Wald-Flucht - Sophie Lenz - E-Book

Wald-Flucht E-Book

Sophie Lenz

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Beschreibung

Bei der Suche nach der vermisst gemeldeten Andrea Huber findet die Polizei am Isarhochufer einen ermordeten Mann. Hat dieses Verbrechen mit dem Verschwinden der jungen Frau zu tun? Nicht nur diese Frage beschäftigt das Team von Martin Behringer. An einer entlegenen Stelle im Forstenrieder Park wird von einem Hund ein Toter erschnüffelt. Nicht weit davon entfernt liegt eine halb verweste Leiche. Hat sich hier jemand einen privaten Friedhof angelegt? Bei seinen Ermittlungen sieht sich das Team mit den Risiken und Problemen einer globalisierten Welt konfrontiert. Irene Meier entwickelt erneut aberwitzige Pläne, um die Täter zu fassen. Dabei ist sie auch diesmal auf eine Zusammenarbeit mit der spanischen Drogenfahnderin Ana Maria Garcia Seco angewiesen.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Das Team

Donnerstag, 14.02.

Freitag, 15.02.

Samstag, 16.02.

Sonntag, 17.02.

Montag, 18.02.

Dienstag, 19.02.

Mittwoch, 20.02.

Donnerstag, 21.02.

Freitag, 22.02.

Sonntag, 24.02.

Montag, 25.02.

Dienstag, 26.02.

Mittwoch, 27.02.

Donnerstag, 28.02.

Freitag, 01.03.

Samstag, 02.03.

Sonntag, 03.03.

Montag, 04.03.

Dienstag, 05.03.

Mittwoch, 06.03.

Anmerkung

Impressum

Das Team

Irene Meier, vor drei Monaten von Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder: Ihr Chef, Martin Behringer, hat die höchste Aufklärungsquote und erreicht dies mit allerhand Tricksereien.Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, ermittelt mit Menschenkenntnis und Gespür für Details. Um moderne Technik machte er lange Zeit einen großen Bogen. Erst ein Mordfall in einer Softwarefirma brachte ihn in intensiven Kontakt mit diesem „Neuland“ und einer schrägen Gräfin. Die jüngeren Mitarbeiter, Hans Baumann und Stefan Burghoff zeigten bisher wenig bis gar kein Interesse an den Mordermittlungen, und Martin nahm dies hin. Doch gerade Stefan leistete überraschenderweise bei der Lösung des letzten Falls den entscheidenden Beitrag.Werner Mohr, ein Innendienstmitarbeiter mit einem weitverzweigten Kontaktnetzwerk, verschafft sich wichtige Informationen auf dem kurzen Dienstweg. Als sich für ihn die Gelegenheit bietet, im Außendienst mitzumischen, ergreift er diese Chance.

Irene hat sich mit ihrem Ideenreichtum und Scharfsinn einen festen Platz im Team erobert. Aber nicht nur das: Sie und Martin sind schon längst ein Liebespaar, was sie jedoch vor Werner und Hans nach wie vor geheim halten.

Weitere Personen:

Ulrich Weinziertl: Behringers Chef Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner Maria Zeilinger: Spurensicherung Erwin Lehmann: Spurensicherung Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale Berthold: Leiter einer Spezialabteilung Mario: Mitarbeiter dieser Spezialabteilung Alfred Bruckmann: Zoll München

Ana Maria Garcia Seco: Drogenfahnderin in Malaga

Monika Grobowski: U-17-Fußballspielerin Sandra Meisner: U-17-Fußballspielerin

Dr. Peter Sommerfeld: Firmenchef der Isar Software AG Victoria von Herrmsdorff (Vicky): Software-Entwicklerin Dr. Brigitte Horten: Software-Entwicklerin Evelyn Schäfer: Sekretärin Stefanie Merz: Buchhalterin

Donnerstag, 14.02.

Werner ließ die schwere Eingangstür hinter sich ins Schloss fallen. Martins Telefon klingelte. Rasch knipste er das Licht an. Kaum flackerten die Leuchtstoffröhren an der Decke auf, sprintete er schon quer durchs Büro, riss die Verbindungstür auf und griff sich von der anderen Seite des Schreibtisches den Hörer. „Werner … Mohr“, stieß er abgehetzt hervor und erkannte sogleich die Nummer im Display. Ein Anruf aus der Einsatzzentrale um diese Zeit konnte nur eins bedeuten: Ein neuer Fall! „Herbert … Reiser“, kam es ebenso kurzatmig zurück. „Bin … gerade gekommen.“ „Weiß ich ja, ich hab's vorhin schon mal bei dir und Freddie probiert.“ „Erzähl mal, dann kann ich … erst mal verschnaufen.“ „Tja, wir haben einen Toten gefunden. Gestern Abend um 18:30 Uhr …“ In der langen Pause drifteten Werners Gedanken davon. Herbert ließ sie eine Weile herumwandern, bevor er weitersprach: „Ich weiß, was du jetzt denkst. Du fragst dich, ob die Leiche noch immer da liegt und darauf wartet, bis jemand von euch vorbeischaut. Aber ich kann dich beruhigen. Die Spurensicherung hat sich bereits gründlich umgesehen und den Toten danach abtransportieren lassen. Es war ohnehin ein seltsamer Fund. Der Mühlbauer hat sich auch ziemlich gewundert.“ „Wieso seltsam? Was war denn diesmal anders?“ Herbert genoss es so richtig, Spannung aufzubauen. „Hab ich jetzt deine Aufmerksamkeit? … Nun, es war so: Eine junge Frau wird seit Rosenmontag vermisst. Und der einzige Hinweis war, dass sie öfter am Isarhochufer bei Höllriegelskreuth spazieren gegangen ist. Also wurde mit Spürhunden nach ihr gesucht. An einer Böschung hat man dann tatsächlich eine Leiche gefunden … die Leiche eines Mannes.“ „Einen toten Mann?“ „Tja, das Leben hält einige Überraschungen bereit. Manchmal sucht man seine Schlüssel und findet …“ „Schon gut, ich bin nur etwas irritiert.“ „Nicht nur du. Der Tote war übrigens trotz der winterlichen Temperaturen nicht mehr ganz frisch, und so konnten wir diesmal ausnahmsweise auch ohne euch auskommen. Oder hättest du dich gefreut, nach dem Abendessen quasi als Nachtisch eine gut abgehangene Leiche serviert zu bekommen? Bist du am Ende sogar … enttäuscht?“ Ruhig antwortete Werner: „Nein, ihr habt das schon richtig gemacht. Wir wollen nur ganz frische Leichen sehen.“ „Wir haben allerdings keine Ahnung, wer der Mann ist. Er hatte keine Ausweispapiere dabei.“ „Habt ihr dann wenigstens die Anschrift des Mörders?“ „Ich dachte mir schon, dass du irgendwann unverschämt wirst!“ „Man wird ja noch fragen dürfen.“ „Also gut, schreib mit: Der Mörder ist … unbekannt.“ „Ach, der schon wieder. Der reinste Serientäter!“ „Na, den einen oder anderen habt ihr doch erwischt. Also geht nicht alles auf sein Konto.“ „Stimmt, hin und wieder stellt sich ein reumütiger Täter.“ „Nur keine falsche Bescheidenheit!“, widersprach Herbert vehement. „Eure Aufklärungsquote ist doch hervorragend. Und darunter sind nicht nur Täter, die sich nach einem warmen Zimmer und kostenloser Verpflegung sehnen. Aber jetzt muss ich schön langsam Schluss machen, sonst gewöhnst du dich noch an unsere Plauderstunde. Und beim nächsten Mal bin ich dann schuld, wenn eine frische Leiche kalt wird, bevor ich dir gesagt habe, wo du hinfahren sollst.“ „Damit ist ja alles gesagt. Danke für deinen Anruf, war nett. Du glaubst gar nicht, wie einsam man hier zwischen sieben und acht Uhr morgens sein kann. Grüße an die Familie.“ Er kratzte mit dem Finger am Mikrophon des Hörers. „Hey! Warte! Willst du nicht wenigstens die ersten Obduktionsergebnisse erfahren? Der Mühlbauer hat bis ein Uhr durchgearbeitet. Soll diese besondere Leistung umsonst gewesen sein?“ „Gut, dann lass mal hören.“ „Weißt du was, jetzt mag ich nicht mehr. Mach dir einfach in der Rechtsmedizin selbst ein Bild vom Toten! Musst es ja nicht ins Familienalbum kleben. Ist doch ein seltenes Ereignis, dass der Obduktionsbericht dort schon auf dich wartet.“ „Werde ich machen. Hat mich wirklich gefreut, mal in Ruhe mit dir zu reden.“ „Mir hat das auch gut getan. Normalerweise geht es ja um Leben und Tod bei meinen Anrufen.“ „Soweit ich mich erinnere, wohl eher nur um Letzteres.“ „Da hast du auch wieder recht. Ich hab übrigens schon gehört, dass du jetzt viel mit Freddie unterwegs bist. Wenn er kommt, chauffiert er dich bestimmt gern zur Rechtsmedizin.“ „Ich muss nur den Daumen heben, dann nimmt er mich mit. Wenn ich schon früher gewusst hätte, wie einfach das ist, hätte ich mich von ihm auch zum Einkaufen fahren lassen.“ „Nun, vielleicht entdeckst du ja in der Rechtsmedizin einen günstigen Kühlschrank, den dir Freddie gleich nach Hause transportiert. Deine Frau wird begeistert sein.“ „Wohl kaum! Diese Art Kühlschrank lässt sich bestimmt nicht so leicht abtauen wie der unsrige.“ „Mist! Daran hab ich nicht gedacht. Ich werde meinen wohl wieder zurückgeben. Der war allerdings im Preis herabgesetzt, weil ich ihn gebraucht gekauft habe.“ „Tja, dann wirst du ihn behalten müssen.“ „Das Schubfach ist auch nicht so praktisch, wie ich zuerst gedacht habe. Der Freund meines Sohnes hat sich die Hand eingeklemmt, als er … hineingeschoben wurde.“ „Hältst du es für gut, dass Elfjährige mit Kühlschränken spielen?“ „Wer weiß. Vielleicht wird mein Sohn mal Rechtsmediziner. Er und sein Freund spielen fast täglich Autopsie.“ „Ist immer gut, einen Arzt im Hause zu haben.“ „Sehe ich auch so. Also dann Grüße an die Kollegen. Man spricht sich ja so selten.“ „Tja, du rufst ja nur an, wenn ein Toter rumliegt, um den wir uns kümmern sollen. Möchtest du etwa, dass in München noch mehr Leute umgebracht werden?“ „Nein, natürlich nicht! Wir treffen uns ja sowieso bald bei den Meetings zur Effizienzsteigerung.“ Etwas missmutig erinnerte sich Werner an die Einladung. „Ach ja, dann lernen wir, wie man ein Gespräch wie dieses verkürzt. Wahrscheinlich musst du uns dann nur eine vierstellige Zahl nennen, und schon fahren wir los.“ „Und wenn ich die falsche Nummer sage, fahrt ihr zum Wertstoffhof statt in die Rechtsmedizin.“ „Und wenn ich die falsche Nummer nachschlage, fahren wir in die Staatskanzlei oder in die Stadtteilbücherei.“ „Tja, also das mit den Zahlen ist noch nicht der Bringer. Falls so ein System vorgeschlagen wird, kennen wir bereits die Schwachpunkte.“ „Glaubst du wirklich, diese Meetings bewegen sich auf so einem Niveau?“ „Diese Marketing-Typen, die hier herumlaufen, lassen so etwas vermuten.“ „Marketing? Du meinst, für die ist Mord und Totschlag ein Geschäft?“ „Ist es doch für uns auch … am Monatsende.“ „Okay, dann erfülle ich jetzt erst mal mit Freddie meinen Kontrakt.“ „So ist es recht.“ „Ich höre was. Wenn das Freddie ist, fahren wir gleich los.“ „Lasst euch Zeit! Du kannst also noch in aller Ruhe meine E-Mail für Freddie ausdrucken. Er steht ja auf normale Post. Die Leiche läuft euch nicht mehr davon.“ „Dann sind wir ja beruhigt.“ Werner legte amüsiert auf.

