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Rebecca Gablé

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Beschreibung

England 1238: Die junge Adela of Waringham und Bedric, Sohn einer leibeigenen Bauernfamilie, sind zusammen aufgewachsen. Während Adela als Hofdame zur Schwester des Königs geschickt und später mit einem Ritter verheiratet wird, schuftet Bedric auf den Feldern von Waringham - dem Elend der Leibeigenschaft und der Willkür von Adelas Bruder ausgeliefert. Als die Situation unerträglich wird, flieht er, nicht ahnend, dass Adela von ihm schwanger ist. In London begegnet Bedric Simon de Montfort, dem charismatischen Schwager des Königs. Als 1258 Seuchen und Missernten über das Land ziehen, bricht ein Krieg aus, der eine neue Zeit einläutet. Doch Bedric und Adela haben einander nie vergessen ...

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKarteWidmungDramatis PersonaeErster Teil – 1238–1240Waringham, Juni 1238Odiham, Juni 1238Waringham, Juli 1238Woodstock, September 1238Waringham, September 1238Kenilworth, Oktober 1238Waringham, November 1238Kenilworth, November 1238Waringham, Januar 1239Waringham, Februar 1239Westminster, August 1239Rochester, Oktober 1239Montfort-l’Amaury, Mai 1240Waringham, Mai 1240Brindisi, Juli 1240Zweiter Teil – 247–1248Waringham, April 1247Westminster, Mai 1247Waringham, Juni 1247London, Juni 1247Windsor, Juli 1247London, November 1247Kenilworth, Februar 1248London, März 1248Waringham, Mai 1248London, Juni 1248Dritter Teil – 1258–1259London, Februar 1258Waringham, März 1258Staines, April 1258Westminster, April 1258Kenilworth, April 1258Westminster, Mai 1258Waringham, Mai 1258Oxford, Juni 1258Winchester, Juli 1258Dinefwr, August 1258Waringham, Januar 1259Westminster, Februar 1259Vierter Teil – 1263–1265Waringham, Mai 1263Kenilworth, Juni 1263London, Juni 1263London, Juli 1263Westminster, Oktober 1263Kenilworth, November 1263London, Dezember 1263Waringham, Mai 1264Lewes, Mai 1264Wallingford, Juli 1264Waringham, Dezember 1264Westminster, Januar 1265Odiham, März 1265Hereford, Mai 1265Odiham, Juni 1265Worcester, August 1265Kempsey, August 1265Dover, August 1265Windsor, September 1265Dover, September 1265Waringham, Oktober 1265Nachbemerkung und Dank

ÜBER DAS BUCH

England 1238: Die junge Adela of Waringham und Bedric, Sohn einer leibeigenen Bauernfamilie, sind zusammen aufgewachsen. Während Adela als Hofdame zur Schwester des Königs geschickt und später mit einem Ritter verheiratet wird, schuftet Bedric auf den Feldern von Waringham – dem Elend der Leibeigenschaft und der Willkür von Adelas Bruder ausgeliefert. Als die Situation unerträglich wird, flieht er, nicht ahnend, dass Adela von ihm schwanger ist. In London begegnet Bedric Simon de Montfort, dem charismatischen Schwager des Königs. Als 1258 Seuchen und Missernten über das Land ziehen, bricht ein Krieg aus, der eine neue Zeit einläutet. Doch Bedric und Adela haben einander nie vergessen …

ÜBER DIE AUTORIN

Rebecca Gablé studierte Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik in Düsseldorf, wo sie anschließend als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig war.

Heute arbeitet sie als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann am Niederrhein und auf Mallorca. Ihre historischen Romane und ihr Buch zur Geschichte des englischen Mittelalters wurden allesamt Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Besonders die Romane um das Schicksal der Familie Waringham genießen bei Historienfans mittlerweile Kultstatus.

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2022 by Rebecca Gablé

Copyright Deutsche Originalausgabe © 2022/2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, Köln

 

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München Einband-/Umschlagmotive: © stock.adobe.com: natalia9 | robin_ph | Corri Seizinger | barbulat; © shutterstock.com: Ola-la | Hedzun Vasyl | Luria | martin_stuard

Innenillustrationen und Vorsatzkarte: Jens Maria Weber, www.jensmariaweber.de

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2804-1

luebbe.de

lesejury.de

 

 

Für MJM

If I had a flower for every time I thought of you,I could walk through my garden forever.Alfred Lord Tennyson

DRAMATIS PERSONAE

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.

WARINGHAM

Adela of Waringham

Bedric Archer, ihr Milchbruder

Richard und Iselda of Waringham, Adelas Eltern

Guillaume »Gui« of Waringham, Adelas Onkel

Raymond und Roger, Adelas Brüder

Mary Bigod, Raymonds Frau

Richard und Ida of Waringham, ihre Kinder

Francis de Clare, Steward von Waringham

Osmund de Cantilupe, Idas Mann

Eldrida und Godwin, Bedrics Eltern

Bertha, Bedrics Schwester

Edgar Einhand, Bedrics Onkel

Oswin und Paul, seine Söhne

Siflad, seine Tochter, Magd auf Waringham Castle

Wigot, Heuwart von Waringham

Matthew, der Schmied

Matt, sein Sohn

Ælfric Saddler, Bedrics bester Freund

Gytha, Ælfrics Liebste

Svetrun, Bedrics Tante, Köchin auf Waringham Castle

HOF, ADEL UND RITTERSCHAFT

Eleanor Plantagenet*, König Henrys Schwester

Simon de Montfort*, Earl of Leicester, ihr Gemahl

Henry, genannt »Harry«*, Simon, genannt »Sy«*, Amaury*, Guy*, Richard* und Eleanor*, ihre Kinder

Henry III*, König von England

Aliénor de Provence*, seine Gemahlin

Edward*, ihr ältester Sohn und Thronfolger

Edmund*, ihr zweitältester Sohn

Richard of Cornwall*, König Henrys Bruder

Henry d’Almain*, sein ältester Sohn

Cecily Sandford*, Prinzessin Eleanors sauertöpfische Hofdame

Maud de Braose*, Prinzessin Eleanors naschfreudige Hofdame

Roger Mortimer*, ihr Gemahl

Carys Brychan, Prinzessin Eleanors walisische Hofdame

Richard de Clare*, Earl of Gloucester

Gilbert de Clare*, sein Sohn und Nachfolger

Richard of Havering*, Steward der Montforts

Fulk Payferer*, Sheriff von Kent

Peter de Montfort*, Simon de Montforts Freund und Mitstreiter, aber kein Verwandter

Nicholas de Segrave*, Simon de Montforts Ritter und Gefolgsmann, genau wie

Joshua of Meriden

Thomas Furnivall*und

Ralph Basset of Sapcote*,

Guillaume de Lusignan*, Königs Henrys und Prinzessin Eleanors Halbbruder, Earl of Pembroke

Aymer de Lusignan*, noch ein Halbbruder, Bischof von Winchester

KIRCHENMÄNNER

Robert Grosseteste*, Bischof von Lincoln

Walter de Cantilupe*, Bischof von Worcester

EXOTEN

Thomas FitzThomas*, Alderman, Sheriff und Mayor von London

Llewelyn ap Gruffydd*, Fürst von Wales

Angharad ferch Llewelyn*, seine Tante

Erster Teil1238–1240

»Der Leibeigene ist ein Ding ohne Rechte, nichts weiter als ein Besitzstück seines Herrn.«

Richard FitzNigel,Dialog über das Schatzamt, ca. 1180

Waringham, Juni 1238

»Bedric! Oh mein Gott, Bedric, komm schnell, es ist so furchtbar …«

Bedric ließ die Sense sinken, und als er sich umwandte, sah er seine Schwester mit fliegenden Zöpfen auf sich zulaufen, die Hände in die Höhe gereckt, als wolle sie den Himmel anflehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Wangen nass von Tränen, aber erst als er das Blut auf ihrem Rock sah, spürte er einen heißen Stich der Angst in der Magengegend.

Er trat ihr entgegen. »Was ist passiert?«

Bertha krallte die Hände um seinen Unterarm und zerrte. »Es ist Vater! Beim Fällen gab es ein Unglück, der Baum hat ihn eingeklemmt. Die anderen haben ihn rausgezogen, aber …« Sie weinte jetzt so bitterlich, dass sie nicht weitersprechen konnte.

Bedric befreite seinen Arm aus ihrem Klammergriff und sah sich um. Wigot, der Heuwart, der das Mähen überwachte, stand am anderen Ende der langen Südweide beim Proviantkarren und genehmigte sich vermutlich einen Becher Ale. Zu weit entfernt, um ein Rufen zu hören, doch Bedric wusste, er würde kostbare Zeit verlieren, wenn er erst hinüberlief und um Erlaubnis fragte, ehe er seinem Vater zu Hilfe eilte.

»Geh nur«, sagte Ordulf plötzlich neben ihm und nahm ihm die Sense ab. »Ich erklär’s ihm.« Er sah zu Bertha. »Bist du sicher, dass genug Männer dort sind, um euren Vater nach Hause zu bringen?«

Sie nickte, packte Bedrics Hand und zerrte ihn Richtung Gatter. »Komm endlich«, flehte sie, ihre Stimme immer noch tränenerstickt, aber das Schluchzen hatte nachgelassen. Jetzt, da sie ihren großen Bruder gefunden hatte, war sie ruhiger geworden.

