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Werner und Freddie werden zu einem geradezu idealen Tatort gerufen. Zum ungewöhnlich großen Blutfleck in der Villa des Architekten Armin Lieske findet die Spurensicherung passenderweise auch den Fingerabdruck von Severin Böckl, einen mehrfach verurteilten Kriminellen. Es fehlen lediglich das Geständnis des Verdächtigen und … die Leiche des Architekten. Während weitere Indizien auf Böckl hinweisen, schweigt der wie ein Grab. Spekuliert er auf einen Freispruch aus Mangel an Beweisen? Im Gegensatz hierzu haben Irene und Martin einen kniffligen Fall zu lösen. Ein bekanntes Model wird in einer Unterführung an der U-Bahn-Station Freimann erschossen. Das Medieninteresse ist gewaltig, entsprechend hoch der Zeitdruck, den Mörder zu überführen. Schnell rücken jugendliche Migranten als mutmaßliche Täter in den Fokus. Während Irene und Martin eine eigene Spur verfolgen, wird nach dem gleichen Schema ein weiterer Mord verübt. Gerade jetzt nimmt auch der anfangs so eindeutige Mordfall Lieske eine dramatische Wendung. Als wäre dies nicht schon genug, werden die weiteren Ermittlungen massiv behindert.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Das Team
Mittwoch, 06.03.
Donnerstag, 07.03.
Freitag, 08.03.
Samstag, 09.03.
Sonntag, 10.03.
Montag, 11.03.
Dienstag, 12.03.
Mittwoch, 13.03.
Donnerstag, 14.03.
Freitag, 15.03.
Samstag, 16.03.
Montag, 18.03.
Dienstag, 19.03.
Mittwoch, 20.03.
Donnerstag, 21.03.
Freitag, 22.03.
Samstag, 23.03.
Anmerkung
Impressum
Irene Meier, vor vier Monaten von Passau zur Mordkommission nach München versetzt, findet sich in einem sonderbaren Team wieder: Ihr Chef, Martin Behringer, verzeichnet die höchste Aufklärungsquote und erreichte dies mit allerhand Tricksereien.Freddie Obermeier, ein übergewichtiger Mittfünfziger, ermittelt mit Menschenkenntnis und Gespür für Details. Um moderne Technik machte er lange Zeit einen großen Bogen. Erst ein Mordfall in einer Softwarefirma brachte ihn in intensiven Kontakt mit diesem „Neuland“ und einer schrägen Gräfin.Werner Mohr nutzt sein weitverzweigtes Kontaktnetzwerk, um das Team mit wichtigen Informationen auf dem kurzen Dienstweg zu versorgen. Als sich für ihn die Gelegenheit bot, an der Seite von Freddie im Außendienst mitzumischen, ergriff er diese Chance.Stefan Burghoff hatte lange Zeit Probleme, seinen Platz im Team zu finden. Nachdem er bei der Lösung eines Falls den entscheidenden Beitrag geleistet hat, übernahm er Werners Innendiensttätigkeit und auch dessen Kontaktnetzwerk.Hans Baumann lässt sich durch nichts dazu bewegen, sich an den Ermittlungen zu beteiligen. Er verbringt seine Arbeitszeit größtenteils auf Schnäppchenjagd im Internet und mit ausgedehnten Rauchpausen.
Mit ihrem Ideenreichtum und Scharfsinn hat sich Irene einen festen Platz im Team erobert. Aber nicht nur das: Sie und Martin sind längst ein Liebespaar, was sie vor Hans nach wie vor geheim halten.
Weitere Personen:
Ulrich Weinziertl: Behringers Chef Prof. Dr. Dr. Hubert Reinmüller: Rechtsmediziner Maria Zeilinger: Spurensicherung Erwin Lehmann: Spurensicherung Herbert Reiser: Mitarbeiter der Einsatzzentrale Berthold: Leiter einer Spezialabteilung Mario: Mitarbeiter dieser Spezialabteilung Willy Harlander: Mitarbeiter dieser Spezialabteilung Daniel Ott: Leiter der Organisationsabteilung Hauptkommissar Dannhäuser: Leiter Mordkommission Hauptwachtmeister Scharff: Dienststelle Freimann Dr. Peter Sommerfeld: Firmenchef der Isar Software AG Viktoria von Herrmsdorff (Vicky): Software-Entwicklerin Dr. Brigitte Horten: Software-Entwicklerin Evelyn Schäfer: Sekretärin Moni Grobowski: U-17-Fußballspielerin Sandra Meisner: U-17-Fußballspielerin Familie Knaak mit Tochter Mellie: Nachbarn von Martin Marion: Ehefrau von Werner Mohr Elisabeth: Ehefrau von Freddie Obermeier Marianne Berger: Physikerin und ehemalige Tatverdächtige Claudia Rehm: Freundin von Brigitte Horten, Leiterin einer Kinderschutzorganisation Sarah: Helferin in dieser Kinderschutzorganisation Jutta: Helferin in dieser Kinderschutzorganisation Armin Lieske: Inhaber eines Architekturbüros Roth: sein Stellvertreter im Architekturbüro Sabine Gerstl: Reinigungskraft bei Armin Lieske Severin Böckl: mehrfach verurteilter Straftäter Ruppert von Hohenbrück: BWL-Student Eleonore Kleinschmitt: Fotomodel Bettina Wegner: ihre Agentin Karl-Herbert Fohs: Steuerberater und Tatzeuge Marga Meinhardt: Sekretariat TU München Wendtke: Professor TU München Wurmdobler: Professor TU München Kemal Özbinici: Bauunternehmer aus Erding Reinhold Loderer: Geschäftsführer von MeinMünchen.TV Edmund Haller: Redakteur bei MeinMünchen.TV Paul Wyler: Reporter
Freddie legte den Hörer auf, lehnte sich grinsend in seinem Bürostuhl zurück und rief zu Werner in die Küche: „Irene und Martin kommen später. Der Kaffee bleibt somit uns. Ist er fertig?“ „Einen Moment noch!“ Bald darauf stellte Werner die volle Tasse vor Freddie ab. „Danke, das hätt’s aber nicht gebraucht.“ „Es gibt ja sonst nichts zu tun.“ „Also wird es ein langweiliger Tag.“ „Total fad und kein Fall in …“ Werner stockte, sein Telefon läutete. Ein Anruf von der Einsatzzentrale. „Hallo Herbert! Hast du etwa schon wieder Arbeit für uns? Der letzte Fall ist ja sozusagen noch warm. Das geht ja zu wie am Fließband. Und wen willst du heute zu uns rüberschieben?“ „Genau das ist das Problem.“ „Und das heißt? Red einfach mal Klartext! Freddie und ich können gut zuhören, … solange der Kaffee noch heiß ist.“ „Also schön, ich hab da was für euch. Das Blut ist bereits getrocknet. Die Reinigungsfrau hat die Sauerei auf dem Teppich entdeckt, und zwar im Wohnzimmer von Armin Lieske, einem Architekten und Bauunternehmer. Diesmal könnt ihr euch Zeit lassen und in Ruhe euren Kaffee trinken.“ „Aha, der Tote steckt also schon im Kühlfach.“ „Nicht ganz. Ich weiß, dass du ungern bei diesem Matschwetter rausgehst, und das nur, um einen kalten Körper in Augenschein zu nehmen. Der Mörder ahnte das wohl.“ Werner zuckte mit den Schultern. „Hat er die Leiche etwa mit einer Heizdecke oder einem Mantel warmgehalten?“ „Nein, viel einfacher! Er hat die Leiche mitgenommen. Vielleicht ein Sammler. Aber für unseren Herrn Professor hat er eine Menge Blut zurückgelassen. Wenn ich es mir recht überlege: Es wäre wohl doch besser, ihr schaut ebenfalls am Tatort vorbei. Am Ende meint ihr noch, ich erzähle euch nur blutrünstige Geschichten. Die Adresse hab ich gerade gemailt. Ihr dürft euch mal wieder in einer paradiesischen Wohngegend umsehen, zumindest ist sie das für knickrige Steuerzahler. Also, bindet euch gefälligst eine Krawatte um! Oder soll ich mich für euch schämen? Unsere Leute sind immer korrekt in Uniform gekleidet. Und wie rennt ihr rum?“ „Wenn uns der Türsteher nicht rein lässt, rufen wir dich an, damit du ein gutes Wort für uns einlegst.“ Freddie las indessen die Nachricht, nahm einen letzten Schluck, bevor er aufsprang und freudig seinen Janker vom Haken riss. Begeistert rief er in Richtung Telefon: „Mitten in Grünwald. Wunderbar, dann essen wir dort gleich noch zu Mittag. Das wird teuer, Herbert. Der angebotene Fasan schmeckt bestimmt vorzüglich. Und überhaupt: Es werden so viele exquisite sogenannte Geschäftsessen erstattet, warum sollten wir arme Würstchen uns nicht ausnahmsweise ebenfalls auf Staatskosten den Bauch vollschlagen?“ „Nix da! Für euch arme Würstchen langt eine Leberkässemmel! Die macht ebenso satt.“ „Also gut, dann halt kein Fasan. Hm … Eine Wachtel schmeckt sicher auch köstlich.“ „Bis Mittag seid ihr längst fertig! Ich meine: Ihr könnt doch nicht vier Stunden lang einen Blutfleck anglotzen.“ „Das geht schon, wenn man sich quasi als Belohnung eine exzellent zubereitete gefüllte Wachtel gönnt. Schade, dass wir nicht den passenden Wein dazu trinken dürfen.“ Herbert seufzte. „Was soll’s. Du hast gewonnen, Freddie. Mit Werner wäre ich fertig geworden, aber du bist ein zu starker Gegner. Dann wünsch ich euch guten Appetit!“ „Na na na. Wer wird denn so schnell aufgeben! Du weißt doch, dass wir keinen Wert darauf legen, mit versnobten Leuten zu speisen. Beruht wahrscheinlich auf Gegenseitigkeit. Außerdem: Wozu sollten wir so lange einen Blutfleck anstarren? Ich würde sagen in einer Stunde kannst du uns zum nächsten Tatort schicken. Aber wenn dort wieder eine Leiche fehlt, dann leg gefälligst eine hin! Eine solche Schlamperei lassen wir nicht noch einmal durchgehen. Gerade von dir sind wir eine derartige Nachlässigkeit nicht gewöhnt.“ „Tut mir ja so leid, dass ich euch enttäuscht habe. Tja, wie das Leben so spielt, zur Zeit hab ich wirklich keine Ersatzleiche.“ Herbert legte lachend auf.