„Du kannst die Jacke gleich anlassen!“, rief er Freddie entgegen, der zur Tür hereinkam. „Wieso? Ist die Heizung kaputt?“ Jetzt erst merkte Werner, dass er noch immer seinen dicken Anorak anhatte. „Nein, Herbert hat angerufen. Ein Toter. Allerdings ist der bereits in der Rechtsmedizin gelandet. Der Autopsiebericht ist auch schon fertig. Wir sollen ihn uns dort mal durchlesen.“ „Also schön, vielleicht finden wir ein paar Rechtschreibfehler. Na hoffentlich ist er nicht wieder in Latein.“ „Nein, den Toten hat nicht unser Professor seziert, sondern der Mühlbauer.“ „Was, wirklich? Der war doch schon lange nicht mehr nüchtern genug, um überhaupt ans Telefon zu gehen.“ „Ich hab mich ja auch gewundert. Vielleicht hat Herbert da etwas falsch verstanden.“ „Wir werden ja sehen, wer uns den Bericht vorliest.“

Professor Dr. Dr. Hubert Reinmüller stand am Seziertisch, als Freddie und Werner den Obduktionssaal im Institut für Rechtsmedizin betraten. „Hallo, ihr zwei. Das ist ja eine schöne Überraschung, dass ihr zu mir ins Reich der Toten hinabsteigt“, begrüßte sie der Rechtsmediziner überschwänglich wie alte Freunde und schlug schnell ein großes Tuch über den Leichnam. Freddie antwortete mit einem knappen Gruß. Dieser vertrauliche Umgang war ihm noch immer nicht geheuer. Über Jahre hinweg hatte ihn Hubert, wie er ihn seit kurzem nennen durfte, am Tatort mürrisch angeknurrt. Als er nun den Professor mit blutverschmierter Gummischürze und riesigen Gummihandschuhen vor sich stehen sah, musste er unwillkürlich an einen Schlachter denken. Ein Vergleich, der ihm sogleich peinlich war. Um diese Assoziation schnell wieder loszuwerden, wandte er seinen Blick ab, der jedoch an einer Metallschüssel mit Innereien hängen blieb, was ihn erst recht erschauern ließ. Freddie schluckte und schaute sich daraufhin scheinbar neugierig im weiß gekachelten Raum um. Schließlich sagte er: „Herbert Reiser hat doch allen Ernstes behauptet, du hättest deinem Kollegen das Tranchieren überlassen. Da hat er sich ja offensichtlich geirrt.“ Hubert lachte auf. „Na ja, gestern hat Mühlbauer tatsächlich eine kurze Trockenphase eingelegt. Um ein Uhr hatte er seinen Bericht fertig. Das scheint er danach gleich ausgiebig gefeiert zu haben. Jedenfalls habe ich ihn heute früh gegen 7:30 Uhr schnarchend in seinem Büro vorgefunden. Seine Alkoholfahne machte seinem Ruf alle Ehre. Wie ist es nur möglich, dass ein exzellenter Cognac genauso eine widerliche Ausdünstung hinterlässt wie billiger Fusel, sobald er verstoffwechselt ist? Mühlbauer schläft übrigens immer noch. Aber eines muss ich ihm lassen: Die Obduktion hat er absolut professionell ausgeführt. Sicherheitshalber hab ich den Toten erneut befragt. Und siehe da, er hat tatsächlich alle Behauptungen meines Kollegen bestätigt. Ihr könnt selber sehen.“ Hubert deutete auf einen Wagen mit Sezierbesteck seitlich von ihm. Freddie nahm den handgeschriebenen Autopsiebericht mit spitzen Fingern, las allerdings nur die markierten Stellen. Dann reichte er das Blatt an Werner weiter, während er das Gelesene überdachte. „Seltsam“, meinte Freddie schließlich. „Ohne deine Bestätigung hätte ich sofort vermutet, dass der letzte Vollrausch deines Kollegen einer zu viel war. Ist ja das erste Mal, dass wir im Wald einen Vergifteten auffinden.“ „So ging es mir anfangs auch.“ „Kannst du schon sagen, womit er vergiftet wurde? Oder hab ich die Antwort überlesen?“ „Mein Kollege konnte sich nicht dazu durchringen, so etwas Fragwürdiges in seinen Bericht zu schreiben. Aber es ist so: Diese Substanz ist nämlich ein weiterer Schlag ins Gesicht eines Rechtsmediziners. Die paralysierende Wirkung tritt sehr schnell ein. Damit scheidet aus, dass er sich daheim vergiftet hat und danach noch spazieren gegangen ist. Die Dosis im Blut hätte außerdem ohne Weiteres für zwölf Personen gereicht. Eine ganz schöne Verschwendung, wenn ihr mich fragt. Hätte zu gerne gewusst, wo die Einstichstelle ist, aber der Mann lag seit etwa fünf Tagen im Freien.“ „Einstichstelle? Warum keine Giftpille oder eine gehörige Überdosis Tabletten?“ Hubert deutete auf die Innereien und fragte: „Darf ich ins Detail gehen?“ „Nicht nötig. Wir suchen also einen Mörder, der ihm die Nadel gesetzt hat.“ „Tja und von dem gibt es keine einzige Spur. Der Tote wurde an einer Böschung unterhalb eines Waldwegs gefunden und dorthin führten nur seine eigenen Fußspuren. Nun, vielleicht hat mein Kollege angesichts dieser Diskrepanz beschlossen, das Ergebnis nicht so nüchtern zu betrachten.“ Freddie fragte irritiert: „Warum liegt kein ordinärer Suizid vor?“ „Dieses Gift ist nicht gerade für einen schmerzfreien Exitus bekannt. Es führt letztlich zu allgemeinem Organversagen, begleitet von qualvollen Spasmen. Er konnte sich sozusagen selber beim Sterben zuschauen. Schade um den Mann. Bei seinem Allgemeinzustand hätte er gut und gerne noch 30 Jahre leben können.“ „Kann er gehofft haben, dass er mit der erhöhten Dosis zwölfmal schneller stirbt?“ „Im Gegenteil. Gerade deshalb konnte der Mann keine zehn Schritte mehr gehen. Aber tot war er vermutlich erst nach zwei Stunden.“ „Dann müssen wir also jemanden finden, der ihn nicht mochte und es trotzdem geschafft hat, ihm kurz bevor er den Waldweg verlassen hat, das Gift zu injizieren.“ „Exakt! Wollt ihr den Rest der Cognacflasche vom Mühlbauer oder nehmt ihr die Ermittlungen auf?“ „Wir nehmen die Fla… will sagen: die Ermittlungen auf. Aber es wird wohl heute keine Verhaftung mehr geben. Der Tote hat sich also nicht nur mit den falschen Leuten eingelassen, sondern hat auch noch den Fehler begangen, sich ohne Ausweispapiere im Freien aufzuhalten.“ „Dabei wirkt er recht seriös. Wollt ihr einen Blick auf ihn werfen? Ich hatte allerdings noch keine Zeit ihn zuzunähen.“ Hubert schaute in angewiderte Gesichter und fragte grinsend: „Wollt ihr?“ Freddie überwand seinen Widerwillen, um nicht als Schwächling dazustehen. „Warum nicht, wenn wir schon da sind.“ Er stellte sich seitlich neben Hubert, der das blaue Tuch mit Schwung weg zog, als würde er ein Denkmal enthüllen. Freddie zuckte zusammen. Er kniff ein Auge zu, als wäre der Anblick auf diese Weise nur noch halb so gruselig. „Hm, interessant“, brummelte er, senkte den Kopf und fixierte seine Fingernägel. Werner unterdrückte einen leichten Würgereiz. Der erste flüchtige Blick genügte ihm vollauf. Und so zog er es von da ab vor, Freddies umfängliche Statur als Sichtschutz zu nutzen. „Genügt euch das?“ Als beide nickten, reichte Hubert ihnen einen Ausdruck. „Die Technik macht's möglich: So dürfte der Mann letzte Woche noch ausgesehen haben.“ „Echt toll“, meinte Freddie erleichtert. „Ich hab schon befürchtet, wir suchen jemanden, aus dem bereits die Maden heraus kriechen. Nun, dann sollten wir zuerst mal herausfinden, ob ihn jemand vermisst.“ „Er trug bei seinem Waldspaziergang übrigens tatsächlich einen teuren Anzug, Krawatte und polierte Schuhe.“ „Seine Ermordung wird ja immer absurder. Dann haben wir ja einiges zu klären …“ „Viel Erfolg und Grüße an Irene und Martin! Ich werde jetzt mal den Mühlbauer wachrütteln und ihm sagen, dass er mit seinem Ergebnis richtig lag. Seinen Befund hat er mit Bleistift auf ein Post-it notiert und auf den Bericht geklebt. Er dachte wohl, dass er sich geirrt hat.“ „Dann auch einen Gruß an deinen Kollegen. Ich hab ihn ja schon lange nicht mehr getroffen.“ Hubert seufzte. „Ich auch nicht. Obwohl er fast täglich hier herumhängt.“

