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Philippe Sollers

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Beschreibung

Wie eine Schachpartie auf 64 Feldern gespielt wird, läuft dieses Drama in 64 »Gesängen« ab. Der Roman beginnt mit dem Augenblick, da der Schriftsteller seine Feder auf das Papier setzt. Vor unseren Augen wird der Akt des Schreibens, das Entstehen des Wortes zum eigentlichen Sujet einer romanesken Creation. Auf einer abstrakten Bühne spielt sich die geistige Auseinandersetzung eines Dichters ab und wird zum Drama. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Philippe Sollers

Drama

Aus dem Französischen von Gerd Henniger

FISCHER Digital

Inhalt

VorwortMottoAnfangs (erster Zustand, Linien, [...]

Vorwort

Eigentlich wahr von allen Geschichten ist nur die eine, die es wirklich gibt; jeder schreibt sie, indem er lebt, durch all sein Tun und Lassen; sie ist der konkrete Roman. Der Mensch, das luzide Tier, haust in einer Geschichte, die er fortwährend selbst erzeugt; doch er wird auch von ihr gelebt, ist ihr zwangsläufiges Erzeugnis. Während er, von innen gleichsam und wie jene Schrift, die auf der Filmleinwand von selbst sich schreibt, seinen bewundernswerten oder banalen Text entwirft (wer schreibt, wer ›spurt‹ auf dieser weißen Seite, die man Hintergrund des Lebens nennen könnte?), spiegelt er ihn, von außen sozusagen, in seinem Denken wider. Hier beginnt das Paradox und mit ihm das Drama; denn der Mensch ist zugleich innen wie außen, und auf jeder dieser beiden Positionen befindet er sich gegenüber. Wem? Sich selbst? Sich selbst als dem anderen? Ewige Schizophrenie des Ausdrucks, ewiges Verdammtsein zum Voyeur. Von der Außen-Position her und gleichnishaft betrachtet, wird das Ich zum Schauspieler oder zur Figur einer Bildtafel; von der Innen-Position her ›der andere‹ (haben die Philosophen ihn früher nicht metaphysisches Subjekt geheißen, die Romanciers wohlweislich dessen Stellung personell unbesetzt gehalten?) zum unpersönlichen Er, der einem Pronomen zum Verwechseln ähnlich sieht.

Nun beginnt die Geschichte, die eigentlich wahre, mit dem augenblicklichen Entschluß, dem Leben keinen Sinn mehr zu erfinden (nicht mehr Regie von irgendeinem Stuhl aus zu führen), sondern die Kongruenz von Ich und Er, des Bewußtseins im Fleisch mit dem Bewußtsein in der Sprache, zu leisten. Dieser Entschluß begreift sich keineswegs als willkürlicher; er pocht auf die gebieterische Tatsache, daß es Bewußtsein gibt; er verpflichtet sich diesem Blitz, der ein unvorstellbares Tiersein zur Klarsicht des Menschengeschlechts begabte. Mit einem Wort: er ist ebenso konstitutionell wie konstitutiv. Im Namen der Gattung sprechen, heißt für ihn, den Menschen als sprachbildenden Organismus verwirklichen. Nicht von, nicht über, ganz einfach nur sprechen.

