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Nach seinem ersten Buch "CHERNOBYL - Don´t Panic Project" nimmt der Autor Oliver Resing die Leser erneut mit auf seine Reisen. Diesmal im Jahr 2021 und zu vielen weiteren Zielen in der Ukraine, wie Kiew, Odessa, Dnipro, Mariupol und Saporischschja, aber auch in ein kleines Dorf sowie auf eine typisch ukrainische Geburtstagsparty. Ein erneuter Ausflug nach Chernobyl darf ebenso wenig fehlen, wie der ein oder andere Stadionbesuch. Außerdem führt ein Abstecher in die Republik Moldau und es folgen unglaubliche Eindrücke aus Transnistrien - ein Land, welches gar nicht existiert. Der Leser spürt den Wind der Veränderung, und doch wird die Welt bald eine andere sein.
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Berichte in diesem Werk sind so authentisch wie möglich aus Erinnerungen und Notizen entstanden. Der Autor ist kein Profi, zwischen Gedanken und Emotionen können Rechtschreib- und Grammatikfehler auftauchen. Es sei der Hinweis gestattet, dass sich möglicherweise einige Leser an Kraftausdrücken und einem sexistischen Weltbild stören könnten. Diese Ausdrucksweise ist aber notwendig, um authentisch berichten zu können.
Sämtliche Erlöse aus dieser Veröffentlichung gehen zu 100 % an Yaro Pancenko in Kyiv (Ukraine). Es werden keine kommerziellen Interessen verfolgt.
Es wird nicht zu Nachahmung der Geschehnisse aufgerufen und dringend davon abgeraten, auf eigene Faust in den beschriebenen Ländern Unternehmungen zu starten, besonders nicht illegal. Die Gesetze dort sind streng und einzuhalten, das Gesundheitsrisiko wird als Laie oft falsch eingeschätzt. Es wird auch nicht zu Gewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch, unüberlegten sexuellen Handlungen oder sonstigen illegalen Taten nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland aufgerufen, sondern lediglich über die Vorgänge des Zeitgeschehens berichtet (StGB §131(3)). Jegliche Ähnlichkeiten zu Straftaten sind rein zufällig.
Das Lesen und die Verarbeitung der Berichte erfolgen ausdrücklich auf eigenes Risiko. Die Autoren übernehmen keinerlei Haftung. Rechts- und Schadenersatzansprüche sind ausgeschlossen. Es kann keine juristische Verantwortung sowie Haftung in irgendeiner Form von den Autoren übernommen werden.
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Das Titelbild ist Eigentum des Autors.
© 2022 Oliver Resing (E-Mail: [email protected])
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Pünktlich zum Jahrestag der unfassbaren Nuklearkatastrophe am 26. April 2021 kam unser Buch „CHERNOBYL – DON’T PANIC PROJECT“ (erschienen beim BoD Verlag, Norderstedt, ISBN: 9783753498782) raus.
Der junge Ukrainer Yaro Pancenko und ich berichten darüber, wie wir uns kennengelernt und wie wir das ein oder andere Abenteuer erlebt haben. Ich wollte verstehen, was damals in Chernobyl geschah und ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort vor sich ging, was die Folgen einer solchen Katastrophe sind und wie es dort heute aussieht. Wir analysieren die Katastrophe und nehmen gleichzeitig den Leser an die Hand, nehmen ihn mit auf unsere Reisen, bis nach Chernobyl. Gleichzeitig berichten wir in diesem Buch über die faszinierende Stadt Kyiv und über unsere Erlebnisse dort.
All diese Eindrücke bewegten mich dazu, dass ich im Jahr 2021 noch öfter in die Ukraine, aber auch ins benachbarte Transnistrien und in die Republik Moldau reiste, um noch viel mehr von dieser tollen Region zu sehen, noch mehr Städte zu entdecken und noch mehr von diesen freundlichen Menschen dort kennenzulernen. Davon möchte ich in diesem, meinem zweiten öffentlichen Buch berichten.