Eine halbe Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht: ein kantiges City-Haus, dessen Front großflächig aus getönten Glasscheiben bestand, in denen sich die Rasenfläche mit zwei emporragenden Steinskulpturen spiegelte. Seitlich davon führte eine leicht abschüssige, asphaltierte Zufahrt zur Tiefgarage. Eine Froschfigur deutete auf das geschlossene Garagentor. Freddie parkte am Straßenrand. Aus dem Seitenfenster blickte er angewidert nach draußen. „Diese löchrigen Skulpturen sollen wohl Gartenzwerge ersetzen. Und der klotzige Glaskasten hat den Charme eines Parkhauses. Nein, das ist kein gelungenes Aushängeschild für einen Architekten. Wenn es nach mir ginge, würde er damit keinen Preis gewinnen. Und was hast du auszusetzen?“ Werner reckte sich nach vorne und schaute die Fassade hoch. „Nichts, mir gefällt die Villa. Vielleicht gibt es ja nach dem Mord einen ordentlichen Nachlass, dann mieten wir den klotzigen Glaskasten.“ „Und du meinst, deine Frau würde hier einziehen?“ „Pah! Nicht mal, wenn wir umsonst wohnen könnten. Ist wirklich fies von dir, mich aus meinen schönsten Wohnträumen zu reißen. Für einen Moment hab ich Marion und mich gemeinsam Fenster putzen sehen.“ „Es ist besser so, glaub mir: Diese Pseudogartenzwerge treiben euch in den Wahnsinn. Und ein Haus, das ständig nach Fensterputzmittel riecht, ist einfach zum Davonlaufen.“ „Sag mal, der Mord, der hier stattgefunden hat, ist dir wohl völlig egal?“ Freddie zuckte mit der Achsel. „Ist wahrscheinlich halb so wild: Moderne Teppiche sind leicht zu reinigen. Manche kann man auch wenden, und dann ist alles wieder okay. Schauen wir uns ruhig erst mal drinnen um.“ Werner schwang sich locker aus dem Auto und entdeckte sein Spiegelbild an der Glasfassade. Zufrieden betrachtete er seine drahtige Figur und bewegte sich sogleich besonders dynamisch. Freddie hingegen wand seinen massigen Körper mühsam aus dem Wagen. Mit einem leisen Seufzer schlug er die Augen nieder und richtete sie auf die Steinfliesen, die zum Eingang führten. Zu seiner Freude entdeckte er im Schneematsch unterschiedliche Schuhprofile. „Diese winzigen Fußspuren gehören zu Maria“, sagte Freddie lachend und deutete nach unten. „Und Erwin ist wie üblich hinter ihr hergetrottet. Hat der einen schleppenden Gang. Liegt wohl an den Koffern, die er tragen muss. Und die riesigen Abdrücke kann man mühelos Hubert in die Schuhe schieben.“ „Super! Dann haben wir ja die Täter! Wir werden die drei gleich mal verhaften. Und mein Instinkt sagt mir, die treiben sich hier alle noch herum.“
Die Eingangstür war angelehnt. Sie schoben sie auf, und sofort schlug ihnen der Geruch von Spiritus entgegen. „Voilà Fensterputzmittel! Hab ich dir zu viel versprochen?“, fragte Freddie süffisant und deutete danach in den Flur. „Sieh einer an, dieselben Absurditäten wie im Garten!“ Beidseits flankiert von vier schwarzen Statuetten, die an Figuren aus Star Wars erinnerten, schritten sie ins Wohnzimmer, das grell ausgeleuchtet wie ein Filmstudio wirkte. Hubert war sich dessen bewusst und begrüßte die beiden mit einer übertrieben einladenden Geste, die in einem Bogen zum rostbraunen Fleck auf dem Teppich führte. Beeindruckt meinte Freddie: „Das ist ja wirklich eine Menge Blut. Sieht aus, als wäre jemand hier geschächtet worden. Wie lange muss ein Toter dort liegen, um so auszubluten?“ „Tja. Das kommt ganz auf die Art der Verletzungen an. Aber du hast vollkommen recht. Was wir an Leiche zu wenig haben, gibt es an Blut zu viel. Ich habe schon von mehreren Stellen Proben genommen.“ „Dann wirst du uns ja bald sagen, ob alles von derselben Person stammt.“ „Ist leider das Einzige, was ich in diesem Fall für euch tun kann.“ Freddie betrachtete den umgekippten Stuhl in der Nähe des Blutflecks, den offensichtlich verschobenen Tisch und zuckte zusammen, als Hubert dies kommentierte: „War wohl ein recht kurzer Kampf. Es wurde auch nichts durchwühlt.“ „Wie weit sind Maria und Erwin mit den anderen Zimmern und dem Keller?“ „Schon ziemlich weit. Sie sind gerade unten in der Tiefgarage. Bislang haben sie tatsächlich nirgends eine Leiche entdeckt, keinerlei Einbruchsspuren und keine Tatwaffe.“ „Dann können wir ja gleich wieder aufbrechen. Ich hab Herbert Reiser nämlich versprochen, dass wir uns mit Spesen zurückhalten.“ „Schade. Hier gibt es einige vorzügliche Restaurants. Soll Herbert eben in Zukunft dafür sorgen, dass mehr Leute neben McDonald’s ermordet werden. Irgendwie wäre mir jetzt nach einem schönen Glas Rotwein.“ „Kann ich gut verstehen. Ist ja ein naheliegender Gedanke.“ „Fast hätte ich es vergessen: In der Küche wartet eine adrette Blondine sehnsüchtig auf euch.“ Freddie lachte. „Vielleicht hat sie ja für uns eine Brotzeit hergerichtet. Wir schauen gleich mal nach.“
Am Küchentisch saß eine Frau Mitte dreißig. Unter ihrem Anorak trug sie einen blauen Arbeitskittel. Ihre schwarze Umhängetasche klemmte zwischen den Knien. „Da sind Sie ja endlich!“ Die Reinigungskraft sprang auf. „Wird auch Zeit! Glauben Sie ja nicht, ich hätte keine Termine einzuhalten! Frau Dr. Henning-Schröder rechnet fest damit, dass ich pünktlich erscheine.“ „Tut mir leid“, sagte Freddie. „Wir bringen es rasch hinter uns. Wie ist Ihr Name?“ „Sabine Gerstl. Ich komme zweimal in der Woche hierher, immer mittwochs und freitags von 7 bis 9 Uhr. Ich habe mich schon gewundert, dass Herr Lieske heute nicht da ist. Normalerweise lässt er es sich nämlich nicht nehmen, permanent dieselben Anweisungen kundzutun. Nicht, dass das nötig wäre. Na jedenfalls habe ich wie üblich zuerst das Schlafzimmerfenster geputzt und mich dann zum Wohnzimmer vorgearbeitet. Dort ist mir der riesige Blutfleck auf dem Teppich ins Auge gesprungen. Ich habe sogleich in der Firma angerufen. Die Sekretärin setzte sofort alle Hebel in Bewegung, um ihren Chef aufzutreiben, zumal heute ein wichtiger Termin ansteht. Vergebens. Sie war es auch, die schließlich die Polizei verständigt hat.“ Frau Gerstl rückte ihre Brille zurecht. „Und mir blieb nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge hier zu warten. Das ist alles, was ich zu Ihren Ermittlungen beitragen kann. Meine Kontaktdaten hat die Firma. Ich muss jetzt wirklich los! Mein Tag ist eng getaktet.“ Freddie war baff. Weil Frau Gerstl sich einfach davonmachen wollte, verstellte er ihr den Weg. „Moment bitte! Haben Sie auf Ihrem Rundgang bereits Spuren vernichtet?“ „Ach woher! Sie sehen ja selbst, wie blitzblank die Fenster im ganzen Haus sind. Herr Lieske hat … hatte eine Marotte. Ständig musste ich daran herumwienern. Total unnötig, aber er ließ nicht mit sich reden. Ich war richtig froh, dass er heute nicht da war. Na ja, bis ich den gigantischen Blutfleck entdeckte. Daraufhin habe ich sofort meine Arbeit eingestellt.“ „Sehr umsichtig von Ihnen. Danke, Frau Gerstl. Obwohl, eine Frage hätte ich noch: Wenn ich Ihnen so zuhöre: Wie kommt es, dass Sie als Reinigungskraft tätig sind?“ „Ich hab Germanistik studiert und danach meinen Nebenjob zum Haupterwerb gemacht. Aber ich muss jetzt wirklich weiter!“ Frau Gerstl drängte in den Flur. Dort stieß sie auf Erwin Lehmann von der Spurensicherung. Ihre wild hin und her schlenkernde Umhängetasche schlug an sein Bein. Erwin pfiff durch die Zähne, winkte die ungestüme Frau galant an sich vorbei und betrat die Küche. Obwohl er eine Maske trug, war ihm anzumerken, dass er unbedingt etwas loswerden wollte. Und so sprudelte es aus ihm heraus: „Eine Blutspur führt geradewegs in die Tiefgarage. Natürlich haben wir überall Fingerabdrücke genommen. Auf dem Weg nach draußen war nichts, weder an der Zimmertür noch an der zum Keller und auch nicht an der zur Tiefgarage. Hat der Täter wohl sicherheitshalber alle beseitigt.“ „Wird das jetzt eine ewig lange Litanei, wie hart dein Job ist? Oder kommst du endlich mal auf den Punkt?“, entgegnete Freddie mürrisch. „Ist da vielleicht jemand ungeduldig? Also wie wär’s damit: An der Tür von der Tiefgarage in den Keller waren Fingerabdrücke. Ein wenig verwischt, aber Maria überprüft bereits, ob wir sie verwerten können.“ „Das wäre ja zu schön, wenn Maria uns gleich noch die Adresse von dem Fingerabdruck servieren würde. Dann fahren wir auf dem Rückweg dort vorbei und schaffen den Finger zum Verhör ins Präsidium. Ihr versteht mich schon, wen wir verhören: den schlimmen Finger!