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Es sieht aus wie eine Hinrichtung: Mord in einer gutbürgerlichen Wohnsiedlung. Und der Tote selbst stand einst unter Mordverdacht. Hat der Täter die Arbeit der Justiz auf grausame Weise beendet? Ein Zeuge behauptet, den Wagen von Ritchie in der Siedlung gesehen zu haben. Was wollte der Hamburger Kiezgauner am Tatort? Und wozu diente der zweite Stuhl? Was hatte der Mörder seinem Opfer zu erzählen? Die Suche nach einem Motiv führt die Kommissare Schmalenbeck und Paulsen weit in die Vergangenheit zurück bis zu dem Tod einer jungen Frau. Da geschieht ein zweiter Mord. Der zweite Fall für das Ermittlerduo Schmalenbeck und Paulsen.
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Seitenzahl: 537
Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Autorin:
Brigitte Krächan, geboren 1962,studierte Soziale Arbeit in Mainz und war viele Jahre in diesem Beruf tätig.Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Kindernund lebt mit ihrem Mann im Saarland.
Die Autorin im Internet: http://blog.aemaets.de/
BRIGITTE KRÄCHAN
T 0 D E S S T R A F E
Der zweite Fall
für Schmalenbeck und Paulsen
Kriminalroman
www.tredition.de
© 2020 Brigitte Krächan
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg
Lektorat: Dr. Hanne Landbeck, schreibwerk berlin
Covergestaltung: Eva-Maria Vogtel
ISBN Paperback: 978-3-347-09709-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-09710-0
ISBN e-Book: 978-3-347-09711-7
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Prolog
Hier wurde er freigesprochen und hier sollte er auch verurteilt werden. Wilhelm Tieck, der Mörder von Karin. Vergewaltigung und Mord. Vor fast zehn Jahren.
Langsam ging Heinz Kömen die Stufen des Landgerichtes hinab. Der Pförtner war freundlich gewesen. Er hatte gelächelt und bedauernd den Kopf geschüttelt. Nein, er könne die Unterschriftenliste nicht annehmen. So ginge das nicht. Eine Petition könne man nicht einfach beim Pförtner abgeben. Aber das wisse er doch.
Ja, Heinz wusste das. Sein Rechtsanwalt hatte es ihm erklärt. Auch, dass die Sache aussichtslos sei. Dass der Bundesgerichtshof klar entschieden habe: Es würde keine Reform der Strafprozessordnung geben. Ne bis in idem. Nicht zweimal in derselben Sache. Heinz kannte sie alle, die gelehrten, lateinischen Sprüche. Wer einmal freigesprochen wurde, konnte für die gleiche Sache nicht noch einmal vor Gericht gestellt werden. Dabei wussten alle, dass Wilhelm Tieck schuldig war. Aber der Mörder hatte geleugnet, und seine Schwester hatte ihm ein Alibi gegeben. Natürlich. Wer wollte schon einen verurteilten Mörder und Vergewaltiger in der Familie?
„Lassen Sie es gut sein. Gehen Sie nach Hause. Ihre Frau wartet bestimmt schon auf Sie.“
Der Pförtner war nett. Aber: Nichts war gut. Nicht, solange Wilhelm Tieck noch frei war.
Heinz war müde. Zu müde für die wenigen Schritte zum U-Bahnhof. Zu müde für die vorwurfsvolle Frage im Blick von Gerda. Wo bist du gewesen? Schon wieder? Warum lässt du es nicht gut sein? Zu müde, um ihr zu erklären, dass nichts gut war.
Langsam ging Heinz am Mahnmal ,Hier und jetzt‘ vorbei. Er hatte das Denkmal nie verstanden. Was haben Radieschen, Rosen und Brennnesseln in hässlichen Betontöpfen mit dem Gedenken an die Opfer der NS-Justiz zu tun? Und warum dieses Erinnern wachhalten und vor der anderen Ungerechtigkeit die Augen schließen? Heinz setzte sich auf die Bank am Ende des Parks. Sein Blick streifte das Mahnmal und die imposante Fassade des Oberlandesgerichtes dahinter. Genau hinter diesen Mauern hatten sie Wilhelm Tieck damals aus Mangel an Beweisen freigesprochen. In dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten. Noch so ein Spruch. Sogar eine Entschädigung für die Zeit in der U-Haft hatte er bekommen. Heute könnte man Tiecks Schuld beweisen. Damals hatten die Ermittler DNA auf der Kleidung und der Haut von Karin sichergestellt. Die Wissenschaft hatte Fortschritte gemacht. Was früher nicht zu verwenden war, konnten sie inzwischen auswerten. Wenn es damals Tiecks DNA gewesen war, dann könnten sie dies heute mit neunundneunzig prozentiger Sicherheit feststellen. Heinz war davon überzeugt: Das wäre der Beweis, dass Wilhelm Tieck Karins Mörder war. Deshalb forderte Heinz die Wiederaufnahme des Verfahrens. Aber: Ne bis in idem. Nicht zweimal in derselben Sache. Rechtsfrieden nennen sie das. Doch Heinz hatte keinen Frieden. Und mit Recht hatte das auch nichts zu tun. Noch nicht einmal weggezogen war Wilhelm Tieck. Täglich ging Heinz am Haus des Mörders seiner Tochter vorbei. Es war nur ein kurzer Umweg auf dem Weg zu Karins Grab. Heinz beobachtete täglich, wie Wilhelm Tieck ganz selbstverständlich seit über neun Jahren sein Leben weiterlebte. Den Rasen mähte, sein Auto wusch und zur Arbeit fuhr. Der Mann, der das Leben seiner Tochter beendet und das Leben von Heinz und Gerda unerträglich gemacht hatte. Wo war da der Rechtsfrieden? Und die Gerechtigkeit? Heinz konnte es nicht gut sein lassen. Deshalb ging er immer wieder zum Amtsgericht.
Nicht mehr lange.
Er presste seine Faust fest in die rechte Leiste. Die Schmerzen kamen in Wellen und immer häufiger. Heinz war unendlich müde. Er wusste, dass er krank war. Er würde nicht mehr zum Arzt gehen. Er hoffte, dass sein kranker Körper seine traurige Seele erlösen würde. Heinz wusste auch, dass nach seinem Tod niemand mehr da sein würde, der für Karin kämpfte.
Nichts war gut.
Als die Frau auf ihn zukam, stand Heinz auf. Er kannte sie. Sie arbeitete hier. Er hatte ihr seine Geschichte erzählt, und sie hatte aufmerksam zugehört. Eine mitfühlende Aufmerksamkeit, die Heinz gutgetan hatte. Aber heute war Heinz zu müde für ein Gespräch. Er würde einfach gehen, die U-Bahn nehmen und nach Hause fahren.
KAPITEL 1
Donnerstag, 22.08.2013, Hamburger Aktuelle
Wilhelm T. ist der Täter!
Neuer DNA-Test könnte Schuld beweisen, aber Gericht lehnt erneute Anklage gegen 54-Jährigen ab. Mörder von Karin K. aus Eimsbüttel lebt seit zehn Jahren unbehelligt in Nachbarschaft des Opfers. – Seite 2
KAPITEL 2
Ulli ließ sich keuchend auf der alten Parkbank nieder. Sie war die Strecke um den See zu schnell angegangen. Oder sie musste an ihrer Kondition arbeiten.
Für August war es angenehm kühl am Morgen. Die Idee zu dem Lauf war ihr ganz spontan gekommen, als sie überlegt hatte, was sie mit ihrem freien Sonntag anfangen würde. Ullis Blick schweifte über die weitläufige Parkanlage zur Rückseite der Villa. In der ersten Septemberwoche würden endlich die Handwerker beginnen. Ulli hatte die Villa in Großhansdorf mit dem auf dem Parkgelände befindlichen Hotel-Restaurant ,Dorothea‘ vor zwei Jahren geerbt. Als ihr Vater starb, lebte sie in Berlin. Und zögerte lange, bis sie sich entschloss, das Erbe der von Schmalenbecks anzutreten. Vor einem Jahr war sie dann von Berlin nach Hamburg gezogen. Sie hatte sich nie gut mit ihrem herrischen Vater verstanden. Nach dem Tod der Mutter hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Der Umzug nach Hamburg, als sie hier gleich als Hauptkommissarin im Mord an dem Unternehmersohn Ludwig Hansen ermittelte, hatte alte Wunden wieder aufgerissen. Ludwig Hansens Vater war ein guter Bekannter ihres Vaters gewesen. Ulli war es nur schwer gelungen, ihre privaten Empfindungen und Antipathien aus dem Fall herauszuhalten. Damals hatte sich Ulli fast dazu entschlossen, die Villa mitsamt der Hotelanlage zu verkaufen. Es war ihrem Kollegen Kommissar Paulsen zu verdanken, dass sie ihre Entscheidung noch einmal überdachte. Sie blickte nachdenklich auf den See, die weißen Seerosen leuchteten noch in voller Blüte, aber hier und da begann der Rohrkolben schon seine Flugsamen auszubilden: Vorboten des Herbstes.
Plötzlich wusste sie, was sie mit ihrem freien Wochenende anfangen würde. „Komm, Rocco“, aufmunternd tätschelte sie dem alten Schäferhund den Kopf und stand auf. „Der Hauswart vom Hotel hat bestimmt ein paar stabile Kartons für uns. Wir räumen die Bibliothek aus. Irgendwann muss ich ja anfangen.“
Entschlossen ging sie den Fußweg zur Villa hinauf, während Rocco unschlüssig hinter ihr her trottete und immer wieder zum Pförtnerhaus hinüberblickte.