Aktuelles gibt es immer hier: yaropancenko.jimdofree.com
Oliver Resing im April 2022
Juni 2021. Corona bestimmt nach wie vor unseren Alltag. Doch momentan ist die Lage relativ entspannt. Ich kann endlich wieder durch Europa reisen und einmal öfter wird mich der Weg nun in die Ukraine führen.
So besteige ich Ende Juni den Flieger und hebe ab in Richtung Kyiv, wo ich am Abend lande. Über eine App gelange ich an ein günstiges Taxi und der Fahrer hat richtig Lust, rauscht mit mir über die Autobahn, bis wir plötzlich in einem Stau stehen. Kurzerhand lenkt mein Fahrer sein Auto auf den Seitenstreifen, legt den Rückwärtsgang ein und braust etwa drei Kilometer rückwärts am Stau vorbei zur letzten Ausfahrt. Willkommen in der Ukraine. Anschließend rasen wir durch Wald- und Wohngebiete, über typisch schlechte Straßen, während man sich in den Autos hier eh nicht anschnallen kann und ich mich ganz ordentlich am Sitz festkrallen muss, um nicht kreuz und quer durchs Auto zu fliegen. Nach einer knappen Stunde erreichen wir den Hauptbahnhof, wo ich meine Taxirechnung in Höhe von umgerechnet etwa acht Euro begleiche. Anschließend gehe ich etwas einkaufen, um gleich nicht mit leeren Händen bei meinem Freund und Gastgeber Yaro aufzuschlagen. Mit der Metro und dem Bus geht es weiter in den Osten der Stadt, bevor ich am späten Abend die Wohnung erreiche. Per abenteuerlichen Aufzug und durch die gewohnt dunklen Gänge eines ukrainischen Plattenbaus, in denen überall Stromkabel herumhängen, erreiche ich das Appartement im 8. Stock.
Natürlich herrscht erst einmal große Wiedersehensfreude. Yaro hat in den letzten Tagen eine anstrengende, aber auch ereignisreiche und fantastische Tour durch die ukrainischen Karpaten unternommen. Er weiß viel zu erzählen, viele Bilder und Videos zu zeigen und er hat mir ein paar seltene Bier gekauft, die es nur in den Karpaten zu kaufen gibt.
Danach setzen wir uns an den PC und arbeiten an unseren nächsten gemeinsamen Projekten. Anschließend legen wir uns hin und während Yaro genüsslich schläft, stehe ich um 6 Uhr morgens bereits wieder auf. Im letzten Jahr habe ich ein Lebensziel erreicht und ein Vorhaben beendet, welches ich vor knapp zwanzig Jahren begonnen hatte. Ich war als sogenannter Stalker in Chernobyl. Fast unmenschliche Strapazen, dafür aber bis heute teils unbegreifliche Eindrücke. Ein Wechselbad zwischen Abenteuer, Staunen, Ehrfurcht und Wut. Ich wollte verstehen, was damals geschah, ich wollte sehen, was damals geschah und wie es heute aussieht – und ich bekam die nackten Tatsachen mit so einer Wucht vor meine Augen geknallt, dass ich einiges bis heute nicht begreifen kann. Ich muss da nochmal hin. Aber dieses Mal ohne durch Wälder und Flüsse zu schreiten, ohne wilden Tieren zu begegnen und ständig auf der Flucht zu sein. Aber eben auch ohne Eindrücke, die man nur als Stalker dort machen kann. Ein echter Stalker, ein echter Abenteurer wählt niemals den legalen Weg. Aber heute habe ich das Bedürfnis, dort einfach nochmal für einen Tag hinzukommen. Also habe ich mich einem legalen und englischsprechendem Guide sowie einer kleinen Gruppe Ukrainer angeschlossen.
Der Weg bis zum Treffpunkt sieht auf der Karte nicht wirklich weit aus. Am Ende laufe ich aber fast eine Stunde lang, gehe unterwegs noch kurz für die Tour einkaufen, denn das ist hier kein Problem. Hier gibt es keine Samstage, keine Sonntage, keine Ruhetage. Und auch keine Nächte. Die meisten Betriebe arbeiten rund um die Uhr, viele Geschäfte haben immer geöffnet, egal an welchem Tag und egal zu welcher Uhrzeit.
