause ein. Gerade als Rupprecht erneut ungeduldig wurde, fragte er: „Warum hat Herr Heller seinen Mörder hereingelassen?“ „Nun, da kann ich nur spekulieren. Möglicherweise hat er sich mit Sommer hier verabredet. Oder er dachte, es sei jemand anderes.“ Wieder ließ sich Martin viel Zeit, bevor er weitersprach: „Weshalb saß Herr Heller auf dem Sofa, statt den Besucher an der Tür zu empfangen.“ „Offensichtlich hat es sich Alfred hier gemütlich gemacht, während er darauf gewartet hat, dass der Besucher zur Tür hereinkommt.“ Rupprecht deutete auf die Espressotasse. Martin entgegnete diesmal überraschend schnell: „Der Türöffner befindet sich allerdings im Flur in der Nähe der Eingangstür.“ „Ja, und damit wird gleichzeitig das Gartentor geöffnet. Alfred mochte es nicht, so lange an der Tür zu stehen.“ „Nach Aussage von Frau Rombach stand das Gartentor offen, als sie eintraf.“ „Vielleicht hat es Bernd Sommer hinter sich nicht geschlossen. Ich kann es mir nur so erklären: Er ist meinem Geschäftspartner gefolgt und hat dann geläutet. Und nachdem Alfred ihn hereingelassen hat, nutzte er die Gelegenheit, ihn zu ermorden.“ „War Bernd Sommer schon mal hier?“ „Ja. Ich habe dieses Haus vor einem Jahr gekauft. Sommer war bei meiner Housewarming-Party. Damals haben wir noch mit ihm zusammengearbeitet.“ „Weshalb endete die Zusammenarbeit?“ „Das weiß ich nicht so genau. Ich bin ja erst vor einem halben Jahr als Geschäftsführer eingestiegen.“ Rupprecht lächelte süffisant und fügte hinzu: „Sommer hat eine Tochter. Ein wohlbehütetes Püppchen. Vielleicht hat Alfred sie ein bisschen zu oft angeschaut. Wie gesagt, Sommer konnte sehr aufbrausend sein.“ Rupprecht ließ diese Bemerkung nachwirken. Da er nicht die erhoffte Reaktion erntete, fuhr er fort: „Jedenfalls gab es bald nach meiner Party keine Zusammenarbeit mehr mit Sommer.“ „Interessant. Wissen Sie, ob Herr Heller sich mit der Tochter von Sommer danach getroffen hat?“ „Nein, aber auch eine zufällige Begegnung der beiden kann ausreichen, dass Sommer darauf cholerisch reagiert.“ „Hm … ein Mord aus Eifersucht“, sagte Martin völlig leidenschaftslos. Statt weiter Fragen zu stellen, ging er zur Haustür, schloss sie und drückte den Türöffner. Ein klickendes Geräusch signalisierte, dass die Tür aufgedrückt werden konnte. Martin wartete eine halbe Minute und zog dann an der Tür. Sie ließ sich öffnen. Rupprecht nickte zufrieden. „Sie sehen selbst, auch wenn man am Gartentor läutet, kommt man hier herein.“ „Sie haben uns sehr geholfen. Ich bin mir sicher, dass wir unsere Ermittlungen bald abschließen können. Wie erreichen wir Sie, falls wir für unseren Bericht weitere Details benötigen?“ Rupprecht nannte die Handynummer, die Freddie bereits in der E-Mail geschickt hatte. Martin notierte sie umständlich. „Und weil wir gerade dabei sind: Ich kann Ihnen gerne auch schriftlich bestätigen, dass ich Alfred Heller eindeutig identifiziere. Nun, ich nehme an, Sie wollen den Tatort weiterhin gründlich untersuchen. Ich überlasse Ihnen meinen Hausschlüssel. In der Zwischenzeit nutze ich Alfreds Wohnung. Sie sehen, Alfred und ich waren gute Geschäftspartner. Wenn der Täter nicht bereits tot wäre, würde ich jetzt fordern: Finden Sie Alfreds Mörder! Aber so muss ich sagen: Es ist ein großer Verlust, dass so ein feiner Mensch wie er auf derart brutale Weise umkommt.