„Nun komm schon“, Ulli drehte sich zu Rocco um, „am Montag kommt Frau Geese aus der Klinik. Dann gibt es wieder Leckerlies und Streicheleinheiten im Pförtnerhaus.“
Frau Geese war die Köchin und Haushälterin der von Schmalenbecks gewesen. Ulli kannte sie seit ihrer Kindheit. Ihr Vater hatte der Frau das Pförtnerhaus vererbt und eine großzügige Rente eingeräumt.
Sie passte auf Rocco auf, wenn Ulli zum Dienst musste. Ulli nahm sich vor, Frau Geese anzubieten, sich einige Erinnerungsstücke aus der Villa auszusuchen. Da klingelte ihr Handy und sie erkannte Paules Kurzwahl auf dem Display. Das hatte an einem Sonntag nichts Gutes zu bedeuten.
„Ulrike von Schmalenbeck.“
„Einen wunderschönen, guten Morgen, Frau Kollegin. Was immer Sie sich für heute vorgenommen haben, es muss warten. Die Schutzpolizei meldet einen Todesfall in der Torstraße, Bezirk Eimsbüttel, Stadtteil Stellingen. Männliche Leiche. Sebastian und Walter sind bereits im Einsatz, deshalb müssen wir einspringen.“
Ulli seufzte. Dann würde die Bibliothek wieder warten müssen. Dafür, dass man ihm gerade seinen freien Sonntag gestrichen hatte, klang Paule erstaunlich gut gelaunt. Dann fiel ihr ein, dass er mit den Wochenenden nicht mehr viel anzufangen wusste, seit seine Frau ihn vor einem Jahr verlassen hatte. Ulli dachte an ihre Sonntagspläne und erschrak, als sie bemerkte, dass ihr die Aussicht auf einen Mordfall auch angenehmer war, als die Bibliothek ihres Vaters auszuräumen. Vielleicht sollte sie doch dem Ratschlag von Petra Adler, der Polizeipsychologin, folgen und eine Entrümpelungsfirma mit dem Nachlass beauftragen. Aber das fühlte sich feige an. Sie wollte sich den Gespenstern der Vergangenheit stellen, um die Erinnerungen anzunehmen, zu betrachten, zu werten und dann selbst zu entscheiden, wovon sie sich endgültig trennen würde. Ulli war klar, dass dieser Weg der richtige war, um endlich mit ihrem Vater Frieden zu schließen. Aber jetzt hatte sie erst einmal eine Ausrede: die Arbeit.
„Soll ich dir die Adresse auf dein Handy schicken?“, die Stimme von Paule riss Ulli aus ihren Gedanken. „Ich habe die Kollegen von der Spusi bereits verständigt. Ich denke, wir treffen uns am Tatort.“
„Bin schon unterwegs.“
Ulli war mittlerweile an der Villa angekommen. Sie duschte, zog sich um und tröstete Rocco mit einem Leckerli. Der Schäferhund kroch beleidigt unter den Schreibtisch, als Ulli ihm frisches Wasser hinstellte und erklärte, dass er eine Weile allein bleiben musste. Sobald der erste Stock umgebaut war, würden die Solbergs dort einziehen. Das Ehepaar würde sich künftig um die Villa kümmern. Ulli hatte inzwischen eingesehen, dass sie es allein nicht schaffte. Dann wäre auch Rocco während ihrer Abwesenheit versorgt. Frau Geese liebte den Schäferhund zwar, aber sie war nicht mehr in der Lage, ihn regelmäßig Gassi zu führen. Ulli nahm die Autoschlüssel und ging aus dem Haus.
Nur fünfzehn Minuten später bog sie auf die A1 Richtung Hamburg ein. Das Navi gab fünfzig Minuten bis zur Torstraße in Stellingen an.
***
Als Ulli dort eintraf, parkte der weiße VW Polo am Straßenrand. Also war Paule schon da. Niemand sonst im Präsidium würde freiwillig den alten Polo mit den ausgeleierten Stoßdämpfern fahren. Paule hatte an dem kleinen Zweitürer einen Narren gefressen. Wenn er im nächsten Jahr in Pension ginge, so plante der Kommissar, würde er den Polo mitnehmen. Dafür wollte Paule sogar eine Garage anmieten.
Ulli betrachtete das unscheinbare, einstöckige Einfamilienhaus. Die schmutzige, ursprünglich weiße Fassade hatte dringend einen neuen Außenputz nötig, und das Satteldach war auch in die Jahre gekommen. Ein einfacher Jägerzaun begrenzte das kleine Grundstück. Lorbeerhecken boten Sichtschutz nach beiden Seiten. Graue Waschbetonplatten führten zur Eingangstür an der linken Seite. Der Rasen war gemäht, aber nicht sonderlich gepflegt. Blumen gab es keine, auch nicht an den Fenstern. Schwere Gardinen verwehrten den Blick ins Innere. Ulli schlüpfte unter dem rot-weißen Absperrband hindurch. An der Haustür stand der Polizist, der den Notruf entgegengenommen hatte.
„Männliche Leiche. Wilhelm Tieck. Hinten rechts, im Wohnzimmer. Ziemlicher Gestank. Er ist wohl schon länger tot. Die Schwester und ein Arbeitskollege haben den Toten gefunden. Sie warten in der Küche. Linke Tür. Die Schwester ist ziemlich mitgenommen. Wir haben ihren Hausarzt verständigt. Kollege Paulsen kocht gerade Kaffee.“
Ulli nickte, während sie die Schutzkleidung überzog.
„Todesursache?“
Der Polizist senkte die Stimme: „Schuss in die Stirn. Für mich sieht das nach einer Hinrichtung aus. Ein Arzt von der Rechtsmedizin ist schon vor Ort.“
„Einbruchsspuren?“
Der Kollege schüttelte den Kopf. „Auf den ersten Blick keine. Es gibt aber eine Hintertür, die in den Garten führt. Muss sich die Spusi noch ansehen. Die sind erst einmal im Wohnzimmer beschäftigt. Ziemlicher Betrieb da.“
Ulli nickte und ging an ihm vorbei ins Haus und dort direkt zum Wohnzimmer. Ein süßlich-stechender Geruch schlug ihr entgegen. Jana Nelsen vom Team der Spurensicherung war gerade dabei, Fotos vom Tatort zu machen. Ulli betrachtete das Opfer. Ein Streifen graues Gewebeband über seinem Brustkorb fixierte den Toten auf einem Stuhl. Die Füße waren mit dem gleichen Band an den Stuhlbeinen festgebunden. Ulli ging um den Mann herum und deutete auf die zusammengebundenen Hände hinter der Rückenlehne.
„Suizid können wir wohl ausschließen.“
Das Kinn des Opfers war auf seine Brust gesunken. Als Ulli sich bückte, um in das Gesicht des Toten zu schauen, konnte sie deutlich die Stanzmarke auf der Stirn erkennen. „Kontaktschuss?“, fragte sie, obwohl es ja eigentlich offenkundig war.
Oskar Klimm, der Rechtsmediziner, trat neben sie und nickte: „Austrittswunde am Hinterkopf. Er war vermutlich sofort tot. Das werden wir bei der Leichenöffnung zweifelsfrei klären. Projektil und Hülse haben wir bisher nicht gefunden. Aber wir fangen gerade erst an.“
„Kannst du schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“
Oskar zuckte mit den Schultern: „Ihr könntet euch auch einmal einen anderen Text überlegen. Du siehst selbst, der Herr wirkt nicht mehr frisch, die Todesstarre hat sich bereits wieder gelöst. Das erleichtert den Kollegen wenigstens den Abtransport.“
Der Rechtsmediziner hob vorsichtig das graue T-Shirt des Toten an und deutete auf die grünlich verfärbte Haut am unteren Bauchbereich.
„Die Farbe ist ein Zeichen der beginnenden Autolyse; das heißt, die Enzyme haben mit der Arbeit begonnen. Wie weit unser Freund schon marmoriert ist, kann ich dir sagen, sobald ich ihn auf meinem Tisch habe. Ich schätze mal, er ist mindestens seit achtundvierzig Stunden tot, eventuell auch länger.“
Ulli war an Oskars derbe Ausdrucksweise gewöhnt. Tatsächlich hatten fast alle Kollegen der Rechtsmedizin diese pietätlose Haltung gegenüber den Opfern. Vielleicht war das ihre Art, mit dem täglichen Grauen umzugehen. Ulli zeigte auf den zweiten Stuhl, der direkt vor dem Opfer stand.
„Offenbar hatte es der Täter nicht eilig. Das sieht nach einer längeren Unterhaltung zwischen Opfer und Täter aus. Hast du Folterspuren an der Leiche entdeckt?“
Oskar schüttelte den Kopf. „Nicht auf den ersten Blick. Wie gesagt: Wir sollten die Leichenschau abwarten.“
Ulli sah sich im Rest des Zimmers um. Nichts deutete auf einen Raubüberfall hin. Es gab weder herausgezogene Schubladen noch durchwühlte Schränke. Der fast quadratische Raum war karg und fantasielos eingerichtet – ohne Bücher in den Regalen und ohne Bilder an den Wänden. Ein großer, neuwertiger Flachbildschirm dominierte den Raum. Er wirkte auf dem rustikalen Sideboard deplatziert. An der gegenüberliegenden Wand stand ein zerschlissenes Sofa. Der niedrige Tisch war zur Seite geschoben worden, vermutlich, um Platz für die beiden Stühle zu schaffen. Auf dem Tisch entfaltete sich ein Stillleben, das auf einen einsamen Fernsehabend hindeutete: eine halbleere Flasche Bier, ein randvoller Aschenbecher sowie Zigaretten und Feuerzeug, ein Handy und ein Pizzakarton. Ulli hob vorsichtig den Deckel des Pizzakartons an. Dicke, fette Maden wanden sich im Tageslicht.
Oskar grinste. „Da werden sich die Kollegen von der Entomologie freuen“, sagte er nur und rümpfte die Nase.
