Kalte Rache - Ein Fall für Schmalenbeck und Paulsen - Brigitte Krächan - E-Book

Kalte Rache - Ein Fall für Schmalenbeck und Paulsen E-Book

Brigitte Krächan

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Beschreibung

Wenn nichts ist, wie es scheint: Der Krimi "Kalte Rache – Ein Fall für Schmalenbeck und Paulsen" von Brigitte Krächan als eBook bei dotbooks. Mord in Hamburgs angesehener Gesellschaft: Der Geschäftsführer und Erbe der Kaffeerösterei Hansen wird ermordet aufgefunden. Schon bald stellt die Polizei fest, dass das Opfer nach seinem Tod abgeschminkt wurde – hat Ludwig Hansen ein geheimes Doppelleben geführt? Die Kommissare Schmalenbeck und Paulsen ermitteln in alle Richtungen. Eine Zeugin behauptet, in der Mordnacht einen Drogenkurier beim Haus des Opfers gesehen zu haben, doch gleichzeitig rückt auch die Familie Hansen immer mehr in den Fokus der Ermittlungen – denn nicht alle waren mit Ludwigs Geschäftspraktiken einverstanden … Mysteriöse Familiengeheimnisse, dubiose Verdächtige und dunkle Pfade in die Vergangenheit – der erste nordisch-herbe Fall für das sympathische Ermittlerduo Schmalenbeck und Paulsen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: "Kalte Rache – Ein Fall für Schmalenbeck und Paulsen" von Brigitte Krächan. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Über dieses Buch:

Mord in Hamburgs angesehener Gesellschaft: Der Geschäftsführer und Erbe der Kaffeerösterei Hansen wird ermordet aufgefunden. Schon bald stellt die Polizei fest, dass das Opfer nach seinem Tod abgeschminkt wurde – hat Ludwig Hansen ein geheimes Doppelleben geführt? Die Kommissare Schmalenbeck und Paulsen ermitteln in alle Richtungen. Eine Zeugin behauptet, in der Mordnacht einen Drogenkurier beim Haus des Opfers gesehen zu haben, doch gleichzeitig rückt auch die Familie Hansen immer mehr in den Fokus der Ermittlungen – denn nicht alle waren mit Ludwigs Geschäftspraktiken einverstanden …

Mysteriöse Familiengeheimnisse, dubiose Verdächtige und düstere Pfade in die Vergangenheit – der erste nordisch-herbe Fall für das sympathische Ermittlerduo Schmalenbeck und Paulsen.

Über die Autorin:

Brigitte Krächan, geboren 1962, studierte Soziale Arbeit in Mainz und war viele Jahre in diesem Beruf tätig. Wenn sie nicht gerade in ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, versunken ist, widmet sie sich der Fotografie sowie dem Sammeln von schönen Kinderbüchern und trashigen Horrorfilmen. Brigitte Krächan ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und lebt mit ihrem Mann im Saarland.

Die Autorin im Internet: blog.aemaets.de/

***

Originalausgabe Juli 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Birgit Förster

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Adrian Zenz

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-95824-990-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Brigitte Krächan

Kalte Rache – Ein Fall für Schmalenbeck und Paulsen

Kriminalroman

dotbooks.

Prolog

Als sie eingeschlafen waren, stand er auf. Er nahm seinen alten Schulrucksack. Er brauchte ja nicht viel: die Flasche Wodka. Er hatte sie am Nachmittag ganz hinten im Küchenschrank gefunden. Er mochte keinen Wodka. Eigentlich mochte er überhaupt keinen Alkohol, aber er hatte gelesen, damit ginge es leichter. Eine Taschenlampe. Und ein Seil. Das Seil war das Schwierigste gewesen. Es musste ein gutes, langes, festes Seil sein. Im Fahrradschuppen hatte er es gefunden und im Keller versteckt. Den Knoten kannte er noch. Als er ein Kind war, hatte der Nachbar ihm einmal gezeigt, wie man den perfekten Knoten macht. Einen Knoten, der sich von selbst zuzog. Einen Henkersknoten. Er hatte diesen Knoten immer wieder geübt. Er verstaute den Wodka, die Taschenlampe und das Seil in seinem Rucksack. Er hatte es nicht gewagt, den Rucksack schon am Nachmittag zu packen. Er konnte nicht riskieren, dass seine Mutter ihn fand. Er zog seine Jacke an, hängte sich den Rucksack über und ging los. Er kannte den Weg auch bei Nacht. Vor etwas mehr als einem Jahr war er ihn fast jeden Nachmittag gelaufen, den Weg zur Kirche. Er steckte die rechte Hand in seine Jackentasche und fühlte den Schlüssel. Er war so oft in der Kirche gewesen, dass der Organist ihm schließlich den Schlüssel zur kleinen Pforte im Westturm gegeben hatte. So konnte er kommen und die Orgel spielen, wann immer er wollte. Der Organist hatte ihm Orgelunterricht gegeben. Seiner Mutter zuliebe. ›Wenn du so fleißig weiter übst, wirst du einmal meinen Platz einnehmen oder eines Tages sogar die große Orgel im Dom spielen‹, hatte der Organist ihn ermutigt.

Auf der Brücke hielt er an und schaute hinunter auf den trägen, dunklen Fluss. Er zitterte. Dabei war es eine milde Nacht. Er nahm die Flasche Wodka aus dem Rucksack, schraubte sie auf und trank einen großen Schluck. Der Wodka brannte in seinem Hals. Er hustete, aber das Zittern hörte auf. Immer noch starrte er auf das Wasser. Er würde nie mehr die Orgel spielen. In keiner Kirche der Welt würden sie ihn noch spielen lassen. Vielleicht sollte er es jetzt, gleich hier, tun: einfach auf die andere Seite des Geländers klettern und loslassen. Aber er konnte schwimmen. Oder was wäre, wenn ihn jemand springen sehen und aus dem Fluss fischen würde? Nein! Entschlossen wandte er sich ab. Der Turm war sicherer. Niemand war jetzt in der Kirche. Er würde die kleine Pforte aufschließen. Er würde noch ein letztes Mal zur Orgel gehen. Nein, nicht spielen, aber noch einmal seine Finger auf die Tasten legen und so tun, als würde er spielen. Ein letztes Mal. Dann würde er die Treppe im Westturm hochsteigen. Der Organist würde ihn morgen finden. Vielleicht würde er ihn sogar verstehen. Und er würde es seiner Mutter schonend beibringen.

Kapitel 1

»Ich habe mir etwas Besonderes für heute Abend ausgedacht.