Denn die eigentliche Geschichte meint nicht; sie lebt. Ihre Wahrheit ist eine syntaktische, insofern sie unmittelbar aus ihrem eignen Baugesetz folgt, das seinerseits immer von neuem zu verabschieden bleibt. Indem Ich und Er als streng geschiedene Positionen zur Deckung gelangen wollen, entfaltet sich das unmögliche Spiel, Drama und Schachpartie in einem. Die Dialektik von Fleisch und Sprache wird nämlich nur dadurch und in dem Maße erlitten, als sie Zug um Zug zielstrebig betrieben wird. Die Geschichte kann Geschichte nur als Drama sein, und das Drama wird als Schach gespielt. Da sich beide in der idealen Gegenwart des Bewußtseins, im ›Plusquampräsens‹, zutragen, das erst durch den Akt des Schreibens Ereignis wird, stellt sich das Ganze etwa so dar: die Geschichte erscheint als Projektion des gespaltenen Bewußtseins, verwandelt sich dort in das Drama von Ich und Er, das als Schachspiel getätigt und Zug für Zug notiert wird. Ihre Schauplätze sind der Projektionsschirm, die Bühne der Realität, die Bildtafel als Momentaufnahme des szenischen Geschehens sowie das sprachliche Bild als beispielsweise Repräsentation verschiedener Seinszustände, das Schachbrett und die weiße Seite. Alle diese Schauplätze wechseln nicht nur miteinander ab, sondern werden auch übereinander kopiert, wobei Abfolge und Überlagerung gedanklichen oder psychischen oder äußeren Handlungsverläufen entsprechen, wenn sie nacheinander oder gleichzeitig von verschiedenen Standorten aus beobachtet werden. Auf der Ebene der dramatis personae können die Akteure faktisch oder lediglich in der Vorstellung einander doubeln bzw. die Gangarten der Schachfiguren bis zu einem gewissen Grade durcheinander ersetzt werden bzw. die auf der Bildtafel in Momentaufnahme Erstarrten einander vertreten, – was auch dadurch zum Ausdruck kommen kann, daß die Worte oder Wortarten, die sie alle abbilden, im Satz verschiedene Funktionen auszuüben vermögen. In der Sprache ergibt dies ein an- und abschwellendes Parlando, das vom isolierten Ausdruck über den organisierten Satz bis zum emotional gesteuerten Prosodiezerfall reicht. Die Sprachlogik wird bis zum gezielten Un-Sinn (Tautologie, Ellipse) bemüht, weil sich die Sachverhalte ineinander spiegeln und, in die Linearität allen Sagens projiziert, Unter-, Innen- und Übersätze erzeugen, die den ostinaten Hauptsatz polyphon umspielen. Folgerichtig können, teils aus anekdotischen Belangen, teils aus erkenntnistheoretischen Zwecken, altertümliche Texte mit ihrer scheinbar primitiven, jedoch höchst subtilen Grammatik in die eigene Sprache eingebaut werden, was unter anderem ein Hinweis darauf sein mag, daß die vorklassische Sprachlogik unserer heutigen Bewußtseinslage besser zu entsprechen vermag.

Wichtiger, weil für den Textablauf durchgehende Ordnung stiftend, ist ein regelmäßiges Umspringen der Perspektive, das nicht bloß den Wechsel vom Ich zum Er gewährleistet, sondern durch einen – allerdings konsequenten – Kunstgriff dem Ich noch eine andere, menschliche Alternative eröffnet als die Selbstbespiegelung. Das Ich kann nicht neutral sein, es ist männlich oder weiblich; seit allem Ursprung stehen die beiden getrennten Hälften der Menschenfrucht miteinander im Dialog. Dialogisch aber ist auch die Beziehung von Gemeinsamkeit und Einsamkeit. Drama also auch hier, auf zwei Ebenen mit verteilten Rollen gespielt und daher höchst dialektisch: liebende Gegnerschaft, Partnerschaft in der Einsamkeit. Im Text lösen zu diesem Zweck zwei stets etwa gleichlange Passagen einander fortwährend ab. Die eine ist jeweils dem Bereich des Er vorbehalten, der Zone unauflöslicher, ja unpersönlicher Einsamkeit; in der andren gerät das Ich in Form von Briefen (dies der echte Kunstgriff, denn der Brief meint Nähe aus der Ferne, erzeugt durchs Schreiben) in einen unaufhörlichen Dialog mit dem Du, das nichts andres ist als das weibliche Ich auf seiner Seite der Einsamkeit.

