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Ihre Rache ist süß … ihre Liebe ist gestört. Vor fünfzehn Jahren hat ein Mädchen ihr Leben für meins geopfert. Seitdem will ich nur noch Gerechtigkeit. Dann betrat Talia die Bühne. Ich bin der Sohn des Barbiers. Der Neffe des Bosses. Ein Prinz ohne Thron und nur die Rache treibt mich an. Sie ist die Enkelin des Bäckers. Die süße Tallie. Ihre dolce nipotina. Meine vipera. Meine Begierden haben sich immer nur auf Rache beschränkt. Sie hat in mir das Verlangen nach mehr geweckt. Aber meine Vendetta wird alles zerstören, was sich mir in den Weg stellt, und ich werde nicht riskieren, sie in meine Welt zu ziehen. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich selbst hereinschleichen würde. Ich habe mich nach einer Kostprobe ihrer Süße und ihrer Schärfe gesehnt, aber meine kleine vipera besteht aus Reißzähnen und Gift. Jetzt will ich nur noch gebissen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Greer Rivers
DREADFUL
Übersetzt von Lara Gathmann
DREADFUL
Copyright der deutschen Ausgabe. © 2025 VAJONA Verlag GmbH
Copyright © 2023 by Greer Rivers
Übersetzung: Lara Gathmann
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel
»Dreadful (Tattered Curtain Series 3)«.
Vermittelt durch die Agentur:
WEAVER LITERARY AGENCY, 8291 W. COUNTY ROAD 00 NS., KOKOMO, IN 46901, USA
Korrektorat: Désirée Kläschen und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: TRC Designs
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
An alle, die ein Medusa-Tattoo haben.
Ich glaube dir.
Playlist
»How Villains Are Made« von Madalen Duke
»Little Girl Gone« von CHINCHILLA
»Killer« von Valerie Broussard
»Just Pretend« von Bad Omens
»I’m a Sucker for a Liar in a Red Dress« von Adam Jensen
»New Bad Habit« von Adam Jensen
»I Feel Like A God« von DeathbyRomy
»Vicious« von Bohnes
»Throne« von Saint Mesa
»Trouble« von Valerie Broussard
»Monsters in My Mind« von Cloudy June
»When You Say My Name« von Chandler Leighton
»You« von Keaton Henson
»Seven Devils« von Florence + The Machine
»Dead To Me« von Chloe Adams
»AMERICAN HORROR SHOW« von SNOW WIFE
»Daylight« von David Kushner
»Monster« von Ely Eira
»The Kids Are All Rebels« von Lenii
»Mastermind« von Taylor Swift
Anmerkung der Autorin
Beim Schreiben dieses Buches hatte ich das Glück, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die mich im Bereich der italienischen Sprache und Kultur sowie im Bereich BDSM beraten haben. Ihr Wissen war von unschätzbarem Wert und ohne sie hätte ich das Buch nicht schreiben können.
Dennoch unterscheiden sich Sprache und Umgangsformen der Figuren von denen ihrer italienischen Vorbilder und bestimmte Wörter und Ausdrücke wurden metaphorisch verwendet, um diese Geschichte zu erzählen. Darüber hinaus habe ich mir eine gewisse kreative Freiheit eingeräumt, was die Nomenklaturen und Strukturen der italienischen Mafiosi angeht, um das Leseerlebnis zu verbessern.
Es gibt auch eine Szene am Ende des Romans, in der Fesseln im Shibari-Stil und umgekehrte Aufhängung vorkommen. Obwohl diese und ähnliche Praktiken in der BDSM/Kink-Community gefunden werden können, repräsentiert diese Szene KEINE richtige BDSM-Beziehung oder –Praktik. Diese Aktivitäten sind nicht als akkurate oder repräsentative Darstellung von echtem Kink gedacht und sollten nicht als Inspiration für Erfahrungen im echten Leben verwendet werden. Wenn du dich für diese Dinge interessierst, such dir bitte eine Community in deiner Nähe, um mehr von erfahrenen Mentoren zu erfahren. Dieses Buch sollte in keiner Weise als Recherche oder Anleitung für die hier dargestellten Kinks verwendet werden.
Die ›Tattered Curtain‹-Reihe kann in beliebiger Reihenfolge gelesen werden und ist eine Serie von Einzelromanen, die von klassischen Geschichten und Bühnenproduktionen mit tragischem Ende inspiriert sind. Dreadful ist eine düstere, moderne, spicy Neuinterpretation, die klassische Tragödien wie Sweeney Todd (wie sie in den Penny Dreadfuls im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde), Hamlet und den Mythos der Medusa in dunkle und verworrene Happily Ever Afters verwandelt.
Hinweis
Dreadful ist ein Dark-Romance-Roman. Er sollte nur von erwachsenen Leser*innen (18+) gelesen werden. Im Ernst, lest die Triggerwarnungen.
Achtet auf eure Herzen, Freunde. Teile dieses Buches können für manche triggernd sein.
Epigraph
»… am Grunde ihres Herzens sammelte sich ein Kummer, der bis jetzt noch nicht ausgesprochen worden war …«
Thomas Peckett Prest
Sweeney Todd: Der teuflische Barbier aus der Fleet Street
Vor fünfzehn Jahren
»Der Butler, die Mägde und der Gärtner … Der Fahrer, der Capo und der Priester … Der Richter, die Patin und der Pate, sie flehe ich an, zu gehen. Sie flehe ich an, zu gehen.«
Und es geht wieder los.
Das alberne Lied des Mädchens weckt mich aus meinem Mittagsschlaf. Ich setze mich zu schnell auf und schlucke ein Stöhnen herunter. Die blauen Flecken von den Fäusten des Capos sind heute nicht so schlimm, aber sie sind trotzdem ätzend.
Ich sollte mich inzwischen an all das gewöhnt haben. Jeder Tag ist gleich, seit ich von einem der Männer meines Vaters in diesen winzigen Raum gesteckt wurde.
Nein … von einem der Männer meines Onkels.
Der Capo sollte loyal sein, aber niemand, der meinem Vater treu ergeben ist, würde seinen zehnjährigen Sohn entführen und schlagen. Sie würden eher für ihren Boss sterben, als ihn zu verraten. Das bedeutet, dass mein Onkel immer mehr Anhänger gewinnt und seine Fehde mit meinem Vater irgendwie noch schlimmer geworden ist.
Meine Mutter meint, ich wäre zu jung, um das Geschäft zu erlernen, aber es gibt keinen anderen Weg, wenn ich mitten hineingerissen werde. Die Rivalität zwischen meinem Vater und seinem Halbbruder sitzt tief. Seit der Geburt meines Onkels müssen sie ›zum Wohle der Familie‹ so tun, als würden sie sich nicht hassen. Mein Vater versucht, ihre Streitigkeiten geheim zu halten, um nicht als schwach zu gelten. Diese Geheimniskrämerei und sein hartnäckiger Siegeswille sind wahrscheinlich der Grund dafür, dass mich noch niemand gerettet hat. Mein Onkel will etwas, und um es zu bekommen, bedroht er mein Leben. Aber das ist eine Familienangelegenheit und Familienangelegenheiten werden immer geheim gehalten, selbst wenn jemand verletzt wird.
Vor allem, wenn jemand verletzt wird.
Während das Mädchen weitersingt, reibe ich mir die Augen, meine Sicht noch immer von dem Nickerchen verschwommen, das mich eigentlich nur noch müder gemacht hat. Als ich wieder klar sehe, werfe ich einen Blick durch das kleine kugelsichere Fenster im Keller, um herauszufinden, wie spät es ist. Das Fenster befindet sich von innen aus gesehen hoch oben an der Wand und liegt daher auf Höhe des Gartens. Aber selbst durch die Büsche und Blumen hindurch strahlt der rosa Schein der untergehenden Sonne auf die Blumentapete meiner Tante.
Diese Tapete prangt an jeder Wand des Vincelli-Stadthauses und meine Mutter hasst sie. Sie meint, eines der ältesten und schönsten Häuser Bostons in Beacon Hill sollte immer stilvoll aussehen. Ich bin überrascht, dass zia Antonella sich überhaupt die Mühe gemacht hat, dieses Zimmer zu tapezieren. Es ist ja nicht so, dass sie Gäste hier runterkommen lässt, also weiß ich nicht, warum sie versucht hat, die Gefängniszelle des Underbosses hübsch aussehen zu lassen.
Ich war schon oft zum Sonntagsessen in diesem Haus, aber nie als Gefangener. Ich dachte immer, meine zia wäre eine gute Frau, so wie meine Mutter, die nur – wie wir alle – in unserer verkorksten Welt gefangen ist. Aber ich habe mich geirrt. Sie weiß genau, was in diesem Haus vor sich geht, und sie lässt es geschehen.
Bei dem Gedanken kneife ich die Augen zusammen.
Die seltsame Melodie des Mädchens dringt durch die Wand in meinen Kopf. Wenn unser Plan heute Abend aufgeht, wird es das letzte Mal sein, dass ich sie höre. Der Gedanke lässt meine Brust seltsamerweise schmerzen.