“ „Ich kann verstehen, dass es Ihnen nahegeht, Ihren Geschäftspartner durch ein Gewaltverbrechen zu verlieren.“ „Er war mehr als das: Er war ein Freund.“ Rupprecht ging sichtlich betroffen mit hängenden Schultern auf die Haustür zu. „Wir haben eine psychologische Betreuung, falls Sie …“, rief Martin ihm nach. Rupprecht drehte sich langsam zu ihm um und schüttelte mit tieftrauriger Miene den Kopf. „Es ist schwer, aber es muss weitergehen. Alfred hätte es so gewollt.“ Martin schaute Rupprecht hinterher. Schließlich ging er in den Flur, zog die Tür zu und vergewisserte sich, dass sie auch wirklich geschlossen war. Danach kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Dort wandte er sich an Irene und Hubert: „Ich weiß nicht, wie es euch geht. Ich finde das Verhalten von Rupprecht ziemlich befremdlich. Erst reagiert er ausgesprochen kühl, ja emotionslos auf den überraschenden Mord an seinem Freund und beantwortet sachlich meine Fragen. Darüber hinaus überlässt er uns großzügig sein Haus, um das Verbrechen aufzuklären. Und danach wird er sentimental.“ Irene nickte. Hubert zog die Augenbrauen hoch und meinte: „Ich hab in all den Jahren viele Leute in solch einer Ausnahmesituation erlebt. Aber dass jemand so lange völlig ungerührt bleibt und erst beim Gehen den schmerzlichen Verlust theatralisch bedauert, ist schon sonderbar.“ Martin lächelte. „Ja, eine sehr verspätete Anteilnahme.“ Irene schaute zu Maria. Sie äußerte sich nicht. Auch Erwin zuckte nur mit den Schultern. Als Martins Blick auf Heinz Ernst ruhte, meinte der verwundert: „Ich werde eher selten zu Tatorten gerufen. Aber ich hab noch niemanden getroffen, der einen durch Stromschlag dahingerafften Menschen in seinem Wohnzimmer findet und nicht befürchtet, dass es ihn ebenfalls hätte treffen können.“ Martin sagte amüsiert: „Rupprecht ist Elektroingenieur.“ Heinz Ernst starrte ihn mit offenem Mund an. „Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr! Er muss sich doch fragen, warum der Mörder an einem Stromschlag gestorben ist.“ „Ja. So hätte ich es auch erwartet. Ich hab ihm schließlich genügend Zeit gegeben. Schon recht seltsam.“ Heinz Ernst schmunzelte: „Ich kannte Sie ja nicht. Ich dachte wirklich, Sie gehören eher zur Kategorie der … gründlichen Denker.“ „Das ist sehr nett formuliert. Sind Sie in der Politik?“ „Nein. Aber unser Präsidium ist voll von gründlichen Denkern.“ Martin lächelte kurz und meinte dann: „Wir sind ja vorhin unterbrochen worden. Und funktioniert der Schutzschalter nun?“ „Ja, es scheint alles tadellos in Ordnung zu sein.“ „Haben Sie irgendeine Erklärung, warum …?“ Er deutete auf Sommer. „Nein. Leider nicht. Doch was ich sagen kann: Solche Hautverbrennungen sind Folge eines Stromschlages bei der üblichen Netzspannung.“ „Kann man die Sicherung überbrücken?“ „Nein. Dieser FI-Schalter ist immer im Stromkreis. Und es sieht danach aus, dass da seit Längerem niemand etwas verändert hat.“ Martin blickte Maria auffordernd an. „Ihr müsst mir aber zeigen, welche Stellen relevant sind.“ „Kommen Sie!“, sagte Heinz Ernst. Im Sicherungskasten deutete er auf einen der vielen Umschalter. „Und es geht wirklich nur um den?“ Ein Nicken folgte. „Gebt mir eine Minute.“