Pünktlich um 8 Uhr setzt sich unser Kleinbus in Bewegung. Während wir westlich des Dnjepr Richtung Norden fahren werden die Straßen immer schlechter. Wieder einmal muss ich mich richtig am Sitz festkrallen, um nicht plötzlich im Mittelgang des Busses zu liegen oder abzuheben und mir den Kopf an der Decke einzuhauen. Aber die ukrainischen Fahrzeugführer sind alle geübt. Ob im Auto oder jetzt im Bus, sie erkennen die ganzen Schlaglöcher, kurven geschickt drum herum. Doch manchmal fehlen einfach ganze Straßenzüge oder ein Schlagloch folgt dem nächsten, so dass ein Ausweichen nicht mehr möglich ist. Dann ist man der wilden Rumpelei trotz extrem langsamer Geschwindigkeit einfach ausgeliefert.
Nach etwa anderthalb Stunden durch Wälder und Dörfer erreichen wir die Sperrzone, welche 30 Kilometer um Chernobyl errichtet wurde. Ich kenne diese Grenze ja nur von unseren nächtlichen, nicht ganz illegalen Übertritten, irgendwo zwischen Flüssen und Wäldern, wo es einen hohen Stacheldrahtzaun zu überwinden gilt. Doch heute bin ich ja offiziell und legal unterwegs und so halten wir an der Kontrollstation. Hier wirkt alles sehr steril, das Militär steht parat, in einem Abfertigungshäuschen erwarten uns streng blickende Uniformierte, welche nun unsere Reisepässe und Versicherungsbescheinigungen einsammeln und Passierscheine ausstellen. Wir bekommen Regeln erklärt, Dosimeter in die Hand gedrückt und man traut sich in diesen Räumen nicht wirklich mit der Wimper zu zucken, versucht so leise wie möglich zu atmen.
Nach einer halben Stunde sind alle Formalitäten erledigt und wir betreten nun die Sperrzone. Unser Bus fährt über die ehemalige Schnellstraße der Sowjetunion, welche mehr und mehr zu einem wackligen und zugewachsenen Feldweg geworden ist, bis wir das Dorf Zalissya erreichen. Ich erinnere mich an dieses Dorf. Hier haben wir damals bei unserer nicht ganz legalen Tour eine Pause eingelegt, mitten in der Nacht, bei völliger Dunkelheit und plötzlich stand ich mitten auf dem Dorffriedhof. Heute ist es hell. Wir steigen aus und betreten den Wald, der mal ein Dorf war. Wir werden direkt von tausenden Mücken überfallen. Die ehemaligen Hauptstraßen sind nur noch einen halben Meter breit und man muss sich seinen Weg durch Dornenbüsche und Bäume bahnen. Zwischendrin Wohnhäuser, das Gemeindehaus, zugewachsene Autos, die Kirche, aus der Bäume herausragen, die mittlerweile höher sind als der Kirchturm, die ehemalige Schule, der Kindergarten, Spielplatz und Fußballplatz. Vieles erkennt man erst, wenn man für längere Zeit stehen bleibt und sich die Örtlichkeit genauer anschaut. Da wir legal unterwegs sind, dürfen wir die Häuser nicht betreten. Im letzten Jahr haben wir uns noch in einem der Häuser ausgeruht, haben das Geschirr noch auf den Tischen stehen und die Klamotten in den Schränken hängen sehen. Weil die Bewohner ja nur zu einem Ausflug sollten, niemand sagte ihnen, dass hier alles verstrahlt ist und sie nie wieder zurückkehren würden. Ein unglaubliches Leid, eine unglaubliche Vertuschung und tausende Bewohner, die nicht mehr lange gelebt haben. Chernobyl-Krebs. Ich berichtete in meinem Chernobyl-Buch darüber.
Anschließend fahren wir weiter und erreichen das Ortsschild von Chernobyl. Wir passieren einen letzten Kontrollposten und befinden uns nun offiziell in der Stadt, die keine mehr ist. Eigentlich fahren wir über schmale Waldwege, befinden uns aber auf der ehemaligen Einkaufsstraße. Das Leben steht hier seit 35 Jahren still. Die Natur hat sich alles zurückerobert. Wilde Tiere, manchmal in erschreckender Größe, straucheln herum. Und wir.