In der Sprachführung bewirkt die zwiefache, im eigentlichen Wortverstand zwiespältige dialektische Spannung zwischen Ich und Er und Ich und Du eine bemerkenswerte Polarisation der semantischen Spracheigenschaften. Das alte Schema der chinesischen Grammatik heranziehend, das einen Unterschied trifft zwischen sogenannten ›vollen‹, das heißt Materielles bezeichnenden Worten, und sogenannten ›leeren‹, die grammatische Partikel oder logische Begriffe bedeuten, könnte man sagen, die Sprache der eigentlich wahren Geschichte verdingliche sich einerseits zu Kuben und verflüchtige sich andrerseits in pure Abstraktion. In der Tat wird die Außenwelt auf unüberbietbare, undurchdringliche Kürze und Dichte reduziert, während sich das Innen des Geistes und der Seele zur ätherischen Ungreifbarkeit und, was mehr sagen will, Unverständlichkeit ausdehnt. Dort die Welt der einfachen Gegenstände, der reinen Farben, der anspruchslosesten Handlungen; hier der klare Nebel bloßer Relationen, sich selbst aufhebender Bilder und erbitterter Widersprüche. Nutzlos, darüber zu rechten: dies gehört zur Konzeption; und im übrigen verdankt diese Prosa ihre eigentümliche Sinnlichkeit ebendieser Divergenz. Am eindrucksvollsten beweist sie sich dort, wo die Pole sich paaren und, wenn man einen Vergleich aus der Malerei heranziehen darf, wahrhaft manieristische Bildtafeln zeugen. An ihnen läßt sich, wie an phantastischen Thermometern, das Klima der Geschichte ablesen oder vielmehr: in ihnen gerinnt die Geschichte zur Chiffre.

Hat nun die Geschichte Inhalt, kennt sie Handlung, Schürzung des Knotens und endliche Lösbarkeit in der Zeit? Nichts von alledem kann ihr zwangsläufig eignen; wohl aber lebt sie aus Motiven, und sogar ein Ereignis durchgeistert sie. Bezeichnenderweise ist es ein Unfall. Doch wäre es müßig, über eine mögliche Hinterbedeutung zu philosophieren angesichts einer Geschichte, die sich unmöglich macht, um zu guter Letzt in sich selber zu münden. Ohne Zweifel verschlingt dieser Roman sich selbst. Und ohne Zweifel tut er es – voll Trauer, Anmaßung, Bescheidenheit und Lust – mit dem besten Gewissen; denn indem er, der sich das Leben restlos einverleibt hat, Selbstmord begeht, gründet er von neuem das Leben, das nun, aus ihm, dem unmöglichen Roman hervorgegangen, nichts andres ist als die eigentlich wahre Geschichte.

Eine kunstmörderische, lebenspendende Dialektik, ein Drama, das diesen Roman mit dem eigensinnigen Titel auf einem bestimmten historischen Ort ansiedelt. Wer zu lesen versteht, findet reiche Spuren. Da ist der Kampf mit dem Zufall, den einst Mallarmés Igitur geführt, da ist der Mythos der weißen Seite aus dem ›Coup de Dés‹ und vor allem die dialektische Umdeutung der Vorstellung, die Welt sei dazu da, um in ein schönes Buch zu münden. Diese Spur führt über Einsamkeit und Schweigen, über das Widerspiel von Warten und Vergessen und die ins Absolute gerückte Er-Sie-Problematik zu Blanchot, der ja unter anderem aus der Auseinandersetzung mit Mallarmé seine Theorie der im Sprachkunstwerk immanenten Transzendenz entwickelt hat. Einer solchen Linie entspricht folgerichtig die Tendenz zu immer größerer Durchsichtigkeit der Sprache, zum Ausscheiden aller Wirklichkeitselemente, zum Kult der sich selbst widersprechenden Raffinesse im Geistigen, die stolz und verzweifelt erlitten wird. Auf der anderen Seite gibt es da die schmerzliche Erfahrung Antonin Artauds, wie sie etwa in der ›Nervenwaage‹ oder im ›Theater und sein Double‹ niedergelegt ist. Dorther stammen die Vorstellungen einer ›Dichtung im Raum‹, der Versuch, ›viel mehr von der Notwendigkeit des Wortes auszugehen als vom bereits gebildeten Wort‹, die Auffassung des Sprachbildes als eines Schattens, der die Wirklichkeit doubelt, vor allem aber das Leiden daran, daß die Eigentlichkeit des Lebens durch die Sprache verfälscht wird. Diesen Erfahrungen verdankt die Sprache ihre Heftigkeit, ihren nervösen Glanz, ihre Irrealität, das Absinken ins Desartikulierte, um zu bedeuten, daß jedwede Beschreibung uneigentlich sei.