„Da hat tatsächlich ein paar Jahre niemand irgendetwas umgebaut“, bestätigte Maria die Vermutung von Heinz Ernst. „Dann werde ich wohl besser gleich einige genauere Tests durchführen.“ Er wandte sich an Martin. „Ich schicke Ihnen möglichst bald meinen Bericht. Da Sie ja nicht ganz ahnungslos sind, kann ich das Ergebnis präziser formulieren.“ Der Techniker grinste. „Ich weiß schon etwas Bescheid. Sie überprüfen wahrscheinlich, bei wie vielen Milliampere Fehlerstrom in welcher Zeit ausgelöst wird. Falls ich danach noch Fragen haben sollte, melde ich mich bei Ihnen.“ „So gefällt mir die Arbeit!“ Herr Ernst lächelte zufrieden. Urplötzlich wandte sich Martin aufgeregt an Maria: „Könntest du bitte überprüfen, ob auf dem Stecker oder dem Kabel der Stehlampe frische Fingerabdrücke sind?“ Herr Ernst nickte. „Ich verstehe. Sie vermuten, dass die tödliche Wirkung durch einen anderen Stromkreis herbeigeführt wurde.“ „Ist für mich die einzige logische Erklärung, falls Sie in Ihrem Bericht zu dem Ergebnis kommen sollten, dass alles einwandfrei funktioniert.“ „Ich soll also den Stecker dieser Lampe überprüfen?“, fragte Maria irritiert. „Das Kabel sieht aus wie bei meinem Bügeleisen daheim. Darauf kann man keine Fingerabdrücke nachweisen. Wenn ich meinen Mann im Affekt erwürge, dann nehme ich die Schnur vom Bügeleisen.“ „Wie bitte? Hast du etwa gerade verraten, dass du einen Mord planst? Oder ist dein Mann bereits …?“ Hastig entgegnete Maria: „Nein. Er ist noch quicklebendig. Ihr könnt’ ihn gern anrufen.“ „Ich fürchte, wir würden es nicht riskieren, dich zu verhaften. Lieber lassen wir dich frei herumlaufen, als all die Mörder, die ohne deine Mitarbeit davonkämen.“ „Bedeutet das, dass ich meinen Ehegatten ungestraft umbringen darf?“ Hatte sich Maria bereits ernsthaft mit Mordgedanken beschäftigt?, fragte sich Martin besorgt. Rasch sagte er: „Gib ihm noch eine Chance! Er hat bestimmt auch gute Seiten.“ „Du kannst leicht reden! Du lebst allein.“ „Ja, ich sollte ruhig sein. Ich bin überglücklich, so wie es jetzt ist.“ „Vielleicht lasse ich mich scheiden. Ich möchte auch mal so glücklich sein wie du.“ Maria seufzte. „Das wäre für deinen Mann sicherlich die bessere Lösung.“

Eine Zeitlang überprüfte Maria mit allen erdenklichen Mitteln den Stecker. Enttäuscht steckte sie ihre Sets wieder ein. „Nichts. Ich kann nicht mal sagen, ob es anders sein sollte. Das kommt ganz darauf an, wie sorgfältig die Reinigung hier abläuft. In ein paar Wochen ist möglicherweise schon öfter drüber gewischt worden.“ „Bitte checke auch den Schalter an der Stehlampe.“ Maria folgte der Aufforderung. „Ein verwischter Fingerabdruck. Ich überprüfe gleich mal, von wem.“ „Danke.“ Alle warteten, bis Maria diese Arbeit beendet hatte. „Der Fingerabdruck stammt eindeutig von Rupprecht.“ „Bist du dir sicher?“, warf Martin ein. „Ach so. Du meinst, mir fehlt der Abgleich? Falsch! Ich hab einfach die Fingerabdrücke von der Türklinke genommen, die Rupprecht vorhin angefasst hat.