In Liebe K.«

Ludwig grinste, als er sich an den Wortlaut der SMS erinnerte. Es versprach, ein bemerkenswerter Abend zu werden. Auch er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. Eben war er beim Juwelier gewesen und hatte das Armband abgeholt. Ein wunderschönes Stück. Einzelanfertigung. Nicht billig. Aber wenn man etwas erreichen will, darf man hohe Investitionen nicht scheuen. Ludwig fischte die Zugangskarte aus dem Ablagefach der Mittelkonsole seines Mercedes und hielt sie vor den Sensor. Das Tor der Tiefgarage öffnete sich mit einem leisen Surren. Diese Wohnung war wirklich jeden Tausender wert: private Parkplätze in der Tiefgarage, Fahrstuhl direkt bis ins Penthouse, eine Inneneinrichtung, der man ansah, dass der Vorbesitzer etwas von Design verstand, und eine herrliche Aussicht über die Elbe auf den Hamburger Containerhafen. Auf diese Aussicht war Ludwig besonders stolz. So etwas konnte ihm die Villa in Pöseldorf nicht bieten. Und hier hatte er seine Ruhe, konnte tun und lassen, was er wollte, ohne dass die Familie sich einmischte. Nicht, dass Ludwig etwas an seiner Familie auszusetzen hatte. Er war stolz darauf, ein Mitglied der Dynastie ›Hansen‹ zu sein. Und natürlich wohnte oder besser residierte die gesamte Familie Hansen in der Villa in Pöseldorf. Aber manches sollte eben auch vor der Familie verborgen bleiben, vorerst zumindest. Nicht zuletzt deshalb hatte er diese Wohnung gekauft.

Ludwig verließ den Fahrstuhl im fünften Stock und schloss die Tür auf. Lavendelduft wehte ihm aus dem Badezimmer entgegen. Er lächelte und betrat das Wohnzimmer. Leise Musik. Das grelle Deckenlicht war ausgeschaltet. Die Wandleuchten tauchten den Raum in ein angenehmes Halbdunkel. Die beiden Kristallgläser auf dem kleinen Tisch funkelten im Schein der brennenden Kerzen. Ludwig griff nach der Weinflasche, las das Etikett und nickte anerkennend. Dann fiel ihm der Zettel auf: »Ich bin Dir schon ein Glas voraus. Im Schlafzimmer habe ich alles bereitgelegt. Trink einen Schluck und mach es Dir bequem.«

Ludwig goss sich den Wein ein und leerte das Glas in wenigen Zügen. ›Schöne Dinge soll man langsam genießen‹, ging ihm die mahnende Stimme seiner Mutter durch den Kopf. ›Das werde ich‹, antwortete Ludwig der Stimme, ›und wie ich das werde!‹ Mit der Weinflasche und den beiden Gläsern in den Händen ging Ludwig weiter zum Schlafzimmer. Es war dunkel. Durch das große Fenster fiel sein Blick auf den nächtlichen Hafen. Die Lichter draußen verschwammen. ›So ein Mist‹, Ludwig merkte, wie ihm schwindlig wurde. ›Ich hätte den Wein nicht so schnell trinken sollen, besonders nach dem Cognac von eben.‹ Vorsichtig stellte er die Flasche und die Gläser auf die kleine Konsole. Dann ließ sich Ludwig schwerfällig auf dem Bett nieder und lehnte sich nach hinten. ›Das wird schon wieder. Nur ein paar Mal tief durchatmen, bevor …‹

***

Ulli wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ziemlich warm für Oktober. Sie richtete sich auf und massierte ihren Rücken. Missmutig betrachtete sie den Haufen Herbstblätter vor sich. Eigentlich machte ihr die Gartenarbeit Spaß. Zumindest hatte sie das immer angenommen. Sie half ihr beim Nachdenken. In Berlin hatte sie den eigenen Garten vermisst. Sie war nach Tegel gefahren und durch den Tegeler Forst gewandert, wenn sie über einen schwierigen Fall nachgedacht hatte.

Als der Anwalt ihres Vaters ihr mitteilte, dass sie nun die Alleinerbin des Hofguts der Familie von Schmalenbeck in Großhansdorf sei, wusste sie zuerst nicht, ob sie sich ärgern oder freuen sollte. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Vater ihr mehr als den Pflichtteil vererben würde. Dann wurde ihr klar, dass es sein letzter Versuch war, sie in die Familientradition zurückzuholen. Er hatte tatsächlich gedacht, sie würde nach seinem Tod diesen unpassenden Beruf aufgeben. Er hatte sie nie verstanden.

Zwei Monate lang hatte sie überlegt. Schließlich hatte sie in Berlin gekündigt und war nach Hamburg in die Villa gezogen. Immerhin war es ihr Elternhaus.

Die Kollegen in Hamburg waren in Ordnung. Der alte Paulsen hatte ›die Neue‹ gleich unter seine Fittiche genommen. Hier gab es eigentlich die gleichen Typen wie beim LKA in Berlin. Die gleichen derben Scherze bezüglich des ›von Schmalenbeck‹, ein bisschen zurückhaltender vielleicht am Anfang, weil man die Familie von Schmalenbeck in Hamburg kannte und nicht so genau wusste, welche Beziehungen die Kommissarin von Schmalenbeck zum Innensenator unterhielt.

Ulli wohnte schon mehr als ein halbes Jahr in der Villa. Der Rasen musste noch ein letztes Mal gemäht werden. Ihr kam es so vor, als hätte sie in den letzten Monaten in jeder freien Minute auf dem Rasentraktor gesessen. Und die Bäume und Sträucher mussten dringend geschnitten werden. Sie würde einen Gärtner einstellen müssen. Sie hatte die Arbeit in der weitläufigen Parkanlage gewaltig unterschätzt.

Ulli wandte sich dem Haus zu.

»Komm, Rocco!«, rief sie dem alten Schäferhund zu, der in der Herbstsonne döste, »Zeit für eine Pause.«

Eigentlich war Ulli in der Villa noch gar nicht richtig angekommen. Sie hatte lange überlegt, ob sie ihr altes Zimmer beziehen sollte, sich dann aber für das Gästezimmer entschieden. Sie betrat das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Ihr Blick streifte den weißen Flügel. Die Klavierstunden. Seit sie nach Berlin gezogen war, hatte Ulli nicht mehr gespielt. Vielleicht sollte sie den Flügel verschenken.

Ulli war gerade auf dem Weg zur Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, als das Handy klingelte. Sie ging zur Kommode und schaute auf das Display: Paule. Ulli seufzte. Wenn Kommissar Paulsen sie im Urlaub anrief, dann bestimmt nicht, um sich zu erkundigen, wie sie mit der Gartenarbeit vorankam.

»Ulrike von Schmalenbeck.«

»Mensch, Ulli, ich habe schon dreimal angerufen. Wo treibst du dich denn herum?«

Ulli nahm das Handy mit in die Küche. »Ich war draußen. Bei der Gartenarbeit. Unfassbar, wie viele Blätter die Bäume im Herbst abwerfen. Wenn du auf der einen Seite fertig bist, kannst du auf der anderen wieder anfangen.«

»Na ja, nur wenn man Großgrundbesitzer ist wie du. Mit meinen fünf Quadratmetern Rasen bin ich in fünf Minuten durch. Kannst du dich immer noch nicht dazu durchringen, einen Gärtner einzustellen?«

Ulli seufzte. »Darüber habe ich eben nachgedacht. Aber hast du eine Ahnung, was das kostet?«

»Nein. Aber ich weiß, dass eine Frau von Schmalenbeck sich das locker leisten kann. Du könntest die Gartenarbeit auch von dem Hotelgärtner mit erledigen lassen.«

»… und mich dann mit dem Geschäftsführer über die Abrechnung streiten? Vielen Dank! Der meckert schon herum, wenn ich abends im Restaurant eine Kleinigkeit esse, ohne mir eine korrekte Rechnung ausstellen zu lassen. Aber wolltest du mit mir über Gartenarbeit diskutieren? Weshalb hast du eigentlich angerufen?«

Ulli hörte, wie ihr Gesprächspartner tief einatmete. Das tat Paule immer, wenn er schlechte Nachrichten hatte.