Selbst nachdem wir tagelang nebeneinander festsaßen, ist dieses Lied so ziemlich alles, was ich über sie weiß. Jedes Mal, wenn die Wachen uns hören, werden wir bestraft, also warten wir immer, bis sie weg sind, um über alles Mögliche zu reden, außer über uns selbst. Ich glaube, sie ist jünger als ich, vielleicht sieben? Das ist mir egal, denn sie ist trotzdem verdammt cool und viel klüger als alle anderen Kinder in meiner Klasse auf der St. Catherine’s.
Den Text, den sie sich ausgedacht hat, singt sie zu einer bekannten Melodie, zu ›Drei blinde Mäuse‹. Ich höre das Lied immer in der Pause, wenn die Mädchen Seil springen, aber ihr Text ist irgendwie noch gruseliger als das Original. Ich glaube, sie versucht, sich aufzuheitern, bevor der komische Mann wieder vorbeikommt.
Mitten im Lied holt sie scharf Luft und stoppt. Schwere Schritte werden lauter, als sie den Flur entlang auf uns zukommen, und ich halte mit ihr den Atem an. Meine Finger schmerzen davon, wie sie die Laken unter mir zusammenknüllen, aber ich bin vorbereitet, falls ich losrennen muss.
Das schwindende Licht scheint flackernd durch das Fenster und lässt Schatten an den Wänden tanzen. Als die Blätter draußen im Wind flattern, gaukeln sie mir vor, die Tür würde sich öffnen, und alle meine Muskeln versuchen, aus meiner Haut zu fahren und zu fliehen.
Es ist noch nicht dunkel genug, das heißt, es ist zu früh für das, was wir geplant haben. Was, wenn sie noch nicht bereit ist?
Ich unterdrücke das Bedürfnis, mich zu übergeben, als die Schritte näher kommen. Ich werde auf keinen Fall den Blick von der Tür abwenden, nicht einmal, um mein verspätetes Mittagessen auszukotzen.
»Verdammter Gärtner«, murrt der Capo. »Ich werde morgen Ersatz besorgen. Quell’idiota ist in eine Gartenschere getreten und hat sich fast den Zeh abgeschnitten. Antonella hat das Ganze gesehen.«
Er geht an unseren Zimmern vorbei und Erleichterung beruhigt mein rasendes Herz. Ich will hier weg, aber der Plan, den sich das Mädchen ausgedacht hat, enthält wichtige Einzelheiten, die sie mir nicht sagen will. Es macht mich nervös, dass ich nicht weiß, was sie vorhat, und wenn sie meinetwegen verletzt wird, werde ich mir das nie verzeihen.
Als die Stimme des Capo vollständig im Flur verschwindet, erlöse ich die Matratze aus meinem Todesgriff und lasse mich auf die Seite fallen. Ich blicke auf die Wand zwischen mir und dem Mädchen, als ich ein leichtes Rascheln höre. Drei kleine Schläge gegen die Wand ertönen neben meinem Kopf und ich lächle.
»Junge?« Ihr Flüstern zischt durch den Lüftungsschacht am Kopfende meines Bettes. Ich erwidere das Klopfen ohne zu zögern und rolle mich auf den Bauch, damit ich antworten kann.
»Ich bin hier, Mädchen.«
»Du machst dich immer über mich lustig, wenn ich dich so nenne.« Ihr melodisches Kichern lässt mich noch breiter grinsen. »Es ist unser letzter Abend. Verrätst du mir endlich deinen Namen?«
Ich seufze. »Ich kann nicht. Aber vielleicht, wenn du mir deinen –«
»Ja, klar.« Sie schnaubt. »Wenn du mir deinen Namen nicht sagst, sage ich dir meinen auch nicht.«
Sie versucht es herunterzuspielen, aber ich weiß, dass ich ihre Gefühle verletzt habe. Wenn wir erst einmal geflohen sind, wird es sicherer sein, wenn sie nicht weiß, dass der Sohn des Bosses von seinem eigenen Onkel in einem verdrehten Racheplan benutzt wurde. Und wenn sie hier unten ist, bedeutet das, dass ihre Familie die Mafia bereits auf irgendeine Weise verraten hat.
Bei diesem letzten Gedanken überkommt mich die Neugierde und ich kann sie nicht mehr loslassen. »Okay, wie wäre es, wenn du mir wenigstens sagst, warum du hier bist?«
»Ähm … meine Eltern sind gestorben. Ich habe niemanden mehr, also bin ich hier.«
Ich runzle die Stirn. Bei dem, was sie durchmacht, muss mehr dahinterstecken. Ich öffne den Mund, um weitere Fragen zu stellen, aber sie unterbricht mich. »Was ist mit dir? Ich habe dir gesagt, warum ich hier bin. Jetzt du.«
So ein Mist. Ich hätte wissen müssen, dass sie mich das Gleiche fragen würde. Ich suche nach einem Weg, es ihr zu erklären und sie trotzdem in Sicherheit zu wissen.
»Ich glaube … Claudio will das Geschäft meines Vaters. Wenn ich nicht, ähm … da bin, ist es einfacher, es zu übernehmen. Er war schon immer eifersüchtig.«
Der letzte Teil ist vielleicht zu viel, aber ich bin dankbar, als sie mir mit weiteren Informationen antwortet.
»Das Geschäft meines Vaters hat auch jemand gestohlen. Warum sind die Leute so gemein?«
Ich zucke mit den Schultern, obwohl sie mich nicht sehen kann. »Ich weiß es nicht. Das ist meine Welt.«
Ist das auch deine Welt?
»Antonella hat mich heute im Garten spielen lassen«, wechselt sie das Thema, aber ich habe Angst, sie weiter zu drängen, also lasse ich sie gewähren. »Sie hat mir ihre Lieblingsblume gezeigt, die ›Queen of the Night‹-Tulpe. Ich durfte ihr auch in ihrem Gewächshaus helfen.«
Meine Mutter und zia Antonella lieben diesen Garten. Meine Mutter hat Pflanzen studiert, bevor sie ihren Job aufgegeben hat, um die Frau eines Bosses zu werden, und ich glaube, sie vermisst das. Ich interessiere mich nicht für Blumen, aber ich würde alles dafür geben, jetzt nach draußen zu gehen.
»Argh. Unfair. Sie nimmt dich immer mit nach draußen.«
Sie kichert wieder. »Na, wenigstens musstest du gestern nicht zur Beichte.«
»Beichte? Was hast du zu beichten? Du bist doch noch ein Kind.«
»Ich weiß es nicht.« Ihre Stimme wird leise und weich, als ob sie sich schämen würde. »Der Priester sagt, ich wäre eine Lügnerin.«
»Eine Lügnerin?« Meine Hände ballen sich zu Fäusten. »Welcher Priester? Sag es mir und ich werde –«
»Du wirst was?«, brummt sie. »Er ist ein Erwachsener. Da können wir nichts machen, schon gar nicht von hier unten.«
Ich schnaufe und schüttle den Kopf. »Na schön. Erzähl mir den Plan noch einmal.«
»Oh, den Rest habe ich heute herausgefunden.« Durch ihre Aufregung spricht sie schneller, aber es ist schön, sie wieder glücklich zu hören. »Wir schleichen uns in die Küche und klettern durch die Hundeklappe in den Garten. Dort gibt es einen Haufen schwarzer und lila Blumen, die die Löcher in der kaputten Wand verdecken.«
»Das hast du alles herausgefunden, während Antonella auf dich aufgepasst hat?« Ich runzle die Stirn, starre mit zusammengekniffenen Augen auf die Tapete und versuche, mir das Mädchen auf der anderen Seite vorzustellen.
»Pst. Sobald sie ihr Klatschmagazin hat, beachtet sie mich nicht mehr. Heute Abend nutzen wir diese Löcher und verschwinden von hier.«
»Okay, klingt gut. Aber vorher ist da der Mann, wie wollen wir an dem –?«
»Der Butler. Die Mägde. Der Gärtner –«
Diesmal beginnt sie den Text in Eile und ich seufze, als sich ihre Schritte vom Lüftungsschacht entfernen. Das Mädchen ist stur. Wenn sie einmal beschlossen hat, dass sie nicht mehr reden will, wird nichts, was ich sage, ihre Meinung ändern.
Wie immer weigert sie sich, über diesen wichtigen Teil des Plans zu sprechen. Der Teil, mit dem ich nichts zu tun habe. Und ich hatte Albträume, als ich mir vorgestellt habe, dass sie ihn allein durchzieht.
»Der Fahrer, der Capo und der Priester … Der Richter, die Patin und der Pate, sie flehe ich an, zu gehen. Sie flehe ich an, zu gehen.«
Wir werden hier rauskommen. Ich schwöre es.
Sie hört immer noch nicht auf zu singen, als die Nacht mein Zimmer verdunkelt. Irgendwann scheinen ihre Nerven sie zu überwältigen, sodass die Worte miteinander verschwimmen, je schneller sie singt.
»… FahrerCapoundPriester. DerRichter«
»Prinzessin … ich habe dich vermisst.« Ihr Lied bricht mit einem Wimmern ab. Die Tür knarrt auf und ich halte den Atem an. »Ich musste an einem Sonntag arbeiten, also mach es mir jetzt nicht schwerer, als es ist. Komm, nimm deine Medizin.« Seine raue Stimme zerrt an meinen Nerven, während seine Worte durch die Wände dringen.