Auf der Rückfahrt ins Kommissariat zückte Werner sein Diensthandy. „Ich frag gleich mal, ob eine passende Vermisstenanzeige vorliegt. Ich kenne da jemanden.“ „Hallo Werner!“, meldete sich eine hoch erfreute Frauenstimme, wie deutlich im Auto zu hören war. „Schön, mal wieder mit dir zu plaudern. Wie geht's dir denn?“ „Wir haben einen nicht identifizierbaren Toten“, antwortete Werner betont sachlich. „Wir müssten wissen, ob er als vermisst gemeldet wurde.“ „Verstehe ...“, kam es knapp und leicht verschnupft zurück. Weil Werner es vermieden hatte, den Toten zu betrachten, gab er lediglich die grobe Personenbeschreibung durch, wie sie im Autopsiebericht stand. Um die Stimmung noch zu retten, fügte er hinzu: „Ich ruf dich bald mal an, Sabrina. Dann …“ Er schaute abwartend zu Freddie. Der machte eine aufmunternde Geste, und sogleich sprudelte es aus Werner heraus: „Dann musst du mir unbedingt erzählen, wie du es beim Tennisturnier auf den dritten Platz geschafft hast, obwohl die anderen Teilnehmerinnen fast schon Profis sind.“ Die begeisterte Stimme überschlug sich: „Das hast du mitbekommen? War doch nur eine kleine Randnotiz … Ich schau sofort, ob ich was für dich herausfinde.“ „Prima!“ Werner steckte sein Handy weg. „So klingt das gleich viel besser!“, kommentierte Freddie zufrieden. „Sabrina ist leidenschaftliche Tennisspielerin.“ „Wäre mir nicht aufgefallen.“ „Die Beschreibung wird ihr kaum weiterhelfen.“ Er zögerte und gestand schließlich: „Ich hab den Toten leider nicht allzu genau angeschaut. Ich wollte mir diesen grässlichen Anblick ersparen … Ist mir etwas peinlich.“ „Muss es nicht. Ich kann mich auch nicht an das Ausweiden von Menschen gewöhnen.“ Augenblicklich sah er wieder die Schale mit den blutigen Innereien vor sich, was sich deutlich in seiner Miene widerspiegelte. „Ob Irene und Martin abgebrühter sind?“ „Martin verträgt schon einiges und behält dabei noch einen kühlen Kopf. Bei Irene weiß ich nicht so recht.“

Freddie bog links ab, fuhr durch die Einfahrt auf den Parkplatz des Kommissariats und verdrehte die Augen: Hans und Stefan standen vor der Tür und rauchten. „Na hoffentlich liegt nächste Woche noch genug Schnee“, schnappte Freddie im Vorübergehen auf. Interessiert blieb er stehen: „Wo geht es denn diesmal hin, Stefan?“ Der antwortete verdutzt: „Nach Ischgl.“ „Dort war ich auch schon beim Skifahren.“ „Du?“, stieß Hans abfällig hervor. „Ja, ich!“, erwiderte Freddie sichtlich verärgert. „Aber, du …“ Hans starrte auf Freddies Bauch, der sich unter der Trachtenjacke hervor wölbte. „Pass nur auf, dass dich dort nicht wieder eine Mörderin für ihre Zwecke benutzt und sich dann bei uns über deine mangelhafte Standfestigkeit beschwert.“ Hans lief rot an und drehte sich weg.