Das Opfer hatte nichts von der Pizza gegessen. Vielleicht war der Mörder als angeblicher Pizzabote ins Haus gekommen. Ulli ging weiter zum geöffneten Fenster und schaute auf einen kleinen Reihenhausgarten mit denselben langweiligen Lorbeerbüschen wie vor dem Haus und ähnlich ungepflegtem Rasen. Wilhelm Tieck schien keinen besonderen Wert auf ein schönes Heim gelegt zu haben.
„Der Rollladen war heruntergelassen.“ Oskar war neben Ulli getreten. „Wir haben ihn hochgezogen, um besseres Licht zu haben. Ist aber alles dokumentiert. Der Fernseher war ausgeschaltet, als wir kamen, aber das Deckenlicht brannte.“
Ulli hatte genug gesehen. Sie hoffte, dass die Schwester des Toten, die in der Küche wartete, sich so weit gefasst hatte, um einige Fragen zu beantworten.
Bevor Ulli die Küche betrat, legte sie die Schutzkleidung ab, sie wollte die Frau nicht noch mehr erschrecken. Der Duft von frisch gekochtem Kaffee schlug ihr entgegen und überlagerte die üblen Gerüche aus dem Wohnzimmer. Die kleine Wohnküche war zweckmäßig, aber lieblos eingerichtet: eine Küchenzeile, ein großer Vorratsschrank, ein Esstisch vor einer Eckbank. Auf dem Regal über der Eckbank stand ein altes Transistorradio. Neben dem Vorratsschrank hing ein Monatskalender, in den einige Termine eingetragen waren. Den Kalender würde die Spusi sicherstellen. Das Fenster der Küche ging zum Vorgarten.
Der Mörder wollte wahrscheinlich nicht von der Straße aus gesehen werden und hatte deshalb die Stühle mit ins Wohnzimmer genommen.
Die Schwester von Wilhelm Tieck saß schwer atmend auf der Eckbank. Ein etwa dreißigjähriger Mann, vermutlich der Arbeitskollege des Toten, hockte daneben und zog hektisch an seiner Zigarette. Kommissar Paulsen hatte beide mit Kaffee und Wasser versorgt. Er stand schwerfällig auf und bot Ulli seinen Stuhl an.
„Der Kollege hat den Hausarzt von Frau Burger verständigt“, flüsterte er Ulli zu.
„Nein! Es geht schon!“, mühsam richtete sich die alte Frau auf. „Es würde schon genügen, wenn mich jemand nach Hause bringen könnte. Ich muss hier raus. Dieser Gestank!“
Ulli erinnerte sich an die alte Gartenbank, die sie beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster gesehen hatte. „Ich werde einen Kollegen bitten, Sie in den Garten zu begleiten. Dort können Sie auf Ihren Hausarzt warten.“
Als die Frau die Küche verlassen hatte, wandte sich Paule dem Arbeitskollegen des Toten zu und stellte Ulli vor. Zu Ulli gewandt erklärte er: „Herr Faas ist ein Kollege von Wilhelm Tieck. Sie arbeiten beide drüben bei Schrauben Ziegler im Haferweg. Herr Faas hat gemeinsam mit Frau Burger die Leiche gefunden.“
Der Mann nickte. „Willi ist am Freitag nicht zur Schicht gekommen. Hat sich auch nicht krankgemeldet. Das ist gar nicht seine Art. Obwohl – so ab und zu hatte er seine Tour. Da konnte man nix mit ihm anfangen. Ich habe ihn abends angerufen, aber er ging nicht an sein Handy. Wird saufen, habe ich gedacht. Lässt man ihn besser in Ruhe. Aber für Samstag waren wir zum Fußball verabredet. HSV. Auswärtsspiel gegen Hertha. Wir wollten zusammen hinfahren. Ich habe eine Zeit lang gewartet und bin dann alleine los. Müssen ja nicht beide das Spiel verpassen, habe ich gedacht. Aber Sorgen habe ich mir schon gemacht. Gleich am Sonntag habe ich wieder bei ihm angerufen. Ich bin auch vorbeigefahren, aber es hat keiner aufgemacht. Dann habe ich seine Schwester angerufen. Ich hatte ihre Nummer, falls im Betrieb etwas passiert. Die Schwester war gleich ganz aufgeregt. Hat irgendetwas von Jahrestag gemurmelt, und sie hätte schon immer befürchtet, dass dann etwas passiert. Ich bin direkt zu ihr gefahren. Sie hatte einen Schlüssel. Wir haben geläutet und geklopft. Als Willi nicht antwortete, sind wir rein. Schon an der Haustür war mir klar, dass etwas nicht stimmt. Dieser Gestank! Ich bin dann in die Küche. Ich war noch nicht ganz drin, da hörte ich sie schon schreien. Sie war zuerst im Wohnzimmer und hat ihn gefunden. Die arme Frau.“
Klaus Faas zog an seiner Zigarette. „Ich werde mich zuhause erst einmal eine Stunde unter die Dusche stellen. Wie haltet ihr das nur aus? Kann ich jetzt gehen?“
„Wir würden Ihnen gerne noch einige Fragen stellen. Einzelheiten vergisst man schnell, deshalb ist für uns die unmittelbare Befragung der Zeugen sehr wichtig“, erklärte Ulli.
Klaus Faas nickte und griff zur Kaffeetasse. „Dann fragen Sie mal.“
Paule hatte sich ebenfalls einen Kaffee eingegossen und quetschte sich neben Klaus Faas auf die Eckbank. „Haben Sie eine Ahnung, was die Schwester von Herrn Tieck mit diesem Jahrestag meinte? Hat Herr Tieck selbst einmal einen solchen Jahrestag erwähnt?“
Klaus Faas schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung. Der Willi hat nie viel erzählt.“
„Und diese Tour, die Ihr Kollege ab und zu hatte – wie war er denn so, der Herr Tieck, wenn er seine Tour hatte?“
Klaus Faas zuckte die Schultern.
„Schwer zu beschreiben. Willi war nie besonders gesprächig, und von Zeit zu Zeit hat er überhaupt nix mehr gesagt. Empfindlich war er dann, hat alles direkt persönlich genommen. Mir hat er nie etwas erzählt. Aber die Leute reden halt. Und am Donnerstag stand’s ja in der Zeitung, die Sache mit der toten Frau. Die Bullen hatten Willi damals verdächtigt. Er ist aber freigesprochen worden. Doch so etwas verfolgt einen wohl ewig. Näheres weiß ich nicht. Ich habe erst, nachdem das passiert war, bei Schrauben Ziegler angefangen und den Willi kennen gelernt. Sie fragen besser seine Schwester.“
„Ist Ihnen in der Wohnung etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Fehlt etwas?“
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich bin heute zum ersten Mal in der Wohnung. Willi war nicht sehr gesellig. Ich glaube nicht, dass er überhaupt Leute zu sich nach Hause eingeladen hat.“
Paule wollte gerade eine weitere Frage stellen, als Jana die Küche betrat: „Wir wären dann soweit. Im Wohnzimmer ist alles eingetütet. Der Tote ist auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Frau Burger wurde von ihrem Hausarzt nach Hause begleitet. Der Kollege draußen hat die Adresse notiert.“
Jana streifte Klaus Faas mit einem kurzen Seitenblick. „Wenn wir von dem Zeugen schnell die Fingerabdrücke nehmen, kann er sich den Weg zum Präsidium sparen.“
Ulli und Paule nutzten die Zeit, um sich im Rest des Hauses umzuschauen. Sie fanden nirgendwo Spuren eines Einbruchs oder eines Kampfes. Der Rollladen im Schlafzimmer klemmte, er war wohl schon längere Zeit nicht mehr hochgelassen worden. Im Bad gab es keinen Hinweis auf einen weiteren Bewohner. Ulli ging die schmale Holztreppe nach oben in den ersten Stock. Paule sparte sich den beschwerlichen Aufstieg und stieg stattdessen die wenigen Stufen zu dem kleinen Anbau an der Rückseite des Hauses hinunter. Ulli schaute zurück und sah, wie sich Paule ungelenk unter der niedrigen Tür des Anbaus bückte. Seit seiner Scheidung hatte Paule bestimmt fünfzehn Kilo zugenommen. Wahrscheinlich eine Folge seines ungesunden Lebenswandels. Ulli konnte sich Paule nicht in einer Küche vorstellen. Er hatte sich vermutlich noch nie eine warme Mahlzeit zubereitet. Vermutlich aß er im Vorbeigehen auf dem Kiez. Mit Ulli redete Paule selten über sein Privatleben. Walter hatte Ulli erzählt, dass der Auszug seiner Frau Paule wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hatte. Walter meinte, es musste früher oder später so kommen. Für Paule kam immer zuerst seine Arbeit. Wenn er einen Fall aufklären wollte, gab es für Paule keinen Feierabend. Und der Kiez, wo er jeden kannte und bis spät in die Nacht mit seinen Informanten beim Bier saß, war eigentlich immer Paules erstes Zuhause gewesen. Walter hatte Paule gewarnt, keine Frau würde das ewig mitmachen, schon gar nicht, wenn keine Kinder da wären, auf die sie vielleicht Rücksicht nehmen wollte. Walter wusste, wovon er sprach, er hatte vor vier Jahren zum zweiten Mal geheiratet, war mit vierzig sogar noch Vater geworden und seither bemühte er sich, seine Familie immer an die erste Stelle in seinem Leben zu setzen. Paules Lebensinhalt war seine Arbeit, und Ulli machte sich Sorgen um den Kollegen, wenn sie darüber nachdachte, was die bevorstehende Pensionierung für ihn bedeuten würde.
