Dorothy und der Zauberer in Oz - Die Oz-Bücher Band 4 - L. Frank Baum - E-Book

Dorothy und der Zauberer in Oz - Die Oz-Bücher Band 4 E-Book

L. Frank Baum

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Beschreibung

Im 4. Band der Oz-Reihe - Dorothy und der Zauberer in Oz - widerfährt Dorothy ein Mißgeschick, das sie tief ins Innere der Erde fallen läßt. Gemeinsam mit dem Zauberer von Oz, dem Jungen Zeb sowie einer Katze, einem Pferd und neun kleinen Schweinchen macht sie sich auf den beschwerlichen Weg zurück an die Erdoberfläche. Dabei müssen die Freunde feindlich gesonnenen Völkern, wilden Bären und bösartigen Gargoyles entkommen. Als sie in einer Drachenhöhle festsitzen, scheint das Ende nah. Doch dann hat Dorothy einen zauberhaften Einfall ... Empfohlenes Alter: 5 bis 10 Jahre. Große Schrift, auch für Leseanfänger geeignet.

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Seitenzahl: 207

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Nach dem Text der amerikanischen Erstausgabe von „Dorothy and the Wizard in Oz“ (1908) übersetzt von Maria Weber

Inhalt.

An meine Leser.

Kapitel 1: Das Erdbeben.

Kapitel 2: Die gläserne Stadt.

Kapitel 3: Die Ankunft des Zauberers.

Kapitel 4: Das Pflanzenkönigreich.

Kapitel 5: Dorothy pflückt die Prinzessin.

Kapitel 6: Die Mangaboos erweisen sich als gefährlich.

Kapitel 7: In die Schwarze Grube und wieder hinaus.

Kapitel 8: Das Tal der Stimmen.

Kapitel 9: Sie kämpfen gegen die unsichtbaren Bären.

Kapitel 10: Der bezopfte Mann vom Pyramidenberg.

Kapitel 11: Sie treffen auf die hölzernen Gargoyles.

Kapitel 12: Eine wunderbare Flucht.

Kapitel 13: Die Höhle der Drachenkinder.

Kapitel 14: Ozma benutzt den magischen Gürtel.

Kapitel 15: Alte Freunde sind wieder vereint.

Kapitel 16: Jim, der Droschkengaul.

Kapitel 17: Die neun kleinen Ferkel.

Kapitel 18: Der Prozeß des Kätzchens Heureka.

Kapitel 19: Der Zauberer führt einen weiteren Trick vor.

Kapitel 20: Zeb kehrt zur Ranch zurück.

An meine Leser.

ES hat keinen Zweck, überhaupt keinen. Die Kinder lassen mich nicht aufhören, Geschichten über das Land von Oz zu erzählen. Ich kenne viele andere Geschichten, und ich hoffe, sie irgendwann einmal zu erzählen; aber derzeit erlauben es mir meine lieben Tyrannen nicht. Sie rufen: „Oz – Oz! Mehr über Oz, Mr. Baum!“, und was kann ich anderes tun, als ihren Befehlen zu gehorchen?

Dies ist unser Buch – von mir und den Kindern. Denn sie haben mich mit Tausenden von Vorschlägen überflutet, und ich habe mich ernstlich bemüht, so viele dieser Vorschläge zu übernehmen, wie in eine Geschichte passen.

Nach dem wunderbaren Erfolg von „Ozma von Oz“, ist es offensichtlich, daß Dorothy eine feste Größe in diesen Oz-Geschichten geworden ist. Die Kleinen lieben Dorothy und wie einer meiner kleinen Freunde treffend sagt: „Ohne sie ist es keine echte Oz-Geschichte.“ Nun, hier ist sie wieder, so freundlich und sanft und unschuldig wie immer, wie ich hoffe, und die Heldin eines weiteren außergewöhnlichen Abenteuers.