Vor der schweren Eingangstür blieb Freddie stehen. Immer noch verärgert sagte er zu Werner: „Hans soll sich bloß zusammenreißen! Einer Mörderin ein Alibi geben und gleich wieder frech werden.“ Plötzlich lachte er jedoch. „Ich war damals sehr sicher auf den Brettern. Elisabeth hat das richtig imponiert. Wahrscheinlich hat sie mich nicht zuletzt deswegen geheiratet. Ihre Eltern wohnen in Garmisch. Sie ist sozusagen mit Skiern aufgewachsen. Und ich als Stadtmensch konnte mit ihr mithalten.“ Er streckte sich stolz durch und wirkte gleich um einiges schlanker. Mit neuem Elan öffnete er die Tür und horchte in den Raum hinein. Als er die Stimmen von Irene und Martin vernahm, gab er Werner ein Zeichen, ihm zu folgen. Wie üblich klopfte er zaghaft an die Tür seines Chefs, obwohl sie nur angelehnt war. „Komm nur rein!“, rief Martin gut gelaunt hinter dem Monitor hervor. Irene saß auf ihrem Platz am Besprechungstisch, als hätte sie ebenfalls bereits auf die zwei gewartet. „Was gibt es Neues?“ Extra cool sagte Werner noch im Stehen: „Wir haben bei Hubert einen ziemlich frostigen Typ getroffen. Der lag seit mindestens fünf Tagen in der Nähe von Höllriegelskreuth neben einem Weg am Isarhochufer.“ Er schluckte und fügte dann leise hinzu: „Der Mann wurde mit einer Giftinjektion für zwölf Personen getötet. Und obwohl er danach nicht mehr weit gehen konnte, musste er zwei Stunden leiden, bevor er qualvoll starb.“ „Zwei Stunden?“ wiederholte Irene betroffen, um dann laut zu überlegen: „Was sagt uns das über den Mörder? War er besonders brutal oder stümperhaft?“ „Brutal auf jeden Fall! Und wir wissen nicht mal, wer der Tote ist: Deshalb hab ich schon etwas angeleiert.“ Irene nickte. „Eine Sabrina Mendel aus dem Präsidium hat deswegen vorhin angerufen. Bislang wurde niemand vermisst gemeldet, auf den die Beschreibung passen könnte. Aber sie bleibt für dich am Ball. Das bringt uns also nicht weiter.“ Enttäuscht ließ sich Freddie auf seinen Stuhl am Besprechungstisch fallen. „Wir hätten wohl doch die Cognacflasche vom Mühlbauer mitnehmen sollen.“ „Dieses Höllriegelskreuth gehört das noch zu München?“, wollte Irene wissen. „Nein, das liegt südlich davon und gehört zur Gemeinde Pullach“, klärte Martin sie auf, während er mit der Rückenlehne zu wippen begann. „Freizeitmäßig kann man Höllriegelskreuth allerdings zu München rechnen. Mit der S-Bahn ist es gut zu erreichen. Und von dort kann man in den Wäldern am Isarhochufer entlang spazieren und immer wieder einen Blick auf das circa 20 Meter tiefer liegende grüne Flussband werfen. Ist schon eindrucksvoll.“ Freddie grinste, weil die romantisierende Beschreibung klang, als würde sie aus einem Reiseführer zitiert. Aber er verstand, was Martin damit sagen wollte. „Wenn wir davon ausgehen, dass der Tote dort ebenfalls nur seine Freizeit verbracht hat, bleibt uns womöglich nichts anderes übrig, als an jeder Tür zu klingeln und zu warten, ob jemand öffnet. Oder alternativ im Internet nach München, männlich, circa 55 Jahre suchen und alle Kontaktanzeigen zu ignorieren. Du verstehst es wirklich, uns den letzten Rest Hoffnung zu rauben.“ „Tja, dann kann ich euch ja gleich noch sagen: Seine Fingerabdrücke sind nirgends registriert. Maria hat uns das bereits mitgeteilt.“ In scharfem Ton fügte er hinzu: „Also, worauf wartet ihr noch? Morgen liegt euer Bericht auf meinem Schreibtisch! Haben wir uns verstanden?“ Freddie hob seinen schweren Körper kurz an, als würde er der Aufforderung seines Chefs willfährig nachkommen. Grinsend ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen und sagte: „Vielleicht kann ja sein Foto jemandem im Internet zugeordnet werden. Ich hab gehört, dass so was bei Facebook ganz ordentlich funktioniert. Aber bei meinem Account ist das noch nicht aktiviert.“ „Du bist jetzt auch auf Facebook?“, fragte Werner ungläubig. „Sandra und Moni haben mich eingeladen. Auf ein Foto von mir hab ich verzichtet. Und beim Geburtsdatum hab ich mir die letzten 20 Jahre gespart. Ich möchte nicht andauernd Rheumasalben angeboten bekommen.“ „Dann sind wir ja fast gleich alt. Findest du das in Ordnung, dass du dich mit falschen Angaben an 16-jährige Schülerinnen ran machst?“ Werner funkelte Freddie entrüstet an. „Ach woher! Ihre Facebook-Freundinnen sind doch ebenfalls im U17-Fußballteam, die kennen mich von unseren Ermittlungen her und wissen ganz genau, was für eine Wampn ich mit mir herumschlepp.“ „So so, unsere Ermittlungen …“ „Wie geht’s Sandra denn?“, grätschte Irene dazwischen. „Sie darf erst Anfang Mai mit dem Training beginnen.“ „Erst? Vor gerade mal fünf Wochen dachten wir, sie würde die Schussverletzung nicht überleben. Und jetzt kann sie es kaum erwarten, sich mit den anderen zu raufen.“ „Raufen? Du wirst wohl nie ein Fußballfan!“ „Aber sie riskiert doch buchstäblich Hals- und Beinbruch, wenn sie sich nicht schont und zu früh mitspielt.“ „Seit sie regelmäßig beim Training zusieht, macht sie sich ernsthafte Sorgen, ob sie jemals wieder mitspielen darf. Sie ist ziemlich frustriert, weil Moni dank ihrer Tricks unangefochten die Nummer eins ist.“ „Also schön: Sag Sandra, dass Martin ihr ein paar seiner Tricks verrät. Das wird sie hoffentlich trösten.“ Freddie lächelte. „Ich werde mal mit ihr chatten.“ Irene verdrehte die Augen und wollte gerade einen gepfefferten Kommentar rauslassen. Weil nun aber die Stimmen von Hans und Stefan aus dem Nachbarbüro zu ihnen herüberdrangen, brach das Geplänkel augenblicklich ab. „Gibt es für mich auch was zu tun?“, fragte Stefan interessiert. Martin winkte ihn herein und informierte ihn über den neuen Fall. „Sieht nicht gut aus“, meinte Stefan abschließend. „Einen Toten ohne irgendeinen konkreten Anhaltspunkt identifizieren … Wo setzen wir an?“ Ganz in Gedanken versunken murmelte Irene: „In der Mail von Herbert stand doch etwas von einer vermissten jungen Frau. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass die Spürhunde bei der Suche nach ihr auf seine Leiche gestoßen sind.“ Martin überlegte kurz und nickte dann anerkennend. „Normalerweise finden die Vermissten nach den Faschingstagen wieder heim. Aber diesmal könnte tatsächlich mehr dahinter stecken.“ Er wandte sich seinem Computer zu und öffnete die Mail von Herbert Reiser. „Die Vermisste heißt Andrea Huber.“ Martin erhob sich und ging ins Nachbarbüro, wo Hans völlig unbeteiligt an seinem Schreibtisch saß. Das ist wieder typisch, dachte Martin verärgert. Nach einem Räuspern sagte er in strengem Ton: „Schau mal in die letzte Mail von Herbert. Dort ist eine Telefonnummer von einem Ehepaar angegeben, das eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat. Ruf gleich mal an und frag nach, ob die vermisste Frau inzwischen aufgetaucht ist.“ Hans nickte. Martin blieb stehen und wartete, bis er tatsächlich die Nummer wählte. Danach gesellte er sich wieder zu den anderen. Auf dem Besprechungstisch lag nun der Autopsiebericht und daneben ein Foto des Toten. Martin betrachtete das schmale Gesicht mit dem frischen Teint, den tiefliegenden Augen und dem weichen Mund. Der Gesichtsausdruck wirkte überraschend lebendig. „Hubert hat das Foto ganz schön aufgehübscht“, erklärte Freddie und rümpfte die Nase. „Dem hatte man die fünf Tage im Unterholz deutlich angesehen. Ist sehr fürsorglich von ihm, den Toten auferstehen zu lassen, damit ihn jemand wiedererkennt.“ „Was meint ihr, um wen könnte es sich handeln?“ Martin blickte zuerst in die Richtung von Stefan, weil der beim letzten Fall entscheidend zur Lösung beigetragen hatte. Der blinzelte aufgeregt, zögerte kurz, bevor er leicht verlegen sagte: „Irgendwie erinnert er mich an einen meiner Lehrer am Gymnasium.“ „Durchaus möglich. Als er vor fünf Tagen ermordet wurde, war gerade Ferienbeginn. Falls er allein lebt, ist das vielleicht der Grund, warum er noch nicht vermisst wurde. Dann fällt sein unentschuldigtes Fernbleiben erst auf, wenn am nächsten Montag der Unterricht wieder beginnt.“ Freddie ließ seine wenigen Beobachtungen in der Rechtsmedizin Revue passieren: „Mir sind seine feingliedrigen Hände und die gepflegten Fingernägel aufgefallen. Er trug keinen Ehering, weder rechts noch links. Ist zwar nicht zwingend für eine Ehe, aber immerhin ein magerer Hinweis. Ich denke, er legte viel Wert auf seine äußere Erscheinung. Von der Statur her hat er sicher nicht mit schwerer körperlicher Arbeit sein Geld verdient. Dies alles könnte zu einem Pianisten passen. Oder aber auch zu einem Gymnasiallehrer, der Musik unterrichtet.“ Stefan entspannte sich etwas und reichte das Foto an Irene weiter. Sie betrachtete es intensiv und meinte schließlich: „Er wirkt sehr sympathisch. Wenn Hubert bei seinem Programm nicht extra angeklickt hat, dass der Tote fernsehtauglich aussehen soll, dann würde ich sagen, er war entweder ein Trickbetrüger oder vielleicht nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Hm … Das kann durchaus auch auf einen Lehrer zutreffen.“ „Manche von meinen waren an jedem Schultag am falschen Ort“, warf Freddie ein. In diesem Moment platzte Hans herein. Während sein Blick sich zwischen seinem Notizzettel und Martin hin- und herbewegte, berichtete er erstaunlich pflichtbewusst: „Andrea Huber wird noch immer vermisst. Ihre Vermieter, Herr und Frau Schindlbeck, haben sie am Rosenmontag um 14:15 Uhr als vermisst gemeldet. Frau Schindlbeck ist ziemlich verärgert, weil die Polizei nicht sofort nach ihrer Mieterin gesucht hat. Und nicht mal nach exakt 48 Stunden. Stattdessen musste sie sich gleich mehrmals anhören, dass die junge Frau schon nach Hause findet, sobald sie ihren Rausch ausgeschlafen hat. Dabei hatte Frau Schindlbeck extra betont, dass ihre Mieterin vor ihrem Verschwinden sehr unruhig war und sich wahrscheinlich bedroht fühlte. Sie hat uns angeboten, dass wir die Wohnung von Frau Huber jederzeit nach verwertbaren Hinweisen durchsuchen können.“ Während Hans nun Martin erwartungsvoll anschaute, wiederholte der nur mit ausdrucksloser Miene: „Verwertbare Hinweise … Die sehen wohl zu viele Krimis.“ Freddie zwinkerte Martin unauffällig zu. „Du bist ja Spezialist für Single-Wohnungen. Und Irene kann als Frau wahrscheinlich besser einschätzen, um was es da geht.“ „Wir fahren ja schon“, sagte Martin und sprang zeitgleich mit Irene auf. Er nahm die Notizen von Hans entgegen und stellte verwundert fest: Diesmal hat er sich ja tatsächlich Mühe gegeben, die Informationen säuberlich aufzuschreiben. Beim Hinausgehen drehte sich Martin noch mal kurz um und bedankte sich bei Hans.

Bevor Irene den Motor startete, hielt sie inne. „So so, du bist also ein Experte für das Single-Dasein?“ Martin zuckte mit den Schultern. „Freddie weiß eben, wie gerne wir gemeinsam ermitteln. Und darum lässt er uns den Vortritt, obwohl normalerweise er die Wohnungen von Tätern und Opfern inspiziert.“ „Er befürchtet wohl, dass es zwischen uns zu unkontrollierten Zärtlichkeiten kommt, wenn wir uns so lange nicht berühren dürfen.“ „Besser kann man sein Augenzwinkern nicht übersetzen.“ Daraufhin umarmten und küssten sie sich liebevoll. „Freddie hat uns gerettet. Ich hab gar nicht gemerkt, wie nötig ich es hatte.“ Irene startete den Motor, während Martin die Adresse ins Navi eingab.