“ Amüsiert schüttelte Hubert den Kopf. Freddie blinzelte indessen verlegen. „Man wird ja kurz mal träumen dürfen. Hast du dir noch nie gewünscht, dass in einer Kugel, die du aus einer Leiche herausschneidest, der Name des Mörders eingraviert ist?“ „Schon lange nicht mehr! Nach den ersten zehn Jahren hat das irgendwann aufgehört.“ In diesem Moment hastete Maria herbei. „Volltreffer. Die Fingerabdrücke sind bereits gespeichert. Eindeutig ein registrierter Straftäter. Jeder Irrtum ist ausgeschlossen.“ „Was? Wirklich? Erwin hat gemeint, die Fingerabdrücke seien ziemlich verwischt.“ Maria warf ihm einen bitterbösen Blick zu und erklärte danach ruhig: „Bei so etwas bin ich extrem sorgfältig. Ihr könnt mir vertrauen, die passen. Hundertprozentig.“ Erwin sank sichtlich zusammen. „Natürlich vertrauen wir dir. Maria, in der Datenbank steht doch üblicherweise auch ein Name.“ „Severin Böckl. Ich bekomme gleich noch seine kriminelle Vorgeschichte zugeschickt. Aber soviel kann ich euch bereits mitteilen: Er befindet sich zur Zeit auf freiem Fuß. Und Böckl wohnt in der Rosenheimer Straße 247. Braucht ihr die Postleitzahl?“ Wieder blickte Maria verärgert zu Erwin. „Sozusagen ein eingravierter Name.“ Freddie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sollte doch nur ein Witz sein.“ Ungeduldig fuhr Werner dazwischen: „Wenn wir schnell genug sind, können wir diesem Böckl beim Ausladen der Leiche helfen.“ „Aber klar! Hubert, weißt du in etwa, wann das Blutbad stattgefunden hat?“ „Grob geschätzt trocknet das Blut seit gestern Abend … so zwischen 20 und 22 Uhr. Böckl hatte also eine ganze Nacht Zeit, Lieske wegzuschaffen.“ „Tja, vielleicht haben wir ja noch mal Glück, und er hat geschlafen. Oder er möchte heute Mittag nicht selber kochen und wartet darauf, dass wir ihn pünktlich ins Gefängnis bringen.“ An Maria gewandt, sagte Freddie: „Danke! Falls du weitere so wunderbare Neuigkeiten hast, ruf uns bitte an.“ Sie nickte und wollte sich verziehen. „Maria, jetzt lauf doch nicht gleich weg! Ehre, wem Ehre gebührt. Wenn Böckl tatsächlich der Mörder ist, dann darfst du den Bericht schreiben.“ Sofort blieb Maria erschrocken stehen. „War nur Spaß!“, beruhigte sie Freddie. „Wir schreiben den Bericht selber und bringen dich mit Blaulicht in die Staatskanzlei, wenn dir für deinen Erfolg ein Orden verliehen wird. Jetzt aber nichts wie los, bevor ich dich mit meinen dummen Sprüchen vollends fertigmache.“
Auch ohne Blaulicht fuhr Freddie rasant durch den Ortskern von Grünwald. „Hören wir mal, ob das Navi weiß, wo Böckl wohnt.“ Werner gab das Ziel ein. Drei Möglichkeiten wurden angeboten. „Wir bleiben einfach auf der 995, bis sie endet“, entschied Freddie. Werner nahm indessen sein Handy aus der Brusttasche und las E-Mails. Eine Weile schaute er gedankenverloren durch das Seitenfenster. Während der Perlacher Forst links an ihnen vorbeizog, wählte Werner eine Nummer aus seiner umfangreichen Kontaktliste. Wie üblich begann er das Telefonat mit Smalltalk und Herumschäkern. Erst als sie das Gelände der JVA Stadelheim erblickten, fragte er geradeheraus: „Lola, kannst du mal schnell checken, welche Fahrzeuge auf Severin Böckl zugelassen sind? Der, den ich meine, wohnt in der Rosenheimer Straße 247 … Ach, du hast nur einen mit dem Namen. Umso besser.“ Es dauerte etwas, bis Werner laut wiederholte: „Ein blauer Ford Taurus … ach, ein Ford Taunus, Kennzeichen M-SB 4321. Kann ich mir merken, wir sind ohnehin gleich da … Ja, ich bin jetzt im Außendienst … Ich pass schon auf mich auf. Danke für die rasche Auskunft! Ciao, Lola!“ Freddie fuhr an der Adresse vorbei und deutete grinsend auf das Auto, das als letztes in einer langen Schlange stand. „Deine Lola hat vergessen zu erwähnen, wie uralt diese Rostlaube ist. Bestimmt fast doppelt so alt wie sie.“ Werner setzte an, sich zu rechtfertigen, wurde jedoch plötzlich so heftig hin- und hergeschüttelt, dass er verstummte. Trotz LKW-Verkehr hatte Freddie blitzschnell eine 180-Grad-Wende vollzogen. Danach fuhr er ganz dicht an die Stoßstange von Böckls Ford Taunus heran. „Alle Achtung! Du hättest genauso gut eine Parkkralle montieren können. Böckl kommt hier nur raus, wenn er dein Auto einen halben Meter zusammenschiebt. Dann gehen wir mal rein, bevor der vor ihm stehende Wagen wegfährt.“ „Hast ja recht. Der kann uns einen Strich durch die Rechnung machen.“
Sie näherten sich dem Haus, das im Vergleich zu dem von Lieske ausgesprochen schäbig aussah. An einigen Stellen bröckelte die Farbe von der grauen Fassade. Die geradezu winzigen Fenster waren bestimmt schon seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Freddie drückte das Gartentor beherzt auf, dessen Quietschen im Straßenlärm unterging. Schweigend ging er auf die Eingangstür zu und klingelte. Nach einer Weile erschien in der Tür ein ausgemergelt wirkender Mann, der beide überragte. Misstrauisch wanderte sein Blick hin und her. Ein kurzes Flackern in seinen Augen und schon wich Böckl zurück. Freddie packte ihn am linken Arm, der ihm jedoch entglitt. „Wir sind von der Polizei! Lassen Sie den Quatsch!“, rief Freddie mit einem Fuß in der Tür. Statt nach drinnen, drängelte sich Böckl nun plötzlich an ihm vorbei zur Straße. Werner erwischte gerade noch dessen rechten Arm und wurde ein paar Schritte mitgerissen, bevor er Böckl stoppen konnte. Doch der wehrte sich heftig. Ein zähes Ringen begann, das Freddie schließlich beendete, indem er seine Waffe zog und schrie: „So, jetzt ist aber Schluss! Oder muss ich schießen?“ Böckl ließ Werner sofort los und hob beide Hände. „Bitte öffnen Sie Ihren Kofferraum!“ „Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?“, kam es atemlos zurück. „Sie haben doch bestimmt Bewährungsauflagen. Eine davon ist, dass Sie uns immer brav unterstützen.“ „Was wollen Sie?“ „Überprüfen, ob das Erste-Hilfe-Set abgelaufen ist … Nein, uns genügt ein Blick und dann sind Sie uns wieder los.“ „Ich hab nichts zu verbergen.“ Böckl ging mit ihnen zu seinem Wagen und sah, dass er eingekeilt war. „Welches Arschloch …“ begann er zu fluchen. Von der Seite her steckte er den Autoschlüssel ins Schloss und öffnete den Kofferraum. Schnaufend richtete er sich auf und fixierte demonstrativ Freddies Körpermitte. „Keine Chance mit Ihrer Wampn. Ihr Kollege kann ihnen ja sagen, was er findet. Jedenfalls nix Verbotenes.“ Werner lachte hörbar. „Ach so, das ist Ihr Wagen“, kombinierte Böckl schlau und grinste schadenfroh. Schnell war klar, dass sich im Kofferraum keine Leiche befand. Dennoch suchte Werner nach verdächtigen Spuren. Auch wenn es albern wirken mochte, wie er vornübergebeugt verharrte, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Plötzlich zog er erschrocken den Kopf zurück und schlug mit einem Ruck den Kofferraumdeckel zu. „Am Rand sind dunkle Verfärbungen. Die sollte sich Maria anschauen.“ Wie einen Colt riss Freddie sein Smartphone aus der Tasche und wischte darauf herum. „Seid ihr noch unterwegs? … Spitze! Kommt gleich mal rüber zu Böckl … Ein paar verdächtige Flecken in seinem Kofferraum. Bestellt Hubert hierher, falls ihr ihn braucht.“ „Was soll das?“, schimpfte Böckl. „Das ist reine Schikane! Von welcher Abteilung sind Sie überhaupt?“ Freddie zuckte mit der Achsel. „Sie mussten ja unbedingt den starken Mann markieren, statt sich in Ruhe mit uns zu unterhalten. Wir sind von der Mordkommission.“ „Was? Mordkommission! Warum …?“ In Panik wollte Böckl erneut Reißaus nehmen, doch Freddies Pistole hinderte ihn daran. „Das lassen Sie jetzt mal schön bleiben!“, schnauzte er ihn an. „Glauben Sie wirklich, dass ich mit meiner Wampn hinter Ihnen her renne? Mit dem Ding da treffe ich locker auch von hier aus. Und wenn sich dann herausstellt, dass Sie unschuldig sind, sind Ihre Knie trotzdem im Eimer.“ Das zeigte Wirkung: Böckl blieb mit hängenden Schultern stehen. „So ist es brav“, sagte Freddie, legte ihm schnell Handfesseln an und führte ihn zu seinem Auto. Dort ließ er ihn hinten einsteigen. „Sie sind das Sitzen ja gewöhnt. Wir sagen Ihnen Bescheid, sobald wir mehr wissen.“ „Häh … Was soll das? Sie können mich nicht einfach so festhalten.“ „Das werden wir gleich mal klären.“ Freddie verriegelte die Autotür und rief Herbert Reiser an: „Maria hat uns in Grünwald anhand von Fingerabdrücken in Rekordzeit einen Tatverdächtigen präsentiert. Wir haben uns den Kerl geschnappt. Und siehe da: In seinem Kofferraum befand sich zwar keine Leiche, aber Werner hat verdächtige dunkle Verfärbungen entdeckt. Könnte Blut sein. Meinst du das reicht, um den Mann für ein paar Stunden aus dem Verkehr zu ziehen? … Zumindest solange, bis wir wissen, ob es sich dabei um dasselbe Blut wie auf dem Teppich von Lieske handelt.“ „Wenn er prominent ist, würde ich dringend abraten.“ „Er heißt Severin Böckl!“ „Moment! Ah, da haben wir ihn ja! Der ist hin und wieder Staatsgast.“ Herbert schwieg kurz und sagte dann: „Ich sehe gerade, sein Name ist in München einzigartig. Den könnt ihr lieber einmal zu oft als einmal zu wenig einsperren. Ich regle das für euch beim Staatsanwalt.“ „Danke! Auf dich ist Verlass.“
