Drei Herzen - Eine Nacht - Orte der Ewigkeit - E-Book

Drei Herzen - Eine Nacht E-Book

Orte der Ewigkeit

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Beschreibung

Ein viktorianisches Sanatorium, in dem Gaslicht flackert und Gebete wie Stromstöße klingen. Drei gebrochene Seelen - ein trauernder Poe-Dozent, ein herzbesessener Uhrmacher, ein Mathematiker auf der Suche nach Unsterblichkeit - werden von einer Krankenschwester dirigiert, deren Lächeln dunkler ist als jedes Behandlungszimmer. Während Raben über den Operationssaal kreisen und eine dämonische Leidenschaft die Mauern durchdringt, verdichten sich Schuld, Wahnsinn und verführerische Finsternis zu einem Ritual, das nur mit Blut vollendet werden kann. Dies ist Schwarze Romantik: keine Rettung, kein Happy-End, kein wohldosiertes "Spice", sondern ein sinnlicher Abstieg in Schönheit, Tod und Verdammnis - bis das letzte Herz verstummt und der Rabe sein endgültiges "Nimmermehr" krächzt.

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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

AKT I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

AKT II

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Akt III

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Finale

Kapitel 10

Epilog

Über den Autor

Vorwort

Was Sie nun in Händen halten, ist nicht bloß ein Buch. Es ist ein Flüstern – eine Beschwörung aus jenem Zwischenreich, das sich zwischen Schlaf und Wahn auftut. Eine Geschichte erwartet Sie, wie sie nur im fiebrigen Traum eines ruhelosen Geistes entsteht: düster, betörend, mit dem Geschmack von Eisen auf der Zunge.

Ist sie wahr? Ach, was heißt schon Wahrheit in einer Welt, in der selbst das Licht lügt? Ich werde Ihnen nicht sagen, ob das, was folgt, sich wirklich so zugetragen hat. Vielleicht ist es nur ein grausames Märchen, erzählt von Lippen, die längst verfallen sind. Vielleicht aber auch eine Chronik, weitergereicht von jenen, die nie wieder schlafen konnten.

Ich weiß nur eines: Ich habe diese Geschichte nicht erfunden. Ich habe sie gehört – von Fremden. Und ich hörte sie wieder – von Freunden. Von denen, die lachten – und jenen, die weinten, während sie sprachen.

Sie soll sich zugetragen haben in jenen Jahren, da der Nebel schwer über den Straßen lag, als die Welt an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts stand – zwischen Gaslicht und Elektrizität, zwischen Phrenologie und Psychoanalyse. Eine Zeit des Umbruchs, wie geschaffen für Geister: das viktorianische Zeitalter.

Wissenschaft und Aberglaube kämpften um die Seele des Menschen, rangen miteinander wie alte Feinde in einer zerfallenden Kirche. Noch hatte keiner den Sieg davongetragen. Noch war die Welt durchlässig.

Lesen Sie. Aber lesen Sie mit Vorsicht. Denn manche Geschichten… lesen auch zurück.

Unsere Reise führt uns an einen Ort, den man damals mit dem sanften Wort „Heil- und Pflegeanstalt“ belegte – ein Begriff, der in seinem klammen Klang das Entsetzliche zu verbergen suchte. Hinter jenen hohen Mauern, über denen der Efeu wie erstarrtes Blut kroch, sammelte man die Seelen, die nicht in das Bild der Gesellschaft passten. Dort, wo die Vernunft Risse zeigte, begann das Reich der Ärzte, Wärter – und Dämonen.

Die Psychiatrie, wie man sie heute nennt, war noch ein junger, zitternder Zweig am Baum der Medizin. Um ihre Anerkennung wurde gerungen, nicht mit Beweisen, sondern mit Experimenten – mit Strom, Isolation und dem zerbrechlichen Glauben, man könne den Geist durch Schmerz befreien. Was aus heutiger Sicht wie Folter erscheint, war damals Hoffnung. Hoffnung, geboren aus Ahnungslosigkeit.

Gerade hier, in diesen muffigen Korridoren, wo Gebete ebenso wie elektrische Impulse durch die Wände drangen, kämpften Wissenschaft und Aberglaube wie zwei hungrige Hunde um denselben Kadaver: den menschlichen Verstand.

An eben jenem Ort, wo das Klirren von Schlüsseln den Takt vorgab und selbst das Sonnenlicht nur zögerlich durch die vergitterten Fenster fiel, begegnen wir nun jenen, die man dort verwahrte – oder, wie man sagte: „pflegte“. In dieser Zeit, an diesem Ort, fernab der Städte, eingehüllt in Nebel und vergessene Akten, begegnen wir einigen wenigen Gestalten. Ihre Wege kreuzen sich flüchtig auf den langen Gängen, in den stillen Morgenstunden, im Zwielicht zwischen Dämmerung und Dämmerung.