Ich verstehe nicht genau, was in diesem Raum vor sich geht, aber das brauche ich auch nicht. Allein die Geräusche fühlen sich falsch an, wie sie unter meine Haut kriechen und mich noch Stunden später wach halten, als alles vorbei ist. Lieber würde ich mir die Ohren abhacken, als zuzuhören, aber ich muss wissen, dass es dem Mädchen gut geht. Selbst nachdem er gegangen ist, sitzen wir weiter gemeinsam in der Stille, getrennt durch die Wand zwischen uns. Ich hasse ihr fast lautloses Schniefen, das den Rest der Nacht über anhält, aber wenigstens weiß ich, dass sie lebt.
Meine Ohren sehnen sich danach, sie jetzt zu hören, um irgendeinen Hinweis darauf zu erhalten, wie sie ihn aufhalten will. Aber es ist wie jede andere Nacht der letzten Woche, in der er hier war. Sie sagt kein einziges Wort. Mein Magen dreht sich um und ich schließe betend die Augen.
Bitte lass dies das letzte Mal sein, Gott. Bitte lass uns gehen.
Schon bald höre ich die gefürchteten Geräusche, bei denen ich mir am liebsten das Trommelfell ausreißen würde. Ich schlinge meine Arme um meine angewinkelten Knie, zwinge mich, es mit ihr durchzustehen, und wünsche mir, ich könnte sie retten. Meine Augen hören nicht auf zu brennen, Scham errötet meine Haut.
Sie weint nicht, also werde ich auch nicht weinen.
Ich werde nicht weinen.
Das werde ich nicht. Das werde ich nicht. Das werde ich nicht.
Ihre leisen Texte dringen in meine Gedanken.
Toll … jetzt hat sie sich in meinem Kopf festgesetzt.
Mein Herzschlag setzt aus.
Sie singt sie.
Das Mädchen hat noch nie einen Pieps von sich gegeben, wenn der Freund meines Onkels da drin war, aber jetzt singt sie.
Ist das mein Signal? Was soll ich tun? Braucht sie mich?
»Halt die Klappe.« Die ruppigen Worte des Mannes dringen durch den Lüftungsschacht. Sie sind langsamer als zuvor und schwerer zu verstehen.
Was ist hier los?
Ich werde hellhörig, als ihr Lied weinerlich wird, ihre Stimme wässrig, als ob sie ein Schluchzen unterdrücken würde.
Ich springe vom Bett auf und schlüpfe in die Schuhe, die ich getragen habe, als der Capo mich mitgenommen hat. Nachdem ich sie geschnürt habe, wandere ich durch den Raum, die Fäuste an den Seiten geballt, während ich mich umschaue, ob es irgendetwas hier drin gibt, das ich gebrauchen könnte. Einer der Lieblingsflüche meines Vaters entschlüpft mir leise.
Ich hätte das alles schon längst durchdacht haben müssen. Ich hätte packen müssen. Ich sollte jetzt direkt an der Tür sein. Was auch immer sie da drinnen macht, ist für unsere Flucht und ich habe wie ein Baby geweint, während sie leidet.
Nach ein paar Augenblicken wird das Lied zu einem tiefen Heulen, das in meinem Gehirn widerzuhallen scheint. Ich schreie aus Leibeskräften und hämmere gegen die Wand zwischen uns.
»Hör auf! Hör auf! Du tust ihr weh! Stopp! Stopp! Stopp!«
Ich stolpere von der Wand weg und halte mir die Ohren zu, weil ich es nicht mehr aushalte.
Feigling, Feigling, Feigling. Ich bin so ein Feigling.
Was würde mein Vater tun, wenn er mich so sähe? Warum ist er nicht schon hier und rettet mich? Rettet sie vor dem, was hier passiert?
Meine Tränen sind kühl, während sie ungehindert über meine brennenden Wangen laufen. Ehrlich gesagt, muss ich mich nicht fragen, was mein Vater zu mir sagen würde. Die Antwort ist nichts. Aber wenn er mich jetzt fände, würde er mir die Ohren lang ziehen. Die Seiten meines Kopfes tun schon weh, weil ich mit meinen Händen versuche, alles zu verdrängen. Mein Herzschlag dröhnt laut in meinen Ohren und ich laufe immer schneller auf und ab, bis sich eine Hand um mein Handgelenk schlingt.
Ich stolpere einen Schritt weg. Meine Augen weiten sich in der Dunkelheit, als ich das Mädchen sehe, das mich vor dem Verrücktwerden bewahrt hat, seit ich hier bin.
»Du bist es. Dir geht … dir geht es gut –«
Plötzlich drückt sie mich so fest an sich, dass ich kaum noch atmen kann. Ich bin zu schockiert, um die Umarmung zu erwidern, aber sie lässt mich trotzdem zu schnell los. Während sie zurücktritt, streicht sie ihr Nachthemd glatt und schenkt mir ein breites Grinsen. Ihr blondes Haar ist zu einem unordentlichen Zopf geflochten und ihre Augen schimmern im gedimmten Licht, während sie mich ebenfalls mustert.
Sieht sie den Jungen, der es zugelassen hat, dass sie sich opfert, um uns beide zu retten? Sieht sie, dass ich ein Feigling bin, weil ich zugelassen habe, dass sie verletzt wird? Denn so fühle ich mich gerade und ich kann nicht anders, als mich zu fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe macht, mich zu retten. Es wäre sicherer für sie, wenn sie alleine weglaufen würde.
»Komm schon.« Sie nimmt meine Hand. »Hier entlang.«
Instinktiv schließe ich meine Finger um ihre und lasse mich von ihr in den Flur führen. Aber als ich auf den dicken Teppichboden trete, setzt mein Herz aus einem anderen Grund aus.
Das ist das erste Mal, dass ich die Hand eines Mädchens halte.
Die Erkenntnis lässt mich stolpern und sie packt fester zu, um mich aufzufangen. Meine Wangen glühen vor Verlegenheit, aber ich lasse nicht los und übernehme stattdessen die Führung.
»Ich kenne den Weg«, murmle ich. Sie presst die Lippen zusammen und runzelt die Stirn.
»Oh, ich dachte …« Sie schüttelt den Kopf. »Okay, ich werde dir folgen.«
Ich führe sie ein Stück an ihrem Zimmer vorbei, bevor ich anhalte. Ich beiße die Zähne vor Wut auf denjenigen zusammen, der hinter dieser geschlossenen Tür steht. Ich bin versucht, sie aufzustoßen, um zu sehen, wer es ist, aber ich habe Angst, unsere Flucht zu riskieren. Ihre Augen huschen durch den Flur, wachsamer als ich. Wir müssen von hier verschwinden, aber ich muss es wissen.
»Wo ist der Mann? Weißt du, wer er war?«
»Nein.« Sie streicht sich über ihre glänzenden Wangen. »Aber ich … ich glaube, er ist tot.«
Meine Augen weiten sich. »Hast du ihn getötet?«
Sie versucht, ihre Hand wegzuziehen, aber ich lasse sie nicht los. Sie hebt ihr Kinn und stellt sich so gerade hin wie möglich, kommt aber immer noch nur bis zu meiner Schulter.
»Das hoffe ich«, sagt sie sachlich, fast so, als wolle sie sticheln, um zu sehen, wie ich reagieren werde.
»Wie hast du das gemacht?«
»Ich wollte ihm eigentlich wehtun, aber ich konnte ihn nur austricksen. Seine Medizin macht mich müde, also habe ich die ganze Flasche in sein Getränk gekippt, anstatt sie selbst zu nehmen.«
Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.
»Gut. Los geht’s.«
Ihr Grinsen ist auf eine süße Art böse und ihre Hand umklammert meine noch fester, als sie uns beide die Treppe hinaufjagt. Ich bin schockiert, als ich sehe, dass die Kellertür entriegelt ist und sich der Knauf leicht in ihrer kleinen Hand dreht.
»Sie dachten wohl nicht, dass wir versuchen würden zu fliehen«, flüstert sie.
Oder sie wissen, dass wir es nicht können …
Ich schüttle den Kopf und schiebe den Gedanken beiseite, als würde er Unglück bringen.
Normalerweise knarren die Holzböden des alten Gebäudes, aber sie weiß, welche Bretter lautlos sind und welche uns umbringen könnten.
Sie lenkt uns in einen Dienstbotenflur, der uns direkt in die Küche führt. In dem dunklen Raum lassen wir uns auf alle viere fallen und krabbeln um die Kochinsel herum in Richtung der großen Hundeklappe.
Als sie ohne Probleme hindurchklettert, flattert die Hoffnung in meiner Brust. Ich holpere hinter ihr hindurch und sie hält die Plastikklappe hoch, damit sie nicht zuschlägt, als ich herauskrieche. Sobald wir frei sind, stehe ich auf, aber sie zerrt mich am Saum meines T-Shirts wieder herunter.
»Die Notbeleuchtung! Die geht an, wenn wir uns nicht langsam bewegen.«
»Oh, Mist, tut mir leid.«
Das Mädchen wirft mir einen bösen Blick zu und ich versuche, mir ein Lachen zu verkneifen. Sie ist klein, aber sie ist frech, eine Kämpferin und viel mutiger als ich. Mein Vater würde sie lieben, wenn sie ein Junge wäre.