Freddie und Werner gingen bereits seit einigen Minuten neben der Rosenheimer Straße auf und ab. Sie hatten keine Lust, sich zu Böckl ins Auto zu setzen. Stattdessen wurden sie von Abgaswolken eingehüllt, wenn wieder ein LKW an ihnen vorbeifuhr. Und so warteten sie ungeduldig auf ihre Kollegen. Auch die Laune von Böckl verschlechterte sich zusehends. Als wäre er ein Fisch in einem Aquarium öffnete und schloss sich sein Mund lautlos. „Echt super, ein Karpfen der brüllt“, fand Werner. „Dem traue ich einiges zu.“ „Sollte diesmal wirklich alles total glatt laufen?“, fragte Freddie zweifelnd, gegen den Lärm eines LKW’s anschreiend, der gerade mit überhöhter Geschwindigkeit vorbeidonnerte. „Das wär ein Ding! Wir werden wohl viel länger am Bericht schreiben, als die gesamte Mordermittlung gedauert hat.“
Nach weiteren zehn Minuten traf ein Streifenwagen ein, eine Polizistin und ein Polizist stiegen aus. „Sind Sie Hauptkommissar Obermeier?“, fragte die uniformierte Kollegin. Freddie nickte. „Grüße von Herbert Reiser. Wir befördern Böckl ins Präsidium. Wenn er in einem Mordfall verdächtigt wird, bleibt er ohnehin in Untersuchungshaft.“ „Das höre ich gern. Ich hab übrigens seinen Schlüsselbund an mich genommen. Wir wollen uns gleich noch in seinem Haus umsehen.“ „Ist schon recht. Die Schlüssel nützen ihm in seiner Zelle eh nichts.“ Freddie führte die beiden zu seinem Auto und entriegelte die Türen. „Bitteschön, er gehört Ihnen.“ Die Polizistin öffnete die hintere Wagentür. „Aussteigen, Herr Böckl! Wir sind auch heute Ihr Taxi ins Präsidium.“ „Alle weil ihr zwei! Taugt ihr für sonst nix?“ „Sie sind derjenige, der immer wieder dorthin will. Wie gerne würden wir Sie mal woanders abliefern. Nun kommen Sie schon!“
Just in diesem Moment fuhr der Rechtsmediziner aus der einen Richtung und der Kleinbus der Spurensicherung aus der anderen heran. „Ich setze auf Hubert!“, sagte Freddie. „Nein“, entgegnete Werner. „Erwin schafft es schneller einzuparken. Wenn ich recht habe, gebe ich eine Butterbreze aus.“ „Top. Die Wette gilt!“ Freddie schlug ein. Kurz darauf ging er erfreut auf den Rechtsmediziner zu, der gerade die Wagentür zuschlug. „Hallo Hubert! Auf dich ist Verlass: Weil du schneller eingeparkt hast, hab ich eine Wette gewonnen.“ „Schön für dich. Dafür muss ich nun hier herumstehen, bis Maria mit ihren Tests fertig ist. Aber Hauptsache, du bist jetzt ein reicher Mann.“ „Auch nicht. Werner darf nicht mehr als ein paar Kröten verzocken, sonst macht ihn seine Frau zur Schnecke.“ „Na hoffentlich müssen wir nicht allzu lange auf unsere Marien-Erscheinung warten.“
Maria stieg bereits aus, während Erwin noch rangierte. Sie sah den geschlossenen Kofferraum und sagte anerkennend in Freddies Richtung: „Man merkt, dass du Tatorterfahrung hast.“ „Nach mehr als 30 Jahren bei der Polizei sollte das wohl so sein. Aber das ist sein Verdienst“, entgegnete er und deutete auf Werner. Maria schenkte ihm ein seltenes Lächeln. „Ich fahre meinen Wagen ein Stück nach hinten“, sagte Freddie. „Ich hab das Auto von Böckl zugeparkt, damit er nicht abhauen kann.“ Als Freddie zurückkam, war Maria bereits in ihren frischen Schutzanzug geschlüpft. Sie öffnete den Kofferraum, der nicht einmal einen Verbandskasten enthielt. Hubert hatte sich neben Maria platziert und beobachtete stumm ihre routinierten Handgriffe. Mit der Pinzette zupfte sie ein paar der dunkleren Fasern heraus, steckte sie in ein Röhrchen und wartete den Schnelltest ab. „Ist tatsächlich Blut“, sagte Maria. Dann entnahm sie erneut eine winzige Probe und übergab sie Hubert. „Danke. Ich fahre gleich ins Institut. Bin schon gespannt, ob es eine Übereinstimmung gibt. Ihr hört von mir.“ Hubert entfernte sich rasch und lief zu seinem Wagen. Da Freddie nichts zu tun hatte, verfolgte er weiter die Arbeit der Spurensicherung. Maria untersuchte nun penibel den gesamten Kofferraum nach Auffälligkeiten und fotografierte dabei. Für die Aufnahmen beugte sie sich in der Hocke über den Rand, während Erwin mit einer Stirnlampe sich von der Seite her zur Mitte streckte und den Innenbereich ausleuchtete. Freddie grinste still in sich hinein über diese kuriose Szene und schaute sich nach Werner um. Zu gerne hätte er mit ihm ein bisschen herumgelästert. Doch der stand ein paar Meter entfernt und telefonierte. Marias mürrisches Gesicht ließ Freddie nichts Gutes erahnen, als sie auf ihn zuging. „Wenn Böckl die Leiche transportiert hat, dann muss er sie gut verpackt haben. Kleine Blutspuren gibt es nur am Rand. Wie groß ist das vermeintliche Opfer?“ Werner lachte und eilte heran. „Hat mich auch gerade brennend interessiert. Armin Lieske ist 1,64 und schlank. Severin Böckl ist übrigens 1,88 groß.“ Freddie lächelte zufrieden. „Super, dass du mitdenkst. Wir haben Böckl zwar festgenommen, aber wenn man bei einer Rauferei keine gute Figur macht, neigt man dazu, auf zwei Meter aufzurunden.“ Maria runzelte die Stirn und überlegte: „Wie hat er das geschafft? Warum gibt es nur die wenigen Blutflecken am Rand? Wir müssen uns das Auto unbedingt genauer anschauen.“ Freddie hielt Maria den Schlüsselbund von Böckl hin. „Vielleicht findet ihr ja die Leiche in seinem Wohnzimmer. Dann könnt ihr dort weiter machen.“ Maria nickte und ging schnurstracks ins Haus. Werner zückte sofort sein Smartphone. „Hallo Sabrina! Ich bin’s noch mal. Danke! Deine Informationen haben der Spurensicherung sehr geholfen … Ich melde mich bald wieder bei dir, Ciao.“ Er steckte das Handy weg und schielte dabei zu Freddie. „Wegen mir brauchst du dich nicht immerzu genieren, weil du deine Kontakte bei Laune hältst. Nimm dir ruhig Zeit dafür!“ „Martin sieht das übrigens genauso. Du kennst ihn ja. Er sagt nichts, aber er zieht sich gleich diskret zurück.“ „Dann sind wir uns ja einig! Und jetzt setzen wir uns ins Auto und üben uns in Geduld. Wenn Maria im Haus fündig wird, kommt Böckl um ein Geständnis nicht mehr herum.“ „Möchtest du etwa in der Zwischenzeit wieder meditieren?“ „Gute Idee! Zu blöd, dass ich hier den herabschauenden Hund nicht machen kann.“ „Musst du dabei winseln?“ „Nicht doch! Yoga entspannt. Allerdings nicht, wenn du daneben sitzt und pausenlos lachst.“ „Ich hab gehört, es gibt sogar Lach-Yoga.“ „Du kannst gerne mitmachen.“ „Wird mir nicht sonderlich schwerfallen.“ „Also los, steig ein, du Witzbold! Drinnen ist es warm.“
Nach etwa einer halben Stunde klopfte Erwin gegen das Seitenfenster, das Freddie sogleich herunterließ. „Nichts. Keine Leiche, kein Blut, keine Tatwaffe. Der Keller und der Speicher sind voller Gerümpel. Der Typ sammelt so ziemlich alles. Na ja, wir nehmen noch mal sein Auto gründlich unter die Lupe. Aber nicht hier.“ In seinem Schutzanzug stieg Erwin in Böckls Ford Taunus, fuhr los und winkte mit seinen Latexhandschuhen den anderen zu. Erwin schien den sonderbaren Abgang zu genießen. Maria wollte ihm mit dem Kleinbus folgen. Sie war hochkonzentriert, allerdings auf den Fall. Beim Ausparken hätte sie beinahe Freddies Wagen von hinten gerammt. Der lachte nur und sagte zu Werner: „Fast so schlimm wie Martin. Wenn der sich sein Hirn zermartert, fährt er auch mit dem Kopf durch die Wand.“ Im nächsten Augenblick schlug Freddie sich mit der Hand gegen die Stirn. „Martin … er weiß ja noch gar nichts.“ „Vielleicht können wir den Fall lösen, bevor Irene und er im Büro auftauchen. Wäre echt super! Aber wahrscheinlich hat Maria recht und es ist doch komplizierter.“ Werner fügte kopfschüttelnd hinzu: „Sie und Erwin sind schon ein sonderbares Team.“ „Man könnte sie für ein Ehepaar halten, obwohl oder gerade weil sie so total unterschiedlich sind. Wie in den kitschigen amerikanischen Filmen, in denen immerzu die heiraten, die sich die ganze Zeit angiften.“ Freddie blickte auf die Uhr. „Genug getratscht. Ich würde sagen, wir fahren erst mal in die Firma von Lieske.“