»Dein Urlaub ist beendet. Schöne Grüße vom Polizeipräsidenten. Wir haben einen Todesfall in Othmarschen. Männliche Leiche. Und der Chef wünscht ausdrücklich Frau von Schmalenbeck als Leiterin der Ermittlungen.«

Ulli schüttelte den Kopf. »Aber ich habe Urlaub. Und ihr habt genug andere Leute.«

»Das musst du mit Dr. Seidel klären. Der Tote ist Ludwig Hansen.«

»Sagt mir nichts.«

»Frag mal den Sternekoch deines Schlossrestaurants. Kaffeerösterei Hansen. Ganz edler Laden. Oberstaatsanwalt Wilkens spielt Golf mit dem alten Hansen. Darauf hat mich der Seidel ausdrücklich hingewiesen. Ludwig war der älteste Sohn von Otto Hansen. Hauptgeschäftsführer. Und es sieht so aus, als sei er heute Nacht nicht ganz freiwillig aus dem Leben geschieden.«

Ulli sah immer noch nicht ein, was das mit ihrem Urlaub zu tun haben sollte. Nur weil der Oberstaatsanwalt mit dem Vater des Opfers Golf spielte, musste sie doch nicht die Ermittlungen übernehmen. Es gab jede Menge kompetente und erfahrene Ermittler im Präsidium.

»Und warum könnt ihr das nicht übernehmen? Der Kollege Walter ist doch frei. Der hat seinen Mörder letzte Woche überführt.«

»Totschlag war das, kein Mord. Aber egal. Ich vermute, der Polizeipräsident glaubt, dass dein ›von‹ ganz nützlich sein könnte. Ermittlungen auf Augenhöhe. Alter Adel trifft Geldadel gewissermaßen. Der alte Hansen soll ziemlich schwierig sein. Du sollst dich möglichst sofort in der Elbchaussee 182 in Othmarschen einfinden. Eine Polizeistreife ist schon vor Ort und die Spurensicherung ist unterwegs. Ich fahre jetzt los.«

Paule ließ Ulli deutlich merken, dass er kein Interesse an einer weiteren Diskussion hatte.

»Alle Menschen sind gleich, nur manche sind gleicher.«

»Wie bitte?«

»Nichts, war nur so ein Gedanke. Bis nach Othmarschen brauche ich mindestens 20 Minuten. Ich denke, ich kann um halb eins da sein. Bis dann.«

»Auf geht’s, Rocco!« Ulli wandte sich dem Schäferhund zu, der sich neben ihr niedergelassen hatte. »Der Urlaub ist vorbei. Schluss mit der Gartenarbeit. Ich bringe dich zu Frau Geese. Frauchen muss einen Mörder fangen. Befehl vom Herrn Polizeipräsidenten.«

»Kommst du klar, so allein in dem riesigen Haus?«, hatte Ulli ihren Vater gefragt, als sie zur Beerdigung ihrer Mutter in Großhansdorf gewesen war. Er war alt geworden. Gebrechlich.

»Ich bin nicht allein. Ich habe eine Köchin, eine Haushälterin und einen Gärtner, der mich auch durch die Gegend fährt. Und was ich bestimmt nicht brauche, ist eine Tochter, die meint, sie müsse ihre Zeit damit vergeuden, irgendwelchem Abschaum nachzujagen.«

Damals hatte sie ihn zuletzt gesehen. Zwei Jahre später war er tot. Ein Autounfall. Der Gärtner hatte den Wagen gefahren. Auch er hatte den Unfall nicht überlebt. Für die Köchin und die Haushälterin, die alte Frau Geese, hatte ihr Vater eine großzügige Rente verfügt. Frau Geese lebte in dem kleinen Pförtnerhaus. Sie passte auf Rocco auf, wenn Ulli Dienst hatte. Aber es fiel ihr zunehmend schwerer, das Tier zu versorgen.

›Wenn ein Hausmeisterehepaar fest im Haus wohnen würde, müsste ich den Hund nicht immer zu Frau Geese bringen‹, ging es Ulli durch den Kopf, als sie sich für den Dienst umzog.

Am Wochenende würde sie ganz bestimmt ein Inserat aufgeben.

40 Minuten später bugsierte Ulli den silberfarbenen Mercedes SL in eine Parklücke an der Elbchaussee.

Ein kleines stadttaugliches Auto kaufen! Ein weiterer Punkt auf ihrer To-do-Liste, die sie im Urlaub abarbeiten wollte. Sie hatte den Mercedes von ihrem Vater geerbt, benutzte ihn aber kaum.

Kommissar Paulsen erwartete Ulli am Eingang des Anwesens Nr. 182. Die Polizeistreife hatte den Zugang zum Haus und zur Tiefgarage gesperrt. Die beiden Kommissare schlüpften unter dem Absperrband durch. Ulli warf einen Blick auf die Klingelschilder des fünfstöckigen Gebäudes. Es war in erster Linie ein Geschäftshaus. Verschiedene IT-Firmen und eine Versicherungsgesellschaft. Die Penthouse-Wohnung von Ludwig Hansen schien der einzige privat genutzte Teil zu sein. Die Eingangstür stand offen. Routiniert griffen Ulli und Paule nach der Schutzkleidung und streiften sie über.

»Fünfter Stock! Und die SpuSi ist im Fahrstuhl beschäftigt«, stöhnte Paule, als sie sich der Treppe zuwandten. Während des Aufstieges schwieg Ulli aus Rücksicht auf ihren älteren Kollegen. Paule stand kurz vor der Pensionierung und hatte sich in den letzten Jahren erfolgreich vor allen Fitnessangeboten der Polizei Hamburg gedrückt. Das Bier und die tägliche Currywurst auf dem Kiez hatten dazu beigetragen, dass Paule mehr als nur ein paar zusätzliche Pfunde in den fünften Stock schleppen musste. ›Berufskrankheit‹, pflegte er zu sagen und zeigte auf seinen Bauch. ›Da sitzt der ganze Frust der letzten 20 Jahre. Ein Pfund für jeden Gauner, den ich gefangen habe und den die Richter wieder laufen ließen.‹

Im fünften Stock erwartete die beiden der Polizist, der die Meldung des Notrufes von der Zentrale entgegengenommen hatte.

»Männliche Leiche im Schlafzimmer. Bei dem Toten handelt es sich um Ludwig Hansen. Der Bruder des Toten hat die Leiche gefunden, über den Notruf die Polizei verständigt und gesagt, sein Bruder wäre ermordet worden. Das war«, der Polizist warf einen kurzen Blick in sein Notizbuch, »genau um 10:55 Uhr. Um 11:10 Uhr waren wir vor Ort. Der Bruder sagt aus, er habe die Leiche nicht angefasst. Er habe auch sonst nichts angefasst, sondern gleich die Polizei gerufen.«

»Todesursache?«, fragte Paule, der langsam wieder zu Atem kam.

Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Dazu kann ich nichts sagen. Ist ein bisschen eigenartig. Das schaut ihr euch am besten selbst an. Der Kollege von der Rechtsmedizin ist gerade dabei, die Leiche zu untersuchen.« Mit diesen Worten trat der Polizist beiseite und gab den Weg in die Wohnung frei.