Elijah Gray sitzt oft am Fenster des Ostflügels, die Hände reglos auf den Knien. Er spricht wenig, doch manchmal bewegt sich sein Mund, als spräche er einem Schatten zu. Gideon Vale durchmisst die Korridore in langsamen, abgemessenen Schritten, als zähle er still die Stunden. Und Professor Arvale, hochgewachsen und schweigsam, schreibt unermüdlich in ein schwarzes Heft, das er stets bei sich trägt wie ein heiliges Buch. Dr. Wilhelm Kruger, der Mann mit dem Schlüsselbund, geht selten hastig. Seine Schritte sind leise, sein Blick kontrolliert – und doch haftet etwas an ihm, das mehr sieht, als gesehen wird. Und wo immer die Türen sich öffnen, ist auch Edda Lenhart zu finden – mit sicherem Griff und einem Blick, der mehr weiß, als sie zu sagen bereit ist. Sie spricht freundlich, aber nie lange. Ihre Hände sind ruhig. Ihre Augen nicht. Sie alle leben hier. Sie alle hören das Gleiche in der Nacht. Aber jeder hört es auf seine Weise.

Habe ich Sie nun verschreckt – oder habe ich Ihre Neugier geweckt? Wollen Sie wirklich eintreten in diese Geschichte, in diesen schmalen Korridor zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit? Dann seien Sie gewarnt.

Was Sie erwarten wird, ist ein Grenzland. Ein Reich, in dem Wahrheit und Dichtung wie Nebelschwaden umeinanderkreisen, nicht zu fassen, nicht zu trennen.

Ich sagte es bereits – und ich wiederhole es: Nichts von alledem lässt sich noch eindeutig belegen. Nur eines steht fest – es wird schaurig sein. Sagen Sie also später nicht, man habe Sie nicht gewarnt. Wenn Sie nun die Seite umschlagen, um zu lesen, was erzählt werden muss, dann tun Sie es auf eigene Gefahr. Ich zwinge Sie zu nichts – Sie öffnen diese Seiten aus freiem Willen. Und niemand weiß, was mit jenen geschieht, die freiwillig den Schleier lüften.

Hören Sie es schon, dieses leise Pochen?

Prolog

Nehmen Sie doch bitte diese fast zerrissene Seite eines Tagebuches zur Hand. Sie ist alt, wie Sie sehen – am Rand gebräunt vom Rauch vieler Nächte, in denen ihre Schrift mit blutdunkler Tinte weiterwuchs, lange nachdem der Verstand des Schreibenden schon zu wanken begann. Sie stammt aus dem Tagebuch eines gewissen Elijah Gray, einst Dozent für klassische Literatur, dann verlorener Wanderer zwischen den Schluchten des Geistes. Was aus dem Tagebuch selbst geworden ist, weiß niemand mit Gewissheit zu sagen. Es ist verschollen – wie so vieles, das besser unberührt bliebe. Doch dieses eine Blatt, halb eingerissen, leicht riechend nach Lavendel und Moder, wurde gefunden. Man entdeckte es zwischen aufgerissenen Akten und vergilbten Patientenbildern im Büro des berüchtigten Dr. Wilhelm Kruger, just in jenem Augenblick, da seine Anstalt – ein Ort, von dem man in Fluren nur noch flüsternd sprach – endgültig geschlossen wurde.

Es war eingeklemmt zwischen den Seiten eines Buches von Poe. "And Darkness and Decay and the Red Death held illimitable dominion over all", war die letzte Zeile, über der das Blatt wie ein Mahnmal lag. Was Sie nun lesen werden, ist das, was erhalten blieb. Ein Fragment. Ein Fluch. Oder bloß das Echo eines Verstandes, der sich selbst in die Tiefe schrieb.

Freitag, der 13. August im Jahre des Herrn 1897

Ich bin aus einem Traum erwacht.

Nicht aus jenen, die flüchtig verwehen, wenn das Licht der Dämmerung sich in die Ritzen der Welt schiebt – sondern aus einem Traum, der wie ein glühender Dorn tief in der Schädelwand wurzelt. Ein Traum, so schrecklich, so gotteslästerlich, dass selbst die Engel, wäre noch einer in meinem Zimmer gewesen, mit blutenden Augen davongeflohen wären.

Ein Jüngstes Gericht – ja! – und doch war kein Richter da, nur ich, splitternackt vor einer Wand aus pochendem Fleisch, das mich anzusehen schien. Der Schweiß hat mich verlassen in Strömen, ich sage Strömen! Nicht Tropfen – literweise, als hätte mein Körper sich aufgelöst in Salzwasser und Angst.

Mein Nachtgewand klebte an mir wie eine zweite Haut aus Reue, das Laken schlang sich um meine Glieder wie die schleimigen Finger einer alten Schuld, und die Decke …die Decke dampfte. Ich war in einem großen Saal. Nicht einem, wie ihn die Welt für Feste oder Gebete erbaut – nein, dies war ein Tempel der Kälte, ein Altar der sezierenden Augen. Ich lag ausgestreckt auf einem Tisch aus Eisen, der mir das Mark zu gefrieren schien, so als wolle er mich erinnern: Du bist nichts als Fleisch.

Über mir – zuerst glaubte ich, der Himmel selbst habe sich geöffnet, um mir den Blick in seine schwarze Tiefe zu gestatten – war kein Dach, keine Decke. Doch dann… o Gott… dann sah ich: Es war ein Oberlicht. Trüb, vergilbt, mit Spuren wie von Fingern, die verzweifelt von innen gegen das Glas geschlagen hatten.

