Jacks Auserwählte - Orte der Ewigkeit - E-Book

Jacks Auserwählte E-Book

Orte der Ewigkeit

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Beschreibung

Ein verstaubter Archivkarton - darin Tagebuchfetzen, Audiomitschnitte und Polaroids ohne Herkunft. Kuratorin Sahra Reeve hält nichts von Zufällen, sie glaubt an Strukturen - bis der charmant-ungezügelte Sammler Jack in ihr Leben tritt: ein Mann, der Türen öffnet, für die es offiziell keine Schlüssel gibt, und Gespräche führt, aus denen niemand unverändert hervorgeht. Während Jack Sahra mit dem Versprechen grenzenloser Macht verführt, stößt Restaurator Ben auf jahrhundertealte Spuren desselben Namens - Spuren, die alle in Blut enden. Und Naomi, einst das Gesicht internationaler Kampagnen, hat längst jedes Gefühl verloren - selbst Angst. Für einen einzigen Schlag wahrer Empfindung ist sie bereit, alles zu riskieren. Drei Menschen geraten in Jacks Spiel um Seele, Einfluss und die Kunst, den Tod zu wählen, statt ihn hinzunehmen. Doch hinter der schillernden Maske des Sammlers lauert ein uraltes Gericht - und sein Urteil richtet sich nicht nur gegen Sterbliche. Ein dunkel-poetischer Roman über Verführung, Schuld und das flackernde Licht, das bleibt, wenn die Nacht schon fast triumphiert hat. Jacks Auserwählte - wie viel Leben bleibt, wenn man dem Tod die Hand reicht?

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

00 - Prolog

01 - Autor

02 – Sahra

03 – Ben

04 – Naomi

05 – Jack

06 – Sahra

07 – Ben

08 – Autor

09 – Sahra & Jack

10 – Ben & Naomi

11 – Jack

12 – Sahra

13 – Ben

14 – Autor

15 – Naomi

16 – Sahra

17 – Ben

18 – Jack

19 – Sahra

20 – Ben

21 – Autor

22 – Sahra

23 – Ben, Jack, Naomi, Sahra

24 – Autor

25 – Sahra

26 – Ben

27 – Naomi

28 - Iacobus Mortis

29 – Sahra und Ben

30 – Autor

Anhang

Die Wahl des Todes

00 - Prolog

Es war spät an diesem Donnerstagabend, als ich mich in das unterirdische Magazin des Staatlichen Museums hinabließ. Der Schlüssel roch nach Metall, der Aufzug nach Staub und Gummiabrieb. Ich suchte nach Bildnachweisen zum Motiv des Totentanzes – ein loses Rechercheinteresse für meine nächste Kurzgeschichtensammlung, nichts, das Dringlichkeit beanspruchte. Aber ich hatte mir angewöhnt, solchen Spuren zu folgen, wenn sie mich riefen.

Das Magazin war kühl, von summenden Neonröhren beleuchtet, die mehr flimmerten als leuchteten. Zwischen meterhohen Rollregalen voller Akten, Vitrinenteile und veralteter Ausstellungskartons ging ich langsam, beinahe lautlos, über den blanken Betonboden. Es roch nach Karton, Metall und ganz schwach nach altem Papier, das zu lange geschwiegen hatte. Dann entdeckte ich ihn. Nicht dort, wo die Inventarnummern geordnet lagen, sondern tief hinten in einer vergessenen Nische, unter einem Stapel falsch einsortierter Verpackungen: ein Archivkarton, grau, mit einem halb verwischten Etikett, auf dem nur noch einzelne Buchstaben erkennbar waren. Kein System konnte erklären, warum er dort war. Aber ich wusste im selben Moment: Ich hatte gefunden, was ich nicht gesucht hatte.

Der Deckel war leicht verzogen, ließ sich aber ohne Widerstand abheben. Innen: ein wilder Fundus. Ein vergilbter Umschlag, darauf Kaffeeflecken in der Form eines zerdrückten Rings. Zwei Audiokassetten, eine davon mit abblätterndem Etikett: „S. 11.11. – Nacht“. Ein USB-Stick, zerkratzt, schwarz. Lose Seiten, einige handschriftlich, mehre getippt, dazwischen Briefumschläge mit eingerissenen Kanten. Ein dünnes Notizbuch mit zerrupftem Ledereinband. Und ganz unten: zwei kleine Polaroids, das eine mit einer Signatur auf der Rückseite – kaum lesbar. Keine Aktennummer. Keine Zuordnung. Nur Spuren. Fragmente. Stimmen ohne Rahmen.

11. November 2023, 23:08 Uhr – Audiodatei:

„memo_nacht1.mp3“ Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt aufnehme. Wahrscheinlich, weil ich mich nicht traue, es aufzuschreiben. Wie ein Tagebuch in der Hosentasche – das wenigstens nicht zurückstarrt. Die Gala ist morgen. Ich hab Angst. Nein… nicht davor, was ich sagen muss. Sondern davor, wer zuhört. Er wird da sein. Der Mann in Mitternachtsblau. Wenn ich verschwinde… dann wegen ihm.

Der „Mann in Mitternachtsblau“ – die Wendung taucht in mehreren Fragmenten wieder auf, oft nur angedeutet, selten benannt. Wer er ist, bleibt unklar. Doch schon nach dieser ersten Notiz war mir bewusst: Diese Stimme würde nicht die letzte bleiben. Und der Schatten, den sie fürchtete, war größer als ein einzelner Abend.