»So wohnt also der Geldadel«, flüsterte Ulli Paule zu, »nicht schlecht. Schicke Wohnung. Und tadellos aufgeräumt. Scheint keinen Kampf gegeben zu haben, zumindest nicht im Wohnzimmer.«

»Und auf den ersten Blick auch keine Einbruchspuren«, ergänzte Paule.

Im Schlafzimmer trafen die beiden auf ihre Kollegen Oskar Klimm und Jana Nielsen.

Jana machte Fotos von der Leiche.

Ulli wartete, bis Jana fertig war. Dann trat sie näher. Ludwig Hansen lag lang ausgestreckt auf dem Rücken auf seinem Bett. Er war nur mit einer Pyjamahose bekleidet.

»Der Mann war bis zur Brust zugedeckt. Wir haben die Decke weggenommen, um die Leiche zu fotografieren«, informierte Oskar Klimm die Kommissarin.

»Na, so etwas!« Paule stand jetzt ebenfalls neben der Leiche und deutete auf die Handschellen, mit denen die Hände des Toten an das Oberteil des Metallbettes gefesselt waren. »Das sieht doch eher nach einem häuslichen Unfall aus! Da hat wohl jemand …«

Ulli fiel Paule ins Wort. Dessen derbe Art kam bei den jüngeren Kollegen nicht immer gut an. »Habt ihr schon etwas herausgefunden? Vielleicht eine Todesursache oder einen Todeszeitpunkt?«

Jana packte die Kamera ein. »Todeszeitpunkt … grobe Schätzung: gestern Abend. Auf keinen Fall nach 24 Uhr. Bei der Todesursache wird es heikel. Könnte tatsächlich ein Unfall gewesen sein, aber das da«, sie deutete auf die deutlichen Würgemale am Hals, »könnte auch Absicht gewesen sein.«

Oskar Klimm deckte den Toten wieder zu. »Wir lassen die Leiche gleich abholen und in die Rechtsmedizin bringen. Morgen wissen wir mehr.«

Während Ulli sich im Schlafzimmer umsah, ging Paule ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Mit einem routinierten Griff hob er den Deckel des Spülkastens ab und zog einen prall gefüllten Briefumschlag hervor. »Dachte ich es mir doch, Typen wie du haben immer irgendwo eine heimliche Reserve«, murmelte Paule. Ein lila Geldschein wanderte in seine Hosentasche. »Schmiergeld, mein Junge«, flüsterte er dem Geist von Ludwig Hansen zu. »Für die Jungs auf dem Kiez. Du willst doch auch, dass wir deinen Mörder finden.« Paule legte den Briefumschlag zurück. Er brauchte das Geld nicht zu zählen. Gleich würden es die Leute von der Spurensicherung sicherstellen. Morgen früh konnte er die Summe in ihrem Bericht nachlesen.

Als Paule das Badezimmer verließ, war Ulli gerade zu dem Polizisten an der Tür gegangen.

»Weißt du sicher, dass der Bruder einen Mord gemeldet hat? Ich frage mich, wie er auf Mord kommt. Auf den ersten Blick sieht es doch eher wie ein Unfall aus. Habt ihr den Bruder zur Aussage ins Polizeipräsidium gebracht?«

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Uns gegenüber war immer von Mord die Rede. Und der Bruder ist gegangen. Hat mich auch gewundert. Aber Dr. Seidel persönlich hat veranlasst, dass wir den Bruder nach Hause fahren lassen.«

Ulli war wütend. »Was bildet sich der Seidel …«

Ehe Ulli den Satz beenden konnte, fasste Paule sie um die Schultern und schob sie sanft, aber entschieden ins Treppenhaus.

»Komm, Ulli, wir lassen die Kollegen von der Spurensicherung hier ihre Arbeit machen. Wir fahren ins Präsidium. Erste Lagebesprechung. Los jetzt! Ich fahre mit dir im Mercedes. Den Polo kann jemand von der Spurensicherung zurückbringen.«

Die 25 Minuten von der Elbchaussee ins Polizeipräsidium nutzte Ulli, um sich Luft zu machen. Erst holte Dr. Seidel sie aus dem Urlaub zurück. Und zwar nicht etwa, weil er sie für besonders fähig hielt, sondern einzig, weil er meinte, dass ihr Name in der reichen Hamburger Gesellschaft mehr Eindruck machen würde. Und dann mischte er sich in ihre Ermittlungsarbeit ein und erlaubte dem Hauptzeugen, nach Hause zu fahren. Warum übernahm er nicht gleich die Leitung des Falls? Er konnte sie sich mit dem feinen Herrn Oberstaatsanwalt Wilkens teilen, während sie sich mit der Familie des Toten auf eine Partie Golf trafen. Nein, für so einen Mist hatte sie wirklich nicht studiert! Das musste sie sich nicht bieten lassen!

Paule ließ sie reden. Ein paarmal hielt er den Atem an, wenn Ulli gerade noch so über eine dunkelgelbe Ampel fuhr. Als sie auf den Parkplatz des Präsidiums einbogen, hatte Ulli sich wieder beruhigt.

Sie betraten das Foyer und Gerlinde Meyer winkte ihnen freundlich zu. »Ulli, du sollst umgehend zum Büro des Polizeipräsidenten kommen!«

»Ruhig Blut.«

Ulli spürte Paules Hand auf ihrem Unterarm. Sie widerstand dem Impuls, sie einfach abzuschütteln. Er hatte ja recht.

Ulli atmete tief durch und klopfte an die Bürotür.

»Herein!« Der Polizeipräsident Dr. Seidel saß an seinem Schreibtisch mit dem Rücken zum Fenster, den Blick der Tür zugewandt. »Frau von Schmalenbeck! Bitte treten Sie näher und setzen Sie sich.«

Eigentlich hätte Ulli diese Unterhaltung lieber im Stehen geführt, aber sie sah ein, dass es kindisch wäre, das Gespräch mit einer solchen Provokation zu beginnen. Sie zog einen Stuhl vor Seidels Schreibtisch. Das Büro unterschied sich auf geradezu unanständige Weise von den Büros der anderen Polizeiangestellten. Kein Papierkram auf dem Schreibtisch. Keine vor sich hin blubbernde Kaffeemaschine auf der Kommode. Es herrschte eine unterkühlte Ordnung. Statt Fahndungsfotos hingen Auszeichnungen und Ernennungsschreiben des Doktors an der Wand. »Ehrenmitgliedschaft des Wentorf-Reinbeker Golf-Clubs«, las Ulli. Das war neu. Darauf war der ehrenwerte Dr. Seidel bestimmt besonders stolz. Sie beugte sich nach vorn, um einen Blick auf die beiden gerahmten Fotografien auf dem Schreibtisch zu werfen. Vergeblich. Aber eigentlich war ihr die Familie des Doktors auch egal. Dr. Seidel würde nie zu ihren Freunden gehören, das wusste Ulli schon, wenige Tage nachdem sie im LKA Hamburg angefangen hatte.

Der Polizeipräsident lehnte sich nach vorn und schaute Ulli auffordernd an. «Sie kommen gerade aus der Wohnung des Opfers. Was haben wir?«

Sie war schon aus so vielen Wohnungen so vieler Opfer gekommen. Bisher hatte ihn das noch nie interessiert.