Der Boden, ebenso wie die Wände, war bedeckt mit Kacheln – makellos weiß und melancholisch blau –, als hätte man den Irrsinn selbst in ein Raster gezwängt. Die Kühle dieser Farben schnitt mir ins Auge wie Glas.

Große Fenster reckten sich an den Seiten des Saals empor, fensterhafte Gebete, die dem Tag sein Licht entlocken sollten. Doch das Licht… das Licht kam nicht. Es blieb draußen, wie ein Feigling.

Eine Empore zog sich über der Stirnwand entlang, mit Reihen aus Zuschauerbänken – leer, und doch fühlte ich Blicke. Nicht von Menschen. Nein.

Etwas war dort oben. Etwas, das nicht atmete. Etwas, das wartete.

Neben mir, auf einem Nebentisch – ein Altar aus rostigem Stahl – lagen drei Herzen. Sie schlugen noch. Langsam. Unaufhörlich. Ein jedes in seinem eigenen Takt – wie wenn drei Uhren versuchen, den Untergang zu messen. Ein dumpfes, feuchtes Klopfen, das durch den Raum hallte wie das Echo eines Gottes, der längst fortgegangen ist.

Und dann… dann erkannte ich es. Mit einem Schauder, der mir das Rückgrat hinabkroch wie eine kalte Zunge: Eines dieser Herzen war mein eigenes. Nicht herausgerissen. Nein. Nicht zerfetzt, nicht zertrümmert. Es war mit einer Geduld entfernt worden, wie sie nur einem Chirurgen oder einem Dämon zueigen ist – fein säuberlich, fast liebevoll – mit der Klinge eines Skalpells, das ich in meinen Albträumen wiedererkenne, wenn ich im Schlaf zu weinen beginne.

Mit jedem Schlag der drei Herzen ergoss sich Blut. Nicht spritzend, nicht wild – sondern würdevoll, stetig, wie der stille Regen in einer Kapelle, in der niemand mehr betet.

Und auf dem Boden… auf dem Boden breitete sich das Lachen aus. Ein dunkles, feuchtes Lachen, das das Blut bedeckte. Nicht mit Laut, sondern mit Bedeutung. Es war kein Lachen, das aus Kehlen kam – es war das Lachen des Raumes selbst.

Dort unten, zwischen den Kacheln, schienen sich drei blutrote Seen zu bilden. Von jedem dieser Seen gingen drei Flüsse aus – schmal, aber tief, wie geschnittene Adern in einer Welt aus Porzellan.

Seen des Lebens.

Flüsse des Sterbens.

Und ich… Ich wusste nicht mehr, zu welchem ich gehörte. Zwei Schatten. Menschen ähnlich, ja – in ihrer Form, in ihrer Haltung… doch nicht in ihrer Bewegung. Sie standen nicht – sie schwebten. Sie atmeten nicht – sie warteten.

Ich konnte nichts von ihren Gesichtern erkennen, nur Schemen, flimmernd wie Spiegelbilder auf dunklem Wasser. Und doch wusste ich, dass sie mich ansahen. Mit einer Geduld, wie sie nur Dinge haben, die ewig Zeit besitzen.

Dann – ein Flügelschlag! Ein Rabe fuhr durch den Raum, pechschwarz, mit Augen aus Nacht und Schnabel aus Stahl. Er durchstieß das Oberlicht, ohne es zu berühren, kreischte – ein Krächzen wie zerrissene Verse, wie ein Ruf aus Poes Mund selbst: "Nimmermehr!"

Und ich erwachte. Der Klang seines Rufes hallte noch in meinem Kopf, wie der Nachgeschmack eines vergifteten Gedankens. Ich lag wieder in meinem Zimmer. In jenem armseligen Bett. Die Decke – kalt. Das Laken – nass. Mein Herz – … in meiner Brust. Ich habe nur geträumt. Ja. Nur geträumt.

Gott sei Dank.

…Oder?

AKT I

Kapitel 1

Die Kutsche war schwarz wie Pech und stieß bei jeder Erschütterung ein leises Stöhnen aus, als trüge sie nicht nur Menschen, sondern auch deren Schuld. Zwei stumme Beamte auf dem Kutschbock, zwei weitere im Innern – stählern im Blick, unberührt vom klammen Atem der Dämmerung. Zwischen ihnen: ein Mann, kaum über Mitte dreißig, das Gesicht bleich, die Hände gefesselt, die Augen voll stummer Fragen, die niemand beantworten wollte.

Sie hielten vor dem großen schmiedeeisernen Tor. Es ragte aus der Erde wie ein Grabmal, überzogen von feinem Rost, als hätte es lange geschwiegen, nun aber seine kalte Stimme wiedererlangt. In kunstvollen Lettern, mit Dornenschwüngen und gotischem Ernst, stand dort: Sanatorium St. Raphael. Direkt daneben glänzte ein Schild aus Messing, so blank geputzt, dass es das fahle Licht der Laternen in trügerischem Gold zurückwarf. Darauf eingraviert, in fast kalligraphischem Schwung:

„Ihr, die ihr eintretet, lasset alles Böse fahren; hier wohnt die Hoffnung. – Dr. Wilhelm Krüger“

Ein Spruch wie ein mildes Urteil – und doch war da etwas in seinem Klang, das sich in die Nackenhaare schlich.