An einer Stelle parken die Fahrzeuge und Roboter, welche damals das Reaktordach säubern sollten, am Ende aber alle versagten.
Wir fahren zum Hafen und nur mit viel Mühe kann man erkennen, dass hier mal das Leben gespielt und die Industrie geboomt hat. An einer Stelle liegt ein ehemaliges Ausflugsschiff, jemand hat ein Bild aufgehängt, als das Schiff noch in Betrieb war. Farbenfroh und mit glücklichen Menschen drauf. Heute ist alles verrostet, das Schiff halb gesunken.
Wir fahren weiter und besuchen das „Monument derer, die die Welt gerettet haben“. Ein seltsamer Ausdruck, aber tatsächlich wahr. Die Katastrophe damals wurde innerhalb weniger Tage zu einem weltweiten Problem. Nur durch den Einsatz der sogenannten Liquidatoren konnte Schlimmeres verhindert werden. Tausende davon. Und niemand von ihnen wusste damals wirklich, auf was er sich einließ. Viele hatten nicht einmal eine Wahl. Sie wurden einberufen und dort ausgesetzt. Nur wenige von ihnen lebten danach noch lange. Sie alle starben viel zu früh. Doch die gröbste Strahlung konnte gestoppt werden. Die atomaren Teilchen schwebten nicht mehr um die Erde. Die Welt war gerettet. Und für all diejenigen ist dieses Denkmal.
Der Weg führt uns nun zum Reaktor selbst. Eine unglaubliche Konstruktion umschließt den strahlenden Reaktor. Daneben verrostete Ruinen. Alles verstrahlt. Unsere Dosimeter gehen auf Anschlag. Lange darf man sich hier nicht aufhalten, maximal ein paar Minuten. Ein seltsames Gefühl hier zu stehen. Als Illegale konnten wir hier nicht hin, dafür ist dieser Bereich zu sehr bewacht und zu gefährlich. Nebenan befindet sich eine Eisenbahnbrücke, auf die wir nun gehen und von der wir auf das strahlende Wasser unter uns schauen können. Auch die Fische sind verstrahlt, mit Missbildungen und riesengroß.
Und dann gibt es in Chernobyl tatsächlich noch eine alte und aktive Kantine für all diejenigen, die hier als Wachpersonal arbeiten. Hier dürfen auch wir heute Platz nehmen und bekommen ukrainischen Borschtsch serviert. Lecker wie immer und eine gute Stärkung für den restlichen Tag.
Unser Bus fährt nun wieder aus der Stadt heraus. Über fast unmögliche Wege für diesen Bus rumpeln wir fast im Schritttempo durch die verlassene Landschaft. Und durch Wälder, wovon ein großer Teil im letzten Sommer abgebrannt ist. Das sieht eh schon alles traurig aus hier, jetzt noch schlimmer, wenn schwarze Baumstämme in die Höhe ragen. Irgendwo hier sind wir letztes Jahr aus dem Wald gekommen und haben die Betonpiste erreicht. Hier war zu Sowjetzeiten ein streng geheimes und bewachtes Militärgebiet, denn am Ende der Straße befindet sich das riesige DUGA-Radar. Eine wahnsinnige Konstruktion. Yaro ist damals bis ganz nach oben geklettert, während wir Wache geschoben haben. Heute brauchen wir keine Wache schieben, denn wir durchschreiten ganz offiziell den Kontrollposten. Die letzten zwei Kilometer müssen wir aber auch heute laufen und durchkreuzen dabei einen Wald, der mal das Dorf für die hier stationierten Soldaten mit ihren Familien war. Wir schreiten durch tiefes Dickicht, an das ich mich auch noch erinnern kann. Und irgendwo hier war auch mal ein kleiner verlassener Kiosk, ein Spielplatz und siehe da, kurze Zeit später sehen wir die alten und verrosteten Schaukeln zwischen den Bäumen.