Entsprechen die Spuren Mallarmé-Blanchot einerseits und Artaud andrerseits sich sozusagen spiegelverkehrt, stellen sie das poetische Martyrium von zwei entgegegengesetzten Seiten her mit den Konsequenzen höchster Bewußtheit und sprachlosen Wahnsinn ins Licht, so gibt es noch eine andere Spur, die solcher Gefährdung entgegenwirkt. Sie ist verbunden mit dem Namen Francis Ponge. Die Auffassung der Realität als einer Sprache, das Festhalten an der Materialität, an der Dichte und Kompaktheit der Dinge, das sich in einer unverblümten, höchst einfachen Sprache niederschlägt, die Heranziehung der Objektwelt als einer Verkörperung innerer Zustände, gelegentliche Biologismen und Entlehnungen von Denkmodellen, vor allem aber der Grundsatz von der non-signification der Welt, von ihrer Freiheit von jeglicher Bedeutung, – dies alles geht fraglos auf Ponge zurück.

Eine solche Tradition mag auf den ersten Blick in zweifacher Hinsicht befremdend wirken; einmal, weil sie so wenig unmittelbar mit dem Roman zu tun hat, und zum andern infolge ihrer Zwiespältigkeit. Nun ist aber Philippe Sollers – und es soll gleich erläutert werden, warum der Name des Autors gerade hier und erst so spät fällt – einer der jüngsten Vertreter des Nouveau Roman; er gehört bereits zu dessen zweiter Generation. Robbe-Grillet, sein ehemaliger Protektor und neuerdings sein bevorzugtes Angriffsziel, war für ihn nur ein Durchgang. Schon in seinem letzten Roman ›Der Park‹ macht sich eine lyrische Reflexion bemerkbar die – so ephemer und fragmentarisch der Mensch im Nouveau Roman sowieso schon sein mag – die Figuren zu Silhouetten reduziert und die Gedanken- und Dingwelt hervorhebt. Diese verdeckten Tendenzen sind nun zutage getreten mit einer Klarheit, mit einer Schärfe, denen man allen Respekt zollen muß, zeigen sie doch, daß Sollers die Möglichkeiten und Konsequenzen des Nouveau Roman durchdacht hat wie kein andrer. Er hat begriffen, wohin die Entfernung des Romanhelden, ob er nun von einem fiktiven oder textimmanenten Standort aus gesteuert wird, führen muß. Die Abwesenheit dieser Puppe wird von ihm durch deren lebendigen Stellvertreter, den Menschen, ersetzt und der Roman durch den Lebensentwurf, durch eine nicht formal zu definierende Gestaltung zwischen Tagebuch, Brief und Selbstreflektion. Die Anonymität, die hierbei paradoxerweise eintritt, ist nun aber keine solche äußerer Umstände; sie folgt aus der zumindest zeitweiligen Aufhebung der Personalität, ja der Individualität. Zu diesem Zweck greift Sollers auf jene vor ihm getätigten Erfahrungen über die poetische Natur des Menschen zurück, denen, so verschieden sie sein mögen, doch ein Wesentliches gemeinsam eignet: der Versuch, die poiesis jenseits jener ideellen Verdinglichung, als welche der Mensch durch die Deklarierung zur res per se una lebte, ins Werk zu setzen und auf ihr den Menschen zu gründen. Nicht als Fertiges, sondern als Zu-Verfertigendes. Denn wenn Poesie soviel wie Machen heißt, setzt sie die Zeugung fort und mit ihr deren Anonymität. Alles Schreiben aber wird namenlos poetisch sein müssen, soll es Bestand erlangen.

Erst hier sollte daher der Urheber eines so kühnen Vorhabens genannt werden; sein Name sollte nur sichtbar werden, um wieder zu verschwinden in die Anonymität seiner eigentlich wahren Geschichte. Wenn aber auch der Name verschwindet, wenn mit ihm die Person zurücktritt ins Dunkel, so bleibt doch die Stimme, die spricht, bleibt doch das laute Gerücht, das vom wesen handelt.