Einer der Beamten trat vor, griff nach einer schweren Kette und zog daran. Tief und voll hallte der Ton der Glocke über den Vorplatz – nicht wie ein Ruf, eher wie eine Warnung.

Dann kehrte wieder Stille ein. Eine Stille, die wartete.

Nach dem Glockenschlag verging ein kurzer Moment der Lautlosigkeit – ein Atemzug, in dem selbst der Nebel innehielt. Dann, aus dem Zwielicht hinter dem Tor, regte sich etwas. Schritte. Zuerst nur das Knirschen von Schuhen auf Kies, dann erschienen Gestalten. Zwei Männer traten näher, breit gebaut, die Körper fest eingeschnürt in weiße Uniformen. Ihre Gesichter wirkten kantig, fast roh gehauen, und doch leer – als hätte man ihnen das Innenleben ausgetrieben, um Platz zu schaffen für Gehorsam.

Zwischen ihnen, nein: vor ihnen, bewegte sich eine Frau. Eine Schwester, ganz in Weiß wie sie, doch bei ihr war das Weiß kein Bekenntnis zur Ordnung, sondern ein Trugbild. Der Kittel fiel in glatten Falten bis zu den Knien, die Haube saß fest, ihr Gang war ruhig, zu ruhig – nicht wie der einer Frau, sondern wie der eines Schattens.

Der aufkommende Nebel legte sich um ihre Gestalt wie ein Schleier aus Dunst und Schweigen. Ihre Bewegungen waren weich, geschmeidig, zu gleichmäßig, um wahr zu sein. Es schien, als würde sie nicht laufen, sondern gleiten. Der helle Kies, der unter den Füßen anderer knirschte, schwieg unter ihr.

In diesem Moment wirkte sie nicht wie eine Krankenschwester. Nicht wie ein Mensch. Sondern wie eine Erscheinung – ein bleiches Trugbild.

Am Tor angekommen blieb die seltsame Prozession kurz stehen. Ohne ein Wort reichte die Schwester einem der bulligen Männer einen schweren Schlüsselring – ein archaisches, schepperndes Ding, das mehr nach Kerkertür als nach Sanatorium klang. Die Schlüssel hingen daran wie eiserne Zungen, bereit, jedes Geheimnis zu verschließen – oder zu öffnen.

Während der Wärter mit schwerfälligen Fingern in dem Wirrwarr aus Metall zu suchen begann, wandte Edda Lenhart – denn so nannte sie sich – ihre Aufmerksamkeit dem jungen Beamten zu, der zuvor an der Kette gezogen hatte. Er versuchte, Haltung zu bewahren, stand steif wie ein Zinnsoldat, die Mütze leicht verrutscht, der Blick zu schnell gesenkt, als hätte er sich an ihr die Augen verbrannt. Doch es war zu spät. Edda hatte es längst bemerkt – dieses Flackern in seinem Blick, das irgendwo zwischen Schüchternheit, ehrfürchtiger Keuschheit und einem kaum gebändigten Begehren oszillierte. Er hatte gesehen, was man nicht sehen sollte – oder doch sehen wollte: die wohlgeformte Silhouette unter dem makellosen Weiß. Keine plumpe Zurschaustellung, nein. Die Rede Rundung an der rechten Stelle, das dezente Spiel der Proportionen – es war genug, um die Fantasie zu wecken und den Geist zu verwirren.

Edda unterdrückte ein leises Lachen – nicht aus Scham, sondern aus Vergnügen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das nichts versprach und doch alles verriet. Ein Lächeln wie ein Schleier, den man langsam hebt, um eine Erkenntnis zu schenken – oder eine Strafe. Der Beamte sah es – und wusste, dass er ertappt war. „Ich bin Edda Lenhart“, sagte sie, die Stimme kühl und kontrolliert, mit jenem seidigen Unterton, den man in Beichtstühlen und Boudoirs gleichermaßen hört. „Leitende Schwester, zurzeit jedenfalls. Dr. Krüger ist nicht da. Was kann ich für die Polizei tun?“

Der junge Beamte straffte sich, als hätte Eddas Blick ihn zu einem Geständnis gezwungen. „Wachtmeister Otto Albrecht“, murmelte er, dann mit mehr Festigkeit: „Wir… wir haben diesen Mann vor etwa zwei Stunden auf dem Friedhof aufgegriffen. Er war allein, redete wirres Zeug, nicht ansprechbar. Aus ihm ließ sich nichts herausbekommen. Und da… also, da entschied der wachhabende Offizier: ‚Der Mann gehört ins Irrenhaus.‘“

Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, verzog sich Eddas Mund zu einem kühlen, leichten Lächeln – eines, das weder Spott noch Milde enthielt, sondern etwas dazwischen, wie der feine Unterschied zwischen Skalpell und Rasierklinge. „Dann sind Sie hier falsch, Herr Albrecht“, erwiderte sie ruhig. Ihre Stimme war weich, fast seidig – und dennoch unnachgiebig. „Dies ist kein Irrenhaus. Dies ist eine Heilanstalt für Menschen, deren Geist entrückt ist.“

Der junge Beamte errötete, ein schwacher Schatten auf seinen Wangen, kaum sichtbar im Nebel. Seine Zunge rang nach Worten, nicht nur wegen der Korrektur, sondern wegen der Wärme, die unter seiner Uniform aufstieg – das peinliche Echo seiner Gedanken von eben, das nun gegen die eiserne Erziehung seines Elternhauses anbrannte. „Verzeihung“, stotterte er schließlich, „ich… ich habe nur zitiert… meinen Vorgesetzten.“

Edda neigte kaum merklich den Kopf. Ihr Lächeln wurde milder, aber nicht weniger durchdringend – ein stilles Versprechen, dass sie ihm nicht gram sei… und dass sie alles verstanden hatte. Vielleicht mehr, als ihm lieb war.

Dann wandte sie sich dem Wärter mit dem Schlüssel zu und nickte knapp. Ohne ein Wort trat dieser vor, schob einen Schlüssel in das eiserne Schloss, das mit einem dumpfen Klicken nachgab – und öffnete das Tor.

Ein Riss tat sich auf in der Nacht. Und was dahinter lag, war nicht mehr Teil der Welt, die Wachtmeister Albrecht kannte.

Edda hob die Stimme, ohne je ihre ruhige Fassung zu verlieren – klar, bestimmt, und doch mit einer Süße, die selbst Befehle wie Einladungen klingen ließ:

„Fahren Sie bitte zum Haupteingang vor und warten Sie dort auf August und August.“ Der Kutscher auf dem Bock zuckte leicht zusammen, dann tippte er an die Mütze und gab den Pferden ein leises Zeichen. Die Kutsche setzte sich in Bewegung, das dunkle Gefährt verschwand langsam im Nebel, dessen Schwaden sich wie schleppende Schleier um die Räder legten.

Edda drehte sich zu den beiden bulligen Männern, deren Gesichtszüge so gleich waren, dass man glauben mochte, sie seien in einem Gedanken geboren. „August Eins“, sagte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Anflug von Belustigung, „verschließe das Tor. Dann folgt der Kutsche und bringt den armen Erkrankten ins Aufnahmezimmer. Bleibt dort bei ihm und wartet, bis jemand kommt.“ Die beiden Männer nickten synchron. August Eins trat an das schwere Tor und zog es mit einem Ächzen wieder zu – das Klirren des Schlosses war ein letzter Widerhall von Freiheit, der langsam in der Dunkelheit erstickte.

Dann wandte Edda sich wieder dem jungen Beamten zu, der noch immer etwas unbeholfen neben ihr stand, die Mütze in den Händen, den Blick irgendwo zwischen ihren Augen und dem Boden verhaftet. „Und Sie, mein lieber Herr Albrecht…“ – ihre Stimme war nun weicher, fast schmeichelnd, mit einem Anflug von Ironie – „…begleiten mich bitte zum Haus. Sie wollen doch einer verängstigten Dame nicht zumuten, den Weg durch diese Dunkelheit allein zu gehen?“ Der junge Mann errötete ein zweites Mal, verbeugte sich beinahe und stammelte ein „Selbstverständlich“, das ihm wie ein Schuljunge entglitt.

Und so schloss sich die kleine Prozession. Vorn das rasselnde Gefährt, dahinter die stummen Auguste und am Ende – Edda und Albrecht, Seite an Seite auf dem Kiesweg, der zur Villa führte.

Ein Haus, das mehr war als nur ein Bau aus Stein. Ein Ort, an dem der Geist schweigen, aber niemals vergessen durfte. Ein Heim für jene, deren Wirklichkeit zersprang –

und für jene, die dachten, oder sich einbildeten, zu wissen wie man mit Scherben umgeht.

Drinnen war es warm. Die Luft roch nach Wachs, Lavendelöl – und nach etwas anderem, undefinierbarem. Ein Geruch wie das Flüstern längst vergangener Gestalten. Edda führte den jungen Beamten durch einen schmalen Gang, dann öffnete sie eine schwere Tür mit matter Glasscheibe und deutete mit einer kleinen, fast verspielten Geste hinein. „Bitte, treten Sie ein, Herr Albrecht.“

Er zögerte. Sein Blick streifte das spärlich eingerichtete Zimmer: ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe, deren Schein alles in ein fahles Halbdunkel tauchte. Dann trat er ein. „Sie wollen doch nicht gehen, ohne das Einlieferungsformular zu unterzeichnen?“ sagte Edda, während sie die Tür hinter ihm schloss. Ihre Stimme war süß, beinahe scheltend. „Ordnung muss schließlich sein. Und was würde Ihr Vorgesetzter sagen, wenn Sie ein so wichtiges Schriftstück vergessen?“

Ein Anflug von Erleichterung huschte über Albrechts Gesicht. Natürlich, die Pflicht – sie war wie ein Geländer, an dem man sich festhalten konnte. Er nickte eifrig, trat an den Schreibtisch. Edda setzte sich, füllte das Formular aus mit ruhiger Hand, unterschrieb es, legte die Feder beiseite.