Eintrag aus dem Restaurationsjournal – 12. November, 09:42 Uhr

Objekt 203: Rahmen, vergoldet, 19. Jh. Firnisschicht leicht spröde, Lösungsmitteltest negativ. Weiter mit Skalpell, Segment 3 links unten, Engelpaar. Geruch: Firnis, altes Holz, irgendwas Süßliches… fast wie warmer Staub. Ich hab Sahra gestern spät noch gesehen. Sie wirkte, als hätte sie vergessen, wie man atmet. Dieser Mann war bei ihr – Jack, glaube ich. Hat nichts gesagt. Kein Foto von ihm. Noch nicht. — Foto beilegen!

Unsignierte Notiz, gefunden zwischen zwei Buchseiten. Eingerissen am oberen Rand. Keine Datierung.

Wenn das Herz schweigt, wer zählt dann die Sekunden?

Ich habe versucht, die Fundstücke zu ordnen, wie man eine Spur im Staub verfolgt – behutsam, tastend, ohne sie zu verwischen. Nichts wurde verändert. Sie werden daher bald Sahra, Ben, Naomi – und mitunter sogar den rätselhaften Jack – in ihren eigenen Worten hören. Keine Stimme wurde geglättet, kein Satz zurechtgestutzt. Was Sie gleich lesen werden, ist ein Mosaik. Und jeder Splitter trägt den Klang einer Erinnerung, die sich nicht entschuldigt. Ob es dreizehn Geschichten sind, wie ich sie suchte? Vielleicht. Oder vielleicht ist dies hier die vierzehnte – die, die mich gefunden hat.

01 - Autor

Sahra Bering stand reglos, wie eine Statue zwischen Flöten aus Kristall, goldumrahmten Leinwänden und Stimmen, die wie Parfum in der Luft hingen. In ihrer Hand ruhte das Sektglas, leicht erhoben, als sei es nicht Getränk, sondern Zepter. Sie sprach, sie lächelte, sie war die Gastgeberin eines Abends, der so glitzerte wie die Augen ihrer Gäste – Augen, in denen keine Tiefe war. Man reichte ihr Lob wie Opfergaben. Herren in teuren Stoffen und Damen mit Juwelen an den Handgelenken und Hälsen nickten beifällig, küssten Wangen, flüsterten Komplimente, die längst ihre Bedeutung verloren hatten. Alles war so glatt, so kunstvoll inszeniert, dass kein Laut der Welt diesen Kokon hätte durchdringen können. Dabei war dies nicht ihre Bühne. Nicht ganz. Nicht mehr. Das Museum, dem sie sonst Würde verlieh, war fern; hier, in dieser Galerie, kämpfte etwas ums Überleben. Eine Freundin hatte sie gebeten. Die Mauern bröckelten schon, als Sahra einzog. Also bot sie ihr Gesicht, ihren Namen, ihre Adern für das zitternde Herz dieses Hauses. Und nun stand sie hier, Teilhaberin eines Traumes, der kaum mehr war als feiner Staub auf lackierten Rahmen. Doch Sahra fühlte sich wohl. Noch. Denn wer unter Masken lebt, weiß, dass sie irgendwann das Gesicht werden.

Diese Vernissage war kein Fest – sie war ein letzter Versuch, das Sinken aufzuhalten. Die Galerie, deren Wände noch immer rochen nach kaltem Stein und abblätternder Hoffnung, stand kurz davor, zu einem leeren Raum zu werden, in dem nur das Echo der Vergangenheit wohnen würde. Sahra hatte alles gegeben. Jede Verbindung, die ihr als Kuratorin des staatlichen Museums zu Füßen lag, hatte sie aktiviert, als wären es alte Geister, die man beschwört, wenn das Licht zu flackern beginnt. Und sie kamen: zwei Maler und ein Bildhauer – Namen, die in der Szene schon wie Gerüchte flüsterten, aber noch nicht laut genug waren, um Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie passten in diesen Abend wie Figuren auf einem Schachbrett, das längst eine eigene Sprache sprach. Besonders Peter A. – der darauf bestand, nur mit diesem Namen genannt zu werden, als sei er bereits eine Legende. Sahra dachte sich ihren Teil. Immer diese eingebildeten Künstler mit ihren selbstgewählten Titeln – als könnten ein Buchstabe und ein Punkt ihnen Bedeutung verleihen, die ihr Werk noch nicht trug. Er war schwierig. Zu schwierig. Hätte beinahe einen der reichen Gäste zur Schnecke gemacht, als dieser sich erdreistete, das Werk zu erklären, das er nicht verstand. Sahra hatte ihn im letzten Moment zurückgezogen, ihm eine Hand auf die Schulter gelegt – fest genug, um ihn zu halten, sanft genug, um ihn nicht zu demütigen. „Du kannst toben, Peter“, flüsterte sie später, „wenn du ein paar Gemälde verkauft hast. Wenn dein Name mehr ist als nur Initialen mit Attitüde. Dann darfst du den schwierigen Maler spielen. Heute brauchst du sie noch, die Heuchler mit den Goldketten. Heute kaufen sie dein Überleben.“ Er schwieg. Und sie wusste: Er hasste sie dafür, dass sie recht hatte.