GERD HENNIGER

»DAS BLUT, DAS DAS HERZ TRÄNKT, IST DENKEN«

Anfangs (erster Zustand, Linien, Graphisches – das Spiel beginnt) ist es vielleicht das beständigste Element, das sich hinter Augen und Stirn zusammenzieht. Zügig betreibt er die Nachforschung. Eine Kette von Meereserinnerungen gleitet in seinen rechten Arm: er überrascht sie im Halbschlaf, bei stiebendem Gischt. Das linke Bein dagegen scheint von Gesteinsansammlungen behelligt zu werden. Ein großer Teil des Rückens verwahrt, übereinandergeschichtet, die Bilder von Zimmern in der Dämmerung. Angehalten, drängt er nicht weiter, wartet er ab. Dieser erste Kontakt kommt ihm viel zu reichhaltig, viel zu undurchschaubar vor. Alles verseucht, voller Bedeutung. Kein Beginnen bietet die erforderlichen Garantien, neutral genug zu sein. Unnütze Signale beschäftigen sichtlich seinen Körper. Überraschung: stets hat er gedacht, im gewollten Augenblick ließe sich die eigentlich wahre Geschichte berichten. Weit weg, dem Anschein nach aufgegeben, spürte er sie Schritt für Schritt, unverrückbar. Selbst jetzt überredet er sich noch, er könne sie ganz einfach umreißen: sitzend, Sonne über seiner Linken oberhalb der Dächer (Bewußtsein der Bewegung, Gestirne), Erde und Blumen ihm zu Füßen, Wasser, dort hinten, unabsehbar … Fehlgeschlagen.

 

Was er will, will er ohne Verzug, ohne Einzelheiten. Nicht etwa irgend etwas in einem begrenzten, festgelegten Rahmen sein, nicht etwa erklären oder feststellen. Chemisches Vorgehen vielmehr: scheiden, isolieren …

 

Fehlgeschlagen.

 

Wenn er wirklich das Unternehmen fortführen will, jeden Tag, während der kurzen Augenblicke, in denen er mit seinem Vorhaben übereinstimmt – bis zur Betäubung, bis zur Leere –, so wird er beim Zufall beginnen, diesen Zufall durch Überlistung reduzieren müssen. Das Problem: die Erkundung soweit als möglich vorantreiben, das Unbehagen unterdrücken, das ihn ohne Unterlaß befällt. Das Problem: die Falle gesehen, aber ihre Begrenzungen eingebüßt zu haben. Er verfügt zu seinem Zweck über mannigfache, unbrauchbare Nachrichten. Bald wird er den Eindruck gewinnen, er habe sich aus Versehen in ein lebendiges Museum verirrt und gebe für alle Bildtafeln zugleich eine Neben- oder Hauptfigur ab: keine einzige, die von gleicher Gestalt wäre oder vom gleichen Verfasser stammte. Davon muß er ausgehen.

 

Aber auch von folgendem Traum:

 

Spät abends kommt er vor der Tür zur Bibliothek an. Er tritt ein (aber nicht durch die Tür, durch die Mauer hindurch vielmehr, durch eins der auf dem höchsten Regal befindlichen Bücher, von dem er jetzt, da er den Fußboden erreicht hat, weder Überschrift noch Verfasser entziffern kann). Was ihn aber in Erstaunen versetzt, und zwar auf der Stelle, ist jenseits des offenen Fensters und ohne daß der Innenraum davon in Mitleidenschaft gezogen würde, in einem nie zuvor erblickten Garten ein lautloses Gewitter. Wind, Blitze, Regen, fliegende Blätter, gebogene Zweige, nichts fehlt. Gut, sagt er sich, das erfrischt die Luft. Worauf er sich in horizontaler Lage wiederfindet, ein wenig oberhalb des Tisches. Nun ist er aber gleichzeitig lang ausgestreckt, tot, an der Stelle, die ich soeben angegeben habe, und – wie auf einem Projektionsbild – etwas oberhalb seiner selbst. Das Spiel besteht darin, daß die zweite (lebendige und imaginäre) Person den wirklichen Leichnam quält. Grimassen, Ohrfeigen, Kneifen. Der Lebendige (als der er sich fühlt) weiß, daß er nichts zu befürchten braucht. Der Tote (der er ist, wie er auf ebendiese Art weiß) könnte sich nicht bewegen, weil er ja tot ist, und könnte jedenfalls kein bloß ersonnenes Bild abgeben. Die Situation ist ganz erholsam, übrigens ist in den Garten auch wieder Ruhe eingekehrt. Nun geschieht ohne jeden Übergang das Unmögliche, die Logik wird mit einem Male zunichte gemacht: der Tote hat den falschen Lebendigen bei der Hand ergriffen, er richtet sich auf, zieht ihn mit fort, die Angst übermannt gleichsam sichtlich das zergehende Bild.