*** Irene und Martin wunderten sich tatsächlich, als sie niemanden im Büro antrafen. Martin servierte Kaffee und riss eine Packung Schokokekse auf. „Es ist mir rätselhaft, wo du all die Kekse hernimmst. Wir sind doch immer gemeinsam beim Einkaufen.“ „Du klärst eben nur Verbrechen auf. Dich zu verwöhnen, ist keines.“ „Mich fett füttern, aber schon.“ „Ach was, du kannst locker ein paar Pfund mehr vertragen.“ „Das hör ich gern. Na dann lange ich wieder ordentlich zu.“
Als der letzte Schluck Kaffee getrunken war, fiel die Eingangstür ins Schloss. Irene wischte hastig die Krümel von ihrem Pullover und warf sie in den Papierkorb. Beide lauschten. „Das ist Hans. Werner und Freddie würden sich längst über irgendetwas lustig machen. Meistens über mich.“ „Die haben es gerade nötig! Ich werde mit denen mal ein ernstes Wörtchen reden.“ „Schade um die Zeit! Wie heißt noch das Sprichwort? Beißende Hunde bellen nicht. Also können uns die beiden … egal sein.“ „Na gut, dann sollen sie eben hier herumkläffen.“ „Ich schaue gleich mal nach, womit Hans sich beschäftigt.“ Irene hielt Martin fest. „Viel wichtiger ist: Womit beschäftigen wir uns? Wir können uns doch nicht so lange den Bauch vollschlagen, bis irgendwann mal jemand ermordet wird.“ „Früher haben wir die Ermittlungserfolge im Team gefeiert.“ „Also wieder essen. Aber die Idee ist schön: Freddie kann seine Vicky mitbringen. Und Stefan … Lassen wir das! Sonst sind wir genauso schlimm wie die anderen.“ „Dann sollten wir uns ablenken. Hm ...Wir könnten uns auf das nächste Meeting zur Effizienzsteigerung vorbereiten. Mit der Einladung wurde eine Menge Lesestoff verschickt. Die vertrödeln wirklich professionell unsere Zeit. Doch diesmal haben wir ja tatsächlich Leerlauf.“ Irene schüttelte sich bei dem Gedanken, im Präsidium diese Marketing-Vorträge über sich ergehen zu lassen. Aber schnell war ihr wieder langweilig. „Dann zähle ich eben die Tage bis zu unserem Urlaub im April … Mist schon fertig! Und trotzdem sind es noch zu viele.“ „Gehen wir halt doch zu Hans rüber. Von ihm können wir bestimmt lernen, wie man völlig entspannt mit Leerlauf umgeht … Na ja, ich bin nicht ganz unschuldig daran, dass er sich so leicht vor der Arbeit drückt.“ „Ach was! Gegen dieses Faultier kommt niemand an. Ich verstehe nicht, wie er das aushält. Ich fühle mich total unnütz, wenn ich nichts zu tun habe.“ „Du hast doch bereits etliche knifflige Mordfälle aufgeklärt.“ „Jetzt würde mir einer reichen.“ „Bist du etwa süchtig nach Verbrechen? Dummerweise habe ich keinen Krimi dabei.“ „Also gut, wecken wir Hans auf. Die Kekse sind sowieso alle.“ „Ich hab noch welche.“ „Aber nicht in deinen Taschen, die hab ich längst durchwühlt.“ „Kalt, ganz kalt.“ „Über kurz oder lang finde ich dein Versteck. Wart’s nur ab!“
Martin öffnete die Zwischentür einen Spalt und sah, wie Hans stumpf vor seinem Bildschirm saß. Und so riss er die Tür weit auf. Hans zuckte zusammen. „Der letzte Fall ist abgeschlossen und ein neuer ist nicht in Sicht. Wenn wir mal den Gedanken der Effizienzsteigerung aufgreifen, wäre nun der ideale Zeitpunkt, die alten Fälle methodisch zu überprüfen, um daraus zu lernen.“ Hans schaute Martin irritiert an. Ohne auf dessen Vorschlag einzugehen, entgegnete er: „Warum ist Stefan noch nicht da? Er fängt jetzt immer erst am Nachmittag an. Muss er denn nicht wie wir zu den üblichen Dienstzeiten anwesend sein?“ Martin verdrehte die Augen. „Stefan hat meine ausdrückliche Erlaubnis, auch wenn dir das nicht passt.“ „Wir haben hier keinen Schichtbetrieb! Bis vor kurzem sind wir nach der Arbeit öfter mal zusammen um die Häuser gezogen. Und jetzt schlägt er sich im Büro die Nacht um die Ohren.“ „Tja, das ist seine Privatsache.“ Ein boshaftes Grinsen erschien im Gesicht von Hans, während er sich über die gegelten Haare strich. „Wird es Schwierigkeiten geben, weil ihr wieder mal einen Mörder mit Tricks in einen Hinterhalt gelockt habt?“ Irene zeigte sich am Türrahmen. Hans schaute sie vorwurfsvoll an, als erwartete er von ihr eine Rechtfertigung. „Lass das mal meine Sorge sein“, erwiderte Martin. „Noll hat übrigens ein Geständnis abgelegt. Aber du hast Recht, Irene und ich werden wohl besser gleich überprüfen, ob wir unfair mit diesem Mörder umgegangen sind.“ Er wandte sich zu Irene um. „Wir gehen noch mal den abgeschlossenen Fall durch. Nimm dir ruhig einen Kaffee mit. Das wird ein anstrengendes Aktenstudium.“ Irene tat, wie ihr geheißen und folgte Martin ins Büro. Sie drückte die Tür hinter sich zu. „So ein Arsch! Der hat es verdient, da draußen alleine zu versauern.“ „Sobald wir wieder Arbeit haben, werde ich ihm richtig Dampf machen.“ In diesem Moment klingelte Martins Telefon. „Es ist Hubert.“ „Die Blutspuren sind identisch!“ Martin blickte perplex auf den Hörer: „Hallo, erst mal! Wovon redest du?“ „Vom neuen Fall! Habt ihr etwa davon gar nichts mitgekriegt? Sag bloß, Freddie hat sich den still und heimlich unter den Nagel gerissen?“ „Ich stell dich mal laut, damit Irene mithören kann. Also, worum geht’s?“ „Hallo Irene. Es geht um eine Menge Blut. Die blutleere Leiche ist allerdings noch abgängig.“ „Wir suchen eine ausgezuzelte Leiche?“, fragte Irene nach. „Kann man so sagen.“ „Dann erzähl uns das mal der Reihe nach. Wer hat das Blut gefunden?“ „Die Reinigungskraft. Tja, und an der Kellertür fand Maria Fingerabdrücke, die sie einem registrierten Logiergast zuordnen konnte: Severin Böckl. Freddie und Werner haben ihn in seinem Haus aufgesucht. Natürlich ließen sie sich von ihm den Kofferraum seines Autos zeigen. Und siehe da: Das Blut dort ist identisch.“ „Was denn? Auch noch eine Menge Blut im Kofferraum?“ „Nein, da gab es nur ein paar Spritzer. Kaum dunkler als die Innenverkleidung. Das viele Blut befand sich im Wohnzimmer von Armin Lieske und hat sich kontrastreich vom hellen Teppich abgehoben. Vermutlich ist er das Opfer, weil er in seiner Firma vermisst wird.“ „Wir langweilen uns hier. Und was machen unsere Kollegen? Lösen den einzigen Fall quasi im Vorübergehen, statt ihn mit uns zu teilen.“ „Ihr scheint ja wirklich unter Entzugserscheinungen zu leiden. Ihr habt doch erst gestern einen Mörder überführt.“ „Schickst du uns dann wenigstens einen langen Bericht in Latein?“ „Ein Blutfleck gibt rechtsmedizinisch nicht allzu viel her. Es sei denn ihr interessiert euch für Blutgruppe, Rhesusfaktor etc.“ „Was heißt Scheiße auf Latein?“ „Ihr seid also mit eurem Latein am Ende.“ Hubert lachte. „Kann man so sagen.“ Im Nachbarzimmer wurden Schritte hörbar und kurz darauf Freddies Stimme: „Wir sind wieder da! Wo versteckt ihr euch?“ Es folgte ein Klopfen an der Tür. „Komm rein!“, antwortete Martin. „Da seid ihr ja!“ „Wir telefonieren gerade mit Hubert. Er hat uns erzählt, dass es einen neuen Fall gibt.“ „Hallo Hubert! Aber auch du weißt noch nicht alles. Wir haben der Firma von Lieske einen Besuch abgestattet. Na ja, das übliche Geschwätz von der gnadenlosen Konkurrenz bei Ausschreibungen. Trotzdem, nicht mal ein vager Verdacht gegen die ach so neidischen Mitbewerber. Immerhin gibt das Privatleben von Lieske Anlass zu Spekulationen, was jedoch schlichtweg bedeutet, dass niemand auch nur das Geringste weiß. Also sind wir ins Präsidium gefahren und haben uns an den gehalten, dessen Fingerabdrücke Maria an der Kellertür gefunden hat und der schon aktenkundig ist: Severin Böckl. Und der hat sogar bereitwillig zugegeben, dass Armin Lieske ihn gestern um 21 Uhr zu sich nach Grünwald bestellt hat. Kaum stand er vor dessen Haus, hat Lieske ihm telefonisch abgesagt. Angeblich ist Böckl dann gleich wieder heimgefahren. Zeugen dafür gibt es nicht. Wir hätten uns gern noch länger mit ihm unterhalten, aber blöderweise hat sein Anwalt dies verhindert. Der ist regelrecht reingeplatzt. Sogar Böckl wirkte überrascht. Ihr hättet sehen sollen, wie der gestrahlt hat. Meines Erachtens ist dieser Anwalt eine Nummer zu gut für ihn, so engagiert, wie der sich für ihn ins Zeug gelegt hat. Ganz anders als die Pflichtverteidiger, die sonst zugeteilt werden. Aber ich kann mich natürlich täuschen. Ich war doch zu sehr darauf eingestimmt, dass der Fall noch heute Vormittag gelöst ist. Und jetzt müssen wir tatsächlich ermitteln.