Sahra glitt durch den Raum wie eine Erscheinung, schwerelos und doch bestimmt, als trüge der Boden sie aus eigenem Willen. Zwischen Kristallgläsern und Gemälden, zwischen Duftschwaden und den säuselnden Stimmen der Reichen, tanzte sie von Grüppchen zu Grüppchen – ihr Lächeln das feinste Porzellan, das sie an diesem Abend zu tragen hatte. Sie sprach, sie lachte, sie stellte vor – zwei Maler, ein Bildhauer, Namen wie Versprechen in die Zukunft gesprochen. Ihre Stimme war weich, ein warmer Strom, der über Unsicherheiten hinwegglitt. Der Zweifel durfte heute keinen Namen haben, kein Gesicht. Die Galerie, die in ihren Fundamenten bereits bröckelte, war für diesen einen Abend nichts als Glanz. Sahra spielte ihre Rolle mit makelloser Eleganz. Die Galerie sei im Aufwind, sagte ihr Blick. Die Künstler seien Entdeckungen, sagte ihr Ton. Alles war Inszenierung – aber keine Lüge. Denn sie glaubte an das, was hier entstehen könnte. Noch. Und wenn der Abend endete und der letzte Tropfen Champagner verklang, würde niemand sagen können, dass sie nicht alles gegeben hatte. Für diesen Moment. Für diesen Traum.

Sahra hatte nichts dem Zufall überlassen. Für ihre dreiunddreißig Jahre sah sie nicht nur gut aus – sie war die fleischgewordene Antwort auf eine Welt, in der Schönheit immer auch Währung war. Stunden im Fitnessstudio, Schichten aus Licht und Schatten auf ihrer Haut, sorgsam aufgetragen mit Pinsel und Puder – sie hatte sich selbst zu dem Kunstwerk gemacht, das den Rahmen dieses Abends trug. Ihr Kleid – ein goldener Strom aus Pailletten – fiel wie flüssiges Licht über ihre Schultern, um sich dann zu einem Ausschnitt zu formen, in dem Blicke versanken wie Schiffbrüchige. Doch das Maß war mit Bedacht gewählt: verführerisch genug, um das Verlangen der Männer zu wecken, zurückhaltend genug, um den Argwohn ihrer Frauen nicht auflodern zu lassen. Der Schmuck? Kein Zufall. Zwei Tropfen Licht an ihrem Hals, eine schmale Linie funkelnder Steine entlang des Schlüsselbeins – genau dort, wo die Augen der Herren verweilen sollten. Und doch so kunstvoll gesetzt, dass die Damen nicht die Waffen zückten, sondern sich im Glanz der Edelsteine verloren, während ihre Ehemänner längst in einen anderen Glanz starrten. Sahra bewegte sich mit der Eleganz einer Jägerin im Ballsaal. Sie wusste, was sie tat. Und sie tat es für etwas Größeres als Stolz: für den letzten Atemzug einer Galerie, die sie mit Schönheit zu retten versuchte.

Zwei Männer an diesem Abend passten nicht ganz ins Bild – und doch fiel es niemandem auf. Ihre Anzüge saßen tadellos, das Haar war gegelt, die Haltung höflich und zurückhaltend, genau im richtigen Maß. Sie bewegten sich wie geübte Gäste, sprachen wenig, tranken langsam, und niemand stellte Fragen. Vielleicht, weil ihre Anwesenheit zu selbstverständlich wirkte. Oder weil niemand hinsah, um zu sehen. Nur wer Augen hatte für Zwischentöne, für den feinen Riss in der Porzellanmaske des Abends, hätte etwas bemerkt. Eine Fremdheit. Einen Schatten, der sich nicht erklären ließ. Der eine hieß Ben. Ben Lenz. Restaurator von Beruf, ein stiller Diener der Kunst, der den Werken ihre Wunden nahm, ohne sie zu verändern. Er arbeitete oft für das staatliche Museum, wo er auch Sahra begegnet war. Zwischen ihnen hatte sich etwas geformt, das man Freundschaft nennen konnte – wenn man das Unausgesprochene außer Acht ließ, das manchmal zwischen zwei Blicken schwebte wie Staub im Licht. Der andere nannte sich Jack. Nur Jack. Niemandem fiel auf, dass er seinen Nachnamen nie nannte – niemandem, außer vielleicht Sahra, die ihn vom Rand der Halle aus mit einem kurzen, prüfenden Blick musterte. Jack war nicht bloß ein Mann – er war eine Erscheinung. Anfang dreißig vielleicht, mit einem Körper wie aus Licht gegossen: drahtig, ruhig, kontrolliert. Er bewegte sich mit einer Eleganz, die nicht erlernt wirkte, sondern angeboren – als hätte er nie anders gehen können, als in dieser fließenden Stille. Sein Gesicht war von klassischer Schönheit: makellose Haut, ein markantes Kinn, ein Bart wie aus Absicht gewachsen – keine Spur von Nachlässigkeit. Der Anzug, zweifellos Maßarbeit, war ein schwarzer Spiegel, der alles Gute betonte und alles andere verschluckte. Aber es waren die Augen, die auffielen – selbst wenn man es sich nicht eingestand. Ein Blau, das so rein war, dass es in dieser Welt keinen Platz hatte. Ein Blau, das Fragen stellte, ohne den Mund zu öffnen. Sahra trank einen Schluck. Und fragte sich, warum ihr plötzlich kalt war.