Vorbedeutung? Zweifellos. Ratschlag wie Drohung. Doch kann er sich nicht in sein Nicht-Wissen fügen. Aussteigen. Er spürt, daß er scheitern muß; er spürt, daß er nichts kann, als es versuchen. Besser die Situation nicht von vornherein entwirren wollen, auf die er sich einläßt: sich entscheiden, weitergehen, des Helldunkels je nach Maßgabe sich vergewissern, dessen fortwährender und zugleich wechselnder Zeuge er ist. Im übrigen erfaßt ihn wieder, ohne loszulassen, eine bezeichnende starke Erregung, stellt ihn genau dorthin zurück, von wo ihn Zerstreutheit, Gewohnheit hätten entfernen können. Unmöglich, die Frage zu überspielen. Sie ist’s, könnte man sagen, die ihn jeden Augenblick heftig zu Boden schleudert: »und was nun?«

Nun hebt sich der Vorhang, er kann wieder sehen, macht sich davon, sieht sich mit dem Schauspiel ringen, das weder drinnen noch draußen ist. Nun betritt er wie zum erstenmal die Bühne. Theater demnach: man fängt wieder von vorne an. Unwiderstehliches, chaotisches Vorbeiziehen, Menschenmengen, Schreie, Handlungen, Worte, verstohlene Landschaften, was für eine Stille. Du hast die Wahl und mehr als die Wahl. Die Antwort wird dir sagen, ob du sie erfunden hast. Keine Verzögerungen mehr. Es liegt an dir.

 

Wenige Monate nur nach diesem Traum findet er sich, in wachem Zustand diesmal, im gleichen geheimen Gebärdenspiel wieder. Infolge heftigen Windes gleiten mondhelle Wolken rasch vor schwarzem Hintergrund vorüber und bilden beim Durchzug vor dem Vollmond so etwas wie Rauchschwaden, eine dunkelrot verschleierte Krone. Er beobachtet, trotz der Kälte. Kein Zweifel, daß es sich um dieselbe Geschichte handelt, doch wieso ist er sich dessen so sicher? Diese Szene muß jemand ins Rollen gebracht haben, jetzt schiebt sie sich aus bloßer, unbegreiflicher Launenhaftigkeit oder gemäß einem Plan, den er als Schauspieler nicht kennt, dazwischen … Auf diese Weise wird er pausenlos herbeibeordert, von Stücken ohne Einheit der Handlung aufgerufen, wird er gezwungen, den mannigfachsten Situationen gerecht zu werden, ohne zu wissen, was sie eigentlich von ihm erwarten, welchen Text er ihnen unterlegen muß. Wenn er wenigstens, mit den anderen, denken könnte, er begreife bei alledem etwas oder er begreife gar nichts, es gebe dabei gar nichts zu begreifen, er werde dabei zwangsläufig nur das begreifen, was er wolle … Wenn er dergestalt dem Ganzen einen durchgehenden (positiven oder negativen) Sinn geben könnte … Nicht daß er sich gehen ließe, im Gegenteil. Er hat den Versuch unternommen, er unternimmt ihn weiterhin mit Erfolg. Zum Beispiel mischt er sich unter eine Menschenansammlung, man erkennt ihn, er spricht selbstsicher, zu sehr sogar, zu angelegentlich. Merken seine Gesprächspartner, daß er in Wirklichkeit nicht die zeitliche Aufeinanderfolge erlebt, innerhalb derer sie ihren Standort verändern? Steckt er sie unwillkürlich an? Da schweigen sie betreten. Ein Verlustpunkt, wieder einer. Und dabei hatte es gut angefangen, er nahm sie allmählich für sich ein. Voller Aufmerksamkeit, voller Vorsicht war er bemüht gewesen, sich unter dem allgemeinsten Blickwinkel zu plazieren, erst den einen, dann den andern ins Gespräch zu ziehen, gewissermaßen unabsichtlich einen ersten Widerspruch in sich herbeizuführen, »dadurch werden sie gezwungen, dorthin zu kommen, wo ich bin, das ist der Lauf der Welt«. Vergebliche Mühe: der Auftritt, den er erwartet, kommt bestimmt nicht so bald, er bleibt wieder allein zurück, abgeschnitten, unnütz, ohne die geringste Aussicht, mit dem Plan, von dem er träumt, dem Dramenentwurf, den er für sich freizulegen wußte, durchzukommen.