Wir kämpfen uns weiter und dann steht das riesige Abhörradar plötzlich vor uns. Einfach gigantisch. Und so ein riesiges Objekt hat man zu Sowjetzeiten tatsächlich geheim gehalten. Wahnsinn.
Im Schritttempo wackeln wir über die holprigen Betonplatten zurück und erreichen die ehemalige 50.000-Einwohner-Stadt Prypjat. Diese Stadt war damals am stärksten betroffen. Zuerst wurde gar nicht evakuiert, dann wurden innerhalb weniger Stunden alle Einwohner zu einem Ausflug eingeladen, von dem sie nie zurückkehrten. Viele Männer der Stadt starben als Feuerwehrleute am Reaktor. Entweder dort, oder kurze Zeit später im Krankenhaus. Ich erinnere mich noch an den Raum im Krankenhaus, wo die verstrahlten Uniformen und hunderte Gasmasken der verstorbenen Feuerwehrmänner herum lagen. Der Blick in diesen Raum damals, vor allem aber auch die Eindrücke aus dem Kinderkrankenhaus werde ich nie wieder vergessen.
Wir erreichen zunächst die Stelle, wo sich damals die Einwohner versammelten. Eine Brücke, von der man auf den brennenden Reaktor schauen konnte. Man war fasziniert von dem Lichtschein. Niemand sagte ihnen, dass sie diesen Ausblick mit ihrem Leben bezahlen würden.
Unser Bus kriecht weiter durch den Wald, ehemals Hauptverkehrsstraßen. Alles ist verlassen, überall hat die Natur Einzug gehalten. Wir stoppen am höchsten Gebäude der Stadt, auf dem noch ein riesiges Sowjet-Symbol in den Himmel ragt. Von hier laufen wir zum Bahnhof, dem Hafen, besichtigen die Hafenkneipe, eine der ehemaligen Schulen, wo die Schulhefte noch auf den Tischen liegen. Wir betreten das ehemalige Kinderheim, wo in den Kinderbetten noch die Teddys liegen, Spielzeuge in den Regalen und Buntstifte auf dem Boden. Man staunt und spürt zugleich, welches Leid sich hier zugetragen hat, wie schnell aus einer lebendigen Stadt eine Geisterstadt wurde. Der alte Holzboden ist längst morsch und man muss aufpassen, wo man hintritt. Die ehemaligen sanitären Anlagen stinken bestialisch. Manche Stalker haben sich hier an den Wänden verewigt. Im ehemaligen Kindergarten und in den ehemaligen Krankenhäusern wird man von einem bedrückenden Gefühl umklammert, welches kaum zu beschreiben ist. Die ehemaligen Privatwohnungen dürfen wir heute als legale Besucher nicht betreten, dafür sehen wir den Supermarkt, das ehemalige Hotel „Polissja“ und das Schwimmbad sowie das ehemalige Institut für Atomenergie, in dem damals zunächst alle falschen, danach aber auch alle wichtigen und richtigen Entscheidungen getroffen wurden. Am Kulturzentrum vorbei geht es zur Sporthalle, zum Kino und zur Haupteinkaufsstraße, der Flaniermeile, wo jetzt nur noch Bäume und Büsche zu sehen sind und wo man die damaligen Konturen nur bei genauerem Hinsehen erkennt. Unglaublich. Und dann erreichen wir den Vergnügungspark, der damals nur wenige Tage vor seiner Eröffnung stand. Das allseits bekannte Riesenrad, die Karussells, der Autoscooter – alles neu und niemals gebraucht – und seit 35 Jahren im verstrahlten Ruhezustand.
Auf unserem Fußweg zurück zum Bus kommen wir am Fußballstadion vorbei. Die Tribünen hier haben aber nie Menschen gesehen, Fußballer haben das Stadion nie betreten, denn auch dieses Bauwerk stand wenige Tage vor seiner Eröffnung. Das Eröffnungsspiel war längst ausverkauft, hochrangige Politiker aus Moskau hatten sich angekündigt, doch dann wurde unterschätzt, was der falsche Umgang mit Atomenergie alles auslösen kann. Die Welt stand still. Und in diesem Stadion blieb es still. Ein beklemmendes Gefühl.