»Die Tulpen sind die dunkelvioletten Blumen zwischen den hellvioletten.« Sie zeigt über den Hinterhofgarten hinweg auf die Ecke, die am weitesten von uns entfernt ist. »Wir müssen um die Sträucher herumgehen, die das Labyrinth begrenzen. Hast du verstanden?«
Ich nicke einmal und lasse sie vor mir herschleichen. Am Anfang sind wir noch langsam, aber je näher wir kommen, desto schwerer fällt es uns beiden, nicht zu sprinten.
Als wir nur noch wenige Meter entfernt sind, lässt uns ein Geräusch aus dem Inneren des Hauses erstarren. Nach ein paar Augenblicken der Stille geht sie weiter, aber eine dornige Ranke erwischt mich und schneidet mir in den Arm.
»Verdammt.« Ich versuche, mich loszureißen, aber die Pflanze hat sich in meinem Ärmel verfangen. »Ich komme nicht los. Geh weiter, ich hole dich ein.«
»Ich werde nicht ohne dich gehen.«
Sie eilt zurück, um an den Brombeeren zu zerren, und wir kämpfen viel zu lange mit ihnen. Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter. Als wir schließlich beide mit aller Kraft daran ziehen, werde ich in die dunkelvioletten Blumen auf der anderen Seite des Weges geschleudert, was den Bewegungsmelder und damit die Flutlichter auslöst.
Wütendes Bellen aus dem Inneren des Hauses lässt mein Herz stillstehen.
»Lauf!« Beim Klang der bösartigen Wachhunde meines Onkels drücke ich mich vom Boden hoch und greife nach dem Arm des Mädchens. Meine verschwitzten Finger rutschen ab, als ich zu dem Loch in der Mauer renne, von dem sie mir erzählt hat. Als wir dort ankommen, schiebe ich die Blumen beiseite, die unseren Fluchtweg verdecken –
Nichts als Ziegelsteine.
»Wo ist es? Wo ist das Loch?«
»Weiter links. Hinter den lila Tulpen und dem Efeu!«
Sie schiebt die Blumen und Ranken beiseite und legt kleine Löcher frei, die die drei Meter hohe Gartenmauer hinaufführen.
»Du hast gesagt, es gibt ein Loch, aus dem man herauskriechen kann!«
»Nein, ich sagte, es gibt Löcher. Wir müssen sie hochklettern.«
»Ich lasse dich nicht auf dieses Ding klettern.« Ich schüttle den Kopf. »Es ist viel zu hoch für dich!«
»Ich komme schon klar.«
»Aber was ist, wenn du fällst?«
»Dann fang mich!«
Jeder Instinkt schreit mich an, nicht zuerst zu gehen, aber ich habe keine andere Wahl, denn sie braucht meine Hilfe. Und als die drei italienischen Doggen meines Onkels durch ihre Klappe hechten, haben wir keine Zeit mehr, darüber zu streiten. Das Gekläffe wird immer lauter, als sie auf der Suche nach uns durch den Garten sprinten. Sie knurren und knirschen mit den Zähnen, bereit, uns in Stücke zu reißen. Ich habe sie das bereits tun sehen, als das Mädchen mich also zum Klettern auffordert, sprinte ich die Ziegelsteine hinauf.
»Schneller!«, schreit sie aus vollem Hals. »Fang mich auf der anderen Seite!«
»Ich habe sie gefunden!« Der Gärtner erscheint von hinter dem Haus und humpelt in unsere Richtung. »Oh, Scheiße, er ist auch abgehauen!«
Alle drei Hunde drehen ihre Köpfe wie eine einzige große Kreatur, die seinen Bewegungen folgt. Sobald sie uns entdecken, rasen sie auf uns zu.
»Ich bin direkt hinter dir!« Sie stößt meine Füße an. »Bitte, mach!«
Ich schiebe meine Schuhe beim Klettern in die kleinen Löcher. Als ich das obere Ende erreiche, höre ich die Hunde unter mir knurren.
Mithilfe der Eisenspitzen, die den oberen Teil säumen, ziehe ich mich hoch und stelle mich rittlings darüber auf die Ziegel. Sobald ich mich über dem scharfen, gezackten Metall ausbalanciert habe, greife ich nach der Hand des Mädchens.
Aber sie ist nicht da.
Ihr einzelner, spitzer Schrei lässt mich zusammenzucken und das Gleichgewicht verlieren. Während ich herunterkippe, wird mein Bein von einem der Stacheln aufgerissen. Der Bürgersteig kommt mir entgegen und ich lande mit dem Knöchel zuerst auf dem Beton. Ein hörbares Knirschen und ein stechender Schmerz an meinem Schienbein zwingen mich, einen Schrei zu unterdrücken.
Ich kämpfe gegen die Wellen unglaublicher Qualen an, während ich mich mithilfe meines guten Beins aufrichte. Meine Knochen fühlen sich an, als würden sie versuchen, durch meine Haut zu stechen, aber ich konzentriere mich darauf, das Mädchen aufzufangen, sobald sie springt.
Ihre kleine Hand schiebt sich in eines der Löcher, das sich etwa zwei Meter über dem Boden befindet. Mein Herzschlag hämmert in meinen Ohren. Das Knurren der Hunde wird lauter, bis ein markerschütternder Schrei die Welt um mich herum zum Schweigen bringt.
Ihre Hand verschwindet.
Ein einzelnes Bumm auf der anderen Seite des Zauns bringt mein Herz wieder zum Hämmern.
Ich werfe einen Blick durch eines der Löcher, muss mich aber schnell wieder abwenden, als ich sehe, wie die Hunde ihre Beute zerfleischen.
»Junge! Hilfe!«
Ich schiebe meine Hände in die Löcher, aber sobald ich zu klettern versuche, schießt der Schmerz mein Bein hinauf und in meinen Kopf. Er ist so überwältigend, dass ich mich krümme und auf den Bürgersteig übergebe.
»Bitte! Junge! Hilf mir!«
Entsetzen durchfährt mich. Ich dachte, die Geräusche in diesem Raum wären das Schlimmste, was ich je hören würde. Aber nichts ist vergleichbar mit meiner Freundin, die mich anfleht, ihr Leben zu retten, und dem Gefühl, nichts für sie tun zu können.
»Junge, bit–«
Ihr letztes Wimmern bricht ab.
Das Blut dröhnt in meinen Ohren und ich kann kaum hören, wie meine Tante die Hunde zurückruft. Aber ich weiß bereits, dass es zu spät ist.
Die Tiere winseln, als wollten sie die Aufgabe unbedingt beenden. Der Gärtner stöhnt. Meine zia Antonella dämpft ihren eigenen Schrei, damit keiner der schicken, reichen Leute in Beacon Hill herausfindet, was vor sich geht.
Das Schweigen des Mädchens klingt am lautesten in meinem hämmernden Kopf. Meine Hände zittern, als ich die Ziegel zwischen uns berühre. Ich würde alles dafür geben, ihr albernes Lied zu hören, aber nur das Flüstern des Gärtners dringt durch die Löcher in der Wand.
»Mrs. Vincelli, ist sie … ist sie tot?«
Nach einem Moment faucht Antonella mit einer Wut, die ich noch nie bei ihr gehört habe: »Sì.«
Ja.
Es bricht mir das Herz.
Nein.
Ich schüttle den Kopf. Das kann nicht wahr sein. Ein schwerer Atemzug entringt sich meiner Kehle. Das Mädchen kann auf keinen Fall ihr Leben riskiert haben, um mir zur Flucht zu verhelfen.
Ich kannte nicht einmal ihren Namen.
»Lass uns allein«, befiehlt Antonella.
»Aber Mrs. Vincelli –«
»Jetzt!«
Sie redet mit dem Gärtner, aber ich bin es, der bei der Wut in ihrer Stimme zusammenzuckt. Mein Knöchel knickt weg und meine Sicht verschwimmt. Es kostet mich all meine Kraft, zurückzutreten, weg von dem Mädchen. So ungern ich auch gehe, ich kann hier nichts tun, um zu helfen. Und wenn ich bleibe, war das alles umsonst.
Ich bin wie betäubt, als ich fast drei Kilometer nach Hause humple. Mein Bein brennt, aber meine Brust ist taub. Ich realisiere nicht einmal, dass ich zu Hause bin, bis meine Mutter unkontrolliert vor mir schluchzt und weint, wie krank vor Sorge sie gewesen sei.
Mein Vater ist »verärgert«, zeigt aber ansonsten keine Gefühle. Der Junge, der von meinem Körper Besitz ergriffen hat, schreit aus Leibeskräften und verlangt, das Mädchen zu holen. Mein Vater weigert sich, und als ich versuche, allein zu gehen, kommt es zu Schlägen zwischen ihm und mir. Es ist ein schneller Kampf, den er mit einem Schlag gegen meinen Kopf, der mich auf die Knie zwingt und meinen Knöchel noch mehr verletzt, als ich ertragen kann, leicht gewinnt.
Der Schmerz nimmt überhand, und danach beobachte ich nur noch, was mit dem Jungen passiert.