“ „Schlau!“ „Hätte mich schon sehr gewundert, wenn er hier wohnt und nichts anfasst.“ „Wäre tatsächlich ein Novum. Dann lassen wir Herrn Ernst jetzt seine Tests durchführen.“ Der Techniker blickte lächelnd in die Runde: „Nennen Sie mich einfach nur Heinz.“ „Gern. Ernst passt ohnehin nicht so recht zu dir. Ich heiße Martin.“ Die anderen stellten sich nun ebenfalls mit Vornamen vor. Während Heinz nun seine Messgeräte auspackte, fragte Martin: „Brauchst du bei deinen Tests Hilfe?“ „Nein. Mir ist es lieber, wenn ich in Ruhe vor mich hinwursteln kann. Derweil könnt’ ihr euch umsehen, ob vielleicht nicht doch irgendwo ein Generator versteckt ist.“ „Da hab ich nicht viel Hoffnung.“

Eine sonderbare Prozession machte sich auf einen Rundgang durchs Haus. Maria und Erwin gingen gebeugt voran, ihre Augen suchend auf den Boden gerichtet. Irene ließ dies an Spürhunde denken. Enttäuschte Spürhunde, wie es schien. Irene und Martin folgten den beiden und blickten sich dabei um. Alles wirkte sehr ordentlich. Im oberen Stockwerk befand sich ein geräumiges Büro. Der Schreibtisch war blitzblank, keinerlei Geschäftsunterlagen lagen darauf herum. Die unverschlossenen Schubladen bargen lediglich Unmengen silberner Kugelschreiber mit einer schwarzen Gravur: First Security. Irene und Martin schauten sich irritiert an. Sie trotteten weiter. Auf dem breiten Bett im Schlafzimmer lag eine akkurat glattgestrichene Tagesdecke. Maria fasste zum Erstaunen der anderen darunter und befühlte die Liegefläche. „Kalt! Ich konnte nicht widerstehen. So was interessiert mich einfach. Obwohl mein Mann auch so ein Pedant ist, deckt er jeden Morgen sein verschwitztes Bett zu. Wie ich das hasse!“ Als alle sie verstört anstarrten, sagte sie verlegen: „Der Anruf der Putzfrau ging um 10:05 Uhr ein. Hm … Keine Ahnung, ob Rupprecht hier übernachtet hat.“ Maria öffnete den Kleiderschrank: ein paar der Fächer waren leer, in den anderen Kleidung, Unterwäsche und sogar Socken akkurat geschichtet. Auch dieser Raum wirkte steril und unbewohnt. Marias Gründlichkeit bestimmte weiterhin das Tempo. Sie beugte sich über die Badewanne und strich mit dem Finger über die Emaille. „Ein paar angetrocknete Kalkflecken.“ Danach wandte sie sich dem Waschbecken zu. „Ebenfalls trocken. Das Handtuch ist unbenutzt.“ Wie selbstverständlich klappte Maria den Wäschekorb auf, wühlte darin herum und griff sich ein weißes Unterhemd. Um daran zu schnüffeln, nahm sie ihre Maske ab und murmelte vor sich hin: „Der wechselt seine Wäsche täglich. Oder er schwitzt nicht so viel.“ Irene war nun vollends angewidert. Als hätte Maria dies bemerkt, streifte sie sich nun wieder Handschuhe über. Sie hob die Zahnbürste aus dem Becher, überprüfte vorsichtig den Stiel und stellte fest: „Die ist eindeutig noch feucht.“ Sie griff sich ein Wattestäbchen, strich über den Bürstenkopf und steckte es in einen Plastikbeutel. Erst dann sagte sie: „Ihr könntet diesen Rupprecht ja auch einfach fragen, wann er das Haus verlassen hat oder ob dieser Heller hier übernachtet hat.“ „Wir vertrauen lieber auf deine Analyse, Rupprecht kann uns viel erzählen“, entgegnete Martin.