Ulli riss sich zusammen. »Anscheinend handelt es sich tatsächlich um die Leiche von Ludwig Hansen. Zumindest hat das der Bruder gegenüber der Polizeistreife ausgesagt. Ich selbst konnte den Bruder nicht mehr vernehmen, da er nicht mehr am Tatort anwesend war. Jemand hatte ihm erlaubt, nach Hause zu gehen. Anscheinend gelten in diesem besonderen Fall Ermittlungsregeln, die mir bisher nicht bekannt waren.«

Ulli sah den Polizeipräsidenten herausfordernd an, er ging jedoch nicht auf ihre Provokation ein.

»Wir beide wissen, warum ich Sie mit diesem Fall beauftragt habe.«

›Noch so eine Sache, die ich einmal grundsätzlich diskutieren möchte‹, dachte Ulli. Sie hätte den Doktor gerne gefragt, ob er der Meinung war, dass es der angesehenen Familie Hansen nicht zuzumuten sei, von einem einfachen Kommissar befragt zu werden. Aber Ulli hatte Paule versprochen, ruhig Blut zu bewahren. Also hielt sie sich zurück.

Als Ulli auf seine Andeutung nicht einging, fuhr der Polizeipräsident fort: »Welche Ermittlungsergebnisse haben Sie bisher?«

»Der Todeszeitpunkt ist vermutlich gestern Abend. Die Todesursache muss in der Rechtsmedizin abschließend untersucht werden. Die Leiche war mit Handschellen an das Bett gefesselt. Würgemale weisen auf einen Erstickungstod hin. Vielleicht eine SM-Geschichte, die aus dem Ruder gelaufen ist. Wir versuchen herauszufinden, wer Ludwig Hansen gestern Abend besucht hat.«

Ulli merkte, wie unangenehm Dr. Seidel diese Informationen waren. ›SM kommt in seiner vornehmen Welt wohl nicht vor‹, dachte sie.

Dr. Seidel räusperte sich. »Nun, dann hoffen wir, dass es nur ein bedauernswerter Unfall war und wir den Fall schnell zu Ende bringen. Von Ihren Beobachtungen und Vermutungen darf nichts an die Presse gelangen. Otto Hansen ist einer der angesehensten Geschäftsleute Hamburgs. Die Kaffeerösterei Hansen gibt es schon seit fast 100 Jahren, immer in Familienbesitz. Ich möchte nicht, dass Sie die Familie unnötig belästigen. Und ich erwarte, dass Sie äußerst gewissenhaft und umsichtig ermitteln.«

Ulli wurde heiß. Sie funkelte den Polizeipräsidenten wütend an. »Wir ermitteln immer äußerst gewissenhaft und umsichtig oder hatten Sie bisher einen anderen Eindruck von unserer Arbeit? Es wäre nur sinnvoll, wenn wir unsere Ermittlungsarbeit auch ungestört machen könnten und niemand unsere Zeugen einfach nach Hause schicken würde, bevor wir sie vernommen haben.«

Der Polizeipräsident erwiderte kühl: »Ob Ihnen das gefällt oder nicht: In diesem Fall erwarte ich von Ihnen eine ganz besondere, der prekären Situation angemessene Sorgfalt. Keine Kommentare an die Presse. Die Pressearbeit übernehme ich persönlich. Und wenn Sie die Mitglieder der Familie Hansen befragen, halten Sie sich immer vor Augen, dass diese Familie gute Kontakte zur Oberstaatsanwaltschaft und zum Innensenator hat. Und ...«, der Polizeipräsident zögerte und fuhr dann fort, »... und bedenken Sie: Mit den Steuern, die diese Familie zahlt, wird auch Ihr Gehalt finanziert. Auch wenn das für eine Frau von Schmalenbeck eher von geringer Bedeutung ist, Ihre Kollegen müssen davon leben. Sie stehen für die gesamte Polizei, blamieren Sie uns nicht!«

Das war zu viel! Das konnte Ulli nicht auf sich sitzen lassen! Wütend sprang sie auf. »Denken Sie einmal darüber nach, wer hier die gewissenhafte Arbeit der Polizei untergräbt! Anscheinend gibt es in Ihrem Verständnis von Polizeiarbeit Opfer erster und zweiter Klasse! Was hat die Tatsache, dass ein Herr Hansen gute Kontakte zum Innensenator besitzt, mit der Aufklärung dieses Falles zu tun? Und jetzt entschuldigen Sie mich«, Ulli wandte sich zur Tür, »ich werde mich jetzt mit meinen Kollegen besprechen und meine Arbeit machen, gewissenhaft und umsichtig wie bei jedem anderen Verbrechen auch.«

Noch bevor Dr. Seidel etwas erwidern konnte, hatte Ulli das Büro verlassen und die Tür hinter sich zugeworfen.

Anders als in ihrer Dienststelle in Berlin hatte im Präsidium Hamburg fast jeder ermittelnde Beamte sein eigenes Büro. Ulli fand das gut. So konnte sie die Tür schließen, wenn sie allein arbeiten wollte. Aber meistens stand ihre Tür offen. Die hektische Betriebsamkeit auf dem Flur, das Läuten der Telefone, das leise Brummen des zentralen Kopierers, die Gesprächsfetzen, die vom Treffpunkt beim Kaffeeautomaten herüberwehten, dies alles gab Ulli das Gefühl, Teil einer großen, geschäftigen Familie zu sein.

Ihr Büro lag direkt neben dem von Paule. Sie hatte es von ihrem Vorgänger übernommen und fast alles so gelassen, wie es war. Nur einen großen Stadtplan hatte sie neben das Whiteboard gehängt und den Schreibtisch vor das Fenster geschoben. Wenn sie nachdachte, schaute sie gerne aus dem Fenster, auf die jungen Bäume und die gegenüberliegenden Büros.

Ihr Schreibtisch war aufgeräumt. Keine Akten, keine Notizzettel, keine Mitteilungen aus den anderen Abteilungen. Ein ungewohnter Anblick. ›Seltsam‹, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass sie ja eigentlich im Urlaub war. Den Gedanken an Dr. Seidel schob sie sofort wieder beiseite.

»Wo fangen wir an?« Ulli wandte sich Paule zu, der ihr ins Büro gefolgt war und sich in den alten Bürostuhl vor ihrem Schreibtisch zwängte. Der Stuhl ächzte unter Paules Gewicht, und die Rückenlehne wippte gefährlich weit nach hinten, als Paule versuchte, eine bequeme Sitzposition zu finden.

»Das Präsidium könnte uns endlich neue Stühle spendieren!«, nörgelte Paule.