Mom zwingt ihn, zwei ihrer Nachtpillen zu schlucken, und bringt ihn schnell ins Bett. Sie regt sich darüber auf, dass sein blutiges, aufgerissenes Bein ihre nagelneuen Laken ruiniert, aber sie besteht darauf, dass er nicht ins Krankenhaus geht, bevor das alles vorbei ist. Die Polizei – und vor allem die Männer meines Vaters – dürfen nicht herausfinden, dass Claudio ihn in diesem Spiel geschlagen hat. Der gebrochene Körper des Jungen muss mit seiner Heilung warten, »zum Wohle der Familie«.
Der Junge und ich könnten uns nicht weniger für die »Familie« und ihre Politik interessieren, aber die Pillen meiner Mutter machen alles nebulös.
Claudio ruft an. Die Stimmen meiner Eltern dringen durch unsere dünnen Wände. Sie sagen alles, was ich nicht hören will.
Das Mädchen ist tot. Claudio will einen Waffenstillstand. Was auch immer seine Motive waren, es spielt jetzt keine Rolle mehr, weil mein Vater zustimmt, die Sache ruhen zu lassen. Die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. Mit nur einem Telefonanruf ist alles zwischen unseren Familien geklärt, während sich meine Brust anfühlt, als wäre ich von innen heraus in zackige Stücke aufgeschlitzt worden. Während ich im Bett liege, kämpft die Wut mit dem Schleier über meinen Gedanken, und je länger ich gegen die Medizin ankämpfe, desto mehr brennt der Hass unter meiner Haut. Es kann noch nicht jetzt passieren, und ich weiß auch noch nicht, wann, aber sobald ich stark und mächtig genug bin, werde ichdas Mädchen rächen. Jeder wird dafür bezahlen. Dieses Versprechen umhüllt mich wie eine Decke, während ich wegen meiner Wunden zittere. Ich summe ihr Lied, um leichter einzuschlafen. Als ich endlich abdrifte, erfüllen ihre Schreie meine Albträume.
»Der Butler, die Mägde und der Gärtner … Der Fahrer, der Capo und der Priester … Der Richter, die Patin und der Pate –«
»Junge!«
Akt 1
Heute
Butler. Mägde. Gärtner. Fahrer. Capo. Priester. Richter. Patin. Pate –
Schmutz weht in die Luft und unterbricht mein Mantra. Die verräterischen kleinen Partikel kitzeln meine Nase und drohen mich zum Niesen zu bringen. Ich halte mir den Mund zu und blinzle, um nicht zuzulassen, dass der grobkörnige Geruch meine Position verrät. Als das Bedürfnis, zu niesen, vorbei ist, tätschle ich wieder den kalten Erdhügel vor meinen Knien.
Ich werde nicht mehr hier sein, wenn die Keime der Zwiebeln sich durch die Oberfläche drücken. Es ist spät in der Saison, um sie zu pflanzen, aber der Herbst ist für die Jahreszeit untypisch warm. Ich habe meine Jacke heute nur angezogen, weil sie mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.
Gartenarbeit beruhigt mich normalerweise. Zumindest, wenn ich mich zu Hause um meine Topfpflanzen kümmere. Aber in diesem Moment pocht mein Herz in meiner Brust und übertönt das Mantra in meinem Kopf.
Es ist eine Weile her, dass ich den Garten der Vincellis betreten habe. Vor dem Studium war ich zu eingeschüchtert, um mich diesem Ort zu nähern, und in den letzten vier Jahren war ich zu sehr damit beschäftigt, zu lernen, um mein Stipendium zu behalten. Ich war schon vor Jahren versucht, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, aber ich habe abgewartet, bis ich mein Studium abgeschlossen hatte, bevor ich meine Pläne in die Tat umsetzte. Der heutige Tag wird meine bisher größte Aufgabe sein.
Dank der Vincellis habe ich Kostüme entworfen, mit denen ich mich in ein Dienstmädchen, eine Reinigungskraft und eine Mechanikerin verwandeln kann. Heute bin ich Gärtnerin und trage denselben viktorianischen Stil, den die Frau des Chefs so gerne bei ihren Mitarbeitern sieht. Selbst wenn ich nicht herausgeputzt wäre, würde mich wohl kaum jemand bemerken. Die Vincellis feiern auf einer Hochzeit in Vegas und das Stadthaus ist nur noch mit einer Notbesatzung besetzt. Nur die wenigen, die auf dem Grundstück leben, sind noch hier.
Wie der Gärtner.
Neben mir klebt glitzernder Tau an den Klingen der Gartenschere. Ich habe sie genauso positioniert wie vor fünfzehn Jahren, aber ich werde es nicht wieder so vermasseln wie beim letzten Mal.
Du darfst nicht so denken. Das stresst dich nur.
Ich balle meine Hände zu Fäusten, um ihr ängstliches Zittern zu stoppen. Dieser Name steht schon lange auf meiner Liste und ich kann nicht zulassen, dass bebende Finger mich aufhalten. Ich habe hart dafür gearbeitet. Auf dem College habe ich alle Kurse zur Kampfkoordination am Set, zur Selbstverteidigung und zur Stuntdarstellung belegt, die angeboten wurden. Das hat mir Selbstvertrauen geschenkt, aber ich musste meine Fähigkeiten nie wirklich zur Selbstverteidigung einsetzen. Ich bin dabei, die nicht performativen Aspekte meiner Ausbildung auf die Probe zu stellen, und bete, dass meine Nerven mich nicht überwältigen.
Bevor ich damit fortfahre, die Tulpe einzupflanzen, atme ich tief ein und aus. Der Atem entweicht meiner Brust in einer Wolke aus warmer Luft, die sich mit der morgendlichen Kühle des Herbstes vermischt. Zum Glück haben mir meine nonni, Gio und Tony, angewöhnt, früh auf den Beinen zu sein. Seit Jahren stehe ich in aller Herrgottsfrühe auf, um ihnen in der Bäckerei zu helfen. Würde ich das hier später am Tag tun, würde ich den Mut verlieren, und ich darf jetzt nicht vom Weg abkommen.
Wenn ich meine Liste zu schnell durcharbeite, wird meine Motivation offensichtlich. Aber wenn ich nicht schnell genug vorgehe, kann ich nicht alle Namen durchstreichen, bevor ich erwischt werde. Ich möchte, dass es aussieht, als würden sie sich selbst aus dem Weg räumen, bevor irgendwer die Schuld bei einem Außenstehenden sucht.
Ungleichmäßige Schritte kommen mir auf dem Weg entgegen und ich schaue auf meine Uhr.
Pünktlich.
»Hey! Wer sind Sie?«
Auf die schroffe Frage des Mannes hebe ich nicht den Kopf. Stattdessen spähe ich durch das Gebüsch vor mir. Vertraute, abgenutzte Stiefel knirschen den Kiesweg hinauf und bleiben direkt neben mir stehen.
»Hey, ich habe Sie etwas gefragt. Sind Sie taub oder –?«
Ich schwinge meine Harke nach oben und ein wildes Lächeln umspielt meine Lippen. Das kleine, krallenförmige Werkzeug passt so perfekt, wie ich es mir vorgestellt habe, und umschließt seine Eier mit den gezackten Zinken. Wenn er eine falsche Bewegung macht, könnte die geschärfte Harke mit Leichtigkeit seine Khakihose durchbohren und ihn kastrieren.
Als ich in seine großen braunen Augen blicke, verschiebe ich mein Kinn so, dass er die Narbe sieht, die ich heute Morgen nicht verdecken wollte. Verwirrung und Wiedererkennen mischen sich mit blankem Entsetzen und er wird so starr wie Stein.
»Du … Ich dachte … Antonella hat gesagt, du wärst tot!«
»Es geht mir besser.« Meine Stimme klingt vor Wut so tief und rau, dass ich sie kaum wiedererkenne. Ich ziehe ihn an den Eiern nach vorne und genieße sein Quieken. »Ah, ah, ah. Nicht schreien, sonst könnte das sehr böse für dich enden.«
Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse und er stellt sich kerzengerade hin, ohne einen Muskel zu bewegen. Sein rötlicher Teint ist vor Angst verblasst, aber ansonsten hat die Zeit ihn äußerlich nicht sehr verändert. Diese Erkenntnis macht mich nur noch wütender. Missbrauchstäter sollten nicht so bleiben können, wie sie sind, während Überlebende gezwungen sind, sich für immer zu verändern.