Gemeinsam stiegen sie wieder nach unten und über eine schmale Treppe gleich weiter in den Keller. Die Ölheizung mit dem Tank war uralt, aber dennoch glänzten die Armaturen, als wäre auch hier die Putzfrau stets aktiv. Sie schlossen die Feuerschutztür und inspizierten die zwei abgetrennten Räume am Ende des Ganges. An den Holztüren hingen locker Vorhängeschlösser mit offenem Bügel, die Schlüssel steckten. Irene wandte sich an Maria: „Kannst du bitte herausfinden, ob die Türen üblicherweise zugesperrt werden?“ Die wunderte sich zwar, machte sich aber dennoch gleich an die Arbeit. „Ja! Der Bügel weist deutliche Kratzer auf. Woher wusstest du …?“ Irene sagte lächelnd zu Martin: „Wir sind fast durchs ganze Haus gewandert. Und überall hatten wir freien Zugang, als ob uns jemand einlädt, auf alles einen Blick zu werfen.“ „Was …? Das würde ja bedeuten … Rupprecht hat bereits damit gerechnet, dass wir ihm sein Märchen vom göttlichen Racheakt nicht abkaufen.“ Martin war beeindruckt. „Sieht so aus.“ Erwin warf säuselnd ein: „Ich mag Ladys mit Durchblick. Die erkennen meine inneren Werte und …“ Irene unterbrach ihn barsch: „Behalt’ deine inneren Werte ruhig für dich.“ „Pfft! Das nenne ich Temperament.“ Irene war kurz davor, sich erneut an Martin anzuschmiegen. Der reagierte schnell, indem er sagte: „Ich würde vorschlagen, wir schließen unseren Rundgang ab, damit Erwin bald zu seinen Kindern heimkommt.“ „Ist schon recht“, kam es mürrisch zurück. Sie stiegen wieder nach oben. Als Nächstes betraten sie durch die ebenfalls unverschlossene Tür die Garage. „Der Boden sieht wie frisch gefegt aus“, meinte Maria und beugte sich weit nach unten. Ein frustriertes „Nichts Auffälliges!“ beendete auch diese Suche. Von der Garage führte ihr Weg zur Ausfahrt. Dort fanden sie ebenfalls keine verräterischen Hinweise. „Soviel steht fest“, sagte Martin. „Weder im Haus noch im Vorgarten war ein Dieselaggregat aufgestellt. Oder irgendjemand hat gründlich sämtliche Spuren beseitigt. Nur der Vollständigkeit halber würde mich interessieren, wie sauber die Küche ist.“ „Wahrscheinlich aseptisch“, meinte Irene. „Aber zuerst möchte ich wissen, was Hubert und unser neuer Freund Heinz am Tatort ermittelt haben.“

Neben dem toten Alfred Heller sitzend untersuchte der Rechtsmediziner einen Schusskanal. Nach einem hoffnungsvollen Blick in ihre Richtung, sagte Hubert enttäuscht: „Ihr habt also nichts gefunden. Schade.“ In sachlichem Ton fügte er hinzu: „Das hier ist schnell zusammengefasst: Drei Treffer. Zwei davon wären tödlich gewesen, der dritte wäre fast daneben gegangen. Die Eintrittswinkel deuten alle auf die Tür hin. Außer dem Spiegel hat Sommer auch noch den Couchtisch getroffen. Ich würde sagen, er war in Rage und hat wie wild um sich geschossen. Der Tod von Heller ist zwischen neun und halb zehn eingetreten. Wenn Sommer später gekommen wäre, hätte die Putzfrau beide noch lebend angetroffen.