Als die beiden Kommissare wieder in der Küche zusammenkamen, berichtete Ulli, was sie im oberen Stockwerk vorgefunden hatte:
„Nichts von Interesse. Wilhelm Tieck hat anscheinend das obere Stockwerk nie betreten. Überall Mäusedreck. Kistenweise alter Kram. Geschirr. Bücher. Ordner mit Unterlagen. Zwei Koffer mit Frauenkleidern. Kinderspielzeug aus den siebziger oder achtziger Jahren. Alte Möbel. Ich hoffe, wir müssen uns da nicht durcharbeiten.“
„Der Anbau gibt auch nichts her“, bestätigte Paule nickend. „Gartengeräte. Waschmaschine. Ein paar Kisten Bier. Und ein neuer Aufkleber an der Heizung, dass sie vor der kommenden Heizperiode dringend gereinigt werden muss. War eher ein nachlässiger Mensch, schätze ich“, schob Paule noch hinterher und setzte sich wieder neben Klaus Faas auf die Eckbank. Er schaute ihn durchdringend an, so wie nur Paule schauen konnte, zugleich vertrauenserweckend und drohend, und stellte seine Fragen: „Wie war Herr Tieck so als Kollege? Wie hat er sich mit den anderen Kollegen verstanden? Gab es manchmal Streit? Wie kam er mit seinen Vorgesetzen zurecht?“
Klaus Faas hatte sich wieder eine Zigarette angezündet und blickte nachdenklich auf die Glut. Dann nickte er zur geschlossenen Wohnzimmertür hin: „Sie meinen, ob er Feinde hatte, die zu so etwas fähig wären? Ich kann mich an keine Handgreiflichkeiten erinnern. Und die Sache mit der Frau ist jetzt schon zehn Jahre her. Im Betrieb war das kein Thema mehr. Auch am Donnerstag nicht. Obwohl die Hamburger Aktuelle die Geschichte zum zehnjährigen Todestag der Frau in allen Details wieder aufgewärmt hat. Doch sie haben Willi nicht namentlich genannt. Es sind auch nicht mehr viele in der Belegschaft, die davon wissen. Aber darüber reden Sie besser mit der Schwester. Sie hat sich heute fürchterlich über den Artikel aufgeregt. Kann ich jetzt gehen? “
Gemeinsam mit Klaus Faas verließen die Ermittler das Haus. Paule zeigte auf einen alten, rotbraunen Toyota: „Ist das der Wagen von Herrn Tieck?“
Klaus Faas nickte. „Ja. Aber der springt seit Wochen nicht mehr an. Er wollte ihn schon lange reparieren lassen. Aber die meiste Zeit ist der Willi ohnehin mit der S-Bahn zur Arbeit gefahren.“
„Dein Neuer?“
Paule stand neben dem schneeweißen Citroën DS 3. Ulli nickte stolz. Ein kleineres, stadttaugliches Auto kaufen, wenigstens diesen Teil ihrer To-do-Liste hatte sie erledigt.
„Auf zur Probefahrt“, Paule öffnete die Beifahrertür. „Die Kollegen können den Polo mit zum Präsidium bringen.“
***
„Mir war der alte Mercedes deines ehrenwerten Herrn Vater lieber“, nörgelte Paule, als er sich umständlich vom Beifahrersitz des kleinen Citroën schob. „Ich dachte schon, ich müsste die Kollegen von der Feuerwehr bitten, mich aus dem Fahrzeug zu schneiden.“
Auf dem Weg zum Präsidium hatten Paule und Ulli beschlossen, zuerst ihr Ermittlungsteam zu einer Besprechung ins Präsidium zu bitten und anschließend die Schwester des Toten zu befragen.
Emma Franke, Sekretärin und gute Seele des Kommissariats, begrüßte die beiden als erste. Selbst für einen Sonntag war es ungewöhnlich ruhig im Polizeipräsidium.
„Dirk und Kai sind schon oben. Kleines Besprechungszimmer. Ich mache nur noch schnell Kaffee. Dirk hat Kuchen mitgebracht. Seine Frau feiert heute Geburtstag. Jana und Oskar sind mit dem Toten beschäftigt. Oskar denkt, dass er heute Abend so weit ist. Er lädt euch herzlich zur Leichenöffnung ein. Zwanzig Uhr in der Uniklinik. Polizeipräsident Dr. Seidel habe ich auf die Mailbox gesprochen. Soweit ich weiß, ist er übers Wochenende zum Golfen gefahren.“
Als Ulli und Paule das Besprechungszimmer betraten, verteilte Dirk Wälder gerade den Geburtstagskuchen. Paule sicherte sich einen Teller und langte herzhaft zu. Ulli informierte die Kollegen, was sie bisher im Todesfall Wilhelm Tieck in Erfahrung gebracht hatten.
„Raubmord können wir wohl ausschließen. Es sah eher wie eine Hinrichtung aus. Aber da möchte ich Oskar nicht vorgreifen. Ein zweiter Stuhl, der vor dem Toten stand, lässt außerdem vermuten, dass sich der Täter längere Zeit mit dem Opfer unterhalten hat. Über was? Der Zeuge Faas, ein Arbeitskollege, hat mehrmals den Mord an einer jungen Frau vor zehn Jahren erwähnt. Wir müssen herausfinden, was dieser Fall mit dem Opfer zu tun hat.“
Paule spülte den letzten Bissen Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Ich erinnere mich an den Fall. Aber ich war damals noch bei der Sitte und hatte nicht direkt damit zu tun. Eine junge Frau wurde vergewaltigt und ermordet. Die Ermittler hatten schnell einen Verdächtigen. Es kam zur Verhandlung und der mutmaßliche Täter wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Kollegen waren ziemlich angefressen von dem Urteil. Sie waren überzeugt, dass sie den Richtigen hatten. Walter hat in dem Fall ermittelt. Mit ihm sollten wir gleich am Montag reden. Die Tote wurde damals am Ziegelteich gefunden, das ist keine fünf Minuten vom Haus unseres Opfers entfernt.“
„Wir werden uns nachher mit der Schwester des Toten unterhalten“, informierte Ulli die Anwesenden und wandte sich an Dirk. „Klaus Faas hat außerdem einen Artikel in der Hamburger Aktuellen erwähnt, der letzten Donnerstag zum zehnten Jahrestag der Ermordung der Frau erschienen ist. Kannst du den Artikel besorgen und überprüfen, ob es irgendwelche Reaktionen dazu in den sozialen Medien gab? Und lass dir von Jana Tiecks Handy geben, wenn die Spurensicherung damit fertig ist. Wir müssen mehr über den Bekanntenkreis des Toten erfahren. Sein Arbeitskollege konnte uns dabei nicht weiterhelfen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Ulli dem jungen Kai Klose zu.
„Sobald wir von Oskar den genauen Todeszeitpunkt haben, fährst du in die Torstraße und befragst die Nachbarn. Bis dahin könntest du die Pizzerien in der Umgebung abtelefonieren und fragen, ob sich jemand erinnern kann, zwischen Donnerstagnachmittag und Samstag eine Pizza in die Torstraße geliefert zu haben.“
An Emma gerichtet, fuhr Ulli fort: „Versuche bitte, Walter zu erreichen. Falls er heute noch Zeit für uns hat, könntet ihr die Akten im alten Mordfall durcharbeiten. Vielleicht ergeben sich daraus irgendwelche Verdächtige.“
„Glaubst du wirklich, der Mord hat mit dem alten Fall zu tun?“, warf Dirk zweifelnd ein.
Ulli zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Aber solange wir keine andere Spur haben, ist das besser als nichts.“
„Vielleicht ist bei unserem Mörder durch den Bericht zum zehnten Todestag der Frau die alte Geschichte wieder hochgekommen“, gab Emma zu bedenken.
Ulli nickte. „Wir sollten überprüfen, wer damals vom Tod der jungen Frau besonders betroffen war. Eltern, Geschwister, Freunde. Der gewaltsame Tod eines geliebten Menschen ist auch nach zehn Jahren noch ein starkes Motiv für einen Mord.“
„Wenn unser Mord tatsächlich am Todestag der Frau begangen wurde, wäre das ein auffälliger Zufall“, ergänzte Paule. „Vielleicht gab es Drohungen, vielleicht weiß die Schwester etwas.“
Ulli stand auf: „Dann sollten wir jetzt mit der Schwester beginnen.“
***
Als Ulli den Citroën im Schatten einer Eiche vor dem Einfamilienhaus mit der Nummer 129 in der Großen Bahnstraße parkte, waren kaum dreißig Minuten vergangen. Am Sonntagnachmittag war wenig Verkehr in der Stadt.
„Sieht aus wie eine Kopie des Hauses von Tieck“, Paule deutete auf das kleine Einfamilienhaus. Ulli nickte. Die Häuser hatten offensichtlich den gleichen Grundriss. Aber durch den hellblauen Anstrich wirkte dieses Haus freundlicher. Ein niedriger Zaun trennte den Vorgarten von der Straße. Die Blumenrabatten folgten strengen, geometrischen Mustern. Stiefmütterchen, fleißige Lieschen und Nelken waren farblich aufeinander abgestimmt, der Boden dazwischen sorgfältig gejätet und gehackt. Paule betrachtete die Beete: „Wie ein Familiengrab auf dem Friedhof. Da traut sich keiner, aus der Reihe zu tanzen.“
Er öffnete die kleine Pforte, und die beiden betraten den rechteckigen, gepflasterten Hof, der zur Garage und zur Haustür führte. Ein imposanter Türkranz hieß die Besucher willkommen. Noch ehe Paule den Klingelknopf drücken konnte, wurde die Haustür von innen geöffnet.
„Ich habe Sie von der Küche aus gesehen“, begrüßte Frau Burger die beiden Ermittler.