Es gab viele Anfragen von meinen kleinen Korrespondenten nach „mehr über den Zauberer“. Es scheint, als ob der fröhliche alte Bursche im ersten Oz-Buch einige Freundschaften geknüpft hat, obwohl er sich selbst als „Schwindler“ bezeichnete. Die Kinder hatten gehört, wie er mit einem Ballon in den Himmel stieg und sie warteten alle darauf, daß er wieder herunterkam. Was konnte ich also anderes tun, als zu erzählen, „was danach mit dem Zauberer passiert“ ist? Ihr werdet ihn auf diesen Seiten als genau den gleichen betrügerischen Zauberer wie zuvor finden.

Es gab eine Sache, die die Kinder forderten, die ich in diesem vorliegenden Buch unmöglich tun konnte: Sie baten mich, über Toto, Dorothys kleinen schwarzen Hund, zu schreiben, der viele Freunde unter meinen Lesern hat. Aber ihr werdet sehen, wenn ihr anfangt, die Geschichte zu lesen, daß Toto in Kansas war, während sich Dorothy in Kalifornien aufhielt, und so mußte sie ihr Abenteuer ohne ihn beginnen. In diesem Buch mußte Dorothy statt ihres Hundes ihr Kätzchen mitnehmen; aber im nächsten Oz-Buch, wenn ich eines schreiben darf, werde ich viel über Totos weitere Geschichte erzählen.

Prinzessin Ozma, die ich ebensosehr liebe wie meine Leser, wird wieder in dieser Geschichte vorkommen, und auch einige unserer alten Freunde von Oz. Ihr werdet auch den Droschkengaul Jim, die neun kleinen Ferkel und das Kätzchen Heureka kennenlernen. Es tut mir leid, daß das Kätzchen sich nicht so gut benahm, wie es das hätte tun sollen; aber vielleicht wurde es nicht richtig erzogen. Dorothy hat es gefunden, und niemand weiß, wer seine Eltern waren.

Ich glaube, meine Lieben, daß ich der stolzeste Geschichtenerzähler bin, der je gelebt hat. Viele Male standen Tränen des Stolzes und der Freude in meinen Augen, während ich die freundlichen, interessierten Briefe las, die ich beinahe täglich von meinen kleinen Lesern erhielt. Euch zu erfreuen, euch zu interessieren, eure Freundschaft und vielleicht auch eure Zuneigung durch meine Geschichten gewonnen zu haben, ist für mich eine größere Errungenschaft, als der Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. In der Tat wäre ich unter diesen Umständen viel lieber euer Geschichtenerzähler als der Präsident. So habt ihr mir geholfen, meinen Lebenstraum zu erfüllen, und ich bin euch, meine Lieben, dankbarer, als ich in Worten ausdrücken kann.

Ich versuche jeden Brief meiner jungen Korrespondenten zu beantworten; doch manchmal erreichen mich so viele Briefe, daß ein wenig Zeit vergeht, bevor ihr eure Antwort bekommt. Aber seid geduldig, Freunde, denn die Antwort wird sicherlich kommen, und indem ihr mir schreibt, zahlt ihr mir die angenehme Aufgabe, diese Bücher zu schreiben, reichlich zurück. Außerdem bin ich stolz darauf, anzuerkennen, daß die Bücher zum Teil euch gehören, denn eure Vorschläge führen mich oft dazu, die Geschichten zu erzählen, und ich bin mir sicher, daß sie ohne eure kluge und durchdachte Unterstützung nicht halb so gut wären.

L. FRANK BAUM

Coronado, 1908.

Kapitel 1.

Das Erdbeben.