Fünfundzwanzig Minuten später beäugten sie das gepflegte Einfamilienhaus aus den sechziger Jahren, das auf einer Seite bis nach oben mit Efeu bewachsen war. Der Weg zum Eingang führte an immergrünem Buchs und gestutzten Rosenstöcken vorbei. Martin läutete. Eine weißhaarige Dame öffnete die Tür einen Spaltbreit und fragte: „Wer sind Sie?“ „Kripo München, Hauptkommissar Behringer und meine Kollegin, Kommissarin Meier. Haben Sie mit meinem Mitarbeiter, Herrn Baumann, telefoniert?“, fragte Martin, während er seinen Ausweis hervorkramte. Sie nickte kaum merklich, nahm die Plastikkarte entgegen und begutachtete sie von beiden Seiten sorgfältig. Dann trat sie zurück und positionierte sich neben der nun einladend weit geöffneten Eingangstür. Vor ihnen stand eine Frau im Rentenalter, die trotz ihrer zierlichen Statur eine würdevolle Autorität ausstrahlte. „Freut mich, dass Sie doch noch den Weg hierher gefunden haben“, begrüßte sie die beiden mit vorwurfsvoller Miene. „Ich hätte eigentlich erwartet, dass Ihre Kollegen, die gestern mit den Hunden da waren, sich die Wohnung von Andrea ansehen.“ „Die Kollegen haben einen toten Mann gefunden, während sie das Gelände nach Frau Huber durchkämmten.“ Beide beobachteten sehr genau die Reaktion der Frau. Sie fasste sich ans Herz und stammelte entsetzt: „Ein toter Mann … auf dem Weg, den Andrea immer gegangen ist?“ Ein paar Sekunden verstrichen. „Vielleicht hat Andrea etwas Schreckliches gesehen und war deshalb so aufgeregt ... Aber bitte, kommen Sie doch herein!“ Irene und Martin streiften sich die Schuhe ab und betraten die enge Diele. Frau Schindlbeck schloss die Tür und schaltete das Licht an, wodurch sich der eben noch schummrige Raum schlagartig erhellte. Irene zeigte nun ebenfalls ihren Ausweis, worauf die alte Dame etwas murmelte, das in etwa so klang wie: Sie sind aber noch sehr jung.Martin kam gleich zur Sache: „Sie haben ja meinem Mitarbeiter von Ihrem Eindruck erzählt, dass Frau Huber sich vor ihrem Verschwinden bedroht fühlte. Wann ist Ihnen das aufgefallen?“ „Am letzten Sonntag.“ „Haben Sie Frau Huber auch am Freitag und Samstag getroffen?“ „Ja, da war sie so wie immer. Freundlich und hilfsbereit.“ Irene und Martin blickten sich fragend an. Wenn Frau Huber sich erst am Sonntag bedroht fühlte, wird sie den Mord am Freitag nicht beobachtet haben. Aber möglicherweise hat sie ja am Sonntag den Toten im Wald entdeckt. Martin zauberte aus seiner Jackentasche ein Foto hervor und reichte es Frau Schindlbeck. „Kennen Sie diesen Mann?“ Die Frau schaute sich das Porträtfoto lange an, hielt es dann eine Armlänge von sich weg und kniff die Augen zu. Schließlich legte sie es hinter sich auf eine schmale Kommode. „Ich werde meine Brille holen“, sagte sie und entfernte sich langsam. Irene und Martin standen da und warteten. Es dauerte. „Holt sie die Brille beim Optiker“, fragte Irene gerade ungeduldig, als Frau Schindlbeck wie aus dem Nichts plötzlich vor ihnen auftauchte, nun mit einer Lesebrille auf der Nase. Ein kurzer, strafender Blick streifte Irene. Erneut widmete Frau Schindlbeck ihre volle Aufmerksamkeit dem Foto, als müsste sie sich das Gesicht des Toten einprägen. Schließlich schüttelte sie energisch den Kopf. „Nein, er kommt mir nicht bekannt vor. Aber mein Mann ist ja auch da, wir können ihn fragen.“ Sie führte die beiden ins Wohnzimmer. Herr Schindlbeck faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf dem Tischchen neben sich ab und erhob sich behäbig aus seinem Ohrensessel. Dann reichte der hochgewachsene Mann den beiden zur Begrüßung die Hand. Wortlos nahm er von seiner Frau das Foto entgegen. Er betrachtete es und zupfte dabei an seinem struppigen, weißen Schnauzer. Auch Herr Schindlbeck ließ sich Zeit, bis er seinen Kommentar ab und das Foto zurück gab: „Nie gesehen, leider.“ Inzwischen hielt seine Frau ein Schlüsseletui in der Hand. „Ich zeige Ihnen jetzt die Einliegerwohnung im Dachgeschoss. Kommen Sie bitte mit. Aber ich muss Sie um etwas Geduld bitten. Ich bin nicht mehr die schnellste“, fügte sie wie entschuldigend in Richtung Irene hinzu. „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, entgegnete die.

Über eine gewundene Holztreppe folgten Irene und Martin Frau Schindlbeck nach oben. Bedächtig setzte die alte Dame jeweils einen Fuß nach dem anderen auf. Dabei stützte sie sich auf das Geländer, hielt jedoch ihren Rücken kerzengerade. Im 1. Stock blieb sie stehen und überreichte Irene den Zweitschlüssel. „Die Reinigungsfrau kommt einmal pro Woche. Sie ist die einzige, die neben Andrea Zugang zur Wohnung hat. So soll es auch bleiben, zumindest was mich anbelangt. Machen Sie ruhig Ihre Arbeit. Andrea hätte sicher nichts dagegen.“ „Wie Sie meinen“, sagte Irene erstaunt über diese Prinzipientreue. Und so stapften die beiden die restlichen Stufen alleine hoch. Als Martin kurz nach unten schaute, verharrte Frau Schindlbeck noch immer im 1. Stock.