„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie heute noch vorbeikommen. Kommen Sie herein. Wenn Sie eben noch …“, der Blick der Frau streifte kurz die Schuhe der Kommissare, dann schüttelte sie den Kopf, „…ist ja trockenes Wetter. Kommen Sie einfach mit ins hintere Zimmer. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Oder ist es dafür schon zu spät? Lieber ein Wasser? Ich hätte noch selbstgebackenen Obstkuchen, der Willi wollte eigentlich ….“
Frau Burger schluckte und zuckte dann mit den Schultern. „Aber der Kuchen muss ja nicht verderben. Setzten Sie sich, ich hole nur noch eben Tassen und Teller.“
Ulli ging zum großen Blumenfenster und schaute in den kleinen, gepflegten Gemüsegarten. Eigentlich viel zu idyllisch, um echt zu sein, ging es ihr durch den Kopf.
„Früher konnte man von hier bis zum Ziegelteich sehen. Dort drüben“, Frau Burger war neben Ulli getreten und zeigte auf eine dichte Hainbuchenhecke.
„Gunter meinte damals, als die Sache mit dem Kömen-Mädchen passiert war, man solle den Ziegelteich einfach zuschütten. Als wenn das etwas geändert hätte. ,Der Teich kann doch nichts dafür‘, habe ich immer gesagt. ,Und wenn die Sache erst vergessen ist, dann werden auch die Familien mit den Kindern wieder zum Teich kommen. ‘ Und genauso war es. Heute spielen die Kinder wieder dort, genauso wie ich als Kind schon am Teich spielte. Aber die spielenden Kinder kann man jetzt nicht mehr sehen, weil Gunter die Hecken gepflanzt hat. Aber was rede ich“, Frau Burger wandte sich vom Fenster ab, „ich wollte Ihnen doch Kaffee anbieten.“
Während Gertrud Burger das Esszimmer verließ und Paule sich auf einen der bequemen Stühle am Tisch niederließ, erkundete Ulli das Zimmer. Trotz der schweren, altmodischen Eichenmöbel wirkte der Raum hell und freundlich. Ein leichter Duft nach Lavendel lag in der Luft. Auf der breiten Fensterbank blühten Orchideen. Ulli trat zum Sideboard, auf dem eine ganze Fotogalerie liebevoll auf Häkeldeckchen aufgereiht stand. Sie hatte gerade ein Hochzeitsfoto hochgenommen, als Frau Burger zurückkehrte und ein großes Tablett mit Geschirr, Kaffee und einer Kuchenplatte auf dem Tisch abstellte. Sie gesellte sich zu Ulli und zeigte auf das Foto.
„Das ist Jürgen mit seiner Frau.“
Dann nahm sie ein Babyfoto in die Hand. „Und das ist die kleine Betty. Sie wird Ende September zwei Jahre alt. Vielleicht fahre ich dann zu Jürgens Familie nach Potsdam.“
Frau Burgers Blick ging zu einem anderen Foto, das eine junge Frau mit ihrem Freund zeigte. Die Frau schien ihre Tochter zu sein. So könnte sie vor dreißig Jahren ausgesehen haben, ging es Ulli durch den Kopf.
„Sind alle ausgeflogen, die Kinder. War wohl auch wegen der Sache mit Willi.“
Gertrud Burger stellte das Babyfoto zurück und seufzte. Sie verteilte Tassen und Teller auf dem Tisch und goss den Kaffee ein. Ulli folgte der Frau zum Tisch. Sie legte ihr Smartphone vor sich und fragte Frau Burger, ob sie zustimme, dass das Gespräch aufgezeichnet wurde. Frau Burger nickte. Später würde Ulli den Mitschnitt ins Präsidium schicken, wo er abgetippt und zur Ermittlungsakte hinzugefügt würde.
„Ihr Mann …“, Ulli hatte die Frage noch nicht ausformuliert, als Frau Burger schon abwinkte.
„Weg. Ausgezogen. Ein Jahr nach der Sache hielt er es hier nicht mehr aus. Ist nach Berlin. Hat dort im Transport eine Stelle bekommen. Er wollte mich mitnehmen, aber was soll ich in Berlin? Ich bin hier geboren und zur Schule gegangen. Das Haus von Willi ist unser Elternhaus. Als die Eltern tot waren, hat Willi mich ausbezahlt. Und uns beim Bauen geholfen. Dieses Haus ist fast wie das in der Torstraße. Wir haben damals viel Geld beim Architekten gespart. Wir lebten gut hier. Gunter und ich mit den Kindern. Und dann war die Sache mit der Kömen, und ein Jahr später waren alle weg.“
Trotzig richtete sich Gertrud Burger auf und straffte die Schultern. „Ich bin geblieben. Ich habe nichts verbrochen. Und Willi ist freigesprochen worden.“
„Ihr Bruder war ein Verdächtiger im Mordfall Kömen“, nahm Paule die Geschichte von Gertrud Burger auf.
Die alte Frau nickte. „Aber er wurde freigesprochen. Er hat immer gesagt, er sei unschuldig. Und sie konnten ihm nichts beweisen.“ Sie schaute durch das Fenster Richtung Ziegelteich. „Ich habe ihm immer gesagt: ,Lass die Finger von der Kleinen! Die taugt nicht zum Heiraten. ‘ Das hatte ihr damaliger Freund auch schon herausgefunden. Total verwöhnt. Einzelkind. Sie hat Willi nur ausgenutzt. Hat sich von ihm zur Arbeit mitnehmen lassen. Kein Wunder, dass die Polizei Haare von ihr in Willis Auto gefunden hat. Aber zum Heiraten war sie nicht. Nein!“
Entschlossen griff Frau Burger zum Kuchenmesser, schnitt mit energischer Geste zwei große Stücke Obsttorte ab und legte die Stücke auf die Kuchenteller.
„Hier, greifen Sie zu!“ Gertrud Burger schob Ulli einen Kuchenteller hin. „Wie gesagt, der Kuchen muss ja nicht verderben. Und Sie könnten ein paar Pfund mehr vertragen.“
Ulli nahm den Teller lächelnd entgegen und schob ihn zur Seite, während Paule sich beherzt dem Kuchen widmete. „Haben Sie die Eltern des Mädchen gekannt?“, fragte er beiläufig, anscheinend ganz mit der Obsttorte beschäftigt.
Frau Burger nickte. „Natürlich. Gerda Kömen und ich gingen zur gleichen Schule. Wir mochten uns ganz gerne, bis“, Frau Burger zögerte, „bis sie Willi den Mord anhängten. Wir hätten ihm ein falsches Alibi gegeben, hat sie mir später vorgeworfen. ,Immer noch besser, einen freigesprochenen als einen verurteilten Mörder in der Familie zu haben‘ meinte sie. Aber“, wieder straffte Gertrud Burger den Rücken, „was hätten wir denn sagen sollen? Wir waren uns nicht sicher, wann genau, also um wie viel Uhr, Willi hier weggegangen ist. War eher später als früher. Gut möglich, dass er zu der Zeit, als die Kleine ermordet wurde, noch hier war. Und wenn Zweifel da sind, dann muss man die auch aussprechen dürfen. Es ging schließlich um Mord“, Frau Burger nickte entschlossen, „und um meinen Bruder. Noch ein Stück?“
Gertrud Burger hatte sich Paule zugewandt, der nicht ablehnte, als ihm ein zweites Stück Obsttorte auf den Teller gelegt wurde.
„Gab es damals Drohungen von der Familie Kömen gegen Sie oder Ihren Bruder?“, fragte Ulli.
Frau Burger schaute wieder zum Fenster.
„Das alles ist jetzt schon zehn Jahre her. Stand am Donnerstag sogar in der Zeitung. Deshalb habe ich doch den Kuchen gebacken, um den Willi aufzuheitern. Er hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen.“
„Dann haben Sie Ihren Bruder am Donnerstag noch gesehen?“, hakte Paule nach.
„Ich habe ihn nach der Arbeit angerufen. Ich wollte ihn zum Abendessen einladen. Er hatte ja sicher auch den Artikel gelesen. Aber er wollte seine Ruhe haben. Wenn er zum Abendessen gekommen wäre ….“ Frau Burger verstummte.
Ulli wiederholte ihre Frage. „Wissen Sie von Drohungen gegen Ihren Bruder? Damals oder in den letzten Tagen?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Das hätte Willi mir nicht erzählt. Er hat nie über die Sache gesprochen. Aber der alte Kömen ist einmal ziemlich ausfällig geworden. Das ist aber schon ein paar Monate her. Auf dem Friedhof Diebsteich drüben. Ich hatte meine Eltern besucht, kurz vor Allerheiligen. Hatte eine Kerze und eine Pflanzschale vorbeigebracht. Astern. Und ich dachte, wenn du schon da bist, bringst du der kleinen Kömen auch ein paar Blumen. Als ich am Grab stand, ist Heinz Kömen gekommen und hat mich weggezerrt. Richtig grob ist er geworden. Ich solle die Finger vom Grab seiner Tochter lassen und mich schämen, wo ich doch den Mörder decken würde.“
„Und?“ Paule schob seinen leeren Kuchenteller beiseite, lehnte sich zurück und sah Gertrud Burger herausfordernd an: „Haben Sie den Mörder gedeckt?“
Die alte Frau zuckte zusammen, sie atmete tief durch und erwiderte Paules Blick: „Ich sage heute das Gleiche, was ich damals dem Richter gesagt habe: Ich kann mich an die genaue Uhrzeit nicht erinnern. Und außerdem: Was hätte es denn geändert? Die kleine Kömen wäre nicht mehr lebendig geworden. Und mein Bruder hat sich seit damals nichts zu Schulden kommen lassen. Er ist also bestimmt keiner von diesen perversen Triebtätern.“
Gertrud Burger war aufgestanden und begann, das Kaffeegeschirr auf das Tablett zu räumen. Dann hielt sie inne und schaute Paule herausfordernd an: „Glauben Sie mir: Ob schuldig oder nicht, wir alle haben für den Tod der Kleinen büßen müssen. Was damals geschehen ist, hat meine Familie zerstört, meine Kinder und meinen Mann aus Hamburg getrieben. Wir sind zurückgeblieben, Willi und ich. Willi war keine angenehme Gesellschaft all die Jahre. Aber was hätte ich denn machen sollen? Er war mein Bruder. Und was Willi da hatte, das war kein Leben mehr.“
Paule schnaubte verächtlich, verkniff sich aber einen Kommentar, als er Ullis warnenden Blick bemerkte.