DER Zug aus San Francisco hatte sich sehr verspätet. Es hätte um Mitternacht in Hugson’s Siding ankommen sollen, aber es war bereits fünf Uhr, und die graue Morgendämmerung brach im Osten an, als der kleine Zug langsam in den offenen Schuppen, der als Bahnhofsgebäude diente, rumpelte. Als er zum Stehen kam, rief der Schaffner mit lauter Stimme:

„Hugson’s Siding!“

Sofort erhob sich ein kleines Mädchen von ihrem Sitz und ging zur Tür des Waggons, einen Korbkoffer in einer Hand und einen runden Vogelkäfig, der mit Zeitungen abgedeckt war, in der anderen, während ein Sonnenschirm unter ihrem Arm klemmte. Der Schaffner half ihr aus dem Wagen, und dann setzte der Lokführer seinen Zug wieder in Bewegung, so daß er schnaufte und ächzte und sich langsam das Gleis hinauf bewegte. Er war deswegen so spät, weil es während der ganzen Nacht Zeiten gegeben hatte, in denen die feste Erde unter ihm zitterte und bebte, und der Lokführer befürchtete, daß sich die Schienen jeden Moment verwerfen und seinen Passagieren ein Unglück widerfahren könnte. Also bewegte er die Waggons langsam und vorsichtig.

Das kleine Mädchen blieb stehen, um zuzusehen, bis der Zug um eine Kurve verschwunden war; dann wandte sie sich um, um zu sehen, wo sie war.

Der Schuppen in Hugson’s Siding war bis auf eine alte Holzbank leer und sah nicht sehr einladend aus. Wie sie durch das dämmrige graue Licht spähte, war in der Nähe des Bahnhofs weder ein Haus zu sehen, noch war irgend jemand in Sichtweite; aber nach einer Weile entdeckte das Kind ein Pferd und einen leichten Wagen, die in kurzer Entfernung nahe einer Gruppe von Bäumen standen. Sie ging darauf zu und stellte fest, daß das Pferd an einen Baum gebunden war und bewegungslos dastand. Sein Kopf hing fast bis zum Boden herab. Es war ein großes knochiges Pferd, mit langen Beinen und großen Knien und Hufen. Sie konnte seine Rippen, wo sie sich durch die Haut seines Körpers abzeichneten, leicht zählen, und sein Kopf war lang und schien zu groß für es zu sein, als ob er nicht paßte. Sein Schweif war kurz und struppig, und sein Geschirr war an vielen Stellen zerbrochen und mit Schnüren und Drahtstücken wieder zusammengebunden. Der Wagen schien fast neu zu sein, denn er hatte eine glänzende Oberfläche und ein sauberes Verdeck. Als sie darum herumging, um hineinschauen zu können, sah das Mädchen einen Jungen, der sich auf dem Sitz zusammengerollt hatte und fest schlief.

Sie stellte den Vogelkäfig ab und stupste den Jungen mit ihrem Sonnenschirm an. Jetzt wachte er auf, erhob sich in eine sitzende Position und rieb sich die Augen.

„Hallo!“, sagte er, als er sie sah: „Bist du Dorothy Gale?“

„Ja“, antwortete sie und sah ernst auf sein zerzaustes Haar und in seine blinzelnden grauen Augen. „Bist du gekommen, um mich zur Hugson’s Ranch zu bringen?“

„Natürlich“, antwortete er. „Ist der Zug da?“

„Ich könnte nicht hier sein, wenn er es nicht wäre“, sagte sie.

Er lachte darüber und sein Lachen war fröhlich und offenherzig. Er sprang aus dem Wagen und stellte Dorothys Koffer unter den Sitz und ihren Vogelkäfig auf den Boden davor.

„Kanarienvögel?“, fragte er.

„Oh nein, es ist nur Heureka, mein Kätzchen. Ich dachte, das wäre der beste Weg, sie zu tragen.“

Der Junge nickte.

„Heureka ist ein komischer Name für eine Katze“, bemerkte er.

„Ich habe mein Kätzchen so genannt, weil ich es gefunden habe“, erklärte sie. „Onkel Henry sagt, ‚Heureka‘ bedeutet, ‚ich habe es gefunden‘.“

„Alles klar, hüpf rein.“

Sie kletterte in den Wagen und er folgte ihr. Dann nahm der Junge die Zügel auf, ließ sie herabschnellen und sagte „Hü!“

Das Pferd rührte sich nicht. Dorothy schien es, daß es nur mit einem seiner herabhängenden Ohren zuckte, aber das war alles.