Ulli ignorierte Paules Bemerkung. »Starten wir das ganze Programm? Obwohl wir nicht einmal wissen, ob es Mord war?«

»Diese Stühle sind einfach nicht zum Sitzen gemacht.« Paule stand wieder auf und setzte sich auf die Kante von Ullis Schreibtisch. »Warum nicht? Fahrlässige Tötung oder unterlassene Hilfeleistung war es auf jeden Fall. Einer oder eine muss dabei gewesen sein, als er starb. Ich glaube nicht, dass Ludwig Hansen sich nach seinem Rendezvous selbst ans Bett gefesselt hat und dann friedlich im Schlaf gestorben ist. Und ein weiterer Notruf ist aus der Wohnung gestern Abend nicht eingegangen, das habe ich schon überprüft.«

Ulli nickte. »Dann also das übliche Vorgehen. Versuchen wir herauszufinden, wer Ludwig Hansen gestern Abend besucht hat. Vielleicht weiß der Bruder mehr. Ich frage mich immer noch, warum er einen Mord gemeldet hat. Und ich kann es immer noch nicht fassen, dass der Seidel ihn einfach nach Hause gehen ließ. Aber egal«. Ulli stand auf. »Lass uns erst einmal zu dem Bruder fahren. Der wird wohl zu Hause sein, dann können wir auch gleich mit den Eltern reden. Hast du die Adresse?«

Paule kramte umständlich in seiner Jackentasche und fischte ein abgegriffenes Notizbuch heraus. »Die Familie hat eine Villa in der Badestraße in Pöseldorf direkt an der Außenalster. Und der Laden liegt in der Hafencity, am Sandtorkai.«

»Gut. Dann zuerst nach Pöseldorf. Ich sage Emma Bescheid, sie soll uns einen Wagen organisieren. Kai oder Dirk, wer gerade Zeit hat, soll im Internet gucken, was es da über die Kaffeerösterei gibt. Meinst du, Walter kann zur Elbchaussee fahren und die Nachbarn von Ludwig Hansen befragen? Er könnte sich auch bei den Firmen im Haus umhören. Wir klären das unterwegs. Aber zuerst lade ich dich zu einer Currywurst ein. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen.«

Ulli kannte Pöseldorf gut. Es lag ganz in der Nähe des alten Grindelviertels. Dort hatte sie vor vielen Jahren für ein Schulreferat über die Juden in Hamburg recherchiert. Dann hatte ihr Vater durch einen Bekannten im Rotarier Club davon erfahren und sie wütend zurückgepfiffen.

Sie bog in die Badestraße ein und hielt Ausschau nach der Hausnummer.

»Wusstest du eigentlich, dass hier vor der ›Arisierung‹ überwiegend Juden wohnten? Man nannte das Grindelviertel damals auch Klein-Jerusalem, bis die Nazis alle Juden enteigneten.«

»… und bestimmt gehörte die Familie Hansen zu den ganz Bösen, die damals eine Villa übernommen haben, für wenig Geld dank guter Beziehungen«, ergänzte Paule grantig, »aber das macht doch die Hansens heute nicht zu schlechten Menschen. Meine Oma hatte mitten im Krieg einen Pelzmantel, auf den sie richtig stolz war. Uns Kindern hat sie erzählt, dass sie ihn 1943 auf einer Volksauktion im Hamburger Hafen ersteigert hatte. Tonnenweise wurde damals ›Judengut‹ versteigert. Ludwig Hansen war 49 Jahre, als er starb. Er war damals noch nicht einmal geboren. Und mit unserem Fall hat das absolut nichts zu tun. Woher willst du wissen, ob deine Familie nicht auch von der Enteignung der Juden profitiert hat? Da!« Paule zeigte auf ein imposantes dreistöckiges Gebäude der Jahrhundertwende. »Da vorn muss es sein.«

Ulli parkte den Wagen an Straßenrand und wandte sich zu Paule. »Hat sie. Beste Gelegenheit, Grundbesitz und Kunst zu erwerben.«

»Und? Hast du schon alles zurückgegeben?«

»Nein«, entgegnete Ulli ernst, »aber ich bin dabei. Auf meine Weise.«

Paule schüttelte ungeduldig den Kopf, atmete tief ein, wandte sich um und stieg aus.

Ulli blieb sitzen. Sie konnte Paules Reaktion verstehen. Das verwöhnte, reiche Mädchen, dem es nie an irgendetwas gefehlt hatte, das nie echte Schwierigkeiten hatte und sich deshalb aus Langeweile in Probleme einmischte, die es eigentlich gar nichts angingen. Es kam selten vor, dass Paule die Geduld mit ihr verlor. Sie hatte es in letzter Zeit mit ihren Launen übertrieben. Sie war 42. Es wurde höchste Zeit, dass sie sich in den Griff bekam. In Berlin hatte sie angenommen, sie hätte das alles hinter sich gelassen, aber der Tod ihres Vaters und die Heimkehr nach Hamburg hatten ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte.

Sie dachte an das Referat.

Damals war sie froh, dass ihr Politiklehrer die Teams für die Referate ausgelost hatte. So blieb ihr die peinliche Fragerei erspart, wer mit ihr ein Referat machen wolle. Das Los bestimmte ihr Jürgen zum Partner. Es hätte schlimmer kommen können. Jürgen hatte sie wenigstens nicht mit dem ›Von Schmalenbeck, unser Adelsfräulein‹ aufgezogen. Er hatte sie in Ruhe gelassen. Obwohl er erst 16 war, benahm er sich viel vernünftiger und erwachsener als die anderen. Ulli mochte ihn. Sie kamen gut voran mit ihrem Referat. Sie sollten über die Judenverfolgung während des Dritten Reiches in Hamburg schreiben. Sie recherchierten gemeinsam, besuchten die Synagoge und die jüdischen Friedhöfe und interviewten einige Besitzer der alten Jugendstilvillen im ehemaligen Grindelviertel. Ulli und Jürgen fragten sie, ob sie eigentlich wussten, wer früher dort gelebt hatte. Von einem wurden sie ziemlich deutlich abgewiesen. ›Was fällt dir ein, Herrn von Trotten als Kriegsgewinnler hinzustellen!‹ Ihr Vater stand wenige Tage später in ihrem Zimmer.

Ulli war so erschrocken, dass sie ihren Tee über dem Referat verschüttete. Hastig versuchte sie, die Flüssigkeit mit ein paar Papiertaschentüchern aufzuwischen. Ihre Hände zitterten. Er hätte anklopfen können. ›Also! Ich warte!‹ Schwer atmend und mit rotem Gesicht stand ihr Vater vor dem Schreibtisch. ›Antworte!‹

Langsam sah Ulli zu ihm auf. Sie hatte die Hände auf den Schreibtisch gelegt. Er sollte das Zittern nicht bemerken. Gelassen bleiben! Ihm in die Augen schauen! Unbeeindruckt erscheinen von seinen Wutanfällen. Keine Gefühle und schon ja keine Angst zeigen! Das würde er rücksichtslos ausnutzen. ›Ich kenne keinen Herrn von Trotten‹, entgegnete sie und schaute ihm in die Augen. ›Lüg mich nicht an!‹

Ulli sah, wie die Adern an seinem Hals anschwollen. Sie fragte sich, wie lange er diese Wutanfälle noch überleben würde. ›Du kennst ihn gut genug, um ihn in seinem eigenen Haus zu belästigen!‹

Ulli war klar, dass sich ihr Vater auf den Vorfall vor der Villa im Grindelviertel bezog. ›Herr von Trotten hat mich gerade angerufen. Er beschwerte sich über meine ungezogene Tochter. Er fragte, ob ich es versäumt hätte, meiner Tochter Höflichkeit und Anstand beizubringen. Glückwunsch! Es ist dir wieder einmal gelungen, deinen Vater vor seinen Freunden bloßzustellen!‹

›Wann hat er eigentlich das letzte Mal meinen Namen genannt?‹, ging es Ulli durch den Kopf. ›Ob er sich noch daran erinnert, wie ich heiße?‹

›Ich wusste nicht, dass dieser Mann mit dir befreundet ist.‹ Ulli sah ihrem Vater immer noch in die Augen. Ein Verhalten, das er von jedem einforderte – ›Menschen, die mir nicht in die Augen sehen können, sind Schwächlinge! Ich mag keine Schwächlinge!‹ – und gleichzeitig hasste, wenn es wirklich jemand wagte, ihm in die Augen zu sehen und ihm dabei zu widersprechen. Sie merkte, wie sehr es ihren Vater aufregte, dass seine Wut kein Gegenüber fand. Niemand, der lauthals mit ihm stritt, aber auch niemand, der sich vor ihm duckte. Ulli würde ihm diesen Gefallen nicht tun. Sie war keine der ›streitbaren Mächtigen von Schmalenbeck‹, die sich von niemandem etwas gefallen ließen, aber sie war auch nicht wie ihre Mutter, die man mit ›deutlichen Worten und Gesten führen‹ musste.