Irene sperrte die Tür auf, öffnete sie weit und gab den Blick frei. Vor ihnen lag ein lichter Raum, der allerdings durch die tiefen Dachschrägen viel Platz einbüßte. Alles wirkte verspielt und frisch wie in einem Jungmädchenzimmer. Die wenigen locker verteilten Möbelstücke in unschuldigem Weiß bestanden aus einem Bett mit Überwurfdecke, einem Nachtkästchen, einem zweitürigem Schrank, einem Tisch mit zwei Stühlen sowie einem apricotfarbenem Sessel, auf dem ein brauner Plüsch-Elch thronte. In der Mitte des einfachen, hellen Holzbodens lag ein großer Wollteppich in zarten Pastelltönen, der dem Raum einen behaglichen Anstrich verlieh. Durch einen weißen Vorhang mit winzigen, verstreuten Kirschen gelangte man zur Kochnische, die lediglich aus einem Hängeschrank, einer Spüle, zwei Herdplatten sowie einem Kühlschrank bestand. Die einzige Tür führte in ein kleines, honiggelb gekacheltes Bad. Nach diesem ersten Überblick streiften sich die beiden Einmalhandschuhe über und begannen mit der Durchsuchung.Martin filzte den Kleiderschrank, Irene inspizierte das Bad und die Kochnische. Durch die offene Wohnungstür nahm Martin ein Hüsteln wahr. Er ging in den Flur hinaus und so sah er Frau Schindlbeck unverändert auf dem selben Fleck stehen. Sie hatte sich mit dem Rücken an das Geländer gelehnt und den Kopf nach hinten gebeugt. Als sich ihre Blicke kreuzten, fragte sie: „Kommen Sie zurecht?“ „Ja, danke. Es wäre allerdings einfacher, wenn wir wüssten, was fehlt und ob alles am üblichen Platz liegt.“ „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Andrea wohnt seit einem Jahr hier. Obwohl sie mich öfter zu sich hinauf gebeten hat, war ich noch nie in ihrem Zimmer. Ich wollte das einfach nicht. Andrea hat ein Recht auf ihre Privatsphäre. Wissen Sie, wir haben keine Kinder. Selbst wenn ich unsere Mieterinnen irgendwie als meine Töchter angesehen habe, so wollte ich doch nicht aufdringlich sein.“ „Verstehe. Hatte Frau Huber einen Freund?“ „Nein, aber ihre Freundinnen hatten Freunde. Ich weiß nicht, ob Andrea noch mehr Freundinnen hatte. Zwei kamen hin und wieder am Wochenende vorbei und holten sie ab. Sie blieben allerdings nur kurz. Für mehrere Leute ist es dort oben doch recht eng. Ihre Namen sind …“ Frau Schindlbecks Gesicht nahm einen angestrengten Ausdruck an. Dann schüttelte sie genervt den Kopf und seufzte. „Ich komme gerade nicht drauf. Andrea hat uns ja ohnehin nur die Vornamen genannt. Am Abend war sie immer zu Hause.“ „Wissen Sie, was sie beruflich macht?“ „Lange Zeit dachten wir, sie sei Studentin, wie ihre Vorgängerinnen auch. Aber vor etwa drei Monaten sind wir ihr zufällig beim Spazierengehen am Isarhochufer begegnet. Sie ist ziemlich erschrocken. Dann erklärte sie uns etwas verlegen, dass sie einige Probleme habe, in ihrem neuen Leben zurechtzukommen.“ „Wissen Sie Näheres?“, hakte Irene sofort nach, die nun auch in den Flur getreten war. „Nein! Wie bereits gesagt: Wir haben ihr nicht nachgeschnüffelt.“ In einem weicheren Tonfall fuhr Frau Schindlbeck fort: „Andrea tat uns leid. Und so haben wir uns danach noch mehr um sie gekümmert.“ „Und wo war sie am Wochenende?“ „Da war sie fast immer daheim.“ „Hier oben ist kein Computer. Hatte Frau Huber ein Smartphone?“ „Soviel ich weiß, hatte sie beides nicht. Andrea war anders als die jungen Frauen vor ihr. Die haben sich beschwert, weil wir kein DSL haben. Aber Andrea hat all diesen Schnickschnack nicht gebraucht. Ihr genügte es vollauf zu telefonieren.“ Ohne zu zögern, ging Martin zu dem einfachen Schalentelefon, das auf dem Nachtkästchen stand und drückte die Wahlwiederholung. Nach vier Klingeltönen meldete sich eine Frauenstimme: „Hey Andrea! Was war denn los? Warum hast du nicht zurückgerufen?“ „Behringer, Kripo München. Mit wem spreche ich?“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Frau am anderen Ende der Leitung reagierte: „Was bedeutet das?“ „Ihre Freundin wurde als vermisst gemeldet.“ „Vermisst? … Wie vermisst? … Seit wann?“ „Seit Montag. Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?“ „Am Sonntagnachmittag. Wir haben telefoniert.“ „Ist Ihnen dabei etwas Besonderes aufgefallen?“ „Was …? Nein. Andrea war wie sonst auch. Ich hab ihr ziemlich lange von den Problemen mit meinem Chef erzählt. Andrea kann wunderbar zuhören. Doch dann war die Verbindung plötzlich unterbrochen. Ich hab es später nochmal probiert, aber da hab ich sie nicht mehr erreicht.“ „Haben Sie gemeinsame Freunde?“ „Ja, Hanna. Hanna Kramer. Wir waren ein paarmal mit ihr und ihrem Freund aus.“ „Hat Andrea Huber auch einen Freund?“ „Nein, den hätte sie uns ganz bestimmt vorgestellt. Ich glaube, sie hatte genug von Männern. Beim Thema Beziehung hat sie schnell dicht gemacht.“ „Wie haben Sie sich kennengelernt?“ „In einer Eisdiele. Im Nu waren wir in ein angeregtes Gespräch vertieft … Die meiste Zeit hab allerdings ich geredet. Andrea ist mehr der ruhige Typ. Seither verabreden wir uns immer wieder mal.“ „Wissen Sie, was Frau Huber beruflich macht?“ „Sie hat wenig … eigentlich gar nichts über sich erzählt. Aber sie kannte sich echt super im Arbeitsleben aus. Ihre Tipps waren einfach phantastisch. Mein Chef ist ein ziemlicher Chauvinist, und wenn man ihn darauf anspricht, reagiert er cholerisch. Auch meine Kolleginnen haben Probleme mit diesem Ekelpaket.“ „Hat Frau Huber also gar nichts über ihre eigene Tätigkeit erzählt?“ „Nein, aber Andrea hatte ihren Job ganz sicher im Griff. Dank ihr ist es bei mir in der Arbeit etwas besser geworden.“ Frustriert fragte Martin: „Könnten Sie mir bitte die Nummer von Hanna Kramer geben?“ Noch während er deren Handynummer notierte, erkundigte er sich rasch: „Und mit wem habe ich gerade gesprochen?“ Die Frau schluckte und antwortete dann: „Elena Englbrecht.“ „Und wie erreiche ich Sie?“ „Ach so, das alte Telefon von Andrea hat ja nicht mal ein Display.“ Frau Englbrecht diktierte ihm ihre Nummer. „Wann haben Sie Andrea Huber zuletzt gesehen?“ „Am Sonntag zuvor. Moment mal … Ja, das war der 3. Februar.“ „Danke. Melden Sie sich bitte, falls Ihnen noch etwas einfällt. Und ebenfalls, wenn sich Ihre Freundin bei Ihnen rührt.“ Martin gab seine Telefonnummer durch und legte auf. Vom Treppengeländer hörte er Irene Frau Schindlbeck zurufen: „Haben Sie ein Foto von Ihrer Untermieterin?“ „Nein, leider nicht. Sie ist eine hübsche junge Dame. Tiefblaue Augen und strohblonde kurze Haare. Aber wir haben ja der Polizei bereits eine genaue Personenbeschreibung gegeben.“ Martin ging in den Flur zu Irene. Er lächelte ihr zu und lehnte sich dann über den Handlauf der Treppe, bevor er sagte: „Frau Huber hat zuletzt mit Elena Englbrecht telefoniert. Die andere Freundin heißt Hanna Kramer.“ „Freilich!“, rief Frau Schindlbeck erfreut über die wiedergewonnene Erinnerung. „Jetzt fallen mir auch die Namen ihrer Freunde ein: Dirk und Hendrik … Mein Gedächtnis!“ Dann ging sie langsam und wortlos den für sie beschwerlichen Weg zurück ins Erdgeschoss. Irene ließ sich Genaueres über das Telefonat mit Frau Englbrecht berichten. Ohne viel Hoffnung meinte sie: „Während du diese Hanna anrufst, werde ich mir nochmal das Badezimmer vornehmen.“ Martin schlug sein Notizbuch auf und wählte die Nummer, die Frau Englbrecht ihm gerade genannt hatte. „Behringer, Kripo München. … Nein, es geht um Ihre Freundin Andrea Huber … Sie wurde als vermisst gemeldet … Nein, das muss noch nichts Schlimmes bedeuten. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? … Also am Samstag, dem 2. Februar, waren Sie mit ihr in der Kunsthalle. Und wann haben Sie zuletzt mit ihr telefoniert? … Überlegen Sie ruhig … Freitagabend … Hat sich Frau Huber irgendwie anders als sonst verhalten? Fühlte sie sich vielleicht bedroht? … Also nicht … Ich habe Ihre Telefonnummer von Frau Englbrecht … Nein, ihr ist auch nichts aufgefallen … Nein, es muss nicht sein, dass ein Verbrechen vorliegt … Wo haben Sie Frau Huber kennengelernt?“ Erst nach längerer Zeit kam Martin wieder zu Wort. „In einer Eisdiele also. Wissen Sie, was Frau Huber beruflich gemacht hat? … Hat sie Ihnen denn gar nichts über sich erzählt? … Bitte sagen Sie uns Bescheid, falls sie sich bei Ihnen meldet.“ Martin teilte ihr seine Telefonnummer mit und verabschiedete sich. Irene lugte aus dem Bad ins Zimmer hervor. „Das bringt uns schon viel weiter: Ihre Freundinnen haben sich also zuletzt am 2. und 3. Februar mit ihr getroffen. Hm, am letzten Sonntag hat sie mit dieser Frau Englbrecht telefoniert.“ Sie blickte irritiert zum Nachtkästchen. „Das Telefon, es scheint ja einwandfrei zu funktionieren. Und trotzdem wurde das Gespräch mit ihr plötzlich unterbrochen? Kann es sein, dass Frau Huber vielleicht selbst …?“ Martins Gesicht hellte sich auf. „Das lässt sich schnell klären.“ Er tippte die Nummer von Frau Englbrecht in sein Diensthandy und ließ Irene mithören. „Hier nochmal Behringer, Kripo München. Können Sie mir sagen, worüber Sie mit Frau Huber gesprochen haben, als das Gespräch plötzlich abgebrochen wurde?“ Nach einer kurzen Pause kam die Antwort: „Nichts Besonderes. Ich hab Andrea von den Fotos im Internet erzählt. Dann fiel mir ein, dass sie ja weder einen Computer noch ein Smartphone hat. Ich wollte ihr gerade sagen, dass sie sich die ja bei mir anschauen kann. Aber da war die Verbindung schon weg.“ Martin bedankte sich und legte auf. Nachdenklich meinte Irene: „Könnte also tatsächlich sein, dass Frau Huber das Gespräch von sich aus abgebrochen hat, nachdem sie von den Fotos im Internet erfahren hat … Entweder waren es kompromittierende Fotos oder sie wollte überhaupt keine Fotos von sich im Netz.“ Martin zuckte mit den Achseln und rief ein drittes Mal an. „Sie schon wieder!“ Bevor Frau Englbrecht weiter ihren Unmut äußern konnte, fragte Martin drängend: „Was sind das für Fotos, die Sie ins Netz gestellt haben?“ „Ach so, Sie denken, … Nein, am Sonntagnachmittag waren wir im Kino und danach in einem Café. Solche Fotos. Sie können sie sich jederzeit im Netz anschauen.“ Frau Englbrecht nannte die Internetadresse. „War's das nun?“, fügte sie ungeduldig hinzu. „Ja. Falls ich weitere Fragen haben sollte, melde ich mich gerne nochmal bei Ihnen. Auf Wiederhören!“ Martin beendete grinsend das Gespräch. Irene griff zu ihrem Smartphone und gab die genannte Internetadresse ein. Kurz darauf sahen sie erstmals Fotos der Vermissten, eindeutig erkennbar an den strohblonden Haaren und den tiefblauen Augen, so wie Frau Schindlbeck sie beschrieben hatte. „Ich kann schon verstehen, dass man sie als Tochter adoptieren will“, meinte Irene. „Sie wirkt ein bisschen verträumt, aber auch verletzlich und schutzbedürftig. Dieses Foto werde ich gleich mal an Sabrina Mendel im Präsidium schicken. Vielleicht bleibt sie ja auch für mich am Ball.“ Martin meinte in sich gekehrt: „Sonderbar. Wir suchen schon wieder aufgrund eines Fotos nach jemanden.“ „Ein Foto und noch dazu ein Allerweltsname.“ „Moment mal! Hat nicht Frau Schindlbeck erzählt, dass Frau Huber mit ihrem neuen Leben nicht zurecht gekommen sei? Hast du irgendwelche Papiere oder Dokumente von ihr gefunden?“ „Nein. Jedenfalls hat sie sie nicht im Bad oder in der Küche aufbewahrt.“ „Im Schrank war auch nichts dergleichen. Falls sie bei einem ihrer Spaziergänge das Opfer eines Verbrechens wurde, dann müsste doch irgendetwas Persönliches wie ein Brief oder ein Dokument hier zu finden sein … Aber wo?“ Martin blickte sich ratlos um. „Hier garantiert nicht! Also haben wir bislang nur die Einschätzung dieser Oberlehrerin, dass ein Verbrechen vorliegt. Falls Frau Huber wirklich Angst hatte, könnte sie für eine Weile untergetaucht sein und deshalb alle ihre persönlichen Dokumente mitgenommen haben. Vielleicht ist sie sogar für immer verschwunden … Hm, dann hätte sie aber nicht so viele Sachen zurückgelassen. Oder sie wollte nur das Nötigste mitnehmen … Keine Ahnung.“ Irene ging grübelnd zurück ins Badezimmer und schaute sich erneut um. „Die Zahnbürste ist so gut wie neu und in einem Etui in diesem Schränkchen sind Ersatzbürsten für eine elektrische Zahnbürste. Die fehlt jedoch.“ „Vielleicht hat Frau Huber die Zahnbürste gekauft, weil ihre elektrische kaputt gegangen ist. Oder sie ist einfach zur traditionellen Reinigungsmethode zurückgekehrt und hat es nicht übers Herz gebracht, die Ersatzbürsten wegzuwerfen.“ „Wir finden für alles eine völlig harmlose Erklärung. Der Kühlschrank ist ziemlich leer. Und das, was Frau Huber dort an Vorräten aufbewahrt hat, sind lauter Lebensmittel, die noch länger haltbar sind, wie Butter, Marmelade, H-Milch. Ansonsten steht hier nur eine angebrochene Packung Knäckebrot herum, nichts Frisches, Verderbliches. Wenn ich in Urlaub fahre, mache ich das auch so. Nach überstürzter Flucht sieht es für mich jedenfalls nicht aus.“ Irene schaute sich nun ebenfalls im Kleiderschrank um. „Leichte Sommerkleidung, ein Sommermantel, Unterwäsche. Und hier: Drei Paar Pumps sowie Badeschlappen: Die hat sie wohl als Hausschuhe verwendet. Aber es ist schon sehr sonderbar, dass wir nicht ein Stück Papier gefunden haben: kein Notizbuch, kein Tagebuch, nicht mal eine Einkaufsliste.“ „Wie können wir herausfinden, was passiert ist?“ „Einen Zeugen gibt es ja“, sagte Irene verzückt, während sie sich dem Kuschel-Elch zuwandte. Sie hob ihn vom Sessel hoch und streichelte über sein weiches Geweih aus Filz. „Ist der süß … Jetzt sag schon, lässt dich deine Mama hier alleine zurück oder kommt sie wieder?“ Erwartungsvoll blickte Irene ihn an. Nach einer Weile nickte sie. „Du willst also nicht reden. Versteh schon, du verrätst deine Mama nicht. War ja nicht anders zu erwarten.“ Zu Martin sagte sie: „Sollen wir ihn mitnehmen und versuchen, ihn im Büro zum Sprechen zu bringen?“ Martin schüttelte lachend den Kopf. „Na, dann halt nicht.“ Vorsichtig setzte sie das Stofftier wieder auf den Sessel. „Wenn er uns nicht hilft, müssen wir eben selber ermitteln.“ Gemeinsam begannen sie einen zweiten Rundgang durch die Wohnung. „Ich werde aus dem Ganzen nicht schlau“, meinte Irene abschließend. „Am besten machen wir einfach mit unserem Routineprogramm weiter.“