„Hü!“, rief der Junge wieder.

Das Pferd stand still.

„Vielleicht“, sagte Dorothy, „würde es gehen, wenn du es losbinden würdest.“

Der Junge lachte fröhlich und sprang heraus.

„Ich schätze, ich bin noch halb im Schlaf“, sagte er und band das Pferd los. „Aber Jim weiß, was er zu tun hat, nicht wahr, Jim?“, dabei tätschelte er die lange Nase des Tieres.

Dann stieg er wieder in den Wagen und nahm die Zügel auf, und das Pferd wich sofort vom Baum zurück, drehte sich langsam um und begann, die sandige Straße hinunterzutraben, die im schwachen Licht gerade so sichtbar war.

„Dachte schon, dieser Zug würde nie kommen“, bemerkte der Junge. „Ich habe fünf Stunden vor diesem Bahnhof gewartet.“

„Wir hatten viele Erdbeben“, sagte Dorothy. „Hast du nicht gespürt, wie der Boden gebebt hat?“

„Doch, aber wir sind solche Dinge in Kalifornien gewöhnt“, antwortete er. „Sie machen uns nicht viel Angst.“

„Der Schaffner sagte, es wäre das schlimmste Beben gewesen, das er je erlebt hätte.“

„Hat er das? Dann muß es passiert sein, während ich geschlafen habe“, sagte er nachdenklich.

„Wie geht es Onkel Henry?“, fragte sie nach einer Pause, während der das Pferd mit langen, regelmäßigen Schritten weitertrabte.

„Es geht ihm recht gut. Er und Onkel Hugson haben einen schönen Besuch gehabt.“

„Ist Mr. Hugson dein Onkel?“, fragte sie.

„Ja. Onkel Bill Hugson hat die Schwester deines Onkels Henry geheiratet, also müssen wir Cousins zweiten Grades sein“, sagte der Junge vergnügt. „Ich arbeite für Onkel Bill auf seiner Ranch, und er zahlt mir sechs Dollar im Monat und Verpflegung.“

„Ist das nicht ganz schön viel?“, fragte sie.

„Es ist eine ganze Menge für Onkel Hugson, aber nicht für mich. Ich bin ein großartiger Arbeiter. Ich arbeite ebensogut wie ich schlafe“, fügte er lachend hinzu.

„Wie ist dein Name?“, fragte Dorothy und dachte, daß sie die Art des Jungen und den fröhlichen Klang seiner Stimme mochte.

„Nicht sehr hübsch“, antwortete er, als ob er sich ein wenig schämte. „Mein ganzer Name lautet Zebediah; aber die Leute nennen mich nur ‚Zeb‘. Du warst schon einmal in Australien, nicht wahr?”

„Ja, mit Onkel Henry“, antwortete sie. „Wir sind vor einer Woche nach San Francisco gekommen, und Onkel Henry ist gleich auf einen Besuch zur Hugson’s Ranch gefahren, während ich ein paar Tage bei ein paar Freunden in der Stadt geblieben bin.“

„Wie lange wirst du bei uns sein?“, fragte er.

„Nur einen Tag. Morgen müssen Onkel Henry und ich zurück nach Kansas. Wir waren lange weg, weißt du, und möchten daher bald wieder nach Hause kommen.“

Der Junge schnippte das große, knochige Pferd mit seiner Peitsche und sah nachdenklich aus. Dann wollte er etwas zu seiner kleinen Begleiterin sagen, aber bevor er sprechen konnte, begann der Wagen gefährlich von einer Seite zur anderen zu schwanken und die Erde schien sich vor ihnen aufzurichten. In der nächsten Minute gab es ein Getöse und ein scharfes Krachen, und Dorothy sah an ihrer Seite den Boden in einem weiten Spalt aufklaffen und dann wieder zusammenkommen.