Ihr Vater stand immer noch vor ihr. Sein Atem ging schwer. Er versuchte gar nicht, seine Wut zu beherrschen. Mit einer einzigen Handbewegung fegte er die Teetasse, die Blätter, Bücher und Stifte von ihrem Schreibtisch. »Auf jeden Fall wirst du dieses Referat nicht halten! Ich verbiete es dir!«

Ulli schaute ihm nicht nach, als er sich umwandte, aus ihrem Zimmer schritt und die Tür offen ließ. Ihr war kalt.

»Kommst du?« Paule klopfte an das Fahrerfenster.

›Auf! Stell dich nicht so an!‹, schalt sie sich. ›Du hast doch erreicht, was du wolltest! Jetzt mach was draus!‹

Als Ulli bei der Villa ankam, trat Paule bereits auf die hohe, weiße Eingangstür zu. Widerwillig musste sie zugeben, dass der Familie Hansen die Restaurierung dieser stattlichen Villa mit ihren Erkern und kleinen Balkonen außerordentlich gut gelungen war. Der Architekt hatte den ursprünglichen Charakter des Hauses nicht verändert. Herr Hansen selbst öffnete die Tür und führte sie durch den hellen Empfangssaal in die Bibliothek im hinteren Teil des Gebäudes. Es roch nach Bohnerwachs. Der herb-würzige Geruch erinnerte Ulli an ihre Kindheit. Sie bewunderte die Pflanzenornamente der Stuckdecke und strich im Vorbeigehen über die filigranen Intarsien des Flügels.

Der Hausherr bat sie zu einer Sitzgruppe im Wintergarten. Vorsichtig setzte sich Paule auf einen der geschwungenen Stühle. Ulli blieb noch einen Moment stehen, um den Ausblick durch die hohen Rundfenster auf die riesigen Rhododendronbüsche der gepflegten Gartenanlage zu genießen. Dann wandte sie sich Otto Hansen zu.

»Herr Hansen, wir möchten Ihnen zunächst unser aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Sohnes ausdrücken.«

Mit einer ungehaltenen Geste wischte Otto Hansen die Floskel beiseite. »Ja, danke.« Er bedeutete Ulli, sich zu setzen, während er selbst stehen blieb. »Frau von Schmalenbeck persönlich wird die Ermittlungen übernehmen. Das hat Herr Dr. Seidel gesagt, als ich ihn eben anrief.«

Ulli spürte, dass Otto Hansen sie von oben herab musterte. Sie stand wieder auf.

»Sind Sie nicht ein bisschen jung für eine Hauptkommissarin? Andererseits: die Tochter vom alten Schmalenbeck. Ich wusste gar nicht, dass der eine Tochter hatte. Der Alte von Schmalenbeck! Was der sich vornahm, das brachte er auch zu Ende.« Otto Hansen ging zum Rauchtisch in der Bibliothek und füllte drei Sherrygläser. Er wandte sich zu Ulli um. »Glauben Sie, dass Sie das von Ihrem Vater geerbt haben?«, fragte er und bot den beiden Kommissaren die Getränke an.

Während Paule beherzt zugriff, ignorierte Ulli das Angebot.

Otto Hansen zuckte mit den Schultern und stellte das Glas zurück auf den Tisch. Er nippte an seinem Sherry und sagte: »Dann berichten Sie mir mal, was Sie bisher über den Mörder meines Sohnes herausgefunden haben.«

Paule räusperte sich und schaute zu dem alten Herrn Hansen hoch. »Derzeit sind wir noch dabei, herauszufinden, in welcher Beziehung Ihr Sohn zu dem Mörder stand.«

Otto Hansen zog die Augenbrauen hoch. »Mein Sohn steht in keinerlei Beziehung zu Mördern. Wir gehen doch wohl davon aus, dass es sich um einen Raubüberfall handelt.«

»Ihr Sohn hatte an diesem Abend in seiner Wohnung in Othmarschen Besuch. Privaten Besuch«, warf Ulli ein. »Wissen Sie vielleicht, wer das gewesen sein könnte? Lebte Ihr Sohn in einer festen Beziehung? Hatte er eine Freundin? Wohnte noch jemand in der Wohnung?«

»Mein Sohn wohnte hier im Haus. Die Wohnung in Othmarschen hat er erst vor zwei Monaten gekauft. Wen er dort empfing, pflegte er uns nicht zu erzählen. Wahrscheinlich war er die Hotelzimmer leid. Ludwig hatte sich bezüglich einer zukünftigen Frau Hansen noch nicht festgelegt. Und es war selbstverständlich, dass er seine Bekanntschaften nicht hierher in die Villa einlud.«

»Also fassen wir zusammen«, sagte Paule gelassen, »Ihr Sohn hatte gerade keine feste Beziehung, und Sie haben keine Ahnung, mit wem er zusammen war. Was wissen Sie denn noch so über Ihren Sohn? Und vielleicht können Sie uns bei der Gelegenheit auch mitteilen, wo sich Ihr anderer Sohn gegenwärtig aufhält.«

Otto Hansens Gesichtszüge versteinerten. Er wandte sich Ulli zu. »Andreas ist im Geschäft. Schließlich haben wir ein Unternehmen zu leiten, das durch den Tod meines Sohnes einen herben Verlust erlitten hat. Und nun, Frau von Schmalenbeck, frage ich Sie: Muss ich mir diese Behandlung gefallen lassen? Dieser Polizist lümmelt auf meinem Henry-van-de-Velde-Sessel herum, trinkt meinen 50 Jahre alten Sherry als wäre es Alsterwasser und verhört mich wie einen kleinen Gauner vom Kiez! Ich habe erwartet, dass Sie mir von den Fortschritten Ihrer Ermittlungen berichten würden. Nun«, Otto Hansen wandte sich entschlossen der Tür zu, »da Sie bisher offensichtlich keine Fortschritte gemacht haben, werde ich dieses Gespräch jetzt beenden. Ich denke, Sie finden allein hinaus. Kommen Sie wieder, wenn Sie mir den Mörder präsentieren können!« Ohne eine Entgegnung abzuwarten, verließ Otto Hansen den Raum.

»Erster Rausschmiss im Fall Hansen«, sagte Paule grinsend, als sie zum Auto gingen. »Aber der Sherry war gut. Da müssen wir unbedingt wieder hin.«

»Ich glaube nicht, dass der alte Hansen dir noch einmal ein Glas Sherry anbieten wird. Auf zur Hafencity. Wir müssen endlich mit Andreas Hansen reden.«

Ulli hatte die Penthouse-Wohnung in Othmarschen und die Villa in Pöseldorf gesehen. Sie glaubte zu wissen, welche Architektur sie in der Hafencity erwarten würde.