Wie die fuchsroten, zerrissenen, bewegten Wolken, die hinter dem Dach hervorkommen und sein Gesichtsfeld durchqueren, unbetastbar, ungreifbar, ohne Richtung noch Ziel; wie eine luftige Schar aufgelöster, dann wieder zusammengeballter Toter, die eine gefühllose Überführung in den nächtlichen Himmel stößt; wie jene Bewegung, die reglos zu sein scheint, so reißend ist sie, sein Denken. Wie zurückkommen? Wie da sein? Wie das Abenteuer eingehen?

Gleichzeitig kommt es ihm vor, als sei die Situation nicht ganz ernst zu nehmen. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett; Holz, Zement, aufgeschichtete Steine, Glas, Luft ringsum, Wasser … Und er: Fleisch, Blut, Knochen … Das Ganze zu unvorstellbarer Ausdrucksweise mitfortgerissen, aber vielleicht mit dieser Gegend verbunden, die er beharrlich im Auge hat, rein zufällig (und in der man »Blut«, »Luft«, »Stein« usw. sagen kann) … Atem. Lachen. Irgendwer. Der die Hand bewegt. Der einen Gegenstand in die Hand nimmt, ihn wieder hinlegt. Der sich mit der flachen Hand gegen jawohl so ist’s eine Tür stützt (die Welt in einer Hand). Zu dir spreche ich, wo du auch seist. Du weißt um den Sinn der Worte, und trotzdem ahnst du etwas, du streifst die Frage im Vorübergehen, wenn eine Begebenheit, eine etwas außergewöhnliche, dich aufstört, eine Wunde vielleicht, ein stärkerer, ein gewagter Schmerz. Du verlierst in aller Natürlichkeit das Bewußtsein. Dein Blick ist selten geistesabwesend, und die Tatsache, auf diese Weise im Stehen oder Liegen auf einer Oberfläche zu weilen, die sich dreht und auf der die Weltmeere sich im Gleichgewicht halten, stört dich nicht. Unsere Körper, die sich beinahe gleichen, mögen einander ruhig nahe sein; was uns trennt, hat keinen Namen. Zu dir spreche ich, während es Zeit ist.

 

(Auch muß er aus einem unvordenklichen, dichten, dem Anschein nach aussetzenden, doch im Grunde genommen fortwährenden Schlaf – einer unausweichlichen Falle – auftauchen. Wenn er tief schläft, kann er ihr manchmal entkommen. Sonst schläft die Oberfläche ihrerseits ein. Manchmal hat er den Eindruck, das Erwachen sei nah, er beginnt im Innern hochzuklimmen, seine Glieder werden leicht, auf einer Karte seiner Ortsveränderungen könnte er günstige Zonen aussondern … Aber das Strömen beginnt von neuem, in dem er reglos verharrt, abtreibend, seiner Freiheit beraubt.)

 

Er schreibt:

 

»Langsam … zunächst, um dich zu erreichen, muß ich den Wald durchqueren. Ich bewege mich tastend voran (wohlgemerkt tritt mein Vorgehen nicht in Erscheinung), die Anwesenheit von Gebäuden, die niemand zu sehen scheint, wird schon bedrückender (aber ich betrete dies Haus, niemand öffnet eine Tür ruhiger als ich). Jetzt taucht dein Gesicht vor mir auf, vor schwarzem Grund, du selbst erscheinst weiter entfernt im Verhältnis zu diesem Zeichen, so wie ich es bin im Verhältnis zu dir. Wo sind wir, wenn wir außerhalb sind, nicht wir selbst? Ich denke trotz alledem, daß wir die Begegnung schon vorher gekannt haben, die ich zu erfinden versuche. Der Wald, von dem ich spreche, ist unsichtbar. Aber ich fühle, wie er auf mir lastet, hängenbleibt, mich hemmt … Trotz widersprüchlicher Gesten, trotz Umwegen komme ich voran. Auch für dich, vielleicht (obgleich wir getrennt sind). Du wirst sehen können, was ich sage, wirst präzisieren, vermehren, tilgen, dich dessen bedienen können, was dich umgibt, kurzum die Kulissen, zwischen denen wir uns bewegen, verlebendigen können: laß mich sagen, was ich sehe, schweigend.