„Du meine Güte!“, rief sie, und hielt sich am Eisengeländer des Sitzes fest. „Was war das?“

„Das war ein schrecklich großes Beben“, antwortete Zeb mit einem weißen Gesicht. „Es hat uns fast erwischt, Dorothy.“

Das Pferd hatte abrupt angehalten und stand felsenfest. Zeb schnalzte mit den Zügeln und drängte es zu gehen, aber Jim war stur. Dann knallte der Junge mit der Peitsche und berührte damit die Flanken des Tieres, und nach einem leisen protestierenden Stöhnen ging Jim langsam die Straße entlang.

Während einiger Minuten sprachen weder der Junge noch das Mädchen. Es lag ein Hauch von Gefahr in der Luft, und alle paar Augenblicke wurde die Erde heftig erschüttert. Jims Ohren standen aufrecht auf seinem Kopf und jeder Muskel seines großen Körpers war angespannt, als er nach Hause trabte. Er ging nicht sehr schnell, aber auf seinen Flanken begannen Schaumflecken zu erscheinen und manchmal erzitterte er wie Espenlaub.

Der Himmel war wieder dunkler geworden und der Wind machte seltsame schluchzende Geräusche, als er über das Tal fegte.

Plötzlich ertönte ein zerrendes, reißendes Geräusch, und die Erde teilte sich in einem weiteren großen Riß direkt unter der Stelle, wo das Pferd stand. Mit einem willden angsterfüllten Wiehern fiel das Tier in die Grube und zog den Wagen und seine Insassen mit sich.

Dorothy hielt sich am Wagenverdeck fest und der Junge tat ein gleiches. Der plötzliche freie Fall verwirrte sie, so daß sie nicht denken konnten.

Schwärze umhüllte sie von allen Seiten, und in atemloser Stille warteten sie darauf, daß der Fall aufhörte und sie gegen zerklüftete Felsen geschmettert wurden oder daß die Erde sich wieder über ihnen schloß und sie für immer in ihren schrecklichen Tiefen begrub.

Das schreckliche Gefühl des Fallens, die Dunkelheit und die schrecklichen Geräusche waren mehr, als Dorothy ertragen konnte und für einige Momente verlor das kleine Mädchen das Bewußtsein. Zeb, der ein Junge war, fiel nicht in Ohnmacht, aber er hatte große Angst, klammerte sich mit festem Griff an den Wagensitz und erwartete, daß jeder Moment sein letzter sein würde.

Kapitel 2.

Die gläserne Stadt.

ALS Dorothy wieder zu sich kam, fielen sie immer noch, aber nicht mehr so schnell. Das Wagenverdeck fing die Luft wie ein Fallschirm oder ein Regenschirm ein und hielt sie zurück, so daß sie mit einer sanften Bewegung nach unten schwebten, die nicht so unangenehm zu ertragen war. Das Schlimmste war ihr Grausen davor, den Grund dieses großen Risses in der Erde zu erreichen, und die natürliche Furcht, daß der plötzliche Tod sie jeden Augenblick ereilen würde. Ein häufiges Krachen hallte weit über ihren Köpfen wider, als die Erde sich zusammenfügte, wo sie sich gespalten hatte, und Steine und Lehmklumpen ratterten auf allen Seiten auf sie herunter. Diese konnten sie nicht sehen, aber sie konnten fühlen, wie sie auf das Verdeck des Wagens fielen, und Jim schrie fast wie ein menschliches Wesen, als ein Stein auf seinen knochigen Körper traf. Die Steine konnten das arme Pferd nicht wirklich verletzen, weil alles zusammen herabfiel; nur daß die Steine und das Geröll schneller fielen als das Pferd und der Wagen, die durch den Auftrieb der Luft zurückgehalten wurden, so daß das verängstigte Tier tatsächlich mehr erschrocken als verletzt wurde.