Es war ungefähr eine Meile bis zu der Rodung im Wald, wo Lord Waringham ein Dutzend Buchen hatte markieren lassen, die als Bau- und Brennholz für die Baronie bestimmt waren. Bedric und Bertha folgten dem staubigen Pfad, der ein langgezogenes, in Streifen unterteiltes Feld säumte, und erst als sie in den Schatten der Bäume eintauchten, fragte er: »Hast du gesehen, wie es passiert ist?«

Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Mutter hatte mich geschickt, Vater Schmalzbrot zu bringen, und als ich hinkam, waren Onkel Edgar und die anderen gerade dabei, den Stamm mit langen Stangen anzuheben und Vater rauszuziehen, aber …«

»War er bei Bewusstsein?«

Sie sah zu ihm auf und nickte stumm, stolperte prompt über eine Baumwurzel und wäre gestürzt, hätte Bedric nicht ihr Handgelenk gepackt.

»Und konnte er Arme und Beine bewegen?«, fragte er weiter.

»Ich weiß nicht …« Sie fing wieder an zu schluchzen, und er stellte ihr keine Fragen mehr, sondern zog sie weiter, so schnell sie konnte. Bertha war erst elf, ihre Beine ein gutes Stück kürzer als seine, rief er sich ins Gedächtnis, aber es machte ihn schier wahnsinnig, wie langsam sie vorankamen. Doch er wollte sie nicht hier allein lassen, um vorauszulaufen. Sie war so verstört, und man konnte sich in diesem Wald hoffnungslos verirren, wenn man nicht achtgab.

Die Bäume zu beiden Seiten bildeten ein Dach aus hellem Frühlingsgrün über dem Pfad. Die Junisonne blinzelte hindurch und malte goldene Flecken auf die gute schwarze Walderde. Irgendwo in der Nähe balzte ein Fasan im jungen Farn, und im nächsten Moment erahnte Bedric eine Bewegung zu seiner Linken, wo es heller war. Er wusste, sie waren am Ziel.

Eine unordentliche Traube aus Männern stand etwa in der Mitte der Rodung neben dem Stamm einer gewaltigen gefallenen Buche. Als sie Bedric kommen sahen, verstummte ihr Gemurmel, und sie machten ihm Platz. Langsam, so schien es ihm, zögerlich, und keiner wollte ihm in die Augen sehen. Nur sein Onkel Edgar schaute ihn an und nickte ernst. Er hatte sein Beil unter den rechten Arm geklemmt, der einen Spann unterhalb des Ellbogens in einem glatten Stumpf endete, und legte Bedric für einen Augenblick die verbliebene Hand auf den Arm. Dann trat auch er beiseite, und endlich hatte Bedric freien Blick.

Sein Vater lag auf dem Rücken, das Gesicht bleich wie Lammwolle. Sein linkes Bein war angewinkelt, das rechte ausgestreckt und blutüberströmt, vermutlich gebrochen. Buchenzweiglein hatten sich in seinem schulterlangen Blondschopf verfangen, bedeckten sein blutbesudeltes Gewand genau wie den Waldboden um ihn herum. Sie bildeten einen so dichten Teppich, dass Bedric erst mit Verspätung begriff, was seine Augen sahen: Ein hell belaubter Ast, dick wie ein Kinderarm, ragte seitlich unterhalb der Rippen aus dem Leib seines Vaters.

Schlagartig schien alle Kraft aus Bedrics Beinen zu sickern. Mit zwei unsicheren Schritten schloss er die Lücke zwischen ihnen und fiel hart auf die Knie. »Vater …«

Langsam öffnete der Verwundete die Lider, und der Blick der meergrauen Augen glitt suchend über die Kronen der umstehenden Bäume, bis er Bedrics Gesicht fand. »Sieh mich nur an, mein Junge. Was die Franzosen nicht geschafft haben … erledigt ein gottverfluchter Baum.« Ein heiseres Keuchen drang aus seiner Kehle, das vielleicht ein Lachen sein sollte, doch es verstummte abrupt, weil plötzlich ein Blutschwall aus seinem Mund strömte, der über Kinn und Wangen rann. Tastend strich die linke Hand über das Zweigbett, und Bedric nahm sie in seine beiden.

Sein Vater kniff die Augen zu, bis der Schmerz ein wenig nachzulassen schien. Dann murmelte er: »Es tut mir leid. Aber du bist … du bist jetzt ein erwachsener Mann von vierzehn Jahren und …« Er konnte nicht weitersprechen, und sein Gesicht nahm mit einem Mal eine gräuliche Tönung an.

»Das bin ich. Also mach dir keine Sorgen.« Bedric rieb die große, schwielige Hand zwischen seinen und wischte sich verstohlen mit dem Oberarm über die Augen.

»Ich will, dass du meine Scholle bekommst«, sagte sein Vater. »Sie ist erbärmlich genug, aber du sollst sie haben, damit … damit du deine Mutter und Schwester und dich selbst versorgen kannst. Habt ihr das gehört, Edgar?«, fragte er und blickte stirnrunzelnd nach oben.

»Laut und deutlich«, versicherte sein Schwager.

»Tut doch endlich irgendwas«, flehte Bertha. »Wieso bringt ihr ihn nicht nach Hause?«

»Komm mit hinüber zum Holzplatz, Engelchen, ich erklär’s dir«, sagte Onkel Edgar. Und an die übrigen Männer gewandt: »Macht ein bisschen Platz. Lasst Godwin und Bedric ein paar Dinge in Ruhe besprechen.«

Bedric nahm vage zur Kenntnis, dass sich in seinem Rücken raschelnde Schritte entfernten, doch er sah sich nicht um. Er hielt den Blick unverwandt auf seinen Vater gerichtet und dessen Hand umklammert, als könne er das Leben so noch ein klein wenig länger festhalten.

»Ich hab dir noch so viel zu sagen«, murmelte sein Vater. »Aber … ich schaff es nicht …« Es klang schon verwaschen, wie schlaftrunken, und sein Atem brodelte. Rote Bläschen bildeten sich in den Mundwinkeln, und die Lippen waren beinah so weiß wie der Rest des Gesichts, wo sie nicht blutverschmiert waren.

»Das macht nichts«, versicherte der Sohn. »Ich weiß, was du mir sagen willst.«

Sein Vater schloss die Lider. »Was für ein jämmerliches Ende.« Obwohl überhaupt keine Kraft mehr in der Stimme war, hörte Bedric doch den Zorn und die Verzweiflung. »Krepiert bei der … bei der Fronarbeit für einen anderen Mann. Nicht besser … als ein Ochse, der tot unterm Joch zusammenbricht.«

»Schsch. Du darfst dich nicht so anstrengen.«

»Lass dir nicht weismachen … dass es Gottes Wille ist, denn … denn das ist eine Lüge. Adam war kein Leibeigener, als Gott ihn erschuf.« Er hustete, und wieder schoss ein Blutschwall aus seinem Mund, viel mehr Blut dieses Mal. Der Körper bäumte sich auf wie im Krampf, entspannte sich ebenso plötzlich, dann lag er mit einem Mal still, und der brodelnde Atem war verstummt.

Bedric ließ sich auf die Fersen zurücksinken und rieb sich bedächtig mit beiden Händen die Tränen von den Wangen. Dann beugte er sich über den Toten und küsste ihm die Stirn. »Wo immer du jetzt bist, ich hoffe, du bist frei.«

»Komm zurück! Adela, du wirst deinen Vater hier nicht einfach stehen lassen und …«

Mehr hörte sie nicht. Mit undamenhafter Hast und gerafften Röcken floh Adela aus ihrer Kammer, den Korridor entlang und die Wendeltreppe hinab, durchquerte die dämmrige Vorhalle und gelangte ins Freie. Rasch ließ sie den Blick durch den sonnenbeschienenen Burghof schweifen, aber zum Glück war weit und breit nichts von ihren Brüdern zu entdecken. Sie wandte sich nach rechts, umrundete den trutzigen Bergfried und kam auf der Südseite des alten Gemäuers in den Garten.

Sie verlangsamte ihre Schritte, folgte dem gewundenen Pfad zwischen den Kräuterbeeten und sog den Duft von Lavendel und Salbei ein. Auf der hölzernen Bank neben einem ausladenden Rosenbusch fand sie ihren Großvater, baute sich vor ihm auf und stemmte die Fäuste in die Seiten.

»Hast du davon gewusst?«, verlangte sie zu wissen.

»Sieh an, Lady Adela.« Yvain of Waringham betrachtete sie lächelnd, den Kopf zur Seite geneigt, die knochigen Hände auf den Knien. »Ich vermute, deine Mutter hat mit dir gesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Vater«, erklärte sie düster. »Also das heißt, ja, du wusstest davon. Und hast es nicht für nötig gehalten, mich vorzuwarnen?«

»Du hörst dich an, als hätten deine Eltern ein Komplott gegen dich geschmiedet.«

»Genau so ist es ja auch!«, ereiferte sie sich.

»Nein.« Ihr Großvater wies auf den freien Platz neben sich. »Setz dich zu mir, Liebling.«

Adela zögerte. Sie war zu wütend und aufgewühlt, um stillzusitzen. Doch dann folgte sie der Einladung und hockte sich auf die Kante der Holzbank. Die Verlockung, ihrem Großvater ihr Herz auszuschütten, war einfach zu groß. Denn er, wusste sie, war immer auf ihrer Seite.