Frau Schindlbeck erwartete die beiden alleine im Wohnzimmer. „Und was wollen Sie jetzt unternehmen?“ Martin antwortete mit einer Gegenfrage: „Könnten Sie uns bitte die Kontonummer von Frau Huber geben?“ „Nein, warum? Andrea hat die Miete immer bar bezahlt.“ Wie selbstverständlich zog Frau Schindlbeck aus einer Schublade einen Quittungsblock heraus und zeigte Martin die Durchschriften. Der fühlte sich in eine frühere Zeit versetzt. „Dann werden wir halt die Meldedaten einsehen.“ „Ich hab Ihrem Mitarbeiter doch ausdrücklich gesagt, dass Andrea wohl nicht bei der Gemeinde gemeldet ist!“, schnaubte Frau Schindlbeck ungehalten. „Hab mir schon gleich gedacht, dass der die Hälfte vergisst. Darum hab ich ihn extra ermahnt, er soll alles genau mitschreiben!“ Martin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Hat Ihnen Frau Huber denn wenigstens erzählt, wo sie zuvor gewohnt hat?“ Als er lediglich ein Kopfschütteln erntete, bohrte er nach: „Wo sie geboren, … aufgewachsen ist?“ „Sie wissen also rein gar nichts über diese Frau, die ein Jahr lang in Ihrem Haus gelebt hat. Das ist, gelinde gesagt, schon sehr sonderbar.“ Nur kurz zeigte Frau Schindlbeck ein betretenes Gesicht, das jedoch schnell einen schwärmerischen Ausdruck annahm: „Wir haben Andrea sofort angesehen, was sie für ein lieber Mensch ist. Warum sollten wir sie stundenlang mit Fragen löchern?“ Da Martin fassungslos schwieg, starrte ihn Frau Schindlbeck unverhohlen an. Die zierliche Frau stemmte die Hände in die Hüften und sagte energisch: „Nur weil wir alt sind, sind wir noch lange nicht blöd! Sie brauchen also nicht an unserer Menschenkenntnis zu zweifeln. Schließlich haben wir jahrzehntelang als Lehrer gearbeitet. Tun Sie endlich Ihre Pflicht und suchen Sie Andrea!“ Also doch Oberlehrerin, stellte Irene amüsiert fest. Aber die Kommissarin bin ich. Und wenn ich will, kann ich sogar ein ganz böser Cop sein! „Wir haben keine Dokumente gefunden, die nachweisen, dass Andrea Huber überhaupt ihr richtiger Name ist“, konstatierte Irene kühl. „Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Ihre Mieterin nichts dergleichen in ihrer Wohnung aufbewahrt?“ Frau Schindlbeck zuckte kurz zusammen. „Andrea verließ das Haus nie ohne ihre Umhängetasche. Ist doch naheliegend, dass sie ihre persönlichen Sachen mitgenommen hat. Aber warum, kann ich Ihnen auch nicht sagen.“ „Dann weiß die Reinigungsfrau wohl mehr über Frau Huber als Sie. Den Namen und die Adresse können Sie uns doch sicher sagen.“ Frau Schindlbeck funkelte Irene wild an. „Soll das heißen, Sie glauben uns nicht, dass Andrea etwas zugestoßen ist? Sie meinen, Andrea hätte sich mir nichts dir nichts aus dem Staub gemacht?“ „Sagen Sie uns einfach den Namen und die Adresse“, wiederholte Irene ungerührt. Ein strafender Blick traf Irene, der leicht übersetzbar war: Betragen Note 6! Dann faltete Frau Schindlbeck das Blatt Papier zusammen, das sie in Händen hielt. „Was haben Sie da?“, fragte Martin sogleich. „Die Personenbeschreibung von Andrea. Aber die interessiert Sie ja nicht.“ „Geben Sie mal her“, bat er in freundlichem Ton. Eine schulmeisterliche Personenbeschreibung,stellte Martin amüsiert fest. „Wir haben nun mal kein Foto von ihr“, sagte Frau Schindlbeck nun traurig. „Wir schon!“ „Was denn … Woher?“ „Von ihrer Freundin Elena.“ „Aber Sie glauben ja, dass Andrea ohne Grund verschwunden ist.“ Ihr ärgerlicher Blick schwenkte erneut zu Irene. Martin meinte konziliant: „Das Hauptproblem ist, dass Sie so wenig über Ihre Mieterin wissen. Es ist eh schon schwierig genug, eine vermisste Person aufzuspüren. Dazu kommt, dass Frau Meier und ich von der Mordkommission sind. Ohne Leiche dürfen wir eigentlich gar nichts unternehmen.“ Frau Schindlbeck stand in sich gekehrt da und schwieg. Irene und Martin verständigten sich stumm. „Na ja, andererseits will ich jetzt wissen, was hinter dem Verschwinden von Frau Huber steckt. Die Freiheit nehme ich mir.“ „So ist es recht, junger Mann!“, sagte Frau Schindlbeck wie verwandelt. Erfreut strahlte sie ihn an. „Ich hab gleich gewusst, dass Sie nicht so schnell aufgeben. Dann möchte ich Sie auch nicht länger aufhalten.“ Sie reichte Martin die Hand und geleitete ihn rasch zur Tür. Irene folgte den beiden, blieb aber in der Diele stehen und wandte sich noch mal an Frau Schindlbeck: „Hier ist meine Karte. Rufen Sie uns an, falls sich etwas Neues ergibt. Oder falls Ihnen irgendetwas einfällt, was unsere Arbeit erleichtern könnte.“ Frau Schindlbeck nickte mit zusammengekniffenen Lippen.

Draußen, sagte Irene mit einem Grinsen im Gesicht: „Also dann, auf geht's, junger Mann!“ Martin krümmte sogleich seinen Rücken, als würde er sich gebeugt vom Alter unter Schmerzen vorwärts schleppen. Irene stieß ihn in die Rippen. „Ach du! Die Frau Lehrerin hat dich ja ganz schön eingeschüchtert. Wo ist dein berühmter messerscharfer Verstand?“ „Durch das Schulsystem abtrainiert … Wie kommt es, dass du die Schulzeit so gründlich überwunden hast?“ „Mit solchen Lehrerinnen bin ich schon immer gut klar gekommen. Die hatten viel Freude an mir. Besonders, wenn sie mich im nächsten Schuljahr los waren.“ Als Irene aufs Auto zusteuerte, hakte Martin sich unter und sagte: „Also gut, dann werde ich mal wieder meinen Verstand gebrauchen: Die Sorge von Frau Schindlbeck um ihre Andrea ist echt. Dennoch ist die Geschichte drum herum nicht besonders glaubwürdig. Und daher stellt sich umso mehr die Frage, warum wir nach ihr suchen sollen. Aber jetzt machen wir erst mal einen romantischen Spaziergang.“ „Stimmt! Der Fundort der Leiche ist ja ganz in der Nähe.“ Das einsetzende Vogelgezwitscher, ließ die beiden ihre Arbeit fast vergessen. Sie schmiegten sich aneinander und glichen ihr Schritttempo an.