»Ich könnte dein Gesicht nie vergessen, aber ich schätze, das getönte Fenster hat deine Hässlichkeit verdeckt.«
»E-ein Fenster? Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
Ich schnaube. »Es ist mir ein Rätsel, dass niemand hinterfragt hat, warum der verletzte Gärtner in jener Nacht herumgelaufen ist und woher er so schnell wusste, dass ich nicht im Bett war. Aber was ich mich frage, ist, ob du gesehen hast, was ich in dieser Nacht mit dem Mann gemacht habe. Oder warst du zu sehr damit beschäftigt, in deine eigenen dreckigen Hände zu kommen, als du gesehen hast, was er mir angetan hat? Versuch nicht, es abzustreiten, ich habe dich jedes Mal durch mein Fenster gesehen, wenn er da war!«
»Ich …« Er schüttelt den Kopf. Schweißperlen laufen sein faltiges Gesicht hinab. »Ich habe mich um meine eigenen Sachen gekümmert. Ich habe nie etwas gesehen. V-Vielleicht hast du den Falschen. Mein Name ist –«
»Du hast keinen Namen«, zische ich. »Leute wie du verdienen dieses Privileg nicht. Mein Name war Chiara, aber du hast dieses Mädchen wie ein namenloses Ding behandelt. Und genau das bist du für mich geworden.«
»Aber er hat es getan. Nicht ich! Ich war nicht einmal da drin!«
Ich schiebe die Harke noch ein Stück weiter nach oben, bis er wimmert.
»Glaubst du, ich hätte vor all den Jahren nicht gemerkt, dass du ein Spanner warst? Du hast dich daran aufgegeilt, was er mir angetan hat, du verdammter Perverser.«
Sein Gesicht wird blass. »Nein. Nein. Nicht ich.«
»Sogar wenn deine Eier mir ausgeliefert sind, willst du immer noch nicht zugeben, was du getan hast. Unglaublich.« Ich ziehe die Harke ein Stück zu mir, wobei ich darauf achte, seine Khakihose noch nicht zu durchbohren. »Das wird das letzte Mal sein, dass du so tust, als wärst du unschuldig. Ich will nicht die Einzige sein, die unter dem leidet, was mir passiert ist.«
Er presst die Knie zusammen und greift nach unten, um seinen Schritt zu umfassen, als ob ihn das schützen würde.
Ich lasse die Metallspitzen nun schließlich doch den Stoff seiner Hose durchstechen. Tränen vermischen sich mit dem Schweiß, der ihm über die Wangen läuft. Der Rest seines Körpers erstarrt, als die Harke auf seine Haut trifft.
»Ich habe nur zugesehen, okay? Es war ja nicht so, dass ich derjenige war, der dir wehgetan hat. Lass mich einfach gehen. Ich werde niemandem hiervon erzählen. Ich werde niemandem erzählen, dass du noch am Leben bist.«
»Hmm, ich glaube nicht, dass ich da eine Entschuldigung gehört habe.«
»Es tut mir leid! Sorry, sorry, sorry!«
Na ja, das ist wenigstens etwas.
Meine Therapeutin wäre stolz darauf, dass ich mich meinen Dämonen stelle und Ergebnisse erziele. Sie sagt, dass Menschen in solchen Situationen selten einen Abschluss finden. Zugegeben, sie hat keine Ahnung, welche Art von Abschluss ich im Sinn habe.
»Und was genau tut dir leid?«
»D-das … Zuschauen?« Die Frage am Ende seines Geständnisses pumpt Gift durch meine Adern.
Ich schneide in seine Haut, bis er aufschreit. »Wenn du schreist, reiße ich dir die Eier ab, ohne zu überlegen.«
Sein Kinn bebt und er beißt sich auf die Lippe, aber er gehorcht.
Ich halte die Waffe weiterhin unter seine Hoden, während ich ein Stück zurückrutsche. Die Bewegung zwingt ihn dazu, mit mir hinter das Gebüsch zu kommen. Als ich den Druck der Harke ein bisschen mindere, entspannt er sich sichtlich. Ein Lachen entweicht meiner Brust und lässt köstliche Angst in seine Augen zurückkehren.
»W-was ist so lustig?«
»Männer sind alle gleich. Du bist so besorgt um den Zustand deiner kostbaren ›Familienjuwelen‹, obwohl sie deine geringste Sorge sein sollten.«
Ruckartig bewege ich die Harke in einem Winkel, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt. Er landet genau dort auf dem Boden, wo ich ihn brauche, komplett hinter dem Gebüsch versteckt und nur einen Meter von der glänzenden Schere entfernt. Ich setze mich rittlings auf seine Taille und umfasse den Griff, bevor ich sie ihm in die Brust ramme. Die Klingen gleiten problemlos in ihn hinein, einen falschen Atemzug von seinem Herzen entfernt, genau wie ich es wollte.
Er schnappt nach Luft und blinzelt schockiert. Ein Teil meines kastanienbraunen Haares löst sich in schlangenförmigen Locken aus meinem Zopf und bildet einen dichten Vorhang um uns herum. Alles, was er sehen kann, ist die wilde Narbe in meinem Gesicht und die Freude, die in meinen Augen funkelt.
Ich hätte es nicht besser planen können. Zugegeben, ich hatte fünfzehn Jahre Zeit, es perfekt vorzubereiten. Die Angst, unter der ich die ganze Zeit über gelitten habe, lässt mit jedem Zentimeter, den sich das Metall in seine Brust gräbt, mehr und mehr nach.
Leises Gurgeln lässt das Blut aus seinem Mund und über seine Wangen rinnen wie ein grausames Lächeln. Er versucht zu schreien, aber die Flüssigkeit, die seine Lunge füllt, lässt ihn nur noch mehr würgen. Sein Leben liegt in meinen Händen und ich genieße diesen mächtigen Rausch.
Auf meine Rache folgt immer eine kurze Erleichterung, aber dieses Mal muss sie so lange wie möglich anhalten. Die nächsten Namen werden nicht einfach sein und ich weiß nicht, wann ich zu ihnen kommen werde. Ich muss dieses Gefühl des Friedens auskosten, solange ich kann.
»Ich habe schon einmal versucht, dir eine Falle zu stellen«, erinnere ich ihn. »Du hast dir dabei nur den Fuß verletzt.« Die Erkenntnis leuchtet in seinen Augen auf und ich fahre fort. »Ich war mit dem Ergebnis zufrieden … bis mir klar wurde, dass nicht einmal ein fast abgetrennter Zeh dich davon abhalten würde, in mein Fenster zu starren.«
»Ich habe nicht …«
»Und weißt du was? Ich hätte dir vielleicht verziehen, wenn du mich hättest entkommen lassen. Aber du warst der Erste, der dafür gesorgt hat, dass ich nie frei sein konnte. Das Einzige, was dich davor bewahrt hat, weiter oben auf meiner Liste zu stehen, ist, dass du nicht derjenige warst, der mich hierhergebracht hat. Du hast nur deine ›Vorteile‹ genutzt. Nun, man erntet, was man sät, Motherfucker.«
»Es tut mir leid«, röchelt er und greift nach der Schere. Ich lasse ihn sie ein Stück herausziehen. Das gibt ihm dieselbe Hoffnung, die ich hatte. Einen kurzen Moment, in dem er glaubt, dass er das überleben und in sein altes Leben zurückkehren wird.
Als die Klingen nur noch einen Zentimeter tief in seiner Brust stecken, schnalze ich tadelnd mit der Zunge und schließe meine Hände um seine. Hoffnungslosigkeit füllt seine trüben Augen, als ich die Schere wieder in ihn hineindrücke, und er erkennt, dass er nie eine Chance hatte.
»Bitte … hilf mir.«
Ich schüttele den Kopf. »Du hast zugesehen. Das werde ich jetzt auch tun.«
Er versucht zu schreien, aber seinem Mund entweicht nur ein feiges Wimmern.
Vor dem heutigen Tag hatte ich Angst, dass Mord zu viel für mich sein würde. Dass ich nach dem Gärtner kneifen und den Rest meiner Liste nicht abarbeiten würde.
Aber seine letzten Atemzüge sind eine Ouvertüre. Der Beginn eines Musicals mit einer schönen, erheiternden Symphonie voller Versprechen. Ich würde den ganzen Tag zuhören, wenn ich könnte.
Als das Licht in seinen Augen endlich erloschen ist, rutsche ich von ihm herunter und zu Boden. Sein Schritt ist blutgetränkt und die Erde um ihn herum glänzt purpurrot. Ich beobachte seine Brust, um zu sehen, ob sie sich hebt und senkt. Das tut sie nicht.
Er ist tot.
Die Geräusche der Stadt dringen wieder an meine Ohren. Alle wachen auf und bereiten sich auf ihren Tag vor, ohne zu wissen, dass der Gärtner nebenan gerade seinen letzten Atemzug getan hat. Beacon Hill ist ruhig im Vergleich zum Rest von Boston, aber eine Autoalarmanlage rüttelt mich auf. Alles bricht wie eine Welle wieder über mich herein und ich schlucke.
Er ist tot und es ist Zeit für mich, zu gehen.
Ich lasse die Waffe stecken und sammle meine Sachen ein. Es dauert kaum eine Minute, jegliche Spur von mir im Garten zu verwischen.
Vor Jahren konnte ich den Vincellis nicht entkommen, als es um mein Leben ging, unter anderem dank des Gärtners. Jetzt, als seine Assistentin verkleidet, kann ich unbemerkt durch das Eingangstor gehen.
Zum ersten Mal seit Wochen ist es ruhig in meinem Kopf, aber ich bin ein Freund von Strafe. Ich nehme den langen Weg zurück zur Bäckerei, und als ich das gegenüberliegende Ende der Fleet Street entlanglaufe, verflüchtigt sich meine Erleichterung wie der Tau auf der Schere, die ich zurückgelassen habe. An ihre Stelle tritt Wut und ich streiche gedanklich Namen durch, um mich besser zu fühlen.