»Sie wollen mich zu Prinzessin Eleanor schicken, und ich wette, dort soll ich mit irgendwem verheiratet werden, auch wenn Vater das nicht zugibt.«

»Davon hat er mir gegenüber nichts erwähnt«, widersprach ihr Großvater und schüttelte langsam den Kopf. »Du bist indessen vierzehn Jahre alt, also eigentlich genau im richtigen Alter. Willst du denn nicht heiraten?«

»Es kommt darauf an, wen«, gab sie zurück.

»Ich würde sagen, dass du deinem Vater in diesem Punkt uneingeschränkt vertrauen kannst.«

Adela warf ihm einen beredten Seitenblick zu. »Der für sich aber das Recht in Anspruch genommen hat, seine eigene Wahl zu treffen, der Stimme seines Herzens zu folgen und seine eigene Cousine zu heiraten, richtig? Mach mir nicht weis, das sei dir recht gewesen.«

»Nein, aber …«

»Trotzdem soll ich sittsam den Blick senken und sagen ›Ja, Vater‹ und ›Du weißt es gewiss am besten, Vater‹, und artig in Prinzessin Eleanors Haushalt eintreten, obwohl ich überhaupt nicht will, und dort soll ich den lieben langen Tag sticken und nähen und all dieses alberne Zeug, und ich werde fort aus Waringham sein und mich ganz verloren fühlen und niemals so sein dürfen, wie ich wirklich bin!« Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie blinzelte sie wütend weg.

Ihr Großvater lachte in sich hinein. »Ich glaube, du täuschst dich.« Das Lachen klang warm und gutmütig. Großvaters Haar war eisgrau, der Bart weiß, aber wenn dieses Funkeln in seine Augen trat so wie jetzt, wirkte er geradezu verwegen, so gar nicht wie ein Greis von sechzig Jahren. »Ich denke im Gegensatz zu dir, dass deine Eltern klug gewählt haben«, sagte er. »Denn Prinzessin Eleanor ist ein unbezähmbares Geschöpf genau wie du. Sie kommt auf ihren Vater, weißt du.«

Adela zog scharf die Luft ein. »Was denn, auf den teuflischen König John, meinst du?«

Er nickte, entgegnete jedoch: »Ich wünschte, du würdest ihn nicht so nennen.«

»Aber das machen doch alle«, gab sie achselzuckend zurück.

»Dann tun alle ihm unrecht.«

»Das sagst ausgerechnet du? Hat er dich nicht monatelang eingesperrt und fast verhungern lassen, obwohl du gar nichts verbrochen hattest? Hat er nicht Waringham Castle belagert? Hat er nicht die Charta der Freiheiten erst erlassen und dann sofort widerrufen und …«

»Er war besser, als die Aufzählung seiner Schandtaten ihn erscheinen lässt«, fiel er ihr ins Wort.

»Wenn du es sagst …«

Der teuflische John war Jahre vor Adelas Geburt gestorben, und sie hatte nie einen anderen König gekannt als seinen Sohn, den frommen Henry, der das komplette Gegenteil von seinem alten Herrn sein musste, wenn auch nur die Hälfte dessen stimmte, was man über ihn hörte.

»Doch war es ja eigentlich Prinzessin Eleanor, von der wir sprachen«, fuhr ihr Großvater fort. »Was sie mit ihrem Vater gemeinsam hat, sind auf jeden Fall ihr Mut und ihre Unbeugsamkeit. Sie lässt sich genauso ungern Vorschriften machen wie du. Weißt du, dass sie kürzlich einen landlosen französischen Glücksritter geheiratet hat?«

Adela horchte auf. Das klang vielversprechend. »Eine englische Prinzessin heiratet einen landlosen französischen Glücksritter?«

»Ganz genau.« Und da war es schon wieder, dieses Funkeln in den Augen. »Simon de Montfort. Aus sehr gutem Hause, keine Frage, aber ein Habenichts. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste.« Er neigte sich ihr verschwörerisch zu. »Sie hatte nach dem Tod ihres ersten Gemahls ein Gelübde immerwährender Witwenschaft abgelegt. Eigentlich hätte sie nie wieder heiraten dürfen, ganz gleich wen.«

»Wie konnte sie sich da nur herausmogeln?«, fragte Adela gespannt.

»Tja«, machte er und hob vielsagend die Schultern. »Das ist die große Frage, nicht wahr? Ihr erster Gemahl war William Marshal, der Earl of Pembroke.«

Adela musste schon wieder scharf die Luft einziehen. »Was denn, der größte Ritter aller Zeiten?«

Er schüttelte den Kopf. »Sein Sohn. Der im Übrigen auch kein übler Ritter war. Er starb vor acht Jahren, als Prinzessin Eleanor kaum älter war als du heute. In einem Alter also – wenn du mir die Bemerkung verzeihen willst –, da junge Damen zu großen Gefühlsanwandlungen neigen …«

Adela schnaubte belustigt. »Ich muss doch sehr bitten, Sir.«

»Jedenfalls ließ sie sich zu diesem unüberlegten Keuschheitsgelübde verleiten, und dann tauchte eines Tages der schneidige Simon de Montfort am englischen Hof auf, um einen Anspruch auf den Titel des Earl of Leicester geltend zu machen, den er von seinem Vater geerbt hat, und gewann nicht nur das Ohr und die Freundschaft des Königs, sondern ebenso Prinzessin Eleanors Herz. Und irgendwie haben sie König Henry die Einwilligung zu ihrer Heirat abgerungen. Unser König mag manches Mal Wachs sein in den Händen derer, die er liebt, Adela, aber es ist trotzdem ausgesprochen verwunderlich, dass Prinzessin Eleanor das fertiggebracht hat und …«

»Vermutlich hat sie dem König gegenüber angedeutet, sie sei guter Hoffnung«, warf Adela ein. »Jedenfalls hätte ich es so gemacht.«

Ihr Großvater atmete tief durch. »Verstehst du jetzt, warum ich sage, ihr passt gut zusammen?«

Sie sah ihn unsicher an. »Das heißt, du glaubst, sie hat wirklich …?«

Ehe er antworten konnte, rief eine Stimme vom Wacholder herüber: »Ah, ich habe doch geahnt, dass du hier steckst, Schwesterchen«, und ihr ältester Bruder kam hinter dem ausladenden, mannshohen Busch zum Vorschein, schlenderte auf sie zu, verschränkte die Arme und blieb vor der Bank stehen.

»Großvater«, grüßte er.

»Raymond«, gab der lächelnd zurück und nickte ihm zu.

Adela überlegte fieberhaft, was genau sie und ihr Großvater zuletzt zueinander gesagt hatten, denn Raymond war zuzutrauen, dass er schon ein Weilchen hinter dem Wacholder gestanden und gelauscht hatte. »Hast du mich gesucht?«, fragte sie. »Hat Vater dich geschickt?«

Er schüttelte den Kopf. »Im Wald hat es beim Holzschlagen ein Unglück gegeben. Der Mann deiner Amme, wie war doch gleich sein Name …«

»Godwin.«

Raymond schnipste mit den Fingern. »Genau.«

»Was ist mit ihm?«, fragte Adela, und mit einem Mal schlug ihr das Herz bis in die Kehle.

»Mausetot, fürchte ich«, gab ihr Bruder zurück. »Der Baum hat sich im Fallen gedreht, so scheint es, und ihn unter sich begraben, und Godwin hat … Ja, du meine Güte, Adela, wo willst du denn hin? Warte, du solltest …«

Mehr hörte sie nicht, denn Adela rannte schon wieder – aus dem Garten, durch den Burghof und das Torhaus, über die Zugbrücke und den Hügel hinab. Sie konnte rennen wie ein Junge, pfeilschnell, sodass der Wind ihr in den Ohren brauste, die hinderlichen Röcke in der linken Hand unordentlich zusammengeknüllt. Sie rannte immer noch, als sie über die kahle Kuppe des Mönchskopfs kam und schließlich mit mörderischen Seitenstichen den Feenbaum erreichte, der inmitten eines gelben Meers aus Ginster aufragte.

Waringham Heath lag ungefähr gleich weit von Dorf und Burg entfernt. Ein unberührtes Stück Wildnis, wo mit Ausnahme der knorrigen Erle nichts wachsen wollte bis auf Ginster und Heide. Die Bauern kamen gelegentlich her, um Stoffstreifen an den Baum zu binden und den Feen ihre Wünsche zuzuflüstern, doch meist war die Heide verlassen, denn nirgendwo in Waringham pfiff der Wind so scharf wie hier, und die alten Weiber erzählten Geschichten von Irrlichtern und Unholden, die nachts dort ihr Unwesen trieben.

Hier und da ragten graue Findlinge aus der Heide. Einer lag gleich neben dem Baum flach auf der Erde und gab eine passable Sitzbank ab für jene, die den Feen ein längeres Anliegen vorzutragen hatten. Vielleicht hundert Yards weiter Richtung Waldrand ragten dicht beieinander zwei weitere der grauen Felsbrocken auf, und in dem geschützten Winkel, den sie bildeten, blühte die Heide immer am frühesten. Adela setzte sich dort auf die Erde, lehnte den Rücken an den sonnenwarmen Granit, schloss die Augen und wartete.