Mit dem Bus geht es nun wieder zurück. Wir passieren den 10-Kilometer-Checkpoint und erreichen schließlich den 30-Kilometer-Checkpoint. Hier werden wieder unter strengen Minen unsere Reisepässe und Passierscheine eingesammelt, alles wird zigmal kontrolliert und abgestempelt, anschließend schickt man jeden von uns in ein Strahlenmessgerät. Von außen sieht das Teil aus wie eine alte Drehbank, irgendwie muss man sich da reinzwängen, man bekommt gesagt, welche Schalter man wie umlegen muss und dann wird die radioaktive Strahlung gemessen. Ist diese zu hoch, muss man seine Klamotten ausziehen und vor Ort entsorgen. Ist die Strahlung danach immer noch zu hoch, dann bleibt man da und wird in ein Krankenhaus gebracht. Bei unserer Reisegruppe ist aber alles in Ordnung. Ich bekomme kurz Panik, weil es eine grüne und eine rote Lampe in diesem Automaten gibt und bei mir die rote Lampe aufleuchtet. Aber nicht überall bedeutet das rote Licht etwas Negatives, denn hier bedeutet das rote Licht Freiheit – Strahlenwerte okay.
Anschließend überqueren wir den Kontrollposten, befinden uns wieder außerhalb der Sperrzone und hier wird an einem kleinen Straßenimbiss erst einmal etwas gegessen. Anschließend rumpeln wir mit dem Bus wieder anderthalb Stunden über schlechte Straßen und erreichen Kyiv im dichten Feierabendverkehr. Nur mühsam kommen wir durch und erreichen am frühen Abend unseren Ausgangspunkt.
Alles in allem eine sehr nette Erfahrung auch mal legal in der Zone gewesen zu sein, aber natürlich kein Vergleich zu einer illegalen Tour. Dennoch sind wir heute über 20 Kilometer gelaufen. Eine ganze Menge und ich bin mega erschöpft. In einem Supermarkt decke ich mich noch mit Getränken und etwas Essen ein, anschließend laufe ich zur Wohnung, wo Yaro und sein bester Freund Maxim bereits auf mich warten.
Ich wasche mich erst einmal von oben bis unten, pack meine verstrahlten Klamotten in eine Plastiktüte, anschließend gönnen wir uns ein paar Bier. Doch schon nach kurzer Zeit sind alle Biervorräte vertilgt. Maxim arbeitet als Teilzeitjobber in einem Brauhaus. Und da könnte man doch eigentlich noch hin. Gesagt – getan. Obwohl ich gerade viel lieber rückwärts ins Bett fallen würde, gehen wir raus vor die Tür, schnappen uns den nächsten Bus und fahren in Richtung Fluss. Dort am Ufer befindet sich das Brauhaus. Wir lassen uns nieder und das Bier fließt direkt wieder. Das ist einfach ein tolles Gefühl nach so langer Zeit. Monatelang habe ich, haben quasi alle Menschen zuhause gesessen. Quarantäne hier, Ausgangsperre da. Natürlich herrscht auch hier in Kyiv überall Maskenpflicht und die wird auch strikt eingehalten. Aber hier im Brauhaus an unseren Plätzen können wir die Masken abnehmen. Und Bier trinken. Frisch Gezapftes. Und da Maxim seinen Chef gut kennt, bekommen wir auch noch ein paar Selbstgebrannte serviert. Die gehen aufs Haus. Und steigen in den Kopf. Angeblich der beste Selbstgebrannte der Stadt. Ich spüre bei jedem Schluck, wie sich der Alkohol einen Weg durch meinen Körper bahnt. Doch die Jungs kennen keine Gnade und so verlassen wir das Brauhaus erst weit nach Mitternacht.
Irgendwie kommen wir zurück zur Wohnung. Und als ich morgens aufwache, liegen Maxim und Yaro neben mir im Bett. Einer links. Einer rechts. Beide nackt. Mein Schädel dröhnt. Ich befreie mich aus der Zange der beiden, schleiche vorsichtig aus dem Bett, ziehe mir etwas über und gehe runter zu einem kleinen