Ben war anders. Nicht das Gegenteil – denn das hätte Jack zu einem Extrem gemacht, das Ben nicht war. Nein, Ben war die andere Wahrheit. Die mit dem festen Boden unter den Füßen. Mit siebenunddreißig war er nur wenige Jahre älter als Jack, doch etwas an ihm wirkte erfahrener, abgeklärter – wie ein Mann, der schon mehr gesehen hatte, als er zu erzählen bereit war. Auch er trug Sportlichkeit mit sich, nicht wie ein Schmuckstück, sondern wie ein Werkzeug, das gebraucht wurde. Seine Bewegungen waren klar, effizient, ruhig. Nichts an ihm war überflüssig. Der Anzug, den er trug, saß gut – nicht perfekt, aber überzeugend. Kein Maß, sondern Maßhalten. Seine Erscheinung war die eines Mannes, der keine Rolle spielte, sondern war. Und gerade das machte ihn bemerkenswert. Er war attraktiv, zweifellos. Doch nicht auf die Art, die Blicke verlangte. Er zog sie nicht an – er hielt sie fest, wenn sie ihn fanden. Im Vergleich zu Jack mochte ihm das Überirdische fehlen, das Leuchten in den Augen. Doch dafür hatte er etwas, das schwerer zu fassen war: Verlässlichkeit. Gegenwart. Und vielleicht ein leiser Schmerz, der sich nicht zeigen wollte, aber da war. Zwischen all dem Gold, dem Glas, dem Flimmern – war Ben wie ein Fels in einem Strom aus Licht.

Wie zufällig führte ihr Weg sie zu ihm – vorbei an lachenden Paaren, an gehobenen Gläsern, an Gesprächen über Märkte, Materialien und Moden. Niemand schenkte der Szene besondere Beachtung. Es war nur ein Gast, der von der schönen Gastgeberin begrüßt wurde, nichts weiter. Ein freundliches Lächeln, ein paar Worte – und schon würde sie weiterziehen. Doch wer genau hinsah, sah zwei Menschen, die für einen Moment die Welt ringsum vergessen hatten. „Danke, dass du da bist“, sagte Sahra leise, kaum mehr als ein Hauch zwischen zwei Sätzen, den nur er vernahm. Ben nickte. Er brauchte keine Erklärung. Er wusste, dass diese Abende ihr nicht lagen. Dass sie lieber in Jeans durch staubige Lagerräume ging als in Pailletten durch Gläsermeere. Sie war, wie er, bodenständig – eine Frau mit Blick fürs Echte. Und gerade deshalb fiel ihr diese Rolle so schwer: das Lächeln, die Glanzlichter, das Lügen mit Haltung. „Ich weiß, das ist nicht dein Ort“, sagte sie, „und darum bedeutet es mir viel, dass du gekommen bist.“ Er sah sie an, ohne Urteil, nur mit dieser stillen Präsenz, die ihr mehr Kraft gab als jedes Kompliment, das sie heute Abend erhalten hatte. Für einen Herzschlag lang konnte sie atmen. Ihre Schultern lockerten sich, ihr Lächeln wurde für einen Moment echt. Hier, bei ihm, war sie nicht die Galeristin, nicht die Gastgeberin, nicht die Maske. Bei Ben war sie einfach nur: Sahra. Und das genügte.

Und dann kam Sahra an Jack vorbei. Ihr Gang veränderte sich kaum, ihr Lächeln blieb makellos, doch innerlich straffte sie sich wie eine Tänzerin vor dem Sprung. Die Gastgeberin trat in den Vordergrund – charmant, höflich, durchscheinend wie Glas. Sie plauderte. Über Kunst, über Lichtführung, über Raumgefühl. Worte, die sich wie Seide aneinanderlegten – weich, aber undurchdringlich. Doch Jack durchbrach das Netz. Er plauderte nicht. Er sagte Dinge, die man nicht sagte. Er machte ihr Komplimente, unverhüllt, als wäre er allein mit ihr in diesem Raum. Komplimente über ihr Kleid. Über ihre Ausstrahlung. Über Dinge, die kein Fremder beim ersten Gespräch benennen sollte. Sahra lächelte, wich aus, legte höfliche Nebel über seine Worte – doch Jack ging weiter. Direkt, ohne Floskeln, fragte er nach einem Treffen. Heute. Später. Nur sie und er. Sie wich zurück – nicht sichtbar, nur innerlich. Doch ihre Augen suchten. Fanden. Ben. Und Ben verstand. Ohne ein Wort trat er heran, ganz der Freund, der etwas Dringendes zu sagen hatte. Er beugte sich zu ihr, flüsterte etwas, das nur sie hörte. Vielleicht war es belanglos, vielleicht war es nichts als Stille. Doch sie nickte, wie jemand, der an ein Telefonat erinnert wird, an einen brennenden Topf, an eine Welt, die gerade in Flammen steht. „Verzeih, Jack“, sagte sie mit einem bedauernden Lächeln, das beinahe ehrlich wirkte. „Etwas Dringendes.“ Sie und Ben gingen. Nicht zu schnell, nicht flüchtend – aber bestimmt. Und hinter ihnen blieb Jack stehen, reglos wie ein Denkmal. Sein Blick folgte Sahra – ein Blick, der glühte wie Eis. Begierde, in ihrer rohesten Form. Dann wandte er den Kopf, und seine Augen fanden Ben. Und was dort lag, war kein Ärger, kein Trotz. Es war Hass.