Wie lange dieser Zustand andauerte, konnte Dorothy nicht sagen, so sehr verwirrt war sie. Aber nach und nach, als sie mit klopfendem Herzen in die schwarze Kluft starrte, begann sie, schemenhaft die Gestalt des Pferdes Jim zu erkennen – wie es mit in die Luft erhobenem Kopf, nach oben gerichteten Ohren und mit seinen langen Beine in alle Richtungen ausgestreckt durch den leeren Raum taumelte. Und als sie den Kopf drehte, stellte sie fest, daß sie den Jungen neben sich sehen konnte, der bis jetzt ebenso ruhig und still geblieben war wie sie selbst.

Dorothy seufzte und begann leichter zu atmen. Sie begann zu begreifen, daß ihr nicht der Tod bevorstand, sondern daß sie lediglich ein neues Abenteuer begonnen hatte, das genauso seltsam und ungewöhnlich zu sein versprach wie jene, die ihr zuvor begegnet waren.

Mit diesem Gedanken faßte sich das Mädchen ein Herz und lehnte seinen Kopf über die Seite des Wagens, um zu sehen, woher das seltsame Licht kam. Tief unter sich sah sie sechs große leuchtende Kugeln in der Luft. Die zentrale und größte war weiß und erinnerte sie an die Sonne. Um sie herum waren, wie die fünf Zacken eines Sterns, die anderen fünf leuchtenden Kugeln angeordnet; eine in rosarot, eine in violett, eine in gelb, eine in blau und eine in orange. Diese prächtige Gruppe bunter Sonnen sandte Strahlen in alle Richtungen, und als Pferd und Wagen – mit Dorothy und Zeb – stetig nach unten sanken und sich den Lichtern näherten, begannen die Strahlen, all die zarten Tönungen eines Regenbogens anzunehmen, die immer deutlicher wurden, bis der ganze Raum prächtig erleuchtet war.

Dorothy war zu benommen, um viel zu sagen, aber sie beobachtete, wie eins von Jims großen Ohren sich violett färbte und das andere rosa, und überlegte sich, daß sein Schweif gelb und sein Körper blau und orange gestreift wie bei einem Zebra sein sollte. Dann sah sie Zeb an, dessen Gesicht blau und dessen Haar leuchtend rosa war, und lachte ein wenig nervös.

„Ist das nicht lustig?“, sagte sie.

Der Junge war erschrocken und seine Augen waren groß. Über Dorothys Gesicht verlief ein grüner Streifen, wo die blauen und gelben Lichter zusammenkamen, und ihr Aussehen schien seinen Schrecken noch zu vermehren.

„Ich s-s-sehe ü-überhaupt nichts L-lustiges daran!“, stammelte er.

In diesem Moment kippte der Wagen langsam auf die Seite und der Körper des Pferdes kippte ebenfalls. Aber sie fielen weiter, alle zusammen, und der Junge und das Mädchen hatten keine Schwierigkeiten, so wie zuvor auf dem Sitz zu bleiben. Dann drehten sie sich mit der Unterseite nach oben und drehten sich langsam weiter, bis sie wieder richtigherum waren. Während dieser Zeit strampelte Jim verzweifelt, alle seine Beine traten in die Luft; aber als es sich in seiner früheren Position wiederfand, sagte das Pferd erleichtert:

„Nun, das ist besser!“

Dorothy und Zeb sahen sich verwundert an.

„Kann dein Pferd reden?“, fragte sie.

„Nicht daß ich wüßte“, antwortete der Junge.

„Das waren die ersten Worte, die ich je gesagt habe“, rief das Pferd, das sie gehört hatte, „und ich kann nicht erklären, warum ich nun sprechen kann. Das ist ein schöner Schlamassel, in den ihr mich gebracht habt, nicht wahr?“

„Was das betrifft, stecken wir in demselben Schlamassel“, antwortete Dorothy fröhlich. „Aber macht euch keine Sorgen, es wird bald etwas passieren.“

„Oh, gewiß“, knurrte das Pferd, „und dann wird es uns leid tun, daß es passiert ist.“

Zeb erschauderte. All dies war so schrecklich und unwirklich, daß er es überhaupt nicht verstehen konnte und daher guten Grund hatte, Angst zu verspüren.