„Können Sie sich außer der Familie Kömen noch jemanden vorstellen, der Ihren Bruder hasste?“, griff Ulli ihre Frage wieder auf. „Gab es vielleicht Streit mit Kollegen oder Nachbarn?“
Frau Burger setzte sich wieder hin und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Willi hatte mit seinen Nachbarn seit Jahren nichts mehr zu tun. Was Kollegen betrifft, fragen Sie besser den jungen Mann von heute Morgen. Und Feinde von damals? Vielleicht der damalige Freund der Kleinen. Aber der ist jetzt verheiratet und hat Kinder. Er hat es so besser getroffen. Wie gesagt, die Kleine war nicht zum Heiraten. Soll ich Ihnen noch ein Stück Kuchen einpacken?“
„Nein, danke“, Ulli beeilte sich, Paules Antwort zuvorzukommen. Die alte Frau tat ihr leid, außerdem schien sie bisher die Einzige, die das Opfer wirklich gekannt hatte. Sie würden noch weitere Informationen von ihr brauchen. Da war es besser, neutral zu bleiben und sie nicht durch unbedachte Äußerungen zu verärgern. „Die Spurensicherung ist jetzt im Haus Ihres Bruders fertig. Können Sie uns noch einmal dorthin begleiten, um nachzusehen, ob der Täter etwas mitgenommen hat?“
Frau Burger schluckte. Dann nickte sie. „Ja sicher, ich ziehe mich nur noch um.“
„Gut“, Ulli lächelte der Frau aufmunternd zu, „wir warten am Wagen.“
Draußen machte Paule seinem Ärger Luft.
„Deckt einen Mörder, macht die Tote schlecht und stellt sich selbst als Opfer dar“, schimpfte er.
„Na ja“, versuchte Ulli, ihn zu beruhigen, „in gewissem Sinne ist sie ein Opfer. Was damals geschah, hat sie einsam gemacht. Und sie leidet unter dieser Einsamkeit. Sie redet sehr viel. Alle einsamen Menschen tun das, wenn ihnen endlich jemand zuhört. Wir sollten ihr zuhören. Wir müssen einen Mord aufklären. Egal ob ihr Bruder damals schuldig oder unschuldig war: Seit heute Morgen ist Wilhelm Tieck ein Mordopfer.“
Paule schnaubte unwillig und nickte dann widerstrebend: „Aber glaub mir, es gab schon Fälle, die ich dringender aufklären wollte.“ „Andere anscheinend auch“, Ulli hatte gerade einen Nachricht auf ihrem Smartphone erhalten. „Oskar fragt, ob wir die Leichenöffnung auf morgen früh verschieben können. Seine Frau hat schon vor Wochen Karten zum Phantom der Oper heute Abend gekauft. CT und MRT seien schon durch.“
Paule schaute auf die Uhr. „Warum nicht? Der Tote läuft uns nicht davon. Wir fahren mit der Schwester noch einmal zum Tatort und machen dann für heute Schluss. Setzt du mich am Pferdemarkt ab? Zum Feierabendbier? Von dort komme ich bequem mit der U-Bahn nach Hause.“
Ulli seufze resigniert. Es schien niemand ein besonderes Interesse daran zu haben, den Mord aufzuklären. So gleichgültig kannte sie ihre Kollegen sonst nicht. Vielleicht sollte sie noch einmal im Präsidium vorbeischauen und die Akte Karin Kömen am Computer aufrufen. Andererseits war Rocco schon den ganzen Tag alleine, und Walter würde in der Sitzung morgen ohnehin über den Fall berichten.
KAPITEL 3
Montag, 26.08.2013, Hamburger Aktuelle Wilhelm T. tot!
Mutmaßlicher Vergewaltiger und Mörder von Karin K. tot in Eimsbüttel aufgefunden. Polizei geht von Gewaltverbrechen aus.
Hat jemand vollendet, was Richter vor zehn Jahren verpasst haben?
Als Ulli um acht Uhr ihren Citroën im Butenfeld abstellte und kurz danach den Obduktionsaal im Institut für Rechtsmedizin betrat, warteten Paule und Oskar schon auf sie. Oskar bot Ulli Minzöl an.
„Ich kann dir auch eine Maske geben, wenn du möchtest. Unser Freund hier riecht nicht mehr so appetitlich frisch, obwohl er direkt aus der Kühlung kommt.“
Dankbar nahm Ulli das Minzöl und strich sich einen Tropfen unter die Nase. Auch ohne rechtsmedizinisches Gutachten hätte sie mit Sicherheit sagen können, dass das Opfer schon mehr als vierundzwanzig Stunden tot war. Der süßliche Leichengeruch, der von vielen Anfängern als der typische Geruch in der Rechtsmedizin beschrieben wurde, trat erst auf, wenn Bakterien begonnen hatten, den Körper von innen zu zersetzen. In den meisten Fällen passierte die Leichenschau, bevor dieser Zersetzungsprozess begann. In den Räumen der Rechtsmedizin roch es daher meistens nach Desinfektionsmitteln und anderen chemischen Lösungen. Aber dieses Mal wurden diese Gerüche von dem moschusartigen Geruch nach verwesendem Fleisch überlagert. Paule hielt, wie immer bei einer Leichenschau, den einzigen Stuhl im Raum besetzt. Er blätterte in einem dünnen Schnellhefter.
Oskar nickte ihm zu: „Ich war gestern nicht ganz untätig. Toxikologische Befunde, Stellungnahme zu MRT und CT, alles da drin. Ich weiß, dass du die gedruckte Version bevorzugst. Es ist aber auch schon alles im Zentralcomputer.“
Paule reichte den Befund an Ulli weiter: „MRT und CT – ist das nicht ziemlich viel Aufwand für einen gewöhnlichen Mord?“
Oskar nickte. „Hat der Seidel gestern Abend noch angeordnet. Aber es ergibt Sinn, wenn man die beginnende Verwesung beachtet. Wir haben gestern schnell noch ein paar Aufnahmen gemacht, bevor sich der Herr verflüssigt. Der Bluttest war übrigens unauffällig. Keine Toxine. Außer einer geringen Menge Alkohol. Wird wohl schon ein Feierabendbier getrunken haben. Müsste ein bisschen auf seinen Cholesterinwert achten“, Oskar war zum Tisch getreten, „kann ihm aber jetzt auch egal sein.“
Paule grinste. Oskar war für seinen fragwürdigen Humor und die flapsigen Sprüche während der Leichenöffnung bekannt. Ulli hatte sich daran gewöhnt. Eigentlich mochte sie die unprofessionelle Sprache des Rechtsmediziners. Sie brachte etwas Menschliches in den ansonsten routinierten, technisierten Ablauf einer Leichenöffnung.
Oskar zeigte auf das kreisrunde Loch in der Stirn des Opfers: „Ich vermute, das war die Todesursache. Kontaktschuss. Die Stanzmarke deutet auf einen Schalldämpfer hin. Glatter Durchschuss. Kleine, sternförmige Austrittswunde am Hinterkopf. Habe ich gestern schon im Bild festgehalten.“
Er nickte zu dem Ordner in Ullis Hand. „Die Kollegen haben übrigens das Projektil und die Patronenhülse sicherstellen können.“ „Weißt du, wann genau es passiert ist?“ Paule war vom Stuhl aufgestanden und an den Obduktionstisch getreten.
Oskar zuckte mit den Schultern. „Ich bleibe dabei: Angesichts der gelösten Leichenstarre und des Status‘ der Verwesung irgendwann zwischen Donnerstagabend und Freitagabend. Wir haben die Pizza zur entomologischen Untersuchung geschickt. Ihr wisst schon, die Sache mit den Entwicklungsstadien der Fliegenlarven. Es wäre hilfreich, wenn ihr herausfinden könntet, wann die Pizza geliefert wurde. Anscheinend kam der Tote nicht mehr dazu, sie anzuschneiden.“
Paule schnaubte genervt: „Und warum dann der Tanz mit den Fliegenlarven? Wenn wir wissen, wann die Pizza geliefert wurde, sind wir genauso weit. Einfache, solide Ermittlungsarbeit anstatt diesem CSI-Quatsch.“
Oskar grinste breit, er kannte Paules Abneigung gegen alle neuen Ermittlungsmethoden. „Du sagst es. Aber wir können es und deshalb tun wir es. Macht später Eindruck bei der Gerichtsverhandlung. Und jetzt“, Oskar griff zur Knochensäge, „bitte zurücktreten.“
Ulli wusste, was jetzt kam. Sie kannte den Standardsatz des Rechtsmediziners von den anderen Obduktionen.
„Machen wir den Kerl einmal auf.“
Oskar begleitete die beiden Kommissare nach draußen. Er zündete sich eine Zigarette an.
„Eigentlich rauche ich kaum noch. Aber manchmal hilft es.“
Er deutete in Richtung Obduktionssaal. „Ich kann nicht behaupten, dass mir der Tod dieses Kerls da drinnen besonders nahe geht.“ Erstaunt schaute Ulli den Rechtsmediziner an. Es war das erste Mal, dass sich Oskar zu einem negativen Urteil über ein Opfer hinreißen ließ. Er lehnte an der Wand und inhalierte den Zigarettenrauch.
