Drei Erzählungen - Brigitte Krächan - E-Book

Drei Erzählungen E-Book

Brigitte Krächan

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Beschreibung

Fräulein Annabella Kleist - eine Erzählung über die Alzheimer Erkrankung aus Sicht der Lehrerin Annabella Kleist, eine Geschichte gegen das Vergessen Der schwarze Schimmel - ein Vierzehnjähriger erzählt seine Sicht der Geschichte der sechsjährigen Hannah, die vor der SS versteckt wird. Der Tote in der Rue Dauphin - eine Hommage an Edgar Allan Poe Drei längere Kurzgeschichten.

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Seitenzahl: 91

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Fräulein Annabella Kleist

Der schwarze Schimmel

Der Tote in der Rue Dauphin

Copyright© 2015 Brigitte Krächan

Illustrationen:

Eva Maria Vogtel ( Cover, Bild zu “Der Tote in der Rue Dauphin”

Katharina Krächan (Bild zu “Fräulein Annabella Kleist”)

Brigitte Krächan (Bild zu „Der schwarze Schimmel“)

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Brigitte Krächan

Inhalt

 

Fräulein Annabella Kleist

Der schwarze Schimmel

Der Tote in der Rue Dauphin

Fräulein Annabella Kleist

Prolog

„Die Teichstraße suchen Sie, junge Frau! Aber natürlich weiß ich, wo die Teichstraße ist. Schließlich lebe ich hier schon ein ganzes Leben lang. Aber was wollen Sie denn in der Teichstraße?

Zur Frau Annabella Kleist wollen Sie? Unser Fräulein Kleist! Ja, das wohnt in der Teichstraße. Hat das Häuschen ihrer Eltern geerbt, Apotheker waren das, ganz vornehme Leute. Gehen Sie einfach die Straße hinunter, die erste Straße rechts ist die Teichstraße, dann gehen Sie am Feuerwehrteich vorbei und das erste Haus dahinter, das mit dem schönen Vorgarten, das ist das Haus von Fräulein Kleist. Sie hält den Vorgarten immer noch selbst in Ordnung. Ist noch putzmunter für ihr Alter. Naja, hat ja auch nie wirklich arbeiten müssen, das Fräulein Lehrerin.

Ach das wissen Sie, dass Fräulein Kleist Lehrerin war? Weshalb wollen Sie sie eigentlich besuchen? Sind Sie Verwandtschaft? Ich dachte immer, Fräulein Kleist hätte keine Verwandten.

Soso, eine Journalistin. Und interviewen wollen Sie das Fräulein? Na, da wird sie sich aber freuen. Sie erzählt so gerne von früher … und wenn es dann auch noch einer aufschreibt und es in der Zeitung steht … am Ende werden wir noch berühmt. Ich bin die Frau Bauer, Frau Emma Bauer, eine alte Klassenkameradin von Annabella. So was, eine  richtige Journalistin! Wir haben übrigens eine sehr schöne Dorfkirche. Ich kenne die Küsterin, sie kann uns aufschließen, falls Sie einen Blick hinein werfen wollen.

Doch lieber zu Fräulein Kleist. Wissen Sie, Frau Journalistin, den Weg können Sie sich eigentlich sparen. Setzen Sie sich einfach zu mir auf die Bank und plaudern Sie noch fünf Minuten mit mir. Fräulein Kleist kommt jeden Nachmittag pünktlich um vier Uhr hier vorbei. Das ist eine ganz feste Gewohnheit von ihr. Sie geht zum Bäcker und kauft ein Butterhörnchen für sich und einen halben Einback vom Vortag für Rollo, den Fünften. Dann sitzt sie eine Zeitlang hier auf der Bank, mal in Gesellschaft oder auch alleine und geht danach wieder heim.

Wer Rollo ist? Na, der Hund von Fräulein Kleist! Schon der fünfte Dackel. Sie verstehen? Deshalb Rollo, der Fünfte. Ist nach einem Hund in einem berühmten Buch benannt. Aber da müssen Sie Fräulein Kleist selbst fragen, ich kenne mich nicht so aus mit diesen gelehrten Büchern. Obwohl sie ja eigentlich ziemlich streng ist, auch mit sich selbst, ist der Rollo eine ganz verwöhnte Töle. Naja, das Vieh ist so etwas wie ihre einzige Familie. ‚Ich brauche keine eigenen Kinder und keine eigene Familie‘, hat sie immer gesagt, ‘meine Schüler sind meine Familie. ‘ Aber wenn man dann älter wird und in Rente ist, sieht das Ganze wieder anders aus. Ich glaube schon, dass sie ein bisschen einsam ist. Den literarischen Verein, den sie nach ihrer Pensionierung gegründet hat, gibt es auch nicht mehr. Ist keiner gekommen. War vielleicht doch zu anspruchsvoll für die einfachen Leute vom Dorf.