Jack beobachtete Sahra mit der Geduld eines Jägers, der weiß, dass sein Moment kommen wird. Nicht mit offenem Starren, nicht mit gierigen Blicken, sondern mit der ruhigen, klinischen Präzision eines Mannes, der sich nie gestattet, den Überblick zu verlieren. Er sog sie in sich auf – jede Bewegung, jede Geste, das Spiel ihrer Hände, das flüchtige Zucken ihrer Lippen, wenn sie lächelte. Er wollte sich sattsehen. Doch je länger er sie betrachtete, desto klarer wurde ihm: Sättigung war keine Option. Sie würde nie genug sein. Nicht in seinem Blick. Nicht in seiner Nähe. Nicht in seinem Besitz. Es war keine Frage des Verlangens. Es war eine Frage der Notwendigkeit. Und so begann er, sich zu bewegen. Nicht auffällig, nicht hastig. Ein Schritt hier, ein Glas dort. Ein Gespräch, das sich auflöste, als hätte es nie stattgefunden. Nach und nach fand er den Punkt, an dem sie ihn nicht übersehen konnte. An dem sie ihn – früher oder später – wieder passieren musste. Ganz zufällig natürlich. Denn Jack glaubte nicht an Zufälle. Nur an Vorbereitung.

Und dann war es soweit. Sahra hatte den Raum fast durchmessen, ihr Lächeln müde in den Wangen, ihr Glas fast leer, da führte sie der Strom der Pflicht genau dorthin zurück, wo sie nicht hinwollte. Jack stand da, als hätte er nie einen anderen Platz eingenommen. Und sie konnte nicht anders – zu viele Augen, zu viele Erwartungen. Also trat sie zu ihm. Maske auf. Haltung aufrecht. Stimme bereit für Smalltalk. Doch Jack kam ihr zuvor.

Jack: „Du siehst heute Abend aus wie der Mittelpunkt der Sonne.“

Sahra: lächelt höflich „Das ist nett von Ihnen. Ich freue mich, dass Sie da sind.“

Jack: „Nett? Nein, nett ist das falsche Wort. Ich meine… es fällt schwer, woanders hinzusehen. Du überstrahlst alles in diesem Raum.“

Sahra: behält das Lächeln bei, aber ihre Schultern verspannen sich kaum merklich „Danke, das Kleid ist wirklich ein Glücksgriff.“

Jack: „Nicht das Kleid. Du. Du selbst. Es ist, als ob Du den Raum mit Deinem Atem füllst.“ Sahra weicht innerlich zurück. Sie setzt zu einer neuen Floskel an – doch Jack kommt ihr erneut zuvor.

Jack: „Ich habe mich gefragt, ob wir nicht einmal gemeinsam essen gehen sollten. Es wäre schade, eine so faszinierende Frau nur auf Vernissagen zu treffen.“

Sahra: leise, immer noch höflich „Das ist wirklich nett gemeint, aber ich habe im Moment sehr viel um die Ohren…“

Jack: „Man nimmt sich Zeit für das, was zählt. Und glaube mir, Du zählst.“ Sahra merkt, dass ihm Grenzen egal sind. Dass er nur den Anschein von Wahl lässt. Sie atmet ein, langsam, und entscheidet sich für den diplomatischen Ausweg.

Sahra: mit einem kurzen Lächeln, das nichts von ihrem Inneren preisgibt „Ich habe in drei Wochen Geburtstag. Vielleicht könnten wir dann etwas essen gehen. Wenn es passt.“

Jack: nickt langsam, mit einem Ausdruck, der gefährlich nah an einem Triumph liegt „Ein schöner Tag. Ich werde ihn mir merken.“

02 – Sahra

„Also ehrlich, Ben… ich kann mich doch nicht ernsthaft entscheiden, ob schwarz oder bordeaux lasziver wirkt, wenn du mich dabei ansiehst wie ein missbilligender Butler auf Entzug.“

Ich hörte, wie er die Augen verdrehte. Ohne ihn ansehen zu müssen. Ich kann das inzwischen hören. Das leise Seufzen, das fast lautlose Zähneknirschen.

„Ich seh ja nicht hin“, murmelte er.

„Du starrst auf meine Reflexion im Bilderrahmen.“

„Ich betrachte die Rahmung. Fachlich.“

„Aha.“

Ich tappte barfuß zurück in den Nebenraum, ließ die Tür offen. Irgendwann hatte ich beim dritten Mal Umziehen einfach aufgehört, mich zu verstecken. Ben war nun mal… Ben. Mein engster Freund. Mein Kummerkasten. Mein Rückgrat. Und trotzdem — manchmal sah er mich an, als hätte ich eine Bombe in der Hand und seine Welt hinge am roten Draht.

„Sag mal, findest du das zu viel?“ Ich trat wieder vor den Spiegel, ließ die Hand über meine Hüfte gleiten, betrachtete das Kleid von allen Seiten. Tiefes Dunkelgrün. Tailliert. Fast zu festlich.