Zusammen mit Edgar Einhand und dessen Söhnen Oswin und Paul brachte Bedric seinen Vater nach Hause. Aus ein paar Ästen hatten sie eine notdürftige Trage zusammengezimmert, und Piers Wheeler hatte seinen Umhang gestiftet, um den Toten damit zu bedecken. Bertha ging neben ihrem Bruder und vergoss ihre Tränen jetzt still, genau wie er. Die übrigen Holzfäller folgten den Trägern schweigsam und mit gesenkten Köpfen.

Godwin Archers Haus lag nicht weit vom Ufer des Tain entfernt zwischen dem Wirtshaus und der Kate der Wheelers, und als sie den Brunnen an der staubigen Dorfstraße passierten, bog einer der Männer zur Kirche ab, um Vater Jean zu holen.

Bedrics Mutter hockte im Beet vor dem Haus und setzte Kohlpflänzchen. Als sie sie kommen sah, stand sie auf und sah ihnen reglos und mit herabbaumelnden Armen entgegen. Dann rutschte ihr das Pflanzholz aus den Fingern. Mit langsamen Schritten kam sie an die niedrige Hecke, die ihren Gemüsegarten einfriedete, und öffnete ihnen das hölzerne Törchen.

»Was ist passiert?« Ihre Stimme war von Natur aus schon ungewöhnlich dunkel für eine Frau, aber jetzt klang sie rau und noch tiefer als sonst.

Bertha lief schluchzend zu ihr und schlang die Arme um ihren Hals.

Der Trauerzug hielt neben ihnen an.

»Es war ein Unfall, Eldrida«, berichtete ihr Bruder, Edgar Einhand. »Der Baum hat ihn unter sich begraben.«

Sie fuhr ihrer Tochter abwesend über den Rücken. »Bringt ihn ins Haus« war alles, was sie sagte.

Die Männer trugen den Toten ins Innere der Bauernkate und setzten ihn neben der Feuerstelle in der Raummitte auf dem festgestampften Lehmboden ab. Bedric kniete sich neben ihn und schlug Piers’ Umhang weit genug zurück, um das Gesicht seines Vaters zu enthüllen. Noch im Wald hatte er mit Oswins Hilfe den abgebrochenen Ast aus dem Leib gezogen, was viel schwieriger gewesen war, als er gedacht hätte. Dann hatte er ihm die Augen geschlossen und das Blut abgewaschen, so gut es ging, aber gegen die rötliche Färbung des eigentlich blonden Barts hatte er nicht viel ausrichten können.

So tief war er in die Betrachtung des reglosen Gesichts versunken, dass er beinah zusammengefahren wäre, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Dann kniete seine Mutter an seiner Seite nieder, ein wenig zu schnell und ungelenk, genau wie er selbst vorhin im Wald. Sie nahm das Gesicht ihres toten Mannes in beide Hände, beugte den Oberkörper über ihn, und ein erbarmungswürdiger Laut des Jammers entrang sich ihrer Kehle. Doch sogleich nahm sie sich zusammen und verstummte, umschlang den Toten mit beiden Armen, vergrub das Gesicht an seiner Brust und lag still. Bertha stand einen halben Schritt hinter ihr, die Augen groß und voller Furcht.

Bedric kam auf die Füße, legte seiner Schwester einen Arm um die Schultern und schaute genau wie sie auf seinen Vater hinab.

Der Tod war allgegenwärtig, und Bedric war ihm schon oft begegnet. Sein kleiner Bruder Alfred war in dem furchtbaren Hungerwinter vor drei Jahren am Fieber gestorben. Und Goda, seine ältere Schwester, vergangenen Herbst im Kindbett. Das Leben war flüchtig und auch der stärkste Mann nicht gegen Krankheit und Unglück gefeit. Und trotzdem. Sein Vater hatte mit Wilkin of the Weald gekämpft und den französischen Prinzen, der König von England werden wollte, zurück übers Meer gejagt. Er war ein Held gewesen. Mutiger als alle anderen Männer, die Bedric kannte, vor allem lebendiger. Also wie konnte es sein, dass er jetzt tot dalag, das wächserne Gesicht seltsam klein und eingefallen? Bedric fand es schwer vorstellbar, dass er den großen, breitschultrigen Mann nie wieder vom Feld heimkommen oder einen Apfel essen oder einen Bogen spannen sehen sollte.

Doch er wusste, es spielte keine Rolle, ob er es sich vorstellen konnte oder nicht, denn sein Vater war tot, und von heute an würde sich alles ändern.

Er drückte seiner kleinen Schwester einen Kuss auf den nussbraunen Schopf. »Hab keine Angst«, sagte er leise.

Bertha sah zu ihm auf. »Sie werden uns die Kuh wegnehmen, oder?«, wisperte sie.

Wir können froh sein, wenn das alles ist, dachte er, doch ehe er antworten konnte, betrat Vater Jean das Haus.

»Der Herr sei mit dir, Eldrida«, sagte er in seinem drolligen Englisch mit dem französischen Akzent, und er schlug das Kreuzzeichen. »Ich bedaure das schwere Schicksal, das dich und deine Kinder getroffen hat, aber so spricht der Herr: Ego sum resurrectio et vita. Qui credit in me et si mortuus fuerit vivet. Und das bedeutet: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, obgleich er stürbe, und wer da lebt und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.«

»Amen«, murmelten die im Haus Versammelten und bekreuzigten sich.

Bedrics Mutter küsste ihrem toten Mann die Stirn und kam auf die Füße.

»Habt Dank, Vater«, sagte sie höflich, aber Bedric hörte an ihrer Stimme, dass der Besuch des Geistlichen ihr keinen Trost spendete. Und ihm ging es nicht anders.

Vater Jean war Normanne, Sprössling eines Adelsgeschlechts und einst Diakon des Erzbischofs von Canterbury gewesen, doch er hatte irgendetwas ausgefressen und war als Dorfpfarrer nach Waringham verbannt worden. Er verrichtete seine Buße reuig und gewissenhaft, aber er hatte keine Ahnung vom Leben der einfachen Leute hier – ganz anders als der englische Vater Cyneheard, der ihr Hirte gewesen war, bis sie ihn vor fünf Jahren hochbetagt begraben hatten.

Jean trat näher, und die Männer machten ihm Platz, sodass er auf den Toten hinabblicken und ihn segnen konnte. Er nickte Bedric kummervoll zu. »Du wirst nun sehr tapfer sein müssen, mein Sohn.«

»Ja, Vater«, antwortete der Junge.

»Mein Sohn ist tapfer, Vater Jean«, stellte Eldrida klar, trat hinter ihre beiden Kinder und legte jedem eine Hand auf die Schulter.

»Wisst Ihr, Bedric schlägt seinem Vater nicht nur äußerlich nach, Vater«, erklärte Onkel Edgar.

»Gewiss, gewiss«, stimmte der Gottesmann hastig zu, und sein unsicheres Lächeln machte wieder einmal aufs Neue deutlich, dass seine Schäfchen ihm ebenso fremd und rätselhaft erschienen wie umgekehrt. Er beugte sich über die krude Bahre am Boden, machte mit dem Daumen Kreuzzeichen auf Godwins Stirn, Lidern und Lippen, richtete sich dann wieder auf und faltete die Hände. »Dominus meus pastor est – der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …«

Alle sprachen den Psalm mit, den die Menschen anstimmten, wann immer ein Schicksalsschlag sie traf. Auch Bedric hatte die Hände gefaltet und sagte die vertrauten Worte, doch er verspürte keinen Trost.

»… du salbest mit Öl mein Haupt, und übervoll ist mein Becher. Deine Huld und Gnade folgen mir durch alle Tage meines Lebens, und wohnen darf ich im Hause des Herrn auf immerdar«, endete er und dachte: Ich hoffe, genau da bist du jetzt, Vater, im Hause des Herrn, wo der Becher übervoll ist und du am lebendigen Quell ruhen kannst. Denn du hast etwas Besseres verdient als das, was Gott dir hier im Diesseits beschert hat.

Und wie zur Strafe für die Sünde solch rebellischer Gedanken erscholl in seinem Rücken die Stimme des Heuwarts: »Mein Beileid, Eldrida, altes Mädchen, es ist wirklich schade um deinen Godwin. Aber dein Sohn schuldet seiner Lordschaft einen halben Tag Arbeit bei der Heumahd, die er heute versäumt hat, und die muss er morgen nach der Beisetzung nachholen, verstanden?«

Bedric wandte den Kopf. »Sprich mit mir, Wigot, nicht mit meiner Mutter«, sagte er.

Der Heuwart stemmte die Hände in die Seiten. Er war ein drahtiger Mann von mittlerem Wuchs mit einem dichten, schulterlangen Rotschopf, einem Übermaß an Sommersprossen und stechenden wasserblauen Augen, die Bedric geringschätzig musterten. »Werd erst mal trocken hinter den Ohren, Söhnchen.«

Er war ein unfreier Bauer genau wie Bedric und seine Familie auch, und er war nicht einmal ein besonders guter Landmann. Zwei seiner drei Felder grenzten an zwei der ihren, und weil Wigot zu faul zum Jäten war, hatte Bedrics Familie ewig Unkraut im Feld, dessen Samen von Wigots herübergeweht wurden. Wohl hundert Mal hatte Bedrics Vater seinen Feldnachbarn deswegen zur Rede gestellt – immer vergeblich. Doch Wigot hatte ein gewinnendes Auftreten, wenn er sich dazu entschloss, und sein Vater war einst ein zuverlässiger und kluger Reeve gewesen, der dem Steward die Verwaltung des Landguts weitgehend abgenommen hatte. Vermutlich war das der Grund, warum Lord Waringham Wigot dieses Jahr zum Heuwart gemacht hatte, und weil der Heuwart auch gleichzeitig der Büttel war, der die Feldarbeit auf dem Gutsbetrieb überwachte und die Leibeigenen zur Fronarbeit einteilte, war er ein mächtiger, oft auch gefürchteter Mann.