Ich? Nein, ich bin nicht einsam. Drei Kinder, fünf Enkel und immerhin schon zwei Urenkel! Da fühlt man sich nicht einsam. Naja, ein bisschen ruhiger ist es schon geworden, seit die Kinder in die Stadt gezogen sind und der Kalle nicht mehr ist. Aber das passiert im Alter. Deshalb freue ich mich ja auch auf den kleinen Plausch mit Fräulein Kleist am Nachmittag, obwohl das Fräulein Lehrerin immer noch ein bisschen schulmeisterlich daherredet...

Was? Es ist schon vier Uhr und noch kein Fräulein Kleist in Sicht? Stimmt doch gar nicht! Schauen Sie die Straße runter! Da kommen die beiden angewackelt! Ein lustiges Gespann. Das dünne Fräulein Kleist und ihr molliger Dackel. Und schick gemacht hat sie sich wieder, im mausgrauen Kostüm und mit Hut. Kommen Sie, Frau Journalistin, jetzt stelle ich Ihnen das Fräulein Kleist vor und danach können Sie uns interviewen.“

1.

Sie lag im Bett und wartete. Wartete darauf, dass die Digitalanzeige des Radioweckers auf acht Uhr sprang und der Tag so begann, wie er schon seit Wochen jeden Morgen begann: Mit der Zeitansage des Radiosprechers.

 „Guten Morgen, es ist acht Uhr, Montag, der neunte April. Bitte vergessen Sie Ihren Regenschirm nicht, wenn Sie heute unterwegs sind. Der April macht heute wieder seinem Namen alle Ehre, es wird wechselhaft und regnerisch bleiben. Es folgen die Kurznachrichten…“

Annabella hatte den Radiowecker ausgeschaltet. Erstaunlich leichtfüßig für ihr Alter stand sie auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging den kurzen Weg zum Bad nebenan. Zahnbürste, Zahncreme, Duschgel, Haarbürste und Körperspray standen sorgfältig aufgereiht auf der Ablage neben dem großen Wandspiegel. Annabella achtete darauf, dass alles immer in der gleichen Reihenfolge stand, und sie benutzte diese Gegenstände auch immer in der gleichen Reihenfolge. So war sie sicher, dass sie keine der morgendlichen Routinehandlungen vergaß.

„Guten Morgen! Es ist acht Uhr. Heute ist Montag, der neunte April, und ich bin Fräulein Annabella Kleist. Ich wohne in der Teichstraße Nr. 2 in Dorfbach“, begrüßte Annabella ihr Spiegelbild. Sie trat ein paar Schritte zurück, musterte sich im Spiegel und war zufrieden mit dem, was sie sah: Eine gepflegte, schlanke Siebzigjährige, die man höchstens auf fünfundsechzig schätzen würde. Annabella trat wieder näher an den Spiegel heran. Sie schaute in das vertraute Gesicht, versuchte tief in die graublauen Augen zu blicken, so, als wäre dort irgendetwas verborgen, das ihr Hinweise auf ihre Krankheit geben könnte. 

„Guten Morgen, Annabella! Schön, dass wir uns heute Morgen wieder sehen und dass du mich noch erkennst.“ Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu.

Nach der morgendlichen Routine im Bad ging Annabella zurück in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete den Kleiderschrank und nahm den Kleiderbügel „Montag“ heraus. Annabella hatte ihre Routine peinlich genau organisiert. Für jeden Wochentag gab es einen Kleiderbügel mit einem Kostüm, einer Bluse und einem Beutel mit Strümpfen und Unterwäsche. Alle gebrauchten Kleidungsstücke und die Handtücher kamen abends in den Wäschesack, der freitags von der Reinigung abgeholt und montags wieder mit sauberer Wäsche gebracht wurde. Jeden Montagnachmittag richtete Annabella dann die Kleiderbügel für Dienstag bis Montag. Jeden Samstag wurde auch der Korb mit Lebensmitteln geliefert, den Annabella beim Lebensmittelhändler des Ortes abonniert hatte. Jeden Samstagnachmittag räumte Annabella den Kühlschrank aus, warf alle Lebensmittel, die noch darin waren, weg und räumte die neuen ein. Eigentlich tat es Annabella leid, Lebensmittel wegzuwerfen, die vielleicht noch in Ordnung waren, aber sie befürchtete, sie würde anderenfalls schnell den Überblick verlieren.