„Kommt drauf an, was du erreichen willst“, kam es prompt von ihm.

„Ich will gut aussehen.“

„Dann zieh’s nicht an.“

„Sehr charmant.“

„Jack ist ein Trottel.“

„Danke für deine objektive Einschätzung, Professor Eifersucht.“

Er sagte nichts. Und in seinem Schweigen lag dieses eine Mal kein Trotz, sondern eine Müdigkeit. Eine Traurigkeit. Und ich wusste, dass ich zu weit gegangen war – aber ich wusste auch, dass ich ihn nicht aufhalten konnte, wenn er sich zurückzog. Männer wie Ben ziehen sich nicht zurück, um zu gehen. Sie ziehen sich zurück, um nicht zu zerbrechen.

„Es ist mein Geburtstag“, flüsterte ich, als hätte das irgendeine moralische Sprengkraft.

„Ich weiß.“

„Ich hab’s ihm bei der Vernissage versprochen.“

„Ich weiß.“

„Und du wolltest mit mir…“

„Ist schon gut.“

Ist es das? Ich sah ihn an. Wirklich sah ihn an. Seine Augen waren irgendwo zwischen Wand und Boden verankert, als hätten sie Angst, mir zu begegnen. Und ich stand da, zwischen den Kleidern in meiner Unterwäsche, und wollte plötzlich nicht mehr gut aussehen für Jack. Ich wollte verstanden werden. Aber ich hatte zu oft den falschen Preis dafür bezahlt.

Ich schlüpfte aus dem Kleid, ließ es achtlos auf dem Sofa zurück. Die Luft war voller unausgesprochener Dinge, sie vibrierte geradezu vor lauter Nicht-Gesagtem. Und weil ich Schweigen nicht gut aushielt – schon gar nicht von ihm –, grinste ich über die Schulter. „Weißt du noch... als wir in der Hütte gelandet sind? Damals, auf der Wanderung? Klatschnass bis auf die Knochen, und dann diese morsche Tür, die kaum zuging...“ Er sagte nichts, aber ich sah, wie er kurz die Lippen zusammenpresste. Fast unmerklich. „Ich hab geschlottert wie ein Spatz. Und du standst da, wie ein Ritter mit tropfender Rüstung. Und dann… na ja. Wärme suchen ist keine Schande, oder?“ Ich lachte. Nicht zu laut. Nur so, dass es als Scherz durchging. Und gleichzeitig nicht. „Ich mein, wir haben’s beide nicht geplant. Ich hatte noch diese furchtbar kratzige Wolldecke im Rucksack. Weißt du das noch? Ich bin halb darin erstickt.“ Sein Blick traf meinen. Nur einen Moment lang. Und ich wünschte, ich hätte nicht gefragt. Denn was ich da sah, war nicht Verlegenheit. Es war Erinnerung. Und etwas Tieferes. Etwas, das da war, seit jener Nacht, in der der Regen nicht nur unsere Kleidung durchtränkt hatte, sondern auch alles, was danach zwischen uns blieb.

Ich entschied mich für Beige. Ein schlichtes Strickkleid, knielang, hoher Ausschnitt, aber so eng geschnitten, dass es kaum einen Zweifel ließ, wo ich aufhörte und wo der Stoff begann. Keine Reißverschlüsse, keine Spielereien – einfach nur gut geschnitten und verdammt ehrlich.

„So?“, fragte ich, während ich mich vor dem Spiegel drehte. Ben schwieg.

Dann räusperte er sich. „Ja. Das… passt.“

„Passt, wie? Wie 'sitz ordentlich' oder wie 'du siehst verboten aus'?“

„Wie ein Kompromiss. Du weißt schon – der gute Typ unter den Lösungen.“

Ich grinste. „Also sexy, aber nicht so, dass er den Nachtisch überspringen will?“

Er brummte. „So ungefähr.“ Ich sah mich im Spiegel an. Und dann noch mal. Zog ein paar imaginäre Falten glatt, drehte mich in der Hüfte.

„Ben, ich frag dich jetzt ernsthaft – ist das okay?“

Er nickte, diesmal fester. „Es ist okay. Du bist okay.“ Seine Stimme klang fester als sein Blick. Der wich nämlich meinem aus. Schon wieder. Ich griff nach dem Schuhkarton auf dem Bett.

„Na dann – kommen wir zum wahren Endgegner: Schuhe.“

„Bevor du das tust…“ Er stand auf. Nicht hastig. Aber bestimmt.

„Was? Willst du mir High Heels verbieten?“

„Ich will nur, dass du auf dich aufpasst.“

Ich sah ihn an. „Ben, ich geh essen. Nicht in den Krieg.“

„Ich weiß. Es ist nur… Jack. Ich kann’s dir nicht erklären. Irgendwas an ihm… ich trau dem nicht.“

Ich runzelte die Stirn. „Weil er zu viel redet oder weil er mehr sieht als dir lieb ist?“

„Weil er nicht ehrlich ist.“

„Du kennst ihn kaum.“

„Und genau das ist das Problem.“ Er sah mich an. Und diesmal wich er nicht aus.