“ „Wir könnten euch behilflich sein und die Verbindungsdaten anfordern“, schlug Irene vor. „Uns ist langweilig“, ergänzte Martin. Freddie blickte zunächst Irene und dann Martin verwundert an. „Nein. Das mach ich selber. Ihr braucht mir zu lange.“ „Und wir sollen hier derweil untätig herumhocken und Däumchen drehen? Das merke ich mir!“ Martin verschränkte die Arme. „Was meinst du, Werner? Haben wir Arbeit für die beiden übrig?“ Der betrachtete das Gesicht von Irene und sagte mit ernster Miene: „Hm, ich fürchte, die begehen glatt eine Verzweiflungstat, wenn wir nichts abgeben.“ „Also gut. Ihr dürft die Verbindungsdaten anfordern.“ Hubert, der noch in der Leitung hing, meldete sich zu Wort: „Maria hat mir den Teppich von Lieske überlassen. Ihr könnt euch das Beweisstück gerne bei mir anschauen. Und danach gehen wir gemeinsam essen. Ist doch sicher attraktiver als langweilige Telefonrechnungen zu durchforsten.“ „Gibt es bei dir in der Nähe einen Italiener, der eine gute Tomatensauce kredenzt?“ „Ja.“ „Dann kommen wir sofort!“ Hubert legte lachend auf. Martin grinste. „Ihr habt ja gehört, Hubert hat uns ein besseres Angebot gemacht. Tja, so ist das Leben.“ „Das merke ich mir!“, sagte Freddie, was sehr beleidigt klang. Im Nachbarbüro schlug die Tür ins Schloss. Hans ignorierte die Blicke, die sich an ihn hefteten. Er warf eine Zigarettenschachtel auf seinen Schreibtisch, bevor er sich davor setzte. Martin eilte hinaus und baute sich vor ihm auf. „Wir brauchen die Verbindungsdaten von Armin Lieske und Severin Böckl. Insbesondere müssen wir wissen, ob die beiden schon öfter Kontakt miteinander hatten.“ Weil Hans nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: „Was ist? Du willst doch korrekte Ermittlungsarbeit leisten. Also los, du übernimmst das!“ „Und ihr?“ „Tja, wir lassen uns von einem blutgetränkten Teppich zu neuen Tricks inspirieren. Nur zu, bring uns schnell die nötigen Beweise, bevor wir wieder zu unfairenMethoden greifen!“ Werner hörte zunächst verständnislos zu, bis er begriff: „Ach so, Hans hält uns vor, dass wir die Verbrecher unfair behandeln. Interessant.“ Hans hatte sich mittlerweile eingeloggt. „Hier sind zwei mit dem Namen Armin Lieske.“ „Schau nach der Adresse in der Mail von Herbert Reiser“, maulte Werner Hans an. „Aber Severin Böckl ist ein gebräuchlicher Name. Du musst mir schon sagen, welcher der Richtige ist!“ „Und wer hat dir geflüstert, dass es mehrere gibt? In München gibt es definitiv nur den einen.“ Freddie ergänzte: „Und besorg uns die Verbindungsdaten von dem Handy, das wir Böckl abgeknöpft haben. Die Nummer steht im Vernehmungsprotokoll.“ Hans begann nun tatsächlich, die Formulare auszufüllen.
Viel zu fröhlich nahmen Irene und Martin ihre Jacken, um zu Hubert ins Institut zu fahren. Freddie wartete noch kurz, bis sie draußen waren. Dann schlich er in Martins Büro. Wie an einem Tatort sah er sich suchend um. Er beugte sich über den Abfallbehälter und begann, darin zu wühlen. Werner war neugierig geworden und folgte Freddie. Verschwörerisch schloss er die Tür hinter sich. „Was machst du denn hier?“ Freddie hielt ihm eine leere Packung Kekse hin. „Na und?“ „Eine von etlichen!“ „Aha, darum sind die beiden so stressresistent.“ „Genau, die futtern ganz schön.“ „Kontrollierst du jeden Tag ihren Müll?“ „Nicht nötig. Ich weiß ja, wo Martin seine Vorräte versteckt.“ „Aber Irene doch bestimmt auch.“ „Glaub ich nicht. Die ist viel zu diensteifrig, als dass sie unsere Küche auf den Kopf stellt.“ „So so, in der Küche. Martins Tricks sind 1A.“ „Kann man wohl sagen. Diesmal hat er sich einen Komplizen verschafft … Ich besorge für ihn die Kekse und deponiere sie ganz oben im Schrank. Sogar ich erreiche sie nur auf Zehenspitzen. Irene müsste dafür auf einen Stuhl steigen.“ „Ich allerdings auch. Sie und ich sind ja in etwa gleich groß.“ „Irene darf nichts davon erfahren. Martin will sie damit immer wieder überraschen.“ „Überraschen oder verarschen? Die glaubt ihm doch nicht, dass er die Packungen aus dem Hut zaubert.“ „Sicher nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr Verstand auf Hochtouren arbeitet. Aber mich hat sie bestimmt nicht als Mittäter auf dem Schirm.“ „Wir sind ganz schön hinterhältig.“ „Wir?“ „Ab jetzt bin ich ja auch mit im Boot … Und womit schlagen wir die Zeit tot? Hans ist ja beschäftigt.“ „Du überprüfst die Kontodaten, und ich surfe ein bisschen herum. Mal sehen, was ich zu Böckl und Lieske finde. Vielleicht ist Sandra gerade online. Dann kann ich sie fragen, ob ihr langweilig ist.“ „Ja, mach das! Grüß sie von mir. Und Vicky auch!“ „Mit Vergnügen!“, sagte Freddie und öffnete die Tür zum Nachbarbüro.
Wenig später tippte Freddie wie ein wild gewordener Teenager. Werner beobachtete dies eine Weile stirnrunzelnd, bevor er anfing den Antrag auf Überprüfung der Kontodaten auszufüllen. Obwohl ein Telefonat schneller zum Ziel geführt hätte, entschied er sich diesmal für den offiziellen Weg.
***
Während Irene durch das wolkenverhangene München fuhr, lehnte sich Martin zurück. „Heute genieße ich so richtig die Fahrt.“ „Ich bin so froh, dass ich nicht länger unter Boreout-Symptomen leide. Mir war wirklich extrem langweilig.“ „Hubert hat uns gerettet. Andererseits ist es ja gut, wenn Freddie den Fall schnell aufklärt.“ „Im Moment sieht es so aus. Bislang sprechen die Indizien dafür, dass Böckl der Täter ist. Dummerweise fehlt die Leiche. Ich bin gespannt, ob er tatsächlich vor dem Mord mit Lieske telefoniert hat.“ „So blöd kann doch kein Mörder sein!“ Martin blickte auf seine Uhr. „In den zehn Minuten, die wir unterwegs sind, könnte Freddie allerdings schon weitere Indizien gefunden haben.“ „Fälle, die einfach zu lösen sind, sind sowieso nichts für uns.“ Irene schaute nachdenklich auf den fließenden Straßenverkehr. „Sind wir eigentlich krank, weil wir uns viele komplizierte Verbrechen wünschen?“ Dann lachte sie. „Ach was! Solange wir selbst keine Verbrechen begehen, ist es okay. Wünsche darf jeder haben. Auch wenn sie berufsbedingt etwas sonderbar sind.“
Hubert hatte sich bereits fürs Essen umgezogen. Dennoch führte er die beiden in den Obduktionsraum. Auf einem Seziertisch lag ausgebreitet der Teppich aus Lieskes Wohnzimmer, als sei er zum Kauf angeboten. Doch der imposante Blutfleck auf dem filigranen Muster in Pastellfarben würde den Preis deutlich drücken. Irene war sichtlich überrascht. „Ich hätte nie geglaubt, dass jemand soviel Blut verlieren kann. Passau ist wirklich die reinste Provinz. Hast du schon jemals an einem Tatort ein solches Blutbad vorgefunden? Oder hat Lieske eine volle Packung Aspirin geschluckt?“ Hubert lachte. „Nur die fast übliche Dosis. Deswegen wollte ich ja unbedingt, dass ihr euch das ganze Ausmaß anschaut. Ich hatte vor circa zehn Jahren einen Fall, bei dem ein Mann regelrecht zerstückelt worden war. Aber selbst damals fand man nicht eine solche Menge Blut.“ Irene dachte erst angestrengt nach, dann meinte sie lächelnd: „Gehen wir zum Italiener?“ „Nein. Ich hab in unserem Stammlokal reserviert.“