Nachdem Annabella die Kleider vom Kleiderbügel „Montag“ angezogen hatte, ging sie den Flur entlang zur Küche, um sich ihr Frühstück zu machen. Noch wusste sie, wo sich Teller, Tassen, Messer befanden. Noch konnte sie die Kaffeemaschine bedienen und erinnerte sich wie viele Löffel Kaffee sie für die Maschine brauchte. Ich muss die Schränke und Schubladen beschriften und mir die Bedienung der Kaffeemaschine aufschreiben, bevor ich alles vergessen habe, überlegte sie, während sie vor dem großen Tagesplaner an der Küchenwand stand. Sorgfältig strich sie Montag, den neunten April, am Kalender an. Hinter „Bad“ machte Annabella ein Häkchen. Dann widmete sie sich dem nächsten Punkt auf ihrem Plan: Tabletteneinnahme und Frühstück.

„Gleich“, beruhigte Annabella ihren Dackel Rollo, der schon ungeduldig an seinem Futternapf scharrte. „Den Punkt auf meinem Terminplan brauche ich mir wohl nie aufzuschreiben. Du wirst mich immer an Dein Futter erinnern, nicht wahr, Rollo?“ Während der Kaffee durch die Kaffeemaschine lief, fütterte Annabella ihren Hund und entließ ihn anschließend auf den umzäunten Rasen. Die Terrassentür im Wohnzimmer blieb offen. Rollo würde wieder hereinkommen, wenn er sein Geschäft erledigt hatte. Nach dem Frühstück räumte Annabella den Tisch ab und spülte das Geschirr. Sorgfältig verstaute sie alles in den Küchenschränken. Morgen würde sie die Schildchen an die Schränke kleben. Für alle Fälle, nahm sich Annabella vor. Keiner wusste, wie schnell es gehen würde mit der Krankheit. Sie würde versuchen, sich darauf einzustellen. Würde versuchen, alles so gut es ginge zu organisieren. Und sie wollte sich auf jeden Fall diese dumme Sucherei ersparen, wenn ihr nicht mehr einfallen würde, wo sie die Teller und Tassen einräumen musste. Rollo war durch die offene Terrassentür zurück in die Küche gekommen. Er scharrte an seinem Futternapf. „Auf Deinen Futternapf werde ich wohl keinen Hinweis kleben müssen. Du wirst mich schon an dein Futter erinnern, nicht wahr Rollo?“ Annabella fütterte ihren Hund und ließ ihn anschließend auf den umzäunten Rasen. Sie wunderte sich, dass sie gestern offensichtlich vergessen hatte, die Terrassentür zu schließen. Ihr Blick blieb an ihrem Spiegelbild im Glas der Tür hängen.

„Guten Morgen. Ich bin Annabella Kleist. Ich bin siebzig Jahre alt, und ich habe die Alzheimer Krankheit“, flüsterte es in ihrem Kopf. „Und ich möchte nicht, dass es jemand bemerkt. Ich möchte ihre mitleidigen Blicke nicht. Ich habe sie unterrichtet, ich habe sie beraten, sie sind mit ihren Problemen zu mir gekommen. Sie respektieren mich, sie schätzen mein Wissen, meine Weisheit und ich möchte ihren Respekt nicht verlieren. Sie schätzen meine geistigen Fähigkeiten. Sie sollen mich nicht als eine geistig Verwirrte erleben.

Ich bin Fräulein Annabella Kleist. Bis zu meinem siebenundsechzigsten Lebensjahr war ich hier in Dorfbach Lehrerin. Und ich will nicht vergessen. Ich will mich erinnern. Ich will mich an meine ‚Kinder‘ erinnern, und ich will mich an mich selbst erinnern, und meine ‚Kinder‘ sollen sich an mich erinnern, ich will nicht vergessen werden.“ Während Rollo auf dem Rasen herumtollte, nahm Annabella eines der Fotoalben aus dem Bücherregal. Seit Wochen arbeitete sie daran. Jedes Bild beschrieb sie: Familienfotos, Ausflüge, Klassenfotos. Seit der Arzt ihre Vermutung bestätigt hatte, hob Annabella auch jeden Bildausschnitt und jeden Bericht über Ereignisse aus dem Dorf auf. Zielstrebig, organisiert, wie sie es gewohnt war, arbeitete Annabella daran, nicht zu vergessen. Sie nummerierte die Fotos und füllte Heft um Heft mir ihrer ordentlichen, sauberen Handschrift. Manchmal machte die Arbeit sie müde, dann legte sie sich kurz auf das bequeme Sofa. Früher hatte sie oft hier gesessen und gelesen. Jetzt arbeitete sie täglich an den Fotoalben. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Erinnerungen festzuhalten. Sie würde dieser Krankheit die Stirn bieten, solange es ihr möglich war und dann ….

Annabella war in die Küche gegangen und hatte sich eine Kanne Tee gekocht. Sie solle viel trinken, hatte der Arzt ihr geraten, und ihre Medikamente nehmen. Es könne die Krankheit nicht heilen, aber vielleicht den Verlauf etwas hinaus zögern.