»Natürlich hole ich die Arbeit nach«, stellte Bedric in Aussicht. »Aber morgen ist unser eigenes Heu an der Reihe.«

Wigot hob den Zeigefinger und wedelte ihm damit vor der Nase herum. »Nichts da. Das Heu seiner Lordschaft geht vor. Du hättest eben zurückkommen sollen und …«

»Herrgott noch eins, Wigot, lass ihn zufrieden«, ging Edgar Einhand ärgerlich dazwischen. »Hast du keinen Anstand?«

»Du sollst den Namen des Herrn nicht eitel führen, mein Sohn«, meldete Vater Jean sich mahnend zu Wort.

»Vergebt mir, Vater«, knurrte Bedrics Onkel, ohne den Priester weiter zu beachten. »Du könntest dem Jungen wenigstens ein paar Tage Zeit lassen, Wigot, bis …«

»Nein, schon gut«, ging Bedric dazwischen, der seine Kämpfe lieber selbst ausfocht. Er musterte den Heuwart einen Moment, dann sagte er: »Zwei Stunden morgen früh, von Sonnenaufgang bis zur Beerdigung. Einverstanden?«

Wigot lächelte gönnerhaft. »Meinetwegen. Ich drück ein Auge zu, Söhnchen. Aus Respekt vor deiner Mutter, damit das klar ist.«

Die ersten der Bauern waren schon auf dem Heimweg von den Feldern und Heuwiesen, Sensen und Hacken geschultert, als Bedric endlich nach Waringham Heath kam. Er ging mit langen Schritten durch die kniehohen Ginsterbüsche, legte im Vorbeigehen kurz die Linke auf den sonnenwarmen Stamm des Feenbaums und trat schließlich in den geschützten Winkel der beiden Findlinge.

Adela saß mit dem Rücken an den linken, beinah eiförmigen Felsbrocken gelehnt und sah zu Bedric hoch. Er kniete sich vor ihr ins Heidekraut und ergriff ihre Hände. Sie hob seine Rechte an ihr Gesicht und drückte seinen Handrücken für einen Moment an ihre Wange.

Bedric glitt neben sie, legte ihre Hand auf sein Bein und fuhr mit der rauen Daumenkuppe ihre schmalen Finger entlang, den Blick auf die Heide gerichtet.

Wie so oft kamen sie ohne Worte aus.

Sie waren in derselben eisigen Februarnacht vor vierzehn Jahren zur Welt gekommen, und Bedrics Mutter war Adelas Milchamme geworden. Noch vor Tagesanbruch war Lord Waringham durch dichtes Schneetreiben ins Dorf geritten und hatte sie und ihr Neugeborenes auf die Burg geholt, und die beiden Säuglinge hatten fortan Tag und Nacht miteinander verbracht, hatten gar in derselben Wiege geschlafen, weil sie unentwegt schrien, sobald man sie trennte, und lammfromm waren, wenn man sie zusammenließ. Während des ersten Lebensjahres war eine derartige Nähe zwischen Milchgeschwistern von unterschiedlichem Stand nicht unüblich, weil die Amme ja beide Kinder betreuen und säugen musste. Doch auch nachdem die Kleinen abgestillt waren, hatte Lady Waringham dafür gesorgt, dass Eldrida auf der Burg blieb und ihr Töchterchen hütete, denn sie schätzte die Umsicht und die Ruhe der jungen Bauersfrau. Und so war auch Bedric geblieben. Erst als sie sieben wurden, hatte man die beiden Milchgeschwister schließlich auseinandergerissen, weil Bedric alt genug war, um seinem Vater bei der Feldarbeit zu helfen. Doch da war ihr Band längst geschmiedet.

Adela brach schließlich das Schweigen. »War er sofort tot?«

»Nein.« Bedric lehnte den Kopf zurück an den rauen Fels und wandte ihr das Gesicht zu. »Ein abgebrochener Ast hatte sich in seinen Leib gebohrt. In die Lunge, nehme ich an. Aber ich konnte noch mit ihm sprechen, als ich hinkam.« Er erzählte ihr, wie es gewesen war.

Er rang darum, ruhig und nüchtern zu berichten, aber Adela machte er natürlich nichts vor. Sie wusste schließlich, wie sehr er seinen Vater geliebt und bewundert hatte und wie groß seine Trauer war. Sie ergriff wieder seine Hand. »Es tut mir leid«, sagte sie ernst.

Bedric nickte. »Ich weiß.«

»Ich gehe morgen früh zu deiner Mutter«, versprach sie. »Heute will sie sicher niemanden von meiner Familie sehen.«

Seine Mutter war ihr eine gewissenhafte, sogar liebevolle Amme gewesen, doch sobald ihr Schützling dem Kleinkindalter entwuchs, war sie auf Abstand gegangen. Weil sie es für wichtig hielt, dass ein jeder wusste, wo sein Platz in der Welt war. Und weil sie dem Adel misstraute. Darum hatte sie auch nie aufgehört, ihren Sohn für seine anhaltende Verbindung zu Adela zu schelten und ihn vor den Folgen zu warnen.

»Aber bring nichts zu essen mit«, bat er. »Die Nachbarinnen haben schon mehr angeschleppt, als wir vertilgen können, eh es verdirbt, und das macht meiner Mutter zu schaffen.«

»Warum bringen die Leute nur immer Essen, wenn jemand gestorben ist?«, fragte Adela verständnislos. »Verschlägt der Tod nicht jedem den Appetit?«

Bedric hob kurz die Schultern. »Sie bringen das, was für sie das Kostbarste ist, um ihren Respekt auszudrücken.«

Adela seufzte und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Du hast natürlich recht. Da, sieh mal.« Sie wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach links.

Er schaute in die Richtung und entdeckte nach einem Augenblick zwei Feuerfalter, die über einem flachen Ginster umeinander tanzten. Ihre kupferfarbenen Flügel schienen in der Nachmittagssonne zu glühen.

Den Blick auf die Schmetterlinge gerichtet, strich Bedric mit den Lippen über Adelas Haar. Es war blond und ungeheuer fein. So ähnlich musste sich Seide anfühlen, nahm er an, doch er schob den Gedanken gleich wieder fort. Er fand ihn beunruhigend, diesen Gedanken. Früher hatte er nie über die Beschaffenheit ihrer Haare nachgedacht. Ungezählte Male hatte er in das herzförmige Gesicht mit den großen kornblumenblauen Augen, der zierlichen Nase mit der Prise Sommersprossen und dem geschwungenen Mund geschaut, ohne dass ihm je das Wort »schön« in den Sinn gekommen wäre. Es war eben einfach Adela. Das Gesicht, das ihm vertrauter war als jedes andere auf der Welt. Er hatte nicht einmal besonders oft daran gedacht, dass sie ein Mädchen war. Aber im Laufe der letzten Monate hatte sich all das geändert, und diese Veränderung verwirrte und erschreckte ihn.

»Warum bist du so traurig?«, fragte er.

»Weil dein Vater gestorben ist.«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist noch etwas anderes.« Er hatte es an ihrer Stimme gehört.

Sie schmiegte sich enger an ihn. »Lass uns nicht heute davon sprechen.«

»Sie schicken dich weg.« Es war keine Frage. Er wusste es einfach. Jedenfalls fiel ihm kein anderer Grund ein, warum sie sich an ihn klammern sollte, als fürchte sie, der laue Sommerwind werde sie davonwehen.

»Noch ist nichts entschieden«, entgegnete sie.

Es klang trotzig, und er wusste, dass sie log.

Adela krallte beide Hände in seinen Bauernkittel aus ungewalkter Wolle und lehnte die Stirn an seine Brust. »Lass uns nicht heute davon sprechen«, wiederholte sie. »Es ist so schon alles schrecklich genug. Und ich will jetzt nicht daran denken.«

Bedric musste lächeln. Dabei wurde ihm fast schwindelig bei der Vorstellung, jetzt auch sie noch zu verlieren, so als stürze er ins Bodenlose. Und trotzdem musste er lächeln. Weil sie glaubte, das Ungeheuer werde weggehen, wenn sie nur die Augen fest genug zukniff. Adela besaß höfische Erziehung und französische Bildung und eine Menge anderer Dinge, die er niemals haben würde, aber in Momenten wie diesem wurde ihm immer klar, dass sie einfach keine Ahnung davon hatte, wie das Leben wirklich war. Und wohin auch immer sie sie jetzt schickten, er hatte wenig Hoffnung, dass sie dort so gut behütet und von den Abscheulichkeiten des Lebens abgeschirmt sein würde wie in Waringham.

Er legte beide Arme um sie, auch wenn er genau wusste, dass er sie nicht beschützen konnte.