„Da drin lag sie. Ich glaube, sogar im gleichen Raum. Das ist jetzt zehn Jahre her. Auch wenn man bedenkt, dass ich damals vielleicht noch etwas empfindlicher war als heute, war es ein Anblick, den ich nie vergessen werde.“
Der Mediziner warf den Rest der Zigarette auf den Boden und trat ihn aus. „Sie hätte überleben können, wenn das Schwein nicht einfach weggerannt wäre. Hat sie einfach liegen lassen. Die Frau war bewusstlos und ist irgendwann aufgewacht. Sie hat versucht, wegzukriechen. Vielleicht wäre sie an den Verletzungen gestorben, die er ihr zugefügt hatte, vielleicht aber auch nicht. Die Todesursache war aber letztlich Ertrinken. Sie hätte überleben können, wenn sie einfach nur in die andere Richtung gekrochen wäre.“
Oskar deutete auf Ulli. „Genau da, wo du jetzt stehst, standen damals die Eltern. Fassungslos. Ich hatte die Mutter an die frische Luft begleitet. Der Vater fragte mich aus. Jedes verdammte Detail wollte er von mir wissen. Im Gerichtssaal habe ich sie dann wiedergesehen. Ich konnte nichts dafür, aber ich schämte mich, als der Kerl, der jetzt da drinnen liegt, freigesprochen wurde. Wir konnten es ihm einfach nicht beweisen. Damals nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass er einmal bei mir auf dem Tisch liegen würde. Lange genug gedauert hat es ja.“
Während Paule zustimmend nickte, schüttelte Ulli den Kopf.
„Du verurteilst jemanden, der freigesprochen wurde.“
Oskar bückte sich nach der Zigarettenkippe und hob sie auf. „Nicht schuldig aus Mangel an Beweisen. Du wirst niemanden im Präsidium finden, der an seine Unschuld glaubte“, Oskar warf Paule einen kurzen Blick zu, „aber egal. Du hast natürlich recht: Jetzt ist er ein Mordopfer wie jedes andere, und es ist unsere Aufgabe, seinen Mörder zu finden.“
***
Ulli hatte die Präsidiumssitzung erst für dreizehn Uhr angesetzt. Oskar hatte versprochen, bis dahin den vollständigen Obduktionsbericht vorzulegen.
Als Ulli und Paule das Präsidium betraten, kam ihnen Kai entgegen. „Wir haben den Pizzadienst ausfindig machen können. Auf dem Handy des Opfers war die Nummer gespeichert. Sie wussten sogar noch, wen sie am Donnerstagabend in die Torstraße geschickt hatten. Gut sortiert, der Laden. Er heißt Stefan Hoff, Student. Ordentlich angemeldet als Mini-Jobber. Wohnhaft in Wilhelmsburg. Er wird gleich hier sein. Ich mache mich jetzt auf den Weg in die Torstraße, gestern habe ich nicht mit allen Nachbarn gesprochen. Bei dem schönen Wetter waren die meisten unterwegs. Ich frage auch nach Überwachungskameras und nach Autos, die dort normalerweise nichts verloren haben. Ist nicht direkt eine Durchgangsstraße. Emma geht mit Walter den alten Fall Kömen durch, Dirk stellt die Reaktionen auf den Artikel vom letzten Donnerstag zusammen. Wir sehen uns dann in der Sitzung.“
Wenigstens Kai schien den Fall genauso ernst zu nehmen wie jeden anderen Mordfall.
„Der war damals noch nicht in der Mannschaft“, kommentierte Paule, als hätte er Ullis Gedanken erraten.
Stefan Hoff fand sich wenige Minuten später im KK3, dem Kriminalkommissariat 3 des LKA, ein. „Ich habe mein Fahrrad direkt vor dem Eingang abgestellt. Ich vermute, bei euch kommt nichts weg“, sagte er und lehnte den Kaffee, den Ulli ihm anbot, ab. „Aus den Fernsehkrimis weiß ich, dass der Kaffee bei der Mordkommission grausig schmeckt“, meinte er grinsend. „Ihr Kollege sagte, ich könnte Ihnen helfen. Ich müsse als Zeuge bei einem Gewaltverbrechen aussagen“, fügte er ernster hinzu.
Ulli nickte und musterte den jungen Mann, der in verblichenen Jeans und blauem Polo-Shirt vor ihr saß und ihren Blick lässig erwiderte.
„Sind Sie damit einverstanden, dass ich unser Gespräch aufzeichne?“, fragte sie und legte das Smartphone auf den Tisch.
Stefan Hoff nickte. „Klar doch.“
„Mein Kollege berichtete mir, dass Sie am Donnerstagabend für den Pizza-Dienst Venezia eine Lieferung in die Torstraße 17 brachten“, begann Ulli.
Der Student nickte abermals. Ohne Zögern begann er zu erzählen:
„Ja, zu Tieck. Muss so gegen zwanzig Uhr gewesen sein. Die Nachrichten im Ersten fingen gerade an. Herr Tieck hatte seinen Fernsehapparat ziemlich laut gestellt. Ich konnte die Erkennungsmelodie der Nachrichten bis zur Tür hören.“
„Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie die Pizza lieferten?“
Stefan Hoff zuckte mit den Schultern. „Der Mann bestellte öfter bei uns. Wir haben feste Liefergebiete, so dass ich meistens in die Torstraße liefere. Immer Pizza oder Nudeln. Mochte wohl keine Salate.“
„Kannten Sie Herrn Tieck näher? Hat er vielleicht einmal für mehr als eine Person bestellt?“, wollte Paule wissen.
„Näher kennen wäre übertrieben. Ich kann mit dem Namen ein Gesicht verbinden. Aber es kam nie zu einem persönlichen Gespräch, wenn Sie so etwas meinen. Im Gegenteil. Er hatte das Geld immer schon abgezählt in der Hand, wenn er mir die Tür öffnete. Rundete ziemlich großzügig auf. Ich lieferte das Essen, nahm das Geld, wünschte ihm noch einen schönen Abend und war wieder weg. Eigentlich der ideale Kunde. Wissen Sie, nichts ist schlimmer als Kunden, die dich hineinbitten, erst noch umständlich ihr Portemonnaie suchen und dich dann ewig in Smalltalk verwickeln. Wir sind immer in Eile. Die anderen Kunden warten, und sie wollen auch eine heiße Pizza. Und nein, ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal mehr als eine Portion geordert hätte. Aber ich weiß nicht, ob er alleine lebte oder einmal Besuch hatte. Wie gesagt, ich bin nie weiter als bis zur Haustür gekommen.“
„Ist Ihnen an diesem Abend etwas Besonderes aufgefallen?“, fragte Ulli.
Stefan Hoff dachte nach und schüttelte dann den Kopf. „Nein, alles war wie immer.“
„War Herr Tieck vielleicht ungewöhnlich nervös? Oder hatten Sie den Eindruck, es war sonst noch jemand im Haus?“
„Sie meinen, sein Mörder war schon da? Ich glaube, so etwas wäre mir aufgefallen. Auf jeden Fall schien er nicht aufgeregt oder ängstlich. Und nach Besuch sah es auch nicht aus. Man stellt doch den Fernseher nicht so laut, wenn man Besuch hat und sich unterhalten will. Ich habe lange überlegt, aber ich kann mich auch beim besten Willen nicht mehr erinnern, ob da ein Auto geparkt war. Also direkt vor dem Haus mit Bestimmtheit nicht, da habe ich mit dem PizzaFord gehalten.“
„Und auf dem Weg zur Torstraße? Ist Ihnen da etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Ein parkendes Auto vielleicht, in dem jemand saß?“, hakte Ulli nach.
Stefan Hoff schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich achte auf so etwas nicht. Ich ahnte ja nicht, dass ich in einem Mordfall aussagen muss.“
„Und Sie selbst haben den ganzen Abend gearbeitet? Wann genau hatten Sie Feierabend?“, fragte Paule.
Stefan Hoff schaute den Kommissar freundlich an. „Das war jetzt wohl die Frage nach dem Alibi. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das fragen. Ich bin von der Torstraße zurück zur Pizzeria. Hat etwas länger gedauert als sonst, weil ziemlich viel Verkehr war. Ich habe vom Auto aus mit meiner Freundin telefoniert, die wird Ihnen das bestätigen. Die letzte Pizzabestellung habe ich um Viertel nach zehn übernommen, also zweiundzwanzig Uhr fünfzehn, und direkt ausgeliefert. Zum Campingplatz Buchholz in Stellingen. Dann bin ich wieder zurück und habe abgerechnet. Kurz nach zwölf war ich zuhause in Wilhelmsburg. Sie können bei meiner Freundin nachfragen, wir wohnen zusammen.“
Stefan Hoff hatte einen Zettel mit den Telefonnummern seines Chefs und seiner Freundin schon vorbereitet und gab ihn Paule. Er versprach, noch einmal durch die Torstraße zu fahren und auszuprobieren, ob er sich vielleicht doch an etwas Ungewöhnliches erinnern konnte. Danach verabschiedete er sich.