Jack wartete bereits, als ich ankam. Elegant, fast zu pünktlich. In seinem Mantel, den Kragen ordentlich hochgeschlagen, die Hände locker in den Taschen. Nicht nervös. Nicht zu gelassen. Gelernt, dachte ich. Der weiß, wie man sich inszeniert. „Sahra“, sagte er, als wäre mein Name etwas, das man schmeckt. „Alles Gute zum Geburtstag.“ Er öffnete die Tür, hielt sie lange genug auf, um eine kleine Verbeugung anzudeuten. Im Inneren des Restaurants schob er mir den Stuhl zurecht, bevor ich überhaupt Luft holen konnte, um danach zu fragen. Und kaum saßen wir, bestellte er den Aperitif – für uns beide. „Etwas mit Rosmarin, aber leicht. Nicht zu süß. Du wirst es mögen.“ Nicht möchtest du, sondern du wirst. Ich hob eine Braue, aber nur innerlich. Nach außen lächelte ich. Freundlich. Offiziell. Ich kann das.

„Danke. Sehr zuvorkommend.“

„Man hat nur einmal Geburtstag.“ Er griff in seine Manteltasche und zog ein kleines, sorgfältig verpacktes Päckchen hervor. „Ein symbolisches Geschenk. Nichts Großes.“ Ich nahm es. Vorsichtig. Zu viele Männer sagen nichts Großes, wenn sie zu viel Bedeutung meinen. Das Papier war matt und fest. Keine Schleife, aber exakt gefaltet. Darin: ein altes Buch. Eine Erstausgabe – nicht wertvoll im klassischen Sinn, aber mit Bedacht gewählt. Kunstgeschichte. Mein Thema. Mein Stil. Ich sah ihn an.

„Du hast dir Mühe gemacht.“

„Ich hab zugehört.“

Ein Kompliment? Oder eine Warnung? Ich sagte nichts. Sah nur kurz zur Tür – ein Reflex. Als würde Ben dort stehen. Mit verschränkten Armen, einem Gesicht wie Granit. Stattdessen: nur mein Spiegelbild im Fensterglas. Und irgendwo darin: ein kleiner, feiner Riss.

Das Essen war ausgezeichnet. Natürlich war es das. Jack hatte bestellt, ohne mich zu fragen. Wieder. Nicht mit Arroganz, sondern mit dieser abgeklärten Selbstverständlichkeit, die Männern eigen ist, die es gewohnt sind, dass man sie dafür bewundert. „Du magst doch Fisch?“, hatte er gesagt, als die Teller kamen. Keine Frage. Eine Feststellung. Und ja – ich mochte Fisch. Der Saibling war perfekt gegart, das Gemüse knackig, die Soße unverschämt fein abgeschmeckt. Ich hätte klagen können, aber nicht mit vollem Mund.

Das Restaurant war stimmungsvoll. Große Fenster zur Straßenseite, dahinter das nächtliche Glitzern der Stadt. Innen: Spiegel. Überall Spiegel. Keine aufdringlichen, sondern solche, die taten, als seien sie Teil der Architektur – aber sie beobachteten, verteilten das Kerzenlicht in Dutzende kleine Sonnen, die auf Gläsern, Wangen und Schultern tanzten.

„Du siehst wunderschön aus in diesem Licht“, sagte Jack, und nippte an seinem Glas. Ich lächelte.

„Das Licht ist fair. Es verteilt seine Gunst.“

„Und dennoch bleibt etwas hängen. Etwas, das sich nicht vervielfältigen lässt.“

Ich sagte nichts. Ein Schluck Wasser. Ein kleines Nicken. Weiteratmen. Wir redeten über das Wetter – natürlich. Über die Klimaanlage im Museum, die mal wieder zu kämpfen hatte. Über meine letzte Ausstellung.

„Du bist eine Frau mit Geschmack. Nicht nur bei Kunst. Ich sehe das sofort.“

„Man gibt sich Mühe.“

„Es ist nicht die Mühe. Es ist die Haltung. Diese Mischung aus Distanz und… Tiefe.“ Ich legte die Gabel beiseite. Jack lächelte. Breit. Aber nie zu breit. Er kannte seine Grenzen – oder wusste zumindest, wie man sie elegant übertrat.

„Ich habe selten jemanden getroffen, der gleichzeitig so kultiviert und so...“ – er ließ den Satz in der Luft hängen, wie ein Kleid auf einem Haken – „lebendig wirkt.“ Ich schwieg. Es war kein Kompliment mehr. Es war ein Finger, der über meine Haut fuhr, ohne mich zu berühren. Ich sah in den Spiegel gegenüber. Mein Gesicht zwischen Lichtern, Gläsern, Schatten. Irgendetwas daran war fremd.

Es geschah mitten im zweiten Glas Wein. Ohne Vorwarnung. Ohne Tusch.

„Ich habe vor, die Galerie zu kaufen.“

Ich hob den Blick. Zuerst dachte ich, er scherzt. Aber Jack scherzt nicht. Er formuliert Strategien.

„Die Galerie?“

„Ja.“ Er lächelte. „Nicht das Museum. Noch nicht.“

Ich verzog keine Miene. Das war der Moment, in dem man sehr gerade sitzen musste.

„Und was“, fragte ich, „hat das mit mir zu tun?“

„Sehr viel. Alles, eigentlich.“

Er beugte sich vor, stützte die Fingerspitzen locker aneinander.