Wortlos schlenderten sie nebeneinander die gut 200 Meter zum Restaurant. Ein sanfter Wind umflatterte sie und kündigte den sehnsüchtig erwarteten Frühling an. Kaum saßen sie an ihrem Tisch, erzählte Hubert seine Geschichte einfach weiter: „Das war damals eine abscheuliche Sisyphusarbeit. Wir haben versucht, die abgetrennten Körperteile wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen. Tja, zwei Finger sind uns irgendwie abhanden gekommen. Oder der Mörder hatte sie als Andenken mitgenommen. Jedenfalls gelang es uns nicht, das Puzzle zu vervollständigen. Der Mord ereignete sich in einem Hotel, und das war auf Wochen im Voraus ausgebucht. Dieses Zimmer konnte allerdings 14 Tage nicht mehr belegt werden. Ich hab es mir spaßeshalber später mal zeigen lassen. Ein neuer Teppichboden und eine frisch getünchte Wand, ansonsten war es unverändert. Wenn ich daran denke, dass die fehlenden Finger vielleicht eine Falte im Teppichboden bilden …“ Hubert schaute beide an und lachte: „Ich wollte euch nur ein wenig aufs Essen einstimmen. Aber ihr seid ja wirklich hart im Nehmen.“ Der Kellner hatte mittlerweile den Tisch eingedeckt. Mit der Speisekarte in der Hand starrte er Hubert an. „Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische“, wandte er sich an ihn. „Sind Sie Krimiautor? Ich meine, weil der Chef Ihnen aus Rücksicht auf die anderen Gäste immer diesen Tisch im Nebenzimmer reserviert.“ „Nein, ich bin Rechtsmediziner und lehre an der Uni.“ „Dann … dann sind diese widerlichen Geschichten alle wahr?“ Dem Kellner war anzusehen, wie er zwischen Faszination und Entsetzen schwankte. „Sie brauchen nicht zu glauben, dass solche Verbrechen alltäglich sind“, antwortete Hubert besänftigend. „Ich bin nur schon seit 20 Jahren mit dem Sezieren von Leichen beschäftigt. Da sammelt sich einiges an Kuriositäten an.“ Der Kellner schluckte. „Ist München nun eine sichere Stadt?“ „Das können Ihnen die beiden hier sagen. Die sind von der Mordkommission.“ „Und ich hab Sie für Schauspieler gehalten.“ Martin fragte lächelnd: „Welche Rollen hätten Sie uns denn zugedacht?“ „Nun ja, dass Sie beide ein Liebespaar sind, merkt ja jeder. Ich hab mir ausgemalt, dass Sie bei romantischen Spaziergängen über bestialisch Ermordete stolpern.“ „Da muss ich Sie enttäuschen. Aber letztes Jahr hat tatsächlich ein Ehepaar kurz hintereinander zwei Leichen entdeckt. Seither übersehen sie bei ihren Spaziergängen geflissentlich alle Toten am Wegesrand.“ „Bestimmt waren auch diese beiden Leichen grausam verstümmelt.“ „Nein, nicht einmal. Der eine Mann wurde erschossen. Hm ... von dem anderen lag der Kopf in einem Bach. Das war allerdings in Südtirol.“ Als der Kellner angewidert das Gesicht verzog, sagte Irene: „Sie hätten uns also eine so angenehme Rolle auf den Leib geschrieben. Zu schade, dass wir keine Schauspieler sind.“ „Ich würde jetzt gerne Ihre Bestellung aufnehmen, wenn Ihnen der Appetit nicht vergangen ist.“ „Ist er nicht“, entgegnete Martin und schlug die Speisekarte auf. „München ist wirklich eine der sichersten Großstädte der Welt.“ „Ich bin aus Passau. Im Vergleich zu hier ist das ein verschlafenes Nest.“ Irene lächelte. „Dort war ich drei Jahre …“ „Was? Passau hat eine Mordkommission?“ „Nein, nur eine Polizeiinspektion. Einen Mordfall gab es allerdings. Ich dachte damals, ich nehme ein Geständnis auf, dabei wollte der vermeintliche Täter nur seinen Nachbarn anschwärzen und einlochen lassen.“ „Ja, so sans die Niederbayern. Hinterfotzig bis earna oaner oans drauf haut.“ Der Kellner lachte und wechselte in seine professionelle Haltung. „Möchten Sie nun bestellen?“ „Eine Tomatensuppe, bitte“, begann Martin. Angewidert sagte Irene: „Ich nehme die Tagessuppe.“ „Also ebenfalls Tomatensuppe.“ „Was? Nein! Sie haben doch sonst immer eine leckere Gemüsesuppe.“ „Die kann ich Ihnen gerne bringen. Und Sie?“ „Für mich bitte auch die … Gemüsesuppe. Ich hab heute schon genug Rot gesehen.“
Satt und fröhlich gestimmt fuhren sie ins Büro zurück. Martin blieb vor der Eingangstür stehen: „Was meinst du? Wie viel Fall wird für uns noch übrig sein?“ „Wenn Freddie ihn gelöst hat, dann durchstöbere ich jeden Winkel, bis ich endlich deine nie versiegende Schokokeksquelle gefunden habe und futtere, bis ich platze.“ „Ist aber ein sehr gutes Versteck!“, meinte Martin grinsend und öffnete die Eingangstür zum Büro. Folgendes Bild bot sich ihnen: Freddie saß entspannt vor dem Monitor, Werner stand lachend hinter ihm, während Hans auf seinen eigenen Bildschirm starrte. Als sie sich näherten, legte Werner den Zeigefinger an die Lippen und winkte die beiden heran. „Kommt ruhig her!“, sagte Freddie. „Ich chatte mit Sandra. Ihr dürft gerne mitlesen.“ „Wann darf sie wieder zum Fußball-Training?“, fragte Irene sogleich. „Sie ist bereits eifrig dabei. Dafür, dass sie vor gerade mal zwei Monaten als tot galt, geht es ihr echt super. Ihre Ärztin meint allerdings, dass sie sich schont.“ „Dann lesen wir gleich mal, was sie darüber hinaus verheimlicht.“ Sie reihten sich hinter Freddie auf und verfolgten die humorvollen Wortgefechte zwischen den beiden. Schon bald konnte Irene ihr Lachen kaum noch unterdrücken und so löste sie ihren Blick vom Chat. Sie erfasste nach und nach die weiteren Fenster auf Freddies Bildschirm. Immer mehr wurde ihr klar, dass es sich dabei um Suchanfragen zu Lieske und Böckl handelte, die Freddie so ganz nebenbei schrittweise verfeinerte. Zudem entdeckte sie eine Übersicht sämtlicher relevanten Erkenntnisse. Werner flüsterte Irene zu: „Seit etwa 15 Minuten beobachte ich, wie er gut und gerne vier Seiten zusammen kopiert und gleichzeitig chattet. Es ist unglaublich.“ Mächtig stolz drehte Freddie sich um. „Jetzt hab ich mich gar nicht um euch gekümmert. Ich drucke euch mein Sammelsurium aus, bevor ich verschwinde.“ „Aber inklusive Chat, bitte“, sagte Irene. „Falls mir wieder langweilig ist, werde ich mir damit die Zeit vertreiben.“ „Für mich auch eine Kopie … von beidem“, schloss sich Werner an. „So hat meine Frau auch was zu lachen.“ Freddie grinste breit. „Wenn Sandra nichts dagegen hat. Ich werde sie gleich fragen.“ Während sie auf eine Antwort warteten, verkündete plötzlich Hans: „Die Verbindungsdaten sind da. Ich hab sie an euch weitergeleitet.“ Er stand auf, griff zuerst nach seiner Zigarettenschachtel und dann nach seiner Lederjacke. An der Eingangstür traf er mit Stefan zusammen. Wortlos drängte sich Hans an ihm vorbei und rempelte ihn dabei an. „Hallo, was soll das?“ Kopfschüttelnd ließ Stefan die Tür zufallen. „Das wird ja immer schlimmer mit dem“, murmelte er. Als er sah, wie sich die anderen gespannt um Freddies Bildschirm scharten, fragte er sogleich: „Ist etwas passiert? Kann ich mithelfen?“ „Wir haben einen neuen Fall“, antwortete Martin. „Eine Menge Blut, aber bislang keine Leiche. Wir … bzw. Freddie ist gerade dabei, alle Informationen zusammenzutragen.“ „Ihr seht ja selber: Sandra ist einverstanden“, verkündete Freddie. „Was hat Sandra mit dem neuen Fall zu tun?“ „Das ist eine andere Geschichte.“ „Schade. Ich hätte früher anfangen sollen.“ „Nein, wir bleiben bei dieser Regelung.“ Im Hintergrund läutete ein Telefon. „Es ist Herbert Reiser!“, sagte Werner aufgeregt, griff sich den Hörer und stellte den Lautsprecher an. „Was gibt’s? Du kannst es gleich uns allen erzählen!“ „Wunderbar!“ Mit der plärrenden Stimme eines Marktschreiers verkündete er: „Hochverehrtes Publikum, heute darf ich Ihnen eine ganz besondere Attraktion bekannt geben!“ Werner riss die Hörmuschel vom Ohr weg. „Hey, spinnst du!“ Herbert kicherte, räusperte sich und teilte nun in normaler Tonlage mit: „Ein neuer Mordfall. Für euch nichts Außergewöhnliches. Diesmal in der Unterführung bei der U-Bahnstation Freimann. Ihr könnt also mit dem ÖPNV hinfahren.“ „Sehr gut, mit meiner Monatskarte ist das kein Problem. Ich hetze vor zum Marienplatz und steig in die nächste U6.“ „Du und Freddie, ihr habt ja heute schon jemanden verhaftet. Deshalb dachte ich eher an … eure Kollegin und an Martin.“ „Ich heiße Irene“, schallte es durch den Raum. „Hallo Irene! Du und Martin, ihr habt vor Kurzem drei Verbrechen an einem Tag aufgeklärt. Wenn ihr euch beeilt, könntet ihr am Abend sogar einen dritten Fall lösen, sofern noch einer reinkommt. Dann hättet ihr wieder einen Supertag in eurer Bilanz.“ Irene suchte vergeblich nach einer passenden Antwort, um die hohen Erwartungen zu dämpfen. Stattdessen warf Martin ein: „Wir sind schon so gut wie unterwegs. Und wir nehmen die U-Bahn.“ „Du darfst auch mit dem Auto fahren. In letzter Zeit schaffst du es ja wundersamerweise ohne Blechschäden.“ Irene fragte sofort wie beiläufig: „Gibt es diesmal am Tatort eine Leiche?“ „Ja, diesmal ist alles gut arrangiert. Ist wirklich blöd, wenn man einen möglichen Täter und kein Opfer hat. Aber ihr zwei solltet euch jetzt beeilen. Die Spurensicherung ist dort bereits seit einer halben Stunde am Werkeln.“ Irene und Martin nahmen ihre Jacken. Freddie rief ihnen hinterher: „Ich leg euch die Unterlagen hin. Ruft an, wenn ich für euch im Internet recherchieren soll.“ „Machen wir! Wir teilen gern.“