Schnell näherten sie sich den flammenden farbigen Sonnen und kamen nahe an sie heran. Das Licht wurde so hell, daß es in den Augen schmerzte, und sie bedeckten ihre Gesichter mit ihren Händen, um nicht geblendet zu werden. Es ging jedoch keine Hitze von den farbigen Sonnen aus, und nachdem sie an ihnen vorbeigezogen und unter ihnen waren, schloß das Wagenverdeck viele der durchdringenden Strahlen aus, so daß der Junge und das Mädchen ihre Augen wieder öffnen konnten.

„Wir müssen irgendwann auf den Grund kommen“, bemerkte Zeb mit einem tiefen Seufzer. „Wir können schließlich nicht für immer fallen.“

„Natürlich nicht“, sagte Dorothy. „Wir sind irgendwo in der Mitte der Erde, und die Aussichten stehen gut, daß wir bald die andere Seite davon erreichen werden. Aber es ist eine große Höhle, nicht wahr?“

„Schrecklich groß!“, antwortete der Junge.

„Wir nähern uns jetzt irgend etwas“, verkündete das Pferd.

Darauf legten sie beide den Kopf über den Wagen und blickten nach unten. Ja, da war Land unter ihnen, und auch nicht sehr weit weg. Aber sie schwebten sehr, sehr langsam – so langsam, daß es nicht mehr als Sturz bezeichnet werden konnte –, und die Kinder hatten reichlich Zeit, sich zu fassen und umzusehen.

Sie sahen eine Landschaft mit Bergen und Ebenen, Seen und Flüssen, sehr ähnlich denen auf der Erdoberfläche; aber die ganze Szenerie war prächtig von den bunten Lichtern der sechs Sonnen gefärbt. Hier und da waren Ansammlungen von Häusern, die aus klarem Glas zu bestehen schienen, weil sie so hell funkelten.

„Ich bin sicher, daß wir nicht in Gefahr sind“, sagte Dorothy sachlich. „Wir fallen so langsam, daß wir nicht in Stücke gerissen werden können, wenn wir landen, und dieses Land, in das wir kommen, scheint recht hübsch zu sein.“

„Wir werden aber nie wieder nach Hause kommen!“, erklärte Zeb mit einem Stöhnen.

„Oh, da bin ich mir nicht so sicher“, antwortete das Mädchen. „Aber laß uns nicht über solche Dinge besorgt sein, Zeb; wir können uns gerade jetzt nicht helfen, weißt du, und mir wurde immer gesagt, daß es dumm ist, sich über etwas zu ärgern, das man nicht ändern kann.“

Der Junge wurde still, da ihm keine Antwort auf eine so vernünftige Rede einfiel, und bald waren beide völlig damit beschäftigt, die seltsame Szenerie zu betrachten, die sich unter ihnen ausbreiteten. Sie schienen ins Zentrum einer großen Stadt zu fallen, in der es viele hohe Gebäude mit Glaskuppeln und in die Luft aufragenden Spitzen gab. Diese Spitzen waren wie große Speerspitzen, und wenn sie auf eine von ihnen stürzten, würden sie gewiß schwere Verletzungen erleiden.

Jim, das Pferd, hatte diese Spitzen ebenfalls gesehen, und seine Ohren standen aufrecht vor Angst, während Dorothy und Zeb gespannt die Luft anhielten. Aber nein, sie schwebten sanft auf ein breites, flaches Dach und kamen zu einem Halt.

Als Jim etwas Festes unter seinen Füßen fühlte, zitterten die Beine des armen Tieres so sehr, daß es kaum stehen konnte; aber Zeb sprang sofort aus dem Wagen auf das Dach, und er war so ungeschickt und hastig, daß er Dorothys Vogelkäfig umwarf, der auf das Dach hinausrollte, worauf der Boden abfiel. Sofort schlüpfte ein rosa Kätzchen aus dem Käfig, setzte sich auf das Glasdach, gähnte und blinzelte mit den runden Augen.