„Ich finde, unser Kaffee ist weitaus besser als sein Ruf“, meinte Paule, als die beiden Kommissare mit ihren Kaffeetassen Ullis Büro betraten. „Als Zeuge war unser junger Freund verdächtig gut vorbereitet.“
Ulli gab Paule recht: „Aber kannst du ihn dir als kaltblütigen Mörder vorstellen? Obwohl er zweifelsohne die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Ihm scheint noch nicht einmal der Gedanke gekommen zu sein, dass wir ihn verdächtigen könnten. Entweder, er ist ein hervorragender Schauspieler, oder er hat tatsächlich nichts mit dem Mord zu tun. Trotzdem soll sich Kai seinen Hintergrund noch einmal gründlich ansehen. Vielleicht taucht doch ein Motiv auf.“
Das Team hatte sich um den langen Konferenztisch versammelt. Hauptkommissar Walter Schmitz, der Leiter des zweiten Ermittlungsteams des LKA, nickte Ulli ernst zu. Er war Ullis Bitte zur Teilnahme an dieser Sitzung gefolgt, um über den alten Mordfall Karin Kömen zu berichten. Ulli erwiderte Walters Nicken und wollte beginnen, als sich die Tür zum Besprechungsraum öffnete.
Sebastian Eisler schob sich in den Raum.
„Darf ich dazukommen?“
Sebastian Eisler war im Januar von Berlin zum LKA Hamburg gekommen und arbeitete als zweiter Kommissar in Walter Schmitz‘ Ermittlungsteam. Ulli mochte die engagierte und gewissenhafte Art des neuen Kollegen. Sie hatten bisher einige Male am Kaffeeautomaten zusammen gestanden und sich über ihre aktuellen Fälle und ehemalige Kollegen in Berlin ausgetauscht. Die Kollegen des KK3 munkelten schon über das zukünftige, smarte Ermittlungsduo des LKA. Und tatsächlich konnte sich Ulli durchaus vorstellen, nach Paules Pensionierung im kommenden Dezember mit Sebastian in einem Team zusammenzuarbeiten. Ulli schmunzelte innerlich: Die Gerüchteküche würde überkochen, wenn die Kollegen wüssten, dass es nicht bei den zufälligen Treffen am Kaffeeautomaten geblieben war. Sie nickte Sebastian zu und forderte ihn mit einer einladenden Geste auf, sich zu ihnen an den Konferenztisch zu setzen.
„Der Tote ist Wilhelm Tieck. 53 Jahre alt, ledig. Lebte alleine. Seine Schwester und ein Arbeitskollege fanden ihn gestern Morgen tot in seinem Haus in der Torstraße. Todesursache war ein Schuss aus kurzer Distanz in die Stirn. Tatortfotos und den Bericht der Rechtsmedizin findet ihr im Computer. Die Rechtsmedizin kann eine zweite Todesursache ausschließen. Todeszeitpunkt ist vermutlich der Abend, beziehungsweise die Nacht von Donnerstag auf Freitag. Der Tote hat am Donnerstagabend eine Pizza bestellt, die laut Aussage des Pizzaboten um zwanzig Uhr geliefert wurde. Der Pizzabote vermutet, dass das Opfer alleine war. Zurzeit haben wir keinen Grund, an der Aussage des Zeugen zu zweifeln. Aber wir werden noch seinen persönlichen Hintergrund anschauen und die Fingerabdrücke abgleichen. Oskar hat uns bestätigt, dass der Tote nichts von der Pizza gegessen hat. Wir nehmen also an, der Täter betrat kurz nach dem Pizzaboten das Haus. Wann der Mord stattfand, lässt sich nur ungefähr eingrenzen. Die Leichenstarre hatte sich am Sonntagmorgen bereits gelöst. Wir können davon ausgehen, dass der Mord nach zwanzig Uhr am Donnerstagabend und nicht später als Freitagmorgen stattgefunden hat. Unser Pizzabote ist bisher der Letzte, der das Opfer lebend gesehen hat. Außer dem Täter natürlich. Keine Einbruchsspuren. Wir waren gestern Abend mit der Schwester des Toten noch einmal im Haus, um zu sehen, ob etwas gestohlen wurde. Von den wenigen Wertgegenständen im unteren Stock scheint nichts zu fehlen. Die Geldbörse des Opfers lag auf der Kommode mit sechzig Euro in Scheinen und etwas Kleingeld. Die Schwester meinte, ihr Bruder hatte nie viel Bargeld im Haus. Wir sind auch in den ersten Stock. Es schien, als habe das Opfer dieses Stockwerk nicht bewohnt, es eher als Lager benutzt. Die Schwester vermutete, dass da vorher einmal mehr Kisten waren. Aber sie wäre schon lange nicht mehr oben gewesen. In den Kisten bewahrte ihr Bruder nichts Wertvolles auf. Kleider, alte Spielsachen, Zeug ihrer Eltern. Dinge, die man nicht braucht, die aber zu schade zum Wegwerfen sind. Vielleicht hat Wilhelm Tieck einige Kisten entsorgt. Wir werden auf jeden Fall noch einmal die Spurensicherung ins Haus schicken, damit sie im oberen Stockwerk Fingerabdrücke nimmt.“
Ulli schaute kurz von ihren Unterlagen auf und sah direkt in die dunklen Augen von Sebastian Eisler. Sebastians zustimmendes Nicken schmeichelte ihr. Er hatte sicherlich kein Problem mit Frauen in Führungspositionen.
Ulli räusperte sich und gab Dirk ein Zeichen. Das Foto des Opfers, auf dem Stuhl fixiert, erschien auf der Wand hinter Ulli.
„Die Auffindesituation des Opfers legt nahe, dass es kein Raubmord war. Der Täter hatte vermutlich beide Stühle aus der Küche ins Wohnzimmer geholt.
„Sieht aus, als hätten sich die beiden unterhalten“, warf Kai ein, „vielleicht hat der Täter doch Geld im Haus vermutet und das Opfer unter Druck gesetzt, ihm das Versteck zu verraten.“
„Dagegen spricht, dass nichts in der Wohnung darauf hindeutet, dass der Täter etwas gesucht hat. Außerdem gibt es keinerlei Verletzungen am Opfer, die auf Folter hinweisen.“
„Also ein kleiner Plausch unter Freunden?“, überlegte Walter. „Wenn es keine Einbruchsspuren gab, dann muss Wilhelm Tieck seiner Mörder hereingelassen haben.“
„Woher weiß man, dass es nur ein Täter war?“ fragte Kai.
„Es stand nur ein weiterer Stuhl im Wohnzimmer. Die Art der Tat deutet ebenfalls auf einen Einzeltäter. Ich denke, wir sollten zunächst von einem Einzeltäter ausgehen. Und ja“, Ulli nahm die Anregung von Walter auf, „wir gehen zurzeit davon aus, dass Wilhelm Tieck seinen Mörder hineingelassen hat. Einen Schlüssel von der Haustür haben, laut Aussage der Schwester, nur sie und das Opfer. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass es ein älteres Haus mit einer gewöhnlichen Haustür ist. Früher lebten dort die Eltern des Opfers mit dem Opfer und seiner Schwester. Es ist also gut möglich, dass noch mehr Schlüssel existieren.“
„Könnte die Schwester etwas mit dem Mord zu tun haben?“, fragte Kai.
Ulli schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht. Sie schien ehrlich betroffen vom Tod ihres Bruders.“
„Konnte sie etwas zu einem möglichen Motiv sagen?“, fragte Kai weiter.
Ulli schüttelte wieder den Kopf.
„Der Tote lebte sehr zurückgezogen. Hatte kaum Kontakte zu anderen. Kein Verein, kein Freundeskreis. Er arbeitete seit mehr als zehn Jahren als Lagerist bei Schrauben Ziegler im Haferweg, keine fünfzehn Minuten von seinem Wohnhaus entfernt. Ein Arbeitskollege, Klaus Faas, hat den Toten gemeinsam mit der Schwester gefunden. Die beiden Kollegen waren verabredet. Als Wilhelm ihn versetzte und sich auch zwei Tage später noch nicht bei ihm gemeldet hatte, hat er die Schwester angerufen, und sie sind zum Haus gefahren. Die Schwester hat einen Schlüssel. Aussagen habt ihr im Computer. Wir müssen noch die übrigen Arbeitskollegen befragen. Aus den gegenwärtigen Lebensumständen scheint sich kein Motiv zu ergeben. Interessant ist der Hinweis auf einen Mordfall, der sich auf den Tag genau letzten Donnerstag vor zehn Jahren ereignete.“
Ulli schaute in die Runde. „Einige Kollegen werden sich noch daran erinnern. Unser Opfer wurde damals als mutmaßlicher Täter festgenommen, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Am Donnerstag hat die Hamburger Aktuelle in einem Artikel zum zehnten Jahrestag des Mordes an Karin Kömen an den Fall erinnert. Walter ist mit den Ermittlungen vertraut.“
Walter gab Dirk ein Zeichen. Auf der Wand erschien das Foto einer jungen, blonden Frau. Sie war zeitlos in Jeans und Hemdbluse gekleidet und lachte in die Kamera.
„Das ist Karin Kömen“, begann Walter, „sie wurde in der Nacht des 22. August 2003 überfallen, misshandelt und vergewaltigt.“
Auf der Wand erschien ein Foto vom Tatort.
„Spaziergänger fanden ihre Leiche am Morgen des 23. August im Ziegelteich unweit des Hauses, in dem sie gemeinsam mit ihren Eltern wohnte. Karin Kömen war im Ziegelteich ertrunken. Vermutlich, als sie versuchte, vor ihrem Peiniger davonzukriechen. Die Rechtsmedizin stellte damals fest, dass darüber hinaus vermutlich auch ihre schweren Kopfverletzungen innerhalb weniger Stunden zum Tod geführt hätten. Nur eine direkte ärztliche Versorgung hätte das Opfer eventuell retten können. Karin Kömen hatte gemeinsam mit ihrem Freund, Bruno Dörfer, in einer Diskothek in der Innenstadt gefeiert, wo es gegen dreiundzwanzig Uhr zu einem Streit zwischen den beiden kam. Sie verließ die Diskothek alleine, um, wie ihr Freund vermutete, mit der S-Bahn nach Hause zu fahren.