Nach gut zehn Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht. Martin trat zum weiß-roten Flatterband und deutete nach unten: „Unserem Opfer wurde bestimmt schon hier auf dem Weg das Gift injiziert.“ „Warum erhält er eine tödliche Injektion? Hm ... Was sagt uns das über den Täter? Hantiert er öfter mit Spritzen? Nicht jeder hat ein Händchen dafür. Das gilt auch für das Gift. Hat er deshalb seinem Opfer eine Überdosis verabreicht?“ „Vielleicht wollte er auf Nummer Sicher gehen. Gift könnte auf eine Frau hinweisen, oder hat uns das Märchen vom Schneewittchen grundsätzlich gegen Stiefmütter aufgehetzt?“ „Eine Spritze ist schon eher martialisch. Ich würde einen männlichen Täter also nicht ausschließen.“ „Ich auch nicht. Frauen sind sicher nicht so herzlos, dass sie jemanden so lange leiden lassen.“ „Leider wissen wir noch gar nichts über das Opfer. Auf dem Foto von Hubert wirkt er zwar sehr sympathisch, aber vielleicht gibt es ja einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit.“ „Auch das ist möglich. Na jedenfalls: Nach dem Giftanschlag ist unser Mordopfer die Böschung wohl mehr hinunter gestolpert als gegangen. Wenn der Baum ihn nicht aufgehalten hätte, wäre der Mann noch weiter nach unten gerollt.“ Irene blickte sich perplex um. „Die Stelle ist ja wirklich total ab vom Schuss. Ohne die Suchhunde wäre die Leiche nicht so schnell entdeckt worden.“ „Ich hatte vollkommen falsche Vorstellungen von den Entfernungen zum Hauptweg. Auf der Skizze war das ganz anders vermerkt. Dass Mörder sich auch immer so abgelegene Gegenden aussuchen müssen!“ Beide stiegen langsam den Hang hinunter. Mehrmals drohten sie auf dem dicken Teppich aus halb verwitterten Laub, ins Rutschen zu geraten. Aber sie wollten unbedingt die letzten Schritte des Toten nachverfolgen. Am Fundort angekommen, sagten sie fast gleichzeitig: „Der arme Mann.“ Wütend fügte Martin hinzu: „Ihn hier zwei Stunden qualvoll sterben zu lassen! Warum hat man ihm das angetan?“ „Ob er wohl noch gerettet worden wäre, wenn ihn jemand in seinem Todeskampf gefunden hätte?“ „Wohl kaum: Gift für 12 Personen. Der Mörder hat ihm keine Chance gelassen.“ Beim Hinaufsteigen halfen sie sich wieder gegenseitig. Betroffen machten sie sich auf den Rückweg. „Hoffentlich ist Andrea Huber nicht auch bereits tot“, sagte Irene beklommen. „Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, sondern nur eine ganze Menge Ungereimtheiten.“ Leise fügte er hinzu: „Ob Freddie für alles eine schlüssige Lösung findet? … Ach nein, zu spät. Er ist bestimmt längst beim Computerkurs von Vicky. Ist schon sonderbar: Jahrelang war Computer ein Reizwort für ihn und jetzt …“ „Was ist da sonderbar? Er hat zwar Übergewicht, aber er ist trotzdem ein Mann. Also dackelt er um Vicky herum.“ „Vielleicht ist er doch mal ausnahmsweise daheim bei seiner Frau. Heute ist Valentinstag.“ Obwohl ihre Stimmung nach wie vor niedergedrückt war, sagte Irene: „Wir sollten auch etwas feiern … Ich hätte da schon eine Idee: Wir feiern einfach, dass wir gemeinsam feiern können.“

Freitag, 15.02.

Im leeren Büro teilten sich Irene und Martin in stillem Einvernehmen die morgendlichen Aufgaben. Während er die Kaffeemaschine befüllte und einschaltete, prüfte sie an seinem Computer den Posteingang. „Zwei neue Mails!“, rief Irene freudig aus. Doch kurz danach sagte sie enttäuscht: „Andrea Huber war tatsächlich in Pullach nicht gemeldet … Die Fotos von ihr haben uns nicht weiter gebracht. In der Verbrecherkartei ist sie nicht registriert. Aber zum Glück wurde sie auch nicht in ein Krankenhaus eingeliefert. Sollen wir Maria von der Spurensicherung in die Wohnung schicken?“ „Dafür ist es noch zu früh.“ In diesem Moment öffnete Freddie die Eingangstür. Er hatte nur den letzten Satz mitgehört und schnupperte in Richtung Küche. „Ich würde sagen, ich komme gerade rechtzeitig. Hatte schon gehofft, dass ihr auch gleich einen Kaffee nötig habt.“ Er lächelte beide an. „Na, wie war euer kleiner Ausflug?“ Irene antwortete freudestrahlend: „Danke Freddie, du hast uns den perfekten Vorwand geliefert.“ „Hab mir schon gedacht, dass euch der Tapetenwechsel gut tut.“ Sie erzählten ihm die wenigen Neuigkeiten. „Wenigstens ist diese Frau Huber noch nicht in einer Kühltruhe vom Institut aufgetaucht“, versuchte Freddie die beiden zu trösten. „Werner und ich sind völlig ratlos. Niemand vermisst unseren Mann.“ Martin sagte mit aufmunternden Tonfall: „Warten wir eben doch den Schulanfang ab!“ „Ich hätte nie gedacht, dass ich den je herbeisehnen würde, aber so ist es. Die Theorie, dass er Lehrer war, lässt mich noch hoffen.“ Werner öffnete abgehetzt die Tür. „Oberleitungsstörung! Am Bahnsteig hab ich mich mit ein paar hundert Leuten nur mit Mühe in die S-Bahn rein quetschen können, als endlich eine gekommen ist. Ich spüre jetzt noch den Haltestange im Rücken.“ Nun direkt an Martin gewandt, fragte er mit einem breiten Grinsen: „Hast du als unser Experte für Single-Wohnungen etwas Aufschlussreiches zu berichten?“ Irene war kurz davor, Werner anzublaffen. Doch Freddie ging rasch dazwischen: „Die vermisste Frau hat dort offiziell gar nicht gewohnt. Es könnte sogar sein, dass sie auf eigenen Wunsch verschwunden ist. Und überhaupt, es ist noch nicht mal sicher, ob sie wirklich Andrea Huber heißt. Ich würde sagen, wir haben Gleichstand.“ Werner hängte seinen Anorak an den Haken und setzte sich an den Schreibtisch. „Niemand hält sich mehr ans Meldegesetz und keiner nimmt seinen Personalausweis mit. Und wie sollen wir dann wissen, mit wem wir es zu tun haben? Dass die Leute immer nur an sich denken!“

Die Tür öffnete sich erneut. Hans hastete herein, grummelte ein kaum verständliches Morgen, fuhr seinen Computer hoch und ging danach rasch wieder zur Tür, während er aus seiner Jacke eine Zigarettenschachtel hervorzog. Martin quittierte dieses Verhalten mit einem Kopfschütteln. Ihm war klar, was dies bedeutete: Hans möchte heute früher aufhören und sich schon mittags in den unverdienten Urlaub verabschieden. Da er keine Lust hatte, sich zu ärgern, schaute er zu Irene. Gedankenverloren saß sie da, ihren Zeigefinger am Kinn. Sie spürte Martins zärtlichen Blick auf sich ruhen und sagte: „Ich hab überlegt, warum solche harmlosen Fotos im Internet jemanden dazu bringen könnten, nur das Nötigste zu packen und wegzulaufen.“ Werner fragte sofort irritiert: „Harmlose Fotos? Wo sich heutzutage doch alle bloßstellen.“ „Andrea Huber hat am Sonntag mit ihrer Freundin Elena Englbrecht telefoniert und dabei erfahren, dass Fotos von ihr im Netz kursieren. Sie wurden in einem Café aufgenommen. Also nichts Besonderes. Schau!“ Irene reichte Werner ihr Smartphone. Der wischte einige Male vor und zurück, während sie weiter laut überlegte: „Frau Schindlbeck, ihre Vermieterin, hat am Montag bei der Polizei angerufen und sie als vermisst gemeldet. Es sieht so aus, als ob Andrea Huber das Weite gesucht hat, nachdem sie von den Fotos erfahren hat. Aber warum?“ „Versteh ich auch nicht. Solche Schnappschüsse findet man doch millionenfach im Netz oder vielmehr: Man findet diese paar Fotos niemals.“ Werner tippte auf den Impressum-Link der Website. „Hier stehen allerdings die Handynummern von Elena Englbrecht und Hendrik Zundermann. Und die vollständige Adresse: Die beiden wohnen in Pasing. Also so leicht ist es nicht, dadurch unsere ominöse Frau Huber aufzuspüren.“ Ganz in Gedanken redete Freddie vor sich hin: „Vielleicht ist es einfacher, wenn sie wirklich Andrea Huber heißt.“ Irene schaute ihn wie elektrisiert an. „Stimmt! Unter den Fotos steht ja jeweils so etwas wie Hier sitzen wir mit unserer Freundin Andrea Huber. Wir sollten alle mit diesem Namen … Na super! Ein Allerweltsname wie … Irene Meier.“ Martin schaltete sich ein: „Wie viele Andrea Huber wird es geben, die zwischen 25 und 35 Jahre alt sind? 100, 100.000 oder vielleicht sogar bloß 20?“ „Und wenn wir nur nach Frauen in diesem Alter außerhalb von München suchen?“ Voller Tatendrang streckte Freddie die Finger durch und setzte sich an seinen Computer. Weil gerade jetzt sein Telefon läutete, blickte er anfänglich sauer, dann jedoch gespannt auf das Display. Er hob ab und stellte den Lautsprecher an. „Hallo Herbert, gibt’s was Neues?“ „Wieder ein Toter. Aber diesmal einer, der tatsächlich noch auf euch wartet. Er liegt schon seit ein paar Tagen im Forstenrieder Park herum, natürlich nicht auf einem der Hauptwege. Bestimmt freut er sich auf Gesellschaft. Wer von euch möchte einen Spaziergang an der frischen Luft machen? Ganz viel frische Luft sogar! … Ich höre gerade, dass der Tote ebenfalls noch nicht identifiziert werden konnte. Das ist doch was für Werner und dich: Dann könnt ihr bei euren Nachforschungen gleich die Fotos von zwei Mordopfern vorzeigen. Vielleicht kennt ja irgendwer sogar beide.

---ENDE DER LESEPROBE---