Dann erhob sie sich. Langsam. Wie ein Nebel, der sich erhebt, um sich über die Landschaft zu legen. Sie trat um den Tisch herum, ihre Schritte lautlos auf dem dicken Teppich, und kam so nah an ihn heran, dass zwischen ihren Körpern kein Lufthauch mehr passte. Albrecht spürte ihren Atem – warm, süßlich, mit einem Hauch von Metall. Sein Herz schlug schneller, er wagte nicht, sich zu bewegen.

Dann geschah es. Ein schneller, prüfender Griff in seinen Schritt – präzise wie der einer Ärztin, doch mit einer Kälte, die keine Heilung versprach. Für einen Moment… Nur einen Moment… schien sein Körper bereit, ihr zu dienen. Doch dann verließ ihn die Glut mit einem leisen unterdrückten Stöhnen. Ein schlaffer Schatten blieb zurück, ein leeres Echo, das nicht mehr singen wollte. Er erstarrte. Und mit ihm das letzte bisschen Würde.

Edda hielt inne. Ihr Blick wurde leer, fast enttäuscht. „Auf Wiedersehen, junger Mann“, hauchte sie – nicht zornig, nicht höhnisch. Nur wie jemand, der einen Gegenstand beiseitelegt, der seinen Zweck nicht erfüllt hat. Dann trat sie zur Seite. Albrecht stolperte fast, fing sich, richtete sich auf, schob die Mütze tiefer ins Gesicht – und verließ das Zimmer mit einem Rest von Würde, der wie ein zerschlissener Mantel an ihm hing.

Hinter ihm schloss sich die Tür leise. Und das Haus schwieg wieder.

Edda saß an ihrem kleinen Schreibtisch, die Beine übereinandergeschlagen, die Finger ruhten still auf der Tischkante. Die Lampe warf ein warmes Licht auf das Papier vor ihr, doch ihr Blick war längst abgewichen, starrte durch das Glas ins Unbestimmte. Sie dachte an den jungen Polizisten. Ein hübscher Körper, wirklich – breit in der Schulter, schmal in der Hüfte, die Haut noch straff, das Rückgrat noch weich. Er hätte nützlich sein können, ja… für einen raschen, sauberen Moment der Befriedigung. Ein Werkzeug mit Stil. Doch er war zu schüchtern gewesen.

Und schlimmer noch – zu schnell. Schon bei der ersten Berührung war der Höhepunkt erreicht, nicht durch Lust, sondern durch Angst. Wie schade. Edda mochte die Unerfahrenen. Nicht trotz, sondern wegen ihrer Unschuld – weil sie formbar waren, wie frischer Ton in den Händen eines geduldigen Künstlers.

Ein Geräusch auf dem Flur riss sie aus ihren Gedanken. Ein trockenes Husten, kratzig, unwillkürlich, gefolgt von einem leisen Fluch, der sich wie ein Schatten unter der Tür durchschob. Edda lächelte. Dr. Kruger. Wahrscheinlich hatte er sich wieder an einer seiner Zigarren verschluckt – jene monströsen, handgerollten Dinge, die mehr Asche als Aroma verbreiteten.

Sie erhob sich langsam, strich ihren Rock glatt, trat zur Tür. Zeit, den Hausherrn zu empfangen.

Und ihm zu berichten, dass seit beinahe drei Stunden ein neuer Gast im Aufnahmezimmer wartete – unter der aufmerksamen Obhut von August und August, die geduldig wie Statuen neben ihm standen. Ein Mann vom Friedhof. Einer, dessen Geist bereits entrückt war. Oder vielleicht nur geöffnet. Kruger würde es wissen. Oder herausfinden wollen.

„Guten Abend, Doktor“, sagte Edda mit jenem Tonfall, der zugleich Respekt und ein Hauch Belustigung in sich trug – wie ein Seidentuch, das man jemandem höflich, aber mit verborgenem Grinsen reicht. Dr. Wilhelm Kruger, fast fünfzig und doch gezeichnet wie einer, der länger gelebt hatte als seine Jahre zählen konnten, sah sie einen Moment lang an, als müsse er sich erinnern, wer sie sei. Dann blinzelte er. „Guten Abend, Schwester Edda“, murmelte er knapp. Seine Stimme war rau von Zigarre und Müdigkeit. „Was machen Sie denn noch hier?“

Edda musste sich merklich zusammennehmen, um nicht zu lächeln. Ihre Mundwinkel zuckten beinahe, doch sie hielt sie im Zaum wie eine Zofe ein aufmüpfiges Kind. „Ich habe heute Nachtschicht – als leitende. Sie selbst haben mich doch eingeteilt… bevor Sie zu Ihrem…“ Ein Hauch von Verlegenheit durchzog ihre Miene – kaum mehr als ein Lidschlag. Das Wort Schäferstündchen brannte ihr auf der Zunge, doch sie schluckte es mit einer Eleganz, die fast bewundernswert war. „…zu Ihrem Whistabend gegangen sind.“

Kruger runzelte die Stirn, als höre er ein Musikstück, das ihm nicht ganz gefiel. „So habe ich das? Hm. Nun… wenn Sie hier sind, wird es wohl so gewesen sein.“ Er wischte mit der Hand in die Luft, als wollte er Fliegen verscheuchen – oder Gedanken. „Gibt es etwas zu berichten?“ Edda nickte langsam, als würde sie ein Bühnenvorhang öffnen.