Tatsächlich hielt Paule 15 Minuten später vor einem der typischen modernen Neubauten der Hafencity. Die verspiegelte Glasfassade wurde nur von dem goldenen Schriftzug »Kaffeerösterei Hansen – Qualität seit 1925« über den beiden hohen Eingangstüren unterbrochen. Wie durch Zauberhand schwangen die Türen nach innen, als Ulli und Paule das Gebäude betraten. Ulli fühlte sich an die Empfangshalle eines futuristischen Hotels erinnert. Sie hatte den Geruch nach frisch geröstetem Kaffee erwartet und einen Loungebereich, in dem verschiedene Sorten Kaffee verköstigt wurden. Aber nur die großformatigen Fotografien an der glatten grauen Wand hinter dem Empfang erinnerten daran, dass das Unternehmen seit fast 100 Jahren mit Kaffee Geschäfte machte. Die kunstvollen Fotos zeigten Kaffee in den verschiedensten Verarbeitungsstadien und entstammten vermutlich einer professionellen Imagekampagne.

Ulli und Paule stellten sich vor und wurden zum Büro von Andreas Hansen geführt.

Andreas Hansen begrüßte sie mit einem freundlichen Handschlag. Er hatte nichts mit seinem arroganten Vater gemeinsam. Ludwigs jüngerer Bruder machte den Eindruck eines bescheidenen, kompetenten Buchhalters. Seine Kleidung wirkte teuer, aber nicht ausgefallen oder besonders elegant. In einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd und dunkelgrauer Krawatte stand er unschlüssig hinter seinem Schreibtisch und ordnete nervös einige Stifte.

Paule hatte sich mit einem wohligen Seufzer in einem der riesigen Klubsessel niedergelassen. Ulli schaute sich neugierig im Büro um. Nach ihrem Treffen mit Otto Hansen hatte sie etwas anderes erwartet. Dies war der Arbeitsplatz eines konzentriert arbeitenden Angestellten. Außer dem komfortablen Schreibtischsessel und der Besucherecke mit den schweren Ledersesseln deutete nichts darauf hin, dass Andreas Hansen der Mitinhaber der angesehenen Kaffeerösterei Hansen war. Auf dem Schreibtisch standen mehrere Ablagekörbe. Allesamt sorgfältig beschriftet. Halbhohe Aktenschränke entlang der Wände. Darüber, neben einem Jahresplaner, Schaubilder zu Handelsstatistiken. Mittendrin das Porträt eines strengen, ernsten Mannes.

»Mein Großvater, Konrad Hansen.« Andreas Hansen war zu Ulli getreten. »Er hat die Kaffeerösterei Hansen 1925 gegründet. Ludwig hat immer gesagt, ich solle das Bild umhängen. Das Porträt des Firmengründers brauche einen Ehrenplatz über dem Schreibtisch. Aber ich mag es nicht, wenn mir der Opa beim Arbeiten über die Schultern guckt.«

Ulli kramte ein Diktiergerät aus ihrer Schultertasche und stellte es auf den Schreibtisch.

»Herr Hansen, wir sind gekommen, um Sie zu heute Morgen zu befragen. Wenn es Sie nicht stört, werde ich unser Gespräch aufnehmen. Dann können wir uns eine weitere Befragung im Präsidium sparen.«

»Ja, klar. Nein, das stört mich nicht.« Andreas Hansen setzte sich hinter den Schreibtisch, räumte einen Stapel Unterlagen zur Seite und fixierte das schwarze Gerät.

»Was wollen Sie wissen?«, fragte er, ohne seinen Blick von dem kleinen Kasten abzuwenden.

»Erzählen Sie einfach, was Sie heute Morgen getan haben. Am besten von Anfang an.«

»Also«, unbewusst legte sich Andreas Hansen ein Blatt Papier und einen Stift bereit. »Ich habe kurz vor 7 Uhr das Haus verlassen. Also die Villa. Wir wohnen da alle gemeinsam. Aber das wissen Sie bestimmt schon. Dann bin ich ins Büro gefahren und habe gearbeitet. Ich mache das öfter. Vor den Bürozeiten ist es ruhig, dann kann ich ungestört arbeiten. Unser Empfang ist ab 9 Uhr besetzt. Meine Sekretärin kommt um 10 Uhr. Ludwig ist normalerweise auch so gegen 10 Uhr im Büro. Ich brauchte ein paar Unterschriften von ihm. Ich bat meine Sekretärin, ihm die Akten zu bringen. Ludwigs Büro liegt ein Stockwerk höher, genau über meinem. Es ist größer, repräsentativer. Er empfängt dort auch Geschäftskunden.« Andreas Hansen schaute zum Fenster. »Es hat eine schöne Aussicht. Bodentiefe Fenster. Aussicht auf den Sandtorhafen und den Sandtorkai. Alles neue Gebäude. Sie wissen schon: die Hafencity.«

»Sie schickten Ihre Sekretärin zu Ludwig Hansen«, unterbrach Ulli seinen Redefluss.

»Ja, genau«, Andreas Hansen schielte kurz zu Paule, der ihn vom Sessel aus ungeniert beobachtete. Dann wandte er sich wieder dem Diktiergerät zu. »Ludwig war noch nicht da. Seine Sekretärin wusste auch nicht, wo er war, und telefonisch konnte ich ihn nicht erreichen. Ich brauchte die Unterschriften dringend. Ich wollte einige Verträge fertig machen. Deshalb bin ich zur Elbchaussee gefahren. In die Wohnung. Da habe ich ihn gefunden und die Polizei gerufen.«

»Woher wussten Sie, dass Ihr Bruder in der Wohnung war?«, fragte Ulli.

»Er übernachtete öfter dort. Und gestern Abend war er nicht zu Hause. In der Villa, meine ich.«

»Und Sie haben einen Schlüssel zu der Wohnung?«

»Ja.« Andreas Hansen nickte.

»Wieso?«, mischte sich Paule ein.

Verständnislos drehte sich Andreas Hansen zu dem Kommissar um.

Paule wiederholte die Frage. »Wieso haben Sie einen Schlüssel zu Ludwig Hansens Penthouse-Wohnung? Ich meine: Haben Sie die Wohnung von Zeit zu Zeit auch genutzt?«

»Wie meinen Sie das?« Andreas Hansens betont sachlicher Tonfall war offener Empörung gewichen. »Ich bin verheiratet! Ich bin Familienvater!«

Paule lehnte sich zufrieden zurück.

»Herr Hansen«, Ulli übernahm wieder das Gespräch, »Sie hatten einen Wohnungsschlüssel. Wieso?«

Andreas Hansen zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Einfach so. Weil Ludwig mir einen gegeben hat. Ich habe mich zwei- oder dreimal dort mit ihm getroffen. Zu einem Gespräch unter Brüdern. Nichts Bestimmtes.«

»Ihr Bruder hat die Wohnung vor zwei Monaten gekauft. Haben Sie eine Ahnung, weshalb?«

Andreas Hansen hatte sich wieder beruhigt. »Sie hat ihm gefallen. Und ich vermute, es ging ihm auf die Nerven, dass sich unser Vater zu Hause in sein Leben einmischte.«

»Gab es Streit zwischen Ludwig und Ihrem Vater?«