Das übliche geschäftige Gedränge auf dem Weg zum Marienplatz ließ Irene und Martin kurzzeitig den neuen Fall vergessen. Sie stempelten ihre Streifenkarte ab, drückten sich auf der Rolltreppe an sperrigen Einkaufstaschen vorbei und erreichten gerade noch die bereits einfahrende U6. „Was ist denn das für eine sonderbare U-Bahn?“, fragte Irene kurz vor der Station Studentenstadt verwundert. „Die U6 fährt nicht durchgängig unter der Erde. Auch Freimann ist ein oberirdischer Bahnhof.“ „Sehr gut! Dann fällt schon mal die Schlagzeile U-Bahn-Mord flach. Wie weit ist es noch?“ „Die nächste Station.“ Als sie ausstiegen, brach die Sonne durch die Wolken und ließ die Welt freundlicher aussehen. Obwohl von den Treppenstufen zur Unterführung der Tatort nicht einsehbar war, lauerten bereits hier dichtgedrängt Schaulustige. Mit Routine eilte Martin, gefolgt von Irene, zum Absperrband. Als wären die beiden die erwartete Hauptattraktion, wichen die Umstehenden zurück. Von der anderen Seite kam ihnen Berthold entgegen. Er hielt das Flatterband für sie hoch und führte sie zum Tatort. Dabei fragte er interessiert: „Wie machst du das nur? Nicht mal ich mit meinem Umfang bekomme soviel Platz eingeräumt.“ „Das ist ein einfacher Trick. Wenn man schnell geht, stößt man mit niemanden zusammen.“ „Funktioniert das wirklich?“ „Nun ja, diesmal hat es geklappt.“ In einiger Entfernung von den Gaffern berichtete Berthold ihnen von den ersten Ergebnissen: „Die Ermordete heißt Eleonore Kleinschmitt. Sie wohnt in Erding. Vor etwa einer Stunde wurde sie mit einer Schussverletzung tot aufgefunden. Und jetzt haltet euch fest: Die Tote war ein Model. Sogar ziemlich prominent. Eine unserer uniformierten Kolleginnen kennt ihr Gesicht aus Modejournalen.“ Martin sagte überrascht: „Das bedeutet, die Frau wurde gegen halb zwei erschossen. Wie ist so was am helllichten Tag möglich?“ „Nun das ist gar nicht so abwegig, wie man meinen könnte. Es gibt noch eine zweite Unterführung. Deshalb kann es sein, dass diese zwischendurch menschenleer ist, insbesondere wenn gerade keine U-Bahn einfährt. Und auch von den umstehenden Häusern ist nicht zu sehen, was hier unten los ist. Folglich: ein idealer Tatort.“ „Mord an einem prominenten Model. Die Presse wird sich darauf stürzen.“ „Tja, deshalb werdet ihr beiden gebraucht.“ „Es ist ja noch gar nicht sicher, ob der Mordfall von heute Vormittag wirklich aufgeklärt ist.“ „Vergesst den! Dieser hat höchste Priorität! Euer Chef will, dass ihr ihn möglichst rasch aus den Schlagzeilen herausholt. Eigentlich ist schon schlimm genug, dass die Frau am helllichten Tag ermordet wurde. Wenn sie tatsächlich berühmt war, wird Weinziertl euch ständig beknien. Aber lasst euch nur nicht unter Druck setzen. Der Medienrummel kann euch egal sein. Dafür haben die im Präsidium gewiefte Pressesprecher.“ Martin blickte zu Irene und sah förmlich, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, und so sprach er weiter: „Sollen die das machen! Unsere Ermittlungsarbeit lebt von innerer Ruhe. Wie war noch mal diese Übung?“ Martin imitierte mit den Händen die Raute, mit der die Ex-Kanzlerin gerne öffentlich posierte, und schon lächelte Irene entspannt. Ein Stimmengewirr im Kreis der Schaulustigen ließ alle drei herumfahren. Aus der Menschentraube ragte Hubert hervor, der zum Leichenfundort eilte. Lächelnd sagte Berthold: „Ich kann die Leute verstehen. Vor Hubert habe ich auch großen Respekt.“ Doch gerade jetzt bückte sich der Rechtsmediziner mühsam unter das Absperrband, das einer der Polizisten für ihn so weit wie möglich anhob. Huberts Miene hellte sich auf, während er auf Irene und Martin zuschritt. „Wäre ich ein paar Minuten früher informiert worden, hätte ich euch mitgenommen. Ihr beide wart übrigens von Anfang an als Ermittlungsteam vorgesehen. Das Präsidium will schnell einen Täter präsentieren. Auf dem Weg zu euch wurde sogar ich x-mal fotografiert.“ „Von wem stammt die blöde Idee, dass wir zaubern können?“, fragte Irene verärgert. „Von eurem Chef! Er hat das gewohnt zurückhaltend formuliert: Ihr sollt euch vorrangig mit der Toten in der Unterführung befassen … So, jetzt habt ihr einen Fall exklusiv für euch und müsst nicht bei Freddie um Arbeit betteln.“ „Wir werden Freddie wohl noch um das Blut in Grünwald beneiden.“ Irene seufzte. „Weinziertl schiebt richtig Panik. Er hat mich angerufen, als ich gerade zu meiner Vorlesung aufbrechen wollte. Er hat mich gebeten, alles stehen und liegen zu lassen und umgehend vor Ort erste Erkenntnisse zu sammeln. Tja, ich bin seinem Wunsch gefolgt und habe etwas gut bei ihm.“ Martin wurde sich des enormen Ermittlungsdrucks bewusst und schluckte. „Ich bin schon gespannt, wann du vom Fernsehen interviewt wirst“, spöttelte Hubert. „Es macht sich immer gut, wenn wir statt zu ermitteln, in Talkshows verkünden, dass München die sicherste Stadt des Universums ist.“ „Genau! Auf so eine frohe Botschaft warten die Bürgerinnen und Bürger.“ „Würdest du mir glauben?“ „Du kannst überzeugend lügen. Aber ob es für eine Nahaufnahme im HD-Format ausreicht? Da sieht man …“ „… jeden Anflug von Panik und ganz besonders gut, wenn jemand hyperventiliert.“ „Ich schaue mir wohl am besten gleich mal die Tote an. Vielleicht bleibt euch dadurch einige Aufregung erspart. Sofern ihr den Fall heute noch löst, hält der Polizeipräsident liebend gern seinen Kopf in die Kameras.“ „Das wäre geradezu ideal: Du findest mit deinen Analysen den Mörder, und er ist fein raus. Wir natürlich auch.“ „Jetzt setzt ihr mich unter Druck. Und die beiden da vorne erscheinen mir ebenfalls völlig frustriert.“ Er deutete auf Maria und Erwin von der Spurensicherung. „Wenn die beiden unter diesen schwierigen Bedingungen eine Fährte entdecken, die uns zum Mörder leitet, wäre das eine Sensation.“ „Sieht eher nicht so aus. Na ja, vielleicht hat der Täter ja für mich einen Hinweis hinterlegt.“ Hubert schlüpfte in seinen weißen Overall und näherte sich der Leiche. Irene und Martin blieben auf Distanz. Die grellen Strahler leuchteten das am Boden liegende Model aus, als wäre es zu einem Fotoshooting der besonderen Art bestellt. „Hat Berthold tatsächlich gesagt, dass sie in Modejournalen abgebildet war?“, flüsterte Irene. „Ich hatte insgeheim gehofft, es handelt sich um eine dieser vielen Influencerinnen mit einem kleinen virtuellen Fanclub.“ „Als ob es nicht genug wäre, dass eine junge Frau ermordet wurde.“ Martin lächelte angespannt: „Soll ich mir schon einen Text für das Interview zurechtlegen … Ach was, den vergesse ich ohnehin.“ Berthold übergab ihm indessen die Handtasche, die neben dem toten Model lag, und meinte: „Das Übliche würde ich sagen, was Frauen halt so mitschleppen. In der Geldbörse waren 156 Euro und 13 Cent, ein Studentenausweis sowie ein Studententicket für das gesamte S-Bahn-Netz. Die EC-Karte ist auch nicht entwendet. Ein Raubüberfall scheidet somit aus.“ Martin fischte eine Brille heraus und hielt sie sich vor die Augen. „Ich kann damit gar nichts erkennen. Die Tote muss blind wie ein Maulwurf gewesen sein.“ Er reichte sie an Irene weiter. „Ich würde sagen, sie war auf beiden Augen ziemlich stark kurzsichtig. Warum hat sie die Brille nicht aufgesetzt?“ „Verstehe ich auch nicht. Moment mal … Tatsächlich im Führerschein ist eine Sehhilfe eingetragen.“
Hubert winkte die beiden heran. Und so standen sie nun ergriffen vor der Toten, die zusammengekrümmt am Boden lag. Obwohl ihr Gesicht schmerzverzerrt war, wies es dank des perfekten Make-ups einen rosigen Teint auf. Ein intensives Parfüm mit einer Frühlingsnote umwehte ihren Körper. Der dunkelrote Fleck im Brustbereich kontrastierte deutlich zu dem cremefarbenen, exquisiten Mantel. Darunter lugte ein Seidenkleid in pink hervor. Die wohlgeformten Beine steckten in hellen Stiefeletten aus weichem Leder. Irene betrachtete die etwa 20-Jährige lange. Schließlich sagte sie traurig: „So eine schöne Frau, und dann endet sie auf solch grausame Weise an diesem schrecklichen Ort. Ich verstehe zwar nicht viel von dieser Art Mode, aber ich würde dennoch behaupten: Die hier ist sündhaft teuer.