Butler.Mägde.Gärtner. Fahrer. Capo. Priester. Richter. Patin. Pate …
Und dann ist da noch der, den ich als Letztes hinzugefügt habe. Wenn ich ihn in Schlagdistanz habe, wird auch ihn das Karma grüßen und meine Rache endlich vollendet sein.
Butler.Mägde.Gärtner. Fahrer. Capo. Priester. Richter. Patin. Pate …
… der Junge.
Meine Finger zittern immer noch, als ich mich auf das Skizzenbuch stürze, das ich auf meinen Knien abgestützt habe. Die Schattierungen wären einfacher, wenn ich nicht gleichzeitig mit der anderen Hand einen lilafarbenen Zuckerkeks halten würde. Andererseits waren meine Prioritäten noch nie sehr logisch.
Ich strecke meine Finger und spähe unter der Kapuze meines abgetragenen, schwarzen Hoodies hervor, um zu sehen, ob Sweet Tallie’s Kunden hat. Der Pullover ist doppelt so groß wie meine eigentliche Größe und war Teil einer Grunge-Phase, aus der ich herausgewachsen bin. Nach diesem Morgen musste ich allerdings in meine Komfortzone zurückkehren. Der zusätzliche Stoff ist weich und ich sehne mich nach dem Gefühl des Schutzes, den mir seine Größe gibt. Die Wärme ist heute auch willkommen, denn gleich nachdem ich die Vincellis verlassen hatte, setzte ein kalter Spätregen ein.
Solange ich mich mit den Füßen auf der Sitzfläche zusammenkauere, bietet der hohe, übergroße Stuhl gerade genug Platz, um meinen ganzen Körper aufzunehmen. Seit Jahren ziehe ich meinen Kapuzenpullover über die Knie und benutze meine Oberschenkel als Zeichenfläche. Als ich meinen Wachstumsschub hatte, wurde diese Position immer schwieriger, aber Entschlossenheit ist eine meiner stärksten Eigenschaften.
Von meiner Ecke aus kann ich alles im Laden überwachen. Die Kasse und die Glasvitrine befinden sich mittig im hinteren Teil des Raums, sodass ich um beide Seiten der Theke herumgehen und mich bei Bedarf um sitzende Kunden kümmern kann. Alles, was ich jetzt sehe, sind die leeren pastellfarbenen Stühle und cremefarbenen Tische. Die einzige Bewegung ist der sanfte Regen, der gegen die getönten Fensterscheiben prasselt. Ich bin allein.
Grazie a Dio.
Das ist um diese Zeit normalerweise nicht der Fall. Die Abholer bringen das meiste Geld ein. Die Kunden stehen vor der Tür Schlange, bevor sie zur Arbeit gehen, um einen der geschätzten cannoli al pistacchio meines Großvaters zu ergattern, bevor sie ausverkauft sind. Ich habe tulpenförmige Zuckerplätzchen gebacken, nur für den Fall, dass sie uns ausgehen. Heute war es allerdings ruhig und wir haben noch ein paar Cannoli übrig.
Meine nonni brauchen jede Hilfe, die sie bekommen können, dank der Vincellis. Während es mir für meine Großväter leidtut, dass das Geschäft im Moment nicht boomt, bin ich dankbar, dass ich etwas Zeit zum Entspannen habe. Ich brauche eine Verschnaufpause vor meinem Termin und dann muss ich heute Abend im Revere-Theater arbeiten.
Zufrieden mit der Stille lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. Die zusammengekauerte Position und der vertraute Duft der Bäckerei entspannen mich normalerweise genug, um mich auf meine Skizzen zu konzentrieren, aber ich bin immer noch voller Energie. Ein Streusel fällt von meinem zitternden Zuckerkeks auf das Blatt und ich starre ihn finster an. Nicht einmal das blumenförmige Dessert kann mich beruhigen.
Dieser Morgen fühlt sich an wie ein Fiebertraum. Meine Realität hat sich wieder aufgespalten, als ob mein Leben nun zu drei Akten eines Musicals geworden wäre.
Akt I: Bevor meine Eltern getötet wurden.
Akt II: Leben mit meinen nonni.
Akt III: Nach meinem ersten … Mord.
Aber dies ist kein Musical. Für mich wird es am Ende kein Happy End geben, vor allem nicht nach dem, was ich getan habe. Aber für den Moment nehme ich das als Happy End.
Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Es ist schön, endlich die Person zu werden, die man sein soll … Selbst wenn diese Person ein Killer ist.
Ich habe die Namen auf meiner Liste jahrelang wie besessen verfolgt. Erst in den letzten Monaten konnte ich sie einen nach dem anderen durchstreichen. Bis heute Morgen hatte ich noch niemanden umgebracht. Jetzt sind nur noch die schwierigen Aufgaben übrig.
Der Butler war mein erster Erfolg. Damals, als ich im Keller der Vincellis gefangen war, war er derjenige, der mir nichts zu essen gegeben hat, wenn ich mich danebenbenommen habe. Heute weiß ich, dass er das nur getan hat, weil sein Chef es ihm befohlen hat. Vincelli mag damals nur der Stellvertreter gewesen sein, aber er hat seine Leute immer an der kurzen Leine gehalten. Der Butler hatte sein eigenes Leben, um das er sich sorgen musste. Aber ich bin durchaus fair, und dass er gefeuert wurde, hat mir gereicht.
Vincelli ist ein Gewohnheitstier und der Butler holte jeden Samstag die Wäsche ab, während er mit Pater Lucas zur Beichte ging. Die Mitarbeiter der Reinigung trugen rote Polohemden, die leicht zu kopieren waren. Die Geschäftsleitung war so gut wie nie anwesend, sodass es ein Leichtes war, sich unbemerkt einzuschleichen. So zu tun, als gehöre man dazu, ist schon die halbe Miete, wenn man sich anpassen will. Alles, was ich tun musste, war, die Kleidung auszutauschen und sie dem Butler zu geben.
Mafia-Neuigkeiten verbreiten sich in North End schnell, und meine nonni hören alles. Irgendetwas an ihrem freundlichen, faltigen Lächeln bringt die Leute dazu, Klatsch und Tratsch mit ihnen zu teilen. Dadurch erfuhr ich, dass der Butler gefeuert worden war. Ich war ein wenig schockiert, dass eine mickrige Verwechslung genügt hatte, denn die Mafia lässt selten jemanden gehen, nicht einmal die Angestellten. Deshalb sind meine Zielpersonen nach all den Jahren immer noch da, um von mir anvisiert zu werden. Aber ich nahm das Glück als das, was es war: ein Zeichen, dass ich weitermachen sollte.
Die ersten paar Namen auf meiner Liste waren allerdings ein Kinderspiel im Vergleich zum Rest. Ich hatte Angst, dass ich bei den großen Aufgaben kneifen würde oder den Gärtner umbringe und die anderen dann gar nicht mehr angehen wollen würde, aber es ist genau das Gegenteil der Fall. Namen von meiner Liste zu streichen, bringt Frieden in einen Geist, der von Albträumen, grübelnden Gedanken und Hass geplagt wird. Wenn ich meine Rolle als Rächerin des Karmas spiele, bin ich ruhig, kühl und gelassen. Aber das Geflüster, dass mir die Zeit davonläuft, schleicht sich schon wieder ein.
Ich bin so nervös, dass ich nicht weiß, wie ich die Arbeit heute Abend überleben soll. Ich liebe es, Kostümbildnerin zu sein, und die meisten der Darsteller sind großartig. Aber wenn Percy während der Kostümprobe wieder beschließt, ein übergriffiger testa di cazzo zu sein, könnte ich mit einer Nähnadel versehentlich Blut vergießen.
In der Küche schlägt eine Pfanne klappernd auf den Boden und ich fahre fast aus der Haut.
»Mi dispiace, Tallie!«, entschuldigt sich mein Großvater Tony hinter der Schwingtür.
»Non preoccuparti, nonno.« Ich erwidere: ›keine Sorge‹, obwohl meine Haut brummt, als hätte ich einen Stromschlag bekommen.
Auch wenn ich versuche, es zu verdrängen, meine nonni merken immer, wenn ich lüge. Tonys hochgewachsene Gestalt schiebt sich durch die Tür. Seine weißen Haarsträhnen heben sich stark von seiner olivfarbenen Haut ab, und als er mich entdeckt, erschaudert er bei meinem Anblick.
»Oh, dolce nipotina. Geht es dir gut? Giovanni und ich werden versuchen, nicht so …« Er macht Bewegungen mit seinen Händen, um das fehlende Wort zu ergänzen.
Der Spitzname meiner nonni, ›süße Enkelin‹, beruhigt mich und ich kann dieses Mal ehrlich antworten. »Wirklich, es geht mir gut, nonno. Ich verspreche es. Ich bin nur froh, dass ich nicht an der Hochzeitstorte arbeiten muss.«
Er lacht und streicht sich die weiße Schürze glatt. »Gio ist heute sehr nett. Es macht Spaß.«
»Spaß? Antonio, das hier ist kein Spaß«, schnaubt Gio hinter Tony, bevor er eine Reihe italienischer Schimpfwörter loslässt.