Den Heimweg legte Adela wesentlich gemächlicher zurück, denn sie hatte es nicht eilig, ihrem Vater unter die Augen zu treten. Sie schlenderte den Burghügel hinauf, der die höchste Erhebung von Waringham war. Ein grasbewachsener Kegel, der von Baumbewuchs freigehalten wurde, damit die Burgbesatzung mögliche Angreifer rechtzeitig kommen sah. Die Sonne hatte im Westen schon fast die Baumwipfel erreicht, tauchte die Welt in sanftes Abendlicht und ließ die Felle der Schafe, die auf dem Burghügel weideten, beinah golden leuchten. Zwei Lämmer spielten Nachlaufen – eines weiß, eines schwarz – und sprangen unter den gleichmütigen Blicken ihrer Mütter übermütig umeinander. Adela blieb einen Moment stehen, um ihnen zuzuschauen, und so putzig waren die beiden kleinen Spielgefährten, dass sie lächeln musste, obwohl ihr Herz sich bleischwer in ihrer Brust anfühlte.

Zögernd wandte sie sich ab, um den Weg hügelan fortzusetzen, als sie hinter sich die Stimme ihrer Mutter rufen hörte: »Adela! Warte auf mich, Liebling.«

Adela drehte sich um und sah ihr entgegen. Lady Iselda of Waringham war eine vornehme Dame, was sich indes mehr an ihrem Gang und ihrer Haltung ablesen ließ als an der Garderobe, denn wenn sie nicht bei Hofe sein musste, bevorzugte sie schlichte Kleider, wie etwa das aus rehbraunem Tuch, welches sie heute trug.

»Wie schaffst du es nur, dass dein Gebende und Schapel immer so perfekt sitzen, als wären sie an deinem Kopf festgenäht?«, fragte Adela zur Begrüßung, als ihre Mutter sie erreicht hatte. »Ich wette, wenn ich einmal verheiratet bin und sie trage, werden sie immer verrutschen, sobald ich zwei Schritte laufe.«

Lady Iselda lachte. »Ich glaube nicht. Irgendwann lernst du, gemessenen Schrittes zu gehen, dann passiert es nicht.«

»Wie kommst du darauf, ich könnte das jemals lernen?«, erkundigte die Tochter sich zweifelnd.

»Weil ich in deinem Alter ebenso ein Wildfang war wie du. Ich bin mit deinem Vater um die Wette geritten und über Hecken und Zäune gesprungen …«

»Letzteres tust du heute noch gelegentlich.«

»Aber nicht mehr so ungestüm«, gab ihre Mutter zurück und fügte mit einem kleinen Schulterzucken hinzu: »Es legt sich einfach irgendwann.«

Das konnte Adela sich beim besten Willen nicht vorstellen, aber das sagte sie nicht. Stattdessen wies sie auf den Weidenkorb, den ihre Mutter über dem Arm trug. »Was bringst du da?«

»Den ersten Honig dieses Sommers. Ich habe Berit alles abgekauft, was sie hergeben wollte. Ihrer ist immer der beste, finde ich.«

Adela nickte. Berit war die Kräuterfrau von Waringham, vermutlich lag es daran. Sie wusste gewiss besser als alle anderen, zwischen welchen Büschen und Kräutern sie ihre Bienenkörbe aufstellen musste.

»Du warst nicht bei Eldrida?«

»Nein«, antwortete Lady Iselda, und wie ein Echo von Adelas eigenen Worten fügte sie hinzu: »Ich schätze, es ist besser, ich warte bis morgen damit. Heute müssen wir sie und ihre Kinder unbehelligt trauern lassen. Es ist ein schreckliches Unglück, das sie getroffen hat.«

Adela nickte beklommen. »Ich glaube, Eldrida und Godwin …« Sie suchte nach einem vornehmen Ausdruck. »… standen einander sehr nahe.«

Ihre Mutter warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und wechselte dann scheinbar unvermittelt das Thema. »Dein Vater hat mit dir gesprochen, wie ich höre? Und du bist ihm davongelaufen?«

Adela zog unwillkürlich die Schultern hoch und nickte reumütig. »Ich weiß, das war ungehörig.«

»Zweifellos«, stimmte ihre Mutter zu. »Aber ich war selbst schon gelegentlich versucht, Reißaus zu nehmen, wenn dein Vater mir einen Vortrag darüber halten wollte, was seiner Auffassung nach das Beste für mich, unsere Kinder oder Waringham ist.«

Adela starrte sie einen Moment entgeistert an. Sie hatte noch niemals gehört, dass ihre Mutter etwas so … Ungezogenes über ihren Vater sagte. »Und ich hätte geschworen, dass ihr immer in allen Dingen eines Sinnes seid.«

Lady Iselda gluckste. »›Immer in allen Dingen eines Sinnes‹ gibt es nicht bei Eheleuten, mein Kind. Ich muss dir indes sicher nicht erklären, dass dein Vater mit allem, was er entscheidet, stets nur das Beste für uns alle im Sinn hat und …«

»Nein«, stimmte Adela verdrossen zu. »Zumal Großvater mir das vorhin schon erklärt hat. Einmal reicht.«

Ihre Mutter nickte unverbindlich. »Sei so gut und unterbrich mich nicht.«

»Entschuldige, ma mère«, bat Adela seufzend. Sie wusste, das machte sie andauernd, und es war eine grässliche Angewohnheit.

»Was dein Vater manchmal vernachlässigt, ist, die Gründe für seine Entscheidungen darzulegen. Darum werde ich es tun.«

Adelas Herz sank wie ein dicker Stein in einem Tümpel. »Das heißt, du wirst nicht versuchen, ihn umzustimmen?«

Ihre Mutter sah sie wieder von der Seite an und schüttelte den Kopf. »Du bist unser Nesthäkchen, und darum haben wir lange gezögert, wer weiß, vielleicht zu lange. Doch es wird höchste Zeit, dass du ausfliegst, Adela. Dein Vater ist kein wohlhabender Mann, wie du weißt. Das heißt, deine Mitgift wird bescheiden ausfallen. Darum werden wir nur dann eine gute Partie für dich finden, wenn du höfischen Schliff besitzt. Den wirst du in Prinzessin Eleanors Haushalt bekommen, das geschieht in einer solchen Umgebung ganz von selbst. Du wirst Verbindungen knüpfen und Freundschaften schließen, die dir ein Leben lang von Nutzen sein werden.«

»Ich will keine neuen Freunde«, gab Adela bockig zurück.

»Das allein beweist, dass es höchste Zeit wird«, antwortete ihre Mutter, und Adela hörte an ihrem Tonfall, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte.

Im Burghof war es still, denn auch hier oben war das Tagewerk für heute getan. Der Sandplatz an der Ostseite, wo Sir Osbern de Cantilupe die Knappen des Haushalts im Schwertkampf unterrichtete, lag verwaist, vor dem Pferdestall neben dem Torhaus standen keine verschwitzten Rösser, die darauf warteten, abgesattelt zu werden, die Pforte der steinernen Kapelle war geschlossen. Nur vom Viehstall eilte eine Magd mit einem schweren Milcheimer vom reichlich verspäteten Abendmelken zum Bergfried hinüber, und vor der Eremitenklause standen Adelas Brüder einander mit zehn Schritten Abstand gegenüber und schlugen mit der flachen Hand einen kleinen Filzball hin und her. Jedes Mal, wenn der Ball auf der grasbewachsenen, buckligen Erde aufschlug, sprang er in eine unvorhersehbare Richtung davon, und ihre Brüder hechteten ihm mit viel Enthusiasmus und Gelächter hinterher. Die Gras- und Staubflecken an Knien und Ellbogen bewiesen, dass sie dieses neumodische Jeu de Paume mit vollem Körpereinsatz spielten.

»Gentlemen!« rief ihre Mutter mit einem nachsichtigen Kopfschütteln. »Ich denke, das sind genug der Heldentaten. Zeit zum Essen.«

Raymond fing den Ball, der geradewegs auf ihn zugeflogen kam, mühelos mit der Linken auf. Er war einundzwanzig und hatte im Frühling den lang ersehnten Ritterschlag erhalten. Ein blonder Hüne von sechs Fuß, besaß er trotz seiner Größe die Grazie eines geübten Fechters. »Wir haben nur auf euch gewartet, Ladys.«

»Na ja, das ist nicht ganz richtig«, schränkte Roger ein und wiegte den Kopf hin und her. »Wir haben insgeheim gehofft, dass ihr lange genug ausbleibt, um uns die Chance auf den entscheidenden dritten Satz zu geben, aber der muss nun wohl morgen ausgetragen werden.«

Roger war Priester und studierte eigentlich in Oxford. Letzten Monat war er indes nach Hause gekommen, weil er seinen Magistertitel ein Jahr früher als erwartet erhalten hatte und sich nun mit ihrem Vater und dem Bischof von Rochester beraten wollte, wie es weitergehen sollte. Roger war achtzehn und trotz der vielen Zeit, die er in der Kirche oder in der Studierstube über Bücher gebeugt verbrachte, nicht weniger athletisch als Raymond und offenbar ein ernstzunehmender Gegner beim Jeu de Paume. Er war einen halben Kopf kleiner als Raymond und von kompakterer Statur, aber ein auffallend gutaussehender Mann mit seinen strahlend blauen Augen und dem schwarzen Haar, das er von ihrem Vater geerbt hatte, und Adela war er der weitaus liebere von ihren Brüdern.

Er verneigte sich lächelnd vor ihnen und zwinkerte ihr dabei verstohlen zu. Dann legte er ihr den Arm um die Schultern und führte sie gemächlich zum Bergfried hinüber.