„Ja, Doktor. Vor etwa drei Stunden wurde uns ein Mann gebracht – von der Polizei. Gefunden auf dem Friedhof, allein, nicht ansprechbar. Er wartet im Aufnahmezimmer. August und August sind bei ihm.“ Sie machte eine kurze Pause. „Er wirkt nicht gefährlich – eher... verloren.“

Was... Was... mache ich... hier? Und wichtiger: Wo bin ich? Die Wände — zu glatt. Kein Ziegel, kein Holz. Kein Rauch in der Luft, kein Geruch nach Tinte, Papier, nassem Mantel. Ich trage Handschellen. Ja, ganz sicher. Kalt, metallisch, wie das Summen einer gespannten Feder. Aber dies ist kein Verhörraum. Nein. Keine flackernde Petroleumlampe, kein Geruch nach kaltem Zinnbecherkaffee, kein Krächzen eines altgedienten Kommissars mit Asche auf dem Kragen.

Nur zwei Männer. Rechts. Links. Zwei Kolosse. Muskeln, geschichtet wie die Bücher meines alten Seminars – Band auf Band, Druck auf Druck. Sie könnten mit einem Stier ringen, und ich wäre nicht überrascht, wenn sie ihn danach zum Tee bitten würden.

Aber keine Uniformen. Keine Polizei. Sie tragen Weiß. Weiß wie Kalk, wie Leichentücher. Weiß wie die Stille nach einem Schrei. Krankenhaus? Ein Lazarett? Aber... ich liege nicht. Ich sitze.

Warum sitze ich? Warum nicht ein Bett, ein Tropf, ein Schmerz? Ich habe keine Wunden, keine Fieberträume – oder doch?

Mein Gehrock… Mein treuer, dunkler Gehrock… Er ist schmutzig. Als hätte ich in der Erde gelegen. Schwarz auf Schwarz. Staub. Etwas wie… wie... "Lass meine Einsamkeit ungebrochen! – Verschwinde von der Büste über meiner Tür!"

Wisperte da etwas? Oder war das nur mein Atem? Nur mein Atem... oder... Noch jemand?

Ich erinnere mich... Mitternacht umgab mich schaurig, als ich einsam, trüb und traurig, Ja... so begann es. Oder war es anders? Ein Zimmer. Bücher. Der Wind rüttelte am Rahmen. Die Kerze flackerte wie ein sterbender Atem. Sinnend saß und las von mancher längst verklung’nen Mähr’ und Lehr’ – Wie viele Legenden hatte ich verschlungen? Wie viele Seelen sezierte ich mit meinem Verstand? Als ich schon mit matten Blicken im Begriff, in Schlaf zu nicken … Ja ... ja! Und dann – Ticken. Ein Geräusch, wie das Klopfen eines fremden Herzens unter dem Dielenboden. Oder war es nur die Uhr? Hörte plötzlich ich ein Ticken an die Zimmertüre her; Nicht in meinem alten Haus. Nein. Hier. Jetzt. Ich hörte es. Ich höre es. – tik – – tak – – tik – „Ein Besuch wohl noch,“ so dacht’ ich... Ja, ich dachte das. Damals. Oder gestern. ...den der Zufall führet her.

Die Vorhänge regten sich – nicht wie Stoff im Wind, sondern wie Wesen, die atmen. Sie zitterten in der Finsternis, schwebten auf und ab wie Leichentücher, die noch nicht wussten, dass der Tod bereits gegangen war. Und ich – ich erstarrte. Ein Schauder, so rein, so neu, so grell in seiner Lautlosigkeit, zog sich durch meine Glieder wie ein Blitz durch morsches Gebälk. Es war kein gewöhnlicher Schrecken. Nein – es war das uralte, nackte Beben jener, die wissen, dass etwas kommt. Etwas, das den Namen nicht nennt. Ich versuchte, mich zu fassen. Zu sprechen. Zu denken. „Ein Besucher“, flüsterte ich – ja, ein Besucher vielleicht… ein armer Irrläufer in der Dunkelheit, ein verlorener Schatten, der zu früh kam oder zu spät. Nur das. Nur dies. Nur ein Besuch. Dies allein und sonst nichts mehr.