»Es ist besser als die Navy«, kichert Tony, bevor er zurück in die Küche schlüpft.
»Natürlich ist es besser als die Navy«, brummt Gio so laut, dass ich ihn durch die Wand hören kann.
Ich schnaube und setze mir Kopfhörer auf, um ihr spielerisches Gezanke zu übertönen. Wenn ich einen Dollar für jedes Mal bekäme, wenn ich sie über ihre militärischen Erfahrungen jammern höre, wären sie schon längst im Ruhestand in Italien.
Gio und Tony waren beide Köche in der italienischen Marine, wo sie sich heimlich ineinander verliebt haben. Als sie nach Amerika gingen, um endlich ihr gemeinsames Leben zu genießen und ihre eigene Bäckerei zu eröffnen, wurde dieser Vergleich zu ihrem Lieblingsspruch. Die Tatsache, dass für Gio die Arbeit an Hochzeitstorten mit seiner Zeit beim Militär konkurriert, zeigt nur, wie sehr er sie wirklich, wirklich, wirklich hasst.
Die vielen Etagen, die komplizierten Designs und sein Wunsch, die Kunden zufriedenzustellen, stressen ihn so sehr, dass er sich selbst in einen Brautzilla verwandelt. Seit ich sieben Jahre alt war, liebe ich es, mit ihnen zu backen, und ich würde dennoch lieber tausend geschäftige Vormittage damit verbringen, die Kasse zu führen, als neben Gio ein essbares Brautpaar zu modellieren.
»Tallie!«
Ich blicke auf und sehe seine kleine, runde Gestalt in der Tür. Seine mittelbraune Haut glänzt vor Schweiß und seine buschigen grauen Augenbrauen bilden eine einzige frustrierte Linie. Er blickt mich finster an, aber so sehr er sich auch anstrengt, mein süßer kleiner nonno könnte niemals einschüchternd wirken. Zu viele Lächel- und Lachfalten zieren sein Gesicht, als dass ihn jemand ernst nehmen könnte, aber er gibt sich alle Mühe.
Ich reiße mir einen Kopfhörer aus dem Ohr und höre ihn auf Italienisch rufen. Seine Schürze ist bereits von Mehl und Zuckerguss bedeckt und seine wilden Handbewegungen wirbeln kleine Wolken in die Luft.
Der Ärmste. An Hochzeitstortentagen ist er wirklich immer so durch den Wind.
»Tallie! Ich habe nach dir gerufen.«
»Mi dispiace. Was brauchst du?«
»Muss die Dessertauslage gefüllt werden?«
Ich werfe einen Blick auf die gläserne Kühltheke, die ich vor weniger als dreißig Minuten direkt vor seinen Augen aufgefüllt habe. Sie ist immer noch voll mit herrlichen Kuchen, Torten, Cannoli und Keksen.
»Sieht so aus, als hätten wir alles, Gio. Kein Prokrastinieren mehr.«
»Ich prokrastiniere nicht!«, sagt er auf Italienisch. »Das war eine sehr wichtige Frage! Tony und ich werden gleich das Band aus gesponnenem Zucker um die vier Etagen legen und wir dürfen dabei nicht abgelenkt werden. Keine Kopfhörer und Nase raus aus deinem Skizzenbuch.«
»Amore mio, sei nett«, schreit Tony auf Italienisch aus der Küche.
»Schon gut, ich weiß, wie Gio ist«, rufe ich zurück und grinse.
Gio brummt. »Weißt du, ich habe heute das Obst aufgeschnitten und festgestellt, dass du wieder das gute Messer gestohlen hast.«
Ich rolle mit den Augen. »Gio, das ist mein Messer. Du und Tony habt es mir geschenkt, als ich das College abgeschlossen habe.«
»Aber es ist das gute Messer! Du musst mir Bescheid sagen, wenn du es dir nimmst.«
»Argh, okay, es ist da drin.« Ich nicke zu der Segeltuchtasche, die unter dem Tresen verstaut ist.
Gio murmelt etwas, während er zu meiner Tasche rennt, als ob er die Klinge aus der Gefahr retten wollte. »Du bewahrst ein dreihundert Dollar teures Messer mit einem wunderschönen Perlmuttgriff da drin auf? Das ist dieselbe Tasche, in die du deine Wasserflasche steckst! Jetzt muss ich es waschen.«
»Das ist mein Messer, Gio«, antworte ich in singendem Ton, bevor ich mir die Kopfhörer ostentativ wieder in die Ohren stecke.
»Wann hast du es das letzte Mal benutzt? Was willst du damit in deiner Tasche machen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Noch nichts. Ich habe es nur gerne in der Nähe. Du weißt schon, zur sicheren Aufbewahrung.«
Er grummelt über mein Grinsen und winkt mir zu, während er durch die Schwingtür geht. Ich drehe meine Musik lauter, aber ich höre dennoch, wie er ein paar italienische Flüche ausstößt. Meine Attitüde habe ich zu hundert Prozent von ihm.
Er und Tony haben mich von dem Moment an bedingungslos geliebt, als Antonella mich vor ihrer Haustür abgesetzt hat, kaum noch am Leben. Offiziellen Angaben zufolge starb Chiara bei demselben ›Autounfall‹, bei dem auch ihre Eltern ums Leben kamen. Niemand wusste, dass ich noch lebte, also interessierte es auch niemanden, als ich fast starb. Niemanden außer Antonella, Gio und Tony.
Meine nonni adoptierten inoffiziell ein Kind, das für die Öffentlichkeit ›tot‹ bleiben musste. Sie gaben mir einen neuen Namen und unterrichteten mich zu Hause, bis meine Narben verheilt waren. Sobald ich dazu bereit war, schickten sie mich auf eine öffentliche Schule, weit weg von der St. Catherine’s, wo alle Kinder der Malavitosi, der ›gemachten Männer der Familie‹, hingehen. Als ich im Süden aufs College ging, hatten alle die arme kleine Chiara bereits vergessen. Aber erst, wenn ich mit meiner Liste fertig bin, wird sie endlich zur Ruhe kommen können.
Ich mache die Musik auf meinem Handy lauter und lade Florence + The Machine ein, sich in meine Seele zu singen. Nachdem ich mich auf meinem Platz niedergelassen habe, beiße ich noch einmal in meinen Keks und mache mich wieder an meine Skizze.
Für dieses Kostüm gibt es zwar keine Deadline, aber nach allem, was heute Morgen passiert ist, brennt mir der Drang in den Adern, es herzustellen. Es sollte ziemlich einfach sein und ich habe bereits den ganzen Stoff oben in meiner Wohnung.
Gio und Tony haben einen Loft und ein Studio im zweiten Stock. Bevor ich aufgetaucht bin, haben sie das Studio vermietet, aber als ich in meine widerspenstigen Teenagerjahre kam, gaben sie es mir. Es sind keine großen Räume, aber es reicht. Außerdem kann ich durch meinen neuen Job den Druck ihrer Hypothek mindern, indem ich meine eigene Miete zahle.
Bei dem Erfolg der Bäckerei hätten sie das Gebäude schon vor Jahren abbezahlen können. Eigentlich sollten sie imRuhestandsein und in der Toskana ihren Urlaub verbringen. Das würden sie auch, wenn Vincelli und seine Schläger diesen Teil des Viertels nicht bis aufs letzte Hemd ›beschützen‹ würden.
Die Mafia nehmen meine nonni schon seit Jahrzehnten aus, aber der Boss vor Claudio hatte nicht annähernd so eine hohe Rate. Seit ich vom College zurück bin, ist der Preis höher als je zuvor. Ich kann es kaum erwarten, diesen Vincelli-Bastard von meiner Liste zu streichen.
»Arroganter figlio di puttana«, murmle ich vor mich hin.
»Wie bitte?«
Beim Klang der Männerstimme zucke ich so heftig zusammen, dass ich von meinem Sitz kippe. Mein Skizzenbuch rutscht herunter, aber starke Hände um meine Taille fangen mich auf, bevor ich mit ihm zu Boden gehe.
Als ich wieder auf die Beine gestellt werde, ist die Welt ein schwindelerregender Wirbelwind. Ich packe die breite Brust des Mannes vor mir und kralle mich in sein weiches schwarzes Baumwollshirt, um mich zu stabilisieren. Seine große Gestalt umschließt meinen einen Meter siebzig großen Körper mühelos und seine schwarze Lederjacke lässt ihn noch größer aussehen, als er ist. Ich muss mich zurücklehnen, um ihm in die Augen sehen zu können, damit ich ihn anschreien kann, weil er mich überrascht und angefasst hat. Das letzte Mal, dass ich außer meinen nonni jemanden umarmt habe, ist fünfzehn Jahre her.
Aber der Schreck sorgt dafür, dass mir die wütende Erwiderung im Hals stecken bleibt.
Sein gewelltes schwarzes Haar ist zurückgekämmt, aber eine einzelne kurze Locke hat sich gelöst. Sie hängt ihm über den Augen, die den Farbton von verbranntem Karamell haben – mit genauso viel Hitze. Ich schlucke meine Beschwerde hinunter, als er seinen Mund öffnet.
»Sind Sie okay, Tallie?«