In der Halle von Waringham Castle hatte der große Haushalt sich schon zum Nachtmahl versammelt. Adela entdeckte ihren Vater an der hohen Tafel, die an der Stirnwand auf einer erhöhten Estrade stand, und er war in eine Unterhaltung mit Sir Francis de Clare, seinem Steward, vertieft. Der freie Sessel neben ihm wartete auf seine Gemahlin, und auf dem Platz daneben saß Adelas Großvater, der mit dem Hauskaplan Vater Justin plauderte und derweil die Schlappohren seines Hundes kraulte, der unter die Tafel gekrochen war und den Kopf in seinen Schoß gelegt hatte.

An den beiden langen Seitentischen hatten sich die übrigen Ritter des Haushalts mit ihren Familien eingefunden. Unterhalb von ihnen saßen die Knappen, die in Waringham das Waffenhandwerk und andere ritterliche Künste erlernen sollten, und an den Enden die dienstfreien Wachen und das Gesinde. Mägde gingen mit großen Krügen hinter den Tischen entlang und füllten Becher. Andere trugen Körbe mit Brotlaiben und dampfende Eintopfschüsseln auf. Der Radau in dem großen Saal mit der hohen Decke war wie üblich ohrenbetäubend. Alle redeten durcheinander, Zinngeschirr schepperte, Kinder krakeelten, und Hunde bellten.

»Also doch«, begrüßte Lord Waringham seine Familie, als die Ankömmlinge ihre Plätze an der hohen Tafel einnahmen. »Wir fingen gerade an zu hoffen, ihr kämet überhaupt nicht und wir könnten eure Himbeeren essen.« Er zeigte auf die gut gefüllte Schale mit den reifen, roten Früchten, die die Mitte der Tafel zierte. »Zu früh gefreut«, raunte er dem Steward zu.

Adela atmete verstohlen auf. Ihr Vater hatte ihr offenbar verziehen, dass sie ihm vorhin einfach davongelaufen war. Nicht, dass sie das sonderlich überraschte. Er konnte streng sein, unerbittlich gar, aber zornig wurde er selten.

Gerard FitzNeal, der junge Knappe, der erst seit wenigen Tagen zum Haushalt gehörte und heute zum ersten Mal an der hohen Tafel aufwartete, trug mit konzentrierter Miene die große Wasserschüssel an den Tisch und hielt sie Lady Waringham hin, ein reines Leinentuch über dem Unterarm.

Sie lächelte ihm zu. »Immer der Hausherr zuerst, Gerard.«

Der Junge zuckte so hastig zurück, dass ein wenig Wasser auf ihren Ärmel schwappte.

»Oh nein … ich bitte um Vergebung, Mylady …«, stammelte er und lief feuerrot an.

»Nur die Ruhe, Junge«, sagte Lord Waringham beschwichtigend und wusch sich die Hände. »Wir reißen hier niemandem den Kopf ab, der einmal einen Fehler macht.«

»Jedenfalls nicht gleich beim ersten Mal«, fügte Raymond mit einem mutwilligen Grinsen hinzu.

Gerard warf ihm einen gehetzten Blick zu.

»Gut gemacht, Bruder«, murmelte Adela vor sich hin. »Genau das, was du wolltest.«

Ihr Großvater an ihrer linken Seite reichte ihr einen Brotlaib. »Weißt du, deine Großmutter Beatriz pflegte zu sagen, dass Raymond hin und wieder unter den Schatten eines Goblin falle, der ihn seit seiner Geburt plagt. Deswegen müsse man gelegentlich ein wenig gründlicher suchen, um sein gutes Herz zu finden, aber das sei nicht seine Schuld.«

»Goblin?«, wiederholte Adela unsicher.

»So nennt man in Aquitanien einen Unhold oder Kobold oder Ähnliches.« Er hob die Linke zu einer entschuldigenden Geste. »Ein gutes Beispiel für die verrückten Geschichten, die sie uns gern auftischte.«

»Ihre Erklärung ist so gut wie jede andere«, widersprach Adela. Und nach einem winzigen Zögern fügte sie hinzu: »Fehlt sie dir noch? Großmutter, meine ich.«

Er atmete tief durch und nickte. »Obwohl es jetzt schon über drei Jahre sind, dass sie uns verlassen hat, kann ich mich nur schwer daran gewöhnen.«

Ihre Großmutter war kurz vor Adelas elftem Geburtstag krank geworden. Es war ein bitterer Winter nach einer mageren Ernte gewesen. Die Bauern litten Hunger, und selbst in Lord Waringhams Halle waren die Rationen magerer gewesen als üblich. Vor ihren Augen war Großmutter immer blasser und schwächer geworden, und heute wusste Adela, dass es die Schwindsucht war, die sie geholt hatte. Ihr erster großer Verlust, denn sie hatte ihre aquitanische Großmutter sehr geliebt.

Sie suchte noch nach den richtigen Worten, um ihrem Großvater zu antworten, als Vater Justin zum Tischgebet anhob. Genau wie alle anderen in der Halle faltete Adela die Hände und senkte den Kopf, während sie lauschte. Nach einem vielstimmigen »Amen!« kehrte der Radau zurück, und der Haushalt begann zu essen.

»Sei nicht niedergeschlagen, Liebling«, nahm ihr Großvater den Gesprächsfaden wieder auf. »Der Tod kommt zu uns allen. Doch deiner Großmutter und mir waren beinah fünfunddreißig Jahre miteinander vergönnt. Unsere Kinder waren längst erwachsen, als sie gehen musste, und ich hatte Zeit, mich darauf einzustellen. Wir hatten großes Glück.«

Adela blickte in ihre Eintopfschale und nickte, in Gedanken bei Bedric und seiner Familie, über die das Unglück ohne jede Vorwarnung hereingebrochen war.

Ihr Großvater wechselte das Thema. »Also? Weißt du schon, wann du aufbrechen wirst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Lieber später als früher, wenn es nach mir geht.«

»Übermorgen«, sagte Roger unerwartet, der an Adelas anderer Seite saß.

Sie starrte ihn entsetzt an. »So bald?«

Er nickte. »Ich werde dich begleiten, falls das ein Trost ist.«

Es war in der Tat ein Trost, doch sie fragte erstaunt: »Was in aller Welt willst du in Prinzessin Eleanors Haushalt?«

Roger lachte. »Gar nichts. Ich liefere dich nur dort ab. Heute Nachmittag kam ein Bote des Bischofs von Rochester. Die Universität in Oxford will mich zurück, schreibt er und rät mir, dem Ruf zu folgen und dort ein, zwei Jahre zu unterrichten.« Er hob die Schultern. »Natürlich werde ich es tun, ich liebe Oxford. Prinzessin Eleanor ist in Odiham in Hampshire, das liegt ungefähr vierzig Meilen südlich von Oxford, und ich komme praktisch daran vorbei. Na ja, das ist gelogen, aber es ist kein großer Umweg. Und es wäre doch für uns beide viel schöner, wenn wir zusammen reisen. Aber ich sollte nächste Woche dort sein, also müssen wir so bald wie möglich aufbrechen.«

Einen Moment lang beneidete Adela ihren Bruder mit solcher Leidenschaft, dass es sich beinah wie Hass anfühlte. Er durfte dorthin zurückkehren, wo er glücklich gewesen war, während sie an einen Ort geschickt wurde, wo sie niemanden kannte und todsicher unglücklich sein würde. Wie eine Verbannte kam sie sich vor, und sie fürchtete sich. Aber sie schluckte die hitzige Erwiderung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Es war ja nicht Rogers Schuld. Und sie wollte auch nicht, dass irgendwer ihre Furcht bemerkte.

Sie überraschte sich selbst, als sie ihrem Bruder mit einem Lächeln antwortete: »Dann müssen wir hoffen, dass Prinzessin Eleanor mich auch in meinen schäbigen Kleidern mit den ausgelassenen Säumen nimmt, denn für eine neue Garderobe bleibt keine Zeit.«

Roger zwinkerte ihr zu. »Ich bin sicher, sie wird deine schäbigen Kleider mit den ausgelassenen Säumen als Beweis deiner sittsamen Bescheidenheit betrachten.«

»Ganz gewiss«, spöttelte Großvater. »Ich wüsste wahrhaftig niemanden, der sittsame Bescheidenheit so hoch schätzt wie Prinzessin Eleanor …«

Odiham, Juni 1238

»Roger of Waringham. Ich bringe meine Schwester Adela«, erklärte Roger den beiden Torwachen. »Prinzessin Eleanor erwartet sie.«

Der rechte der Wächter, der Adela kaum älter erschien als sie selbst und dessen Kettenpanzer so glänzte, als sei er nagelneu, wies einladend in das wuchtige Torhaus. »Ihr findet sie zu dieser Zeit vermutlich im Königshaus, Vater.« Dann machte er einen artigen Diener vor Adela. »Willkommen in Odiham, Lady Adela.«

Sie spürte ihre Wangen heiß werden. »Hab Dank.« Aus dem Sattel heraus nickte sie ihm zu – huldvoll, so hoffte sie –, ehe sie ihrem Bruder folgte. Die zwei Männer der Burgwache, die ihr Vater ihnen als Eskorte mitgegeben hatte, bildeten mit dem Packmuli die Nachhut.

»Was in aller Welt mag ein Königshaus sein?«, fragte Adela gedämpft.