Ich sammelte mich – so gut man sich sammeln kann, wenn man längst verstreut ist. Ein letzter Rest Anstand, ein Hauch von Höflichkeit, wie man sie selbst im Sterben nicht ganz verliert. Ich trat zur Tür, mein Herz wie ein Uhrwerk mit zu kurzem Pendel, und rief mit zitternder Stimme, nicht aus Mut, sondern aus Notwendigkeit: „Dame… oder Herr…“, meine Zunge suchte noch nach Ordnung, „Verzeiht. Ich war… im Begriff… der Schlaf...“ Ein armseliger Versuch, mich selbst zu beruhigen. Als hätte das Ding auf der anderen Seite Ohren. Oder Erbarmen. „Das Ticken war so leise, ich... ich hörte es kaum.“ Ich legte die Hand auf den Griff. Er war kalt. Nicht wie Metall, sondern wie Stein, der nie in Sonne gelegen hatte. Ich öffnete. Mit einem Ruck. Doch es war da nichts. Nur die Dunkelheit, wie eine zweite Tür. Eine, die nicht aufgehen wollte. Oder nicht musste. Nur Dunkel da. Und sonst... nichts mehr.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Die Zeit war fort. Sie hatte den Raum verlassen wie ein Gast, der sich nicht verabschiedet. Ich starrte in das Dunkel, doch es war kein einfaches Dunkel. Es war eines mit Tiefe. Mit Hunger. Ein Schlund. Ein Spiegel, der nichts zurückwarf. Meine Augen brannten, nicht vom Licht – sondern vom Nichts. Und doch sah ich. Oder träumte ich? Träume… Träume so fremd, so… fremd… dass kein Mensch sie je zu denken wagte. Dinge, die unter der Haut leben. Stimmen, die durch Knochen sprechen. Liebe, die nicht tot war, aber auch nicht mehr am Leben. Und da war ein Name. Nicht gesprochen – nur geflüstert. Nein, gehaucht. „Lenore…?“ War es meine Stimme? War es die Nacht? Oder das Echo meiner selbst, aus einer Zeit, die nie war? Ich sagte es noch einmal. Zögernd. Zärtlich. Zerbrochen. „Lenore…“ Und die Dunkelheit antwortete. Mit meinem eigenen Wort. Trauernd. Nur dies. Nur… dies. Einzig dies und sonst nichts mehr.

Ich trat zurück ins Zimmer, das Herz schwer wie Blei, die Hände fahrig wie bei einem alten Priester, der seinen Glauben verloren hat. Ein Zittern lag in meinem Schritt, doch ich zwang mich zur Ordnung – zur Vernunft, dieser letzten, erbärmlichen Krücke der Verängstigten. Da kam es wieder. Ein Klopfen – nicht an der Tür diesmal. Nein. Am Fenster. Schneller, schärfer. Wie der Zeigefinger Gottes auf Glas. „Sicher,“ flüsterte ich mir selbst zu, mit jener Stimme, die man wählt, wenn man Angst hat, die eigene zu hören, „sicher… es ist der Wind.“ Doch mein Herz… mein Herz wusste es besser. Ich bat es um Stille. Vergeblich. Ich ging. Ich öffnete. Und die Welt veränderte sich. Er kam. Nicht als Licht. Nicht als Bote. Sondern als Schwarzes. Schwärzer als Dunkel. Schwärzer als Schuld. Ein Rabe. Groß, alt, würdevoll – sein Blick eine Ewigkeit. Er flog nicht wie ein Tier. Er schritt durch die Luft. Und ohne mich zu grüßen, ohne ein Flattern zu viel, nahm er Platz – hoch oben, auf der Büste über der Tür. Pallas. Wie passend. Wie höhnisch. Er setzte sich. Und blieb. Sonst nichts mehr.

Und seltsam – trotz der Trauer, trotz der bleiernen Kälte in meiner Brust, brachte er mich dazu… zu lächeln. Nicht aus Freude. Aus Erschrecken vielleicht. Oder aus jenem Reflex, den man hat, wenn der Wahnsinn einem die Hand reicht und man nicht weiß, ob man sie küssen oder schlagen soll. Da saß er, gesetzter als ein Richter, gravitätischer als ein Domherr, und doch ein Tier. Ich musterte ihn – das blanke Auge, das schwarze Gefieder, den unbewegten Schnabel. „Alt bist du…“ hörte ich mich sagen, „nah dem Grabe, das seh ich wohl. Doch feige bist du nicht. Nein, kein Feigling, du. Ein Rabe, mit Blicken wie Äonen. Glatte Federn wie polierter Obsidian. Du kamst aus der Tiefe. Du kamst vom Heer der Schatten, der schweigenden Legionen unter der Erde.“ Ich trat näher. Sprach, wie man mit einem Fremden spricht, dem man nicht ganz traut, aber lauscht: „Welchen Namen trägt ein solcher wie du? Welch stolzen, dunklen Namen führst du, Krieger der Nacht?“ Und er – er antwortete. Mit einem einzigen Wort. Klar. Hart. Endgültig. „Nimmermehr.“ Ich erstarrte. Dass er sprach – war schon Wahn genug. Dass er nur dies sprach – ließ das Wahnvolle zur Ordnung werden. Was bedeutete es? Wohl nichts. Oder alles. Und doch… kein Mensch, nicht in allen Zeiten, nicht in allen Büchern, nicht in aller Literatur, hätte je erlebt, dass ein Rabe, ohne Zier, ohne Furcht, auf einer Marmorbüste thronte und sich mit diesem einen Namen bekleidete: Nimmermehr.