“ Hubert erhob sich aus seiner Sitzposition, packte seine Tasche und drängte nach draußen, nicht ohne Irene und Martin vorher verschwörerisch zuzublinzeln. Martin wandte sich indessen Heinz zu und meinte aufmunternd: „Tja, außer dir kann hier niemand etwas Neues beitragen. Unser Rundgang hat nichts gebracht, trotz der durchwegs offenen Türen. Kein Hinweis auf einen Generator. Bleibt lediglich die Küche als letzte Hoffnung.“ „Die ist blitzsauber. Hubert und ich haben uns dort umgesehen.“ „Und was hast du sonst noch herausgefunden?“ „Nun, es gibt es ein paar Ungereimtheiten: Wäre Sommer tatsächlich über ein derart straff gespanntes Kabel gestolpert, befänden sich seine Hautverbrennungen weiter oben am Bein. Und es will mir nicht einleuchten, dass Rupprecht selber wochenlang über diese Stolperfalle gestiegen ist.“ „Seine Putzfrau kann das Rätsel lösen. Wir werden sie dazu befragen.“ Heinz betastete indessen das Kabel. Nach einer kurzen visuellen Inspektion meinte er: „Mir ist schon vorhin aufgefallen, dass an mehreren Stellen der blanke Draht hervorschaut. Die Isolierung war noch nicht brüchig. Hier hat jemand nachgeholfen und dafür gesorgt, dass es eine durchgehende Kontaktfläche gibt.“ Maria nahm eine hochwertige Lupe zur Hand, die einem Sherlock Holmes gut zu Gesicht gestanden hätte. „Diese Schnitte sind nicht frisch. Das Kupfer ist überall oxidiert. Das sagt allerdings nichts darüber aus, ob das Kabel seit Tagen oder Wochen in diesem Zustand ist.“ „Hm … Vielleicht war ich doch zu voreilig, und der FI-Schalter blockiert manchmal. Ich bleibe noch ein Weilchen hier. Möglicherweise ist dieser Rupprecht einfach nur sonderbar, und der Tod von Sommer war tatsächlich ein Unfall.“ „Dann ist Rupprecht erst recht ein Arsch!“, platzte es aus Irene heraus. Maria warf ihr einen überraschten Blick zu. „Dieser Volldepp lebt wochenlang in seinem Haus mit einer Stolperfalle! Und gerade heute ist bei ihm Tag der offenen Tür. Statt hierzubleiben, überlässt er uns großzügig das Feld. Maria, du kannst noch so viel in seinen Sachen wühlen, wir werden nicht herausfinden, ob er letzte Nacht in seinem Bett geschlafen hat. Dieser Arsch hat das Ganze für uns sorgfältig arrangiert. Sogar seine nicht verschwitzte Unterwäsche ist Teil dieser Inszenierung. Und dir imponiert so etwas!“ Maria überhörte diesen Seitenhieb geflissentlich und rümpfte die Nase. „Das kann man auch anders ausdrücken … damenhafter.“ „Kann ich nicht! Mich macht es wütend, durch ein blankpoliertes Haus zu latschen und nur das zu Gesicht zu bekommen, was völlig unverfänglich ist. Keine Geschäftsunterlagen, keine persönlichen Fotos, keine Papiere, nicht mal eine Postkarte. Stattdessen Kugelschreiber zum Abwinken.“ „Ich mache trotzdem meine Tests“, entgegnete Maria indigniert. Bevor Irene erneut lospoltern konnte, sagte Martin: „Wir sind schon auf deine Ergebnisse gespannt. Und auf deine auch, Heinz. Wir sind hier fertig.“

Vor der Haustür wartete Hubert. „Gibt es neue Erkenntnisse?“, fragte er Irene. „Nein. Es bleibt vorerst bei einem offensichtlichen Unfall, den es aber nicht hätte geben dürfen.“ „Dann müsst ihr nun doch einen kniffligen Mordfall aufklären. Hmm, schon nach zwölf Uhr … Habt ihr Lust, Essen zu gehen?

---ENDE DER LESEPROBE---