»Vermutlich genau das, was der Name verspricht«, gab Roger zurück, und seine Stimme hallte ein wenig gespenstisch im Torhaus, welches genauso höhlengleich und dunkel war wie in Waringham und ebenso nach feuchtem Stein roch. Und als sie auf der anderen Seite wieder in den Sonnenschein kamen, fügte er hinzu: »Der teuflische König John hat es erbaut, wenn ich mich recht entsinne.«

Adela nickte, entgegnete aber: »Großvater sagt, wir sollen ihn nicht so nennen.«

»Er hat vermutlich recht«, stimmte Roger gedämpft zu. »Vor allem hier nicht.«

Der rechteckige Burghof von Odiham war mindestens doppelt so groß wie der von Waringham, und ein bewässerter innerer Graben schützte den trutzigen Bergfried. Die Ankömmlinge erkannten das Königshaus auf der Ostseite der Anlage auf den ersten Blick: ein wundervolles zweigeschossiges Bauwerk aus weißem Caen-Kalkstein, der so gleißend in der Sonne funkelte, dass Adela die Augen zusammenkneifen musste.

»Tja, man mag über König John sagen, was man will, aber er hatte auf jeden Fall Geschmack«, befand Roger, als sie absaßen.

Adela klopfte ihrer Stute den Hals, während sie staunend zu den gemeißelten Wasserspeiern an den beiden sichtbaren Ecken des Königshauses emporschaute. Solch kunstvolle Steinmetzarbeiten kannte sie bislang nur von den steinernen Kirchen in Rochester und Canterbury.

Die Männer ihrer Eskorte waren ebenfalls abgesessen. »Sollen wir die Gäule wegbringen?«, offerierte Leofwin.

»Seid so gut«, erwiderte Adelas Bruder. »Und dann geht in die Halle dort drüben im Bergfried und lasst euch etwas möglichst Kühles vorsetzen.«

Es war noch Vormittag, aber es wurde schon heiß.

Seit sie vorgestern in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen waren, hatte die Sonne vom vergissmeinnichtblauen Himmel geschienen. Leofwin und Egbert hatten in ihren Kettenpanzern gelitten, aber Adela war dankbar für das trockene und warme Wetter gewesen. Roger war ein wunderbarer Reisegefährte, hatte sie ohne alle Überraschung festgestellt. Er amüsierte sie mit den verblüffendsten Klatschgeschichten über die Lords und Ladys der Landgüter, die sie passierten. Er bat sie dann und wann, eine der Verserzählungen von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde aufzusagen, die sie auswendig konnte, und hörte ihr wirklich zu, wenn sie es tat. Und er gab vor, es nicht zu bemerken, wenn sie sich hin und wieder eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste. Dafür war sie ihm besonders dankbar, denn sie schämte sich dieser Tränen. Es war der Abschied von Waringham und all den geliebten Menschen dort, der sie schwermütig stimmte, aber auf keinen Fall sollte ihr Bruder glauben, sie fürchte sich.

Die erste Nacht hatten sie im Gästehaus der Benediktinerabtei von St. Thomas verbracht, wo Roger als Junge zur Schule gegangen war, die zweite in einem Kloster am Ufer des Flusses Whitewater, der auch Odiham Castle säumte, und von dort waren es nur noch zehn Meilen bis ans Ziel ihrer Reise gewesen.

Vor dem Eingang des Königshauses stand ebenfalls eine Wache, die ihnen höflich den Weg zu Prinzessin Eleanors Gemächern im Erdgeschoss wies. Adela und Roger durchschritten die großzügige Vorhalle, und Roger klopfte an die gewiesene Tür.

»Oh, was nun schon wieder?«, rief eine ungehaltene Frauenstimme von drinnen.

Roger wechselte einen Blick mit Adela, die Brauen in die Höhe gezogen. Dann nahm er ihren Arm, öffnete unerschrocken die Tür und führte seine Schwester in einen großen, lichtdurchfluteten Raum. »Ich bin untröstlich, dass wir ungelegen kommen, Mylady«, sagte er mit einem Lächeln und verneigte sich galant.

Vor einem langen Tisch am Kamin stand die eleganteste Dame, die Adela je im Leben gesehen hatte: eine schlanke Gestalt von mittlerer Größe in einem frühlingsgrünen Seidenkleid mit goldbestickter Bordüre, das trotz des verschwenderischen Faltenwurfs ihre Schwangerschaft nicht verbarg. Sie trug kein Gebende, sondern lediglich einen schulterlangen, duftigen Schleier, den ein goldener Stirnreif hielt. Die dunklen Flechten, die darunter hervorwallten, schimmerten im einfallenden Sonnenlicht wie brüniertes Kupfer. Das ebenmäßige Gesicht war von perfekter Blässe, so als wäre es aus Alabaster gemeißelt, und der großzügige Mund stand im Widerstreit zu dem Anstrich von Hochmut, den die hohen Wangenknochen ihr verliehen. In den großen, dunklen Augen funkelte Zorn.

»Wer seid Ihr?«, fragte sie ungnädig.

»Roger of Waringham, Mylady, zu Euren Diensten.«

»Waringham?«, wiederholte sie. »Euer Vater ist des Königs Master of the Horse?«

Roger schüttelte den Kopf. »Das ist unser Onkel Gui. Unser Vater ist der Earl of Waringham, in dessen Namen ich Euch meine Schwester bringe, die in Euren Haushalt zu nehmen Ihr ihm anzubieten die Güte besaßet.«

»Du meine Güte.« Prinzessin Eleanor verzog einen Mundwinkel nach oben. »Wo lernt man, in solchen Sätzen zu reden?«

»Oxford, Mylady«, bekannte er mit einer neuerlichen kleinen Verbeugung.

»Dacht ich’s mir.« Sie legte den großen Pergamentbogen beiseite, den sie in der Hand gehalten hatte, und musterte Roger. Ziemlich lange und eingehend, bedachte man, dass er ein Priester und sie eine verheiratete Dame war.

»Dann nehme ich an, Ihr kennt den Chancellor der Universität, Vater Roger?«, fragte sie schließlich.

»Ralph Cole? Allerdings, Madame.«

Prinzessin Eleanor neigte ein klein wenig den Kopf zur Seite. »Höre ich einen Hauch von Reserviertheit? Falls ja, würdet Ihr schlagartig mein Wohlwollen gewinnen, denn Ralph Cole hat es offenbar als seine heilige Pflicht erachtet, mir einen endlosen und sterbenslangweiligen Brief über die Unverbrüchlichkeit eines Keuschheitsgelübdes zu schreiben.« Sie tippte mit einem gepflegten und polierten Fingernagel auf den Pergamentbogen.

»Ich bin nicht verwundert«, antwortete Roger. »Professor Coles Vorlesungen sind ebenfalls endlos und sterbenslangweilig, und er erachtet es als seine heilige Pflicht, seine Studenten bei jeder sich bietenden Gelegenheit für ihren Mangel an moralischer Festigkeit zu rügen.«

Sie lachte. Es war ein unerwartet warmes und sympathisches Lachen, und der letzte Rest der Anspannung verflog. Prinzessin Eleanor nickte Adela zu und streckte ihr die Rechte entgegen. »Komm näher. Wie ist dein Name?«

Adela trat vor sie. Es waren mindestens zehn Schritte, die sie trennten, und sie achtete darauf, sich gerade zu halten und nicht zu zaudern. Vor der Schwester des Königs sank sie in ihren besten Knicks. »Adela of Waringham, Mylady.«

»Was für ein hübscher Name«, befand Eleanor. »Die jüngste Tochter des Eroberers hieß Adela.«

Ihre neue Hofdame nickte, den Blick auf die quadratischen Bodenfliesen aus schimmernd weißem Marmor gerichtet. »Sie war König Henrys Lieblingsschwester, heißt es«, antwortete sie. »Ich meine natürlich Eures Ur-Urgroßvaters, Madame, nicht Eures Bruders.«

»Dessen Lieblingsschwester angeblich ich bin«, vertraute Eleanor ihr an. »Ich bin allerdings nicht ganz sicher, ob das noch gilt. Der König ist gerade nicht besonders gut auf mich zu sprechen.«

Adela erkannte an ihrem Tonfall, dass das königliche Missfallen Prinzessin Eleanor nicht sonderlich erschütterte.

»Du darfst dich erheben, Adela of Waringham. Sei willkommen als Dame d’honneur meines Haushalts. Verabschiede dich von deinem Bruder – nach Möglichkeit ohne Tränenfluten –, und dann führt die Wache dich zu Lady Cecily Sandford. Sie wird dich mit deinen Pflichten vertraut machen.«

»Habt Dank, Mylady«, antwortete Adela, knickste schon wieder und ging zu ihrem Bruder zurück. Sie spürte einen dicken Kloß in der Kehle, aber eher hätte sie sich von der Burgmauer in den Whitewater gestürzt, als ihren Abschiedsschmerz zu zeigen, zumal die spöttische Bemerkung über Tränenfluten sie geärgert hatte. »Leb wohl, Roger. Glückliche Reise.«

Er legte ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Stirn. »Gott schütze dich, Adela. Schreib mir, wenn du irgendetwas brauchst.«

Sie knickste auch vor ihm – was sie noch nie im Leben getan hatte – und trat hinaus in die Vorhalle.

Der Wachsoldat führte sie eine verschwenderisch breite Treppe hinauf ins Obergeschoss, einen Korridor zur Linken entlang und hielt vor der zweiten Tür. Er klopfte, trat ein und meldete: »Ein Neuzugang für Euch, Lady Cecily.«

»Nun, dann herein mit ihr«, antwortete eine Frauenstimme. Sie klang verdrossen.