„Oh“, sagte Dorothy. „Da ist Heureka.“

„Das erste Mal, daß ich eine rosa Katze sehe“, sagte Zeb.

„Heureka ist nicht rosa, sie ist weiß. Es ist dieses seltsame Licht, das ihr diese Farbe gibt.“

„Wo ist meine Milch?“, fragte das Kätzchen und sah in Dorothys Gesicht. „Ich bin fast verhungert.“

„Oh, Heureka! Kannst du sprechen?“

„Sprechen! Spreche ich? Du liebe Güte, ich glaube ich tue es. Ist das nicht lustig?“, fragte das Kätzchen.

„Das ist alles ganz falsch“, sagte Zeb ernst. „Tiere sollten nicht reden. Aber selbst der alte Jim hat etwas gesagt, seit wir unseren Unfall hatten.“

„Ich verstehe nicht, was daran falsch sein soll“, bemerkte Jim mit seiner schroffen Stimme. „Zumindest ist es nicht so falsch wie andere Dinge. Was wird jetzt aus uns werden?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete der Junge und sah sich neugierig um.

Die Häuser der Stadt waren alle aus Glas, so klar und durchsichtig, daß man ebenso leicht durch die Wände schauen konnte wie durch ein Fenster. Dorothy sah unter dem Dach, auf dem sie stand, mehrere Räume, die als Schlafräume dienten, und glaubte sogar, eine Reihe seltsamer Gestalten in den Ecken dieser Räume erkennen zu können.

Das Dach neben ihnen wies ein großes Loch auf, und überall umher lagen verstreute Glassplitter. Eine der Spitzen in der Nähe war abgebrochen und die Bruchstücke lagen daneben. Andere Gebäude waren an manchen Stellen gesprungen oder hatten abgebrochene Ecken; aber sie mußten sehr schön gewesen sein, bevor diese Unfälle ihre Vollkommenheit beeinträchtigt hatten. Die Regenbogenfarben der farbigen Sonnen fielen sanft auf die gläserne Stadt und verliehen den Gebäuden viele zarte, wechselnde Farbtöne, die sehr schön anzusehen waren.

Aber kein Geräusch außer jenem ihrer eigenen Stimmen hatte die Stille durchbrochen, seit die Fremden angekommen waren. Sie begannen sich zu fragen, ob es keine Menschen in dieser großartigen Stadt der inneren Welt gab.

Plötzlich erschien ein Mann durch ein Loch im Dach neben dem, auf dem sie standen, und trat in Sichtweite. Er war kein sehr großer Mann, aber wohlgestaltet und hatte ein schönes Gesicht – ruhig und gelassen wie das Gesicht eines schönen Portraits. Seine Kleidung war enganliegend und herrlich in leuchtenden Grüntönen gefärbt, die sich veränderten, wo die Sonnenstrahlen sie berührten, aber nicht ganz von den Sonnenstrahlen beeinflußt waren.

Der Mann war ein oder zwei Schritte über das Glasdach gegangen, bevor er die Anwesenheit der Fremden bemerkte; aber dann hielt er abrupt inne. Auf seinem stillen Gesicht war weder Furcht noch Überraschung zu erkennen, dennoch mußte er sowohl erstaunt als auch ängstlich gewesen sein. denn nachdem seine Augen für einen Augenblick auf der unbeholfenen Gestalt des Pferdes geruht hatten, ging er rasch zum hintersten Rand des Daches, wobei er über seine Schulter zurückblickte, um das fremde Tier anzusehen.

„Vorsicht!“, schrie Dorothy, die bemerkte, daß der schöne Mann nicht darauf achtete, wohin er ging; „Seien Sie vorsichtig, sonst werden Sie herunterfallen!“

Aber er kümmerte sich nicht um ihre Warnung. Er erreichte den Rand des hohen Daches, trat mit einem Fuß in die Luft und ging so ruhig in den leeren Raum, als bewegte er sich auf festem Boden.