„Ich möchte, dass du sie leitest. Als Galeristin. Offiziell. Mit allem. Verantwortung. Freiheit. Geld.“

Ich schüttelte langsam den Kopf.

„Du weißt, dass sie meiner Freundin gehört. Ich kann sie nicht einfach hintergehen.“

„Du würdest sie nicht hintergehen. Ich kaufe die Galerie. Damit entscheide ich, wer sie führt.“

Ich atmete durch die Nase. Leise. Kühl.

„Sie hat kein Gespür“, fuhr er fort, „sie hat kein Licht in sich. Ihre Welt passt besser zu Möbelhäusern mit günstiger Ausleuchtung. Aber du…“ Er senkte die Stimme, als würde er mir ein Geständnis machen. „Du hast die Vernissage gerettet. Du hast das Publikum elektrisiert. Die Presse. Die Käufer. Du hast aus einem sterbenden Raum einen lebendigen Ort gemacht.“ Ich sagte nichts. Noch nicht.

„Das kann man nicht lernen. Das hat man – oder man hat es nicht.“

„Und du meinst, ich hätte es.“

„Du bist es.“

Ich drehte mein Weinglas, betrachtete die Spiegelung darin. Mein Gesicht, zersplittert in Rot.

„Und das Museum?“

„Du bist Befehlsempfängerin. Du führst aus, was andere entwerfen. Du hängst Bilder auf, die andere auswählen.“

„Ich bewahre Kunst.“

„Du versteckst sie. Unter Vorschriften. Im Schatten anderer.“ Er ließ den Satz wirken. Und er wirkte. „Stell dir vor, du entscheidest. Allein. Deine Künstler, deine Räume, deine Botschaft. Du wirst gesehen. Nicht als Teil einer Institution, sondern als jemand, der etwas schafft. Das ist dein Ort.“

Ich spürte es. Wie sich etwas in mir regte. Nicht Zustimmung – aber der Reiz der Möglichkeit. Die Tür, die einen Spalt aufstand. Und dahinter: eine Bühne. Aber auch der Geschmack von Schuld. Und etwas anderes. Etwas Dunkleres.

Der Abend endete wie ein Theaterstück, bei dem der Applaus ausbleibt. Jack blieb bis zuletzt der perfekte Gastgeber. Bezahlt, den Mantel geholt, mir die Tür geöffnet. Kein Versuch, sich aufzudrängen. Kein „Komm noch mit“. Nur dieser Blick. Dieses kaum merkliche Nicken, das andeuten sollte, was hätte sein können – wenn ich nur gewollt hätte. Ich hatte nicht. Oder besser: Ich hatte widerstanden. Und es war nicht leicht gewesen. Nicht, weil ich ihm verfallen war. Sondern weil es einfach ist, sich in ein perfekt gedecktes Leben hineinzulehnen. Weil Macht und Begehren manchmal leiser sprechen als Vernunft. Und weil ich nicht aus Stein bin. Aber ich blieb aufrecht. Auch innerlich. Das Angebot zur Galerie – ich hatte weder zugestimmt noch abgelehnt. Nur gelächelt. Nur gesagt, dass ich darüber nachdenken würde. So, wie man es sagt, wenn man nicht denkt, sondern fühlt, dass da etwas nicht stimmt. Als ich die Tür meiner Wohnung schloss, war es still. Kein Echo, kein Nachhall des Abends. Nur ich. Und mein Spiegelbild in der Scheibe, das mich ansah, als wolle es fragen: Warum zitterst du noch? Ich dachte an Ben. An diese Nacht. Die in der Hütte. Nichts war daran stürmisch gewesen. Kein leidenschaftliches Ringen, kein Ziehen und Zerren, kein Spiel aus Nähe und Macht. Wir hatten einfach unsere nassen Sachen ausgezogen. Uns unter die kratzige Decke gelegt. Haut an Haut. Wortlos. Es war... wie? Es war nicht Begehren, das nach Erfüllung schrie. Es war ein Zittern, das aufgehört hatte. Eine Stille, die Wärme wurde. Da war kein Feuer – und doch brannte es noch heute in mir. Mit Jack hätte es Feuer gegeben. Lichterloh. Kurz. Hell. Und hohl. Mit Ben... war es gewesen, als hätte mein Herz einen Ort gefunden, ohne dass ich es begriffen hätte.

Ich schaltete das Licht aus, aber das Zimmer war nicht dunkel. Das Display meines Smartphones warf ein fahles Leuchten über die Bettdecke. Ich tippte kurz. Bin gut zu Hause angekommen. Alles okay. Gesendet. Die Antwort kam schnell. Wie war der Abend? Ich starrte auf die Worte. Sah Ben vor mir, wie er sie wohl geschrieben hatte – mit den Daumen, leicht zögerlich, nicht zu schnell, nicht zu spät. Ich hätte schreiben können, was ich wirklich dachte. Aber ich schrieb: Ganz okay. Zwei Worte, die nichts sagten. Zwei Worte, die eine Grenze zogen. Schlaf gut. Gute Nacht, kam zurück. Ich antwortete nicht mehr. Legte das Gerät auf den Nachttisch. Draußen summte die Stadt in leiser Gleichgültigkeit. Ich zog mich aus. Langsam. Nicht weil ich müde war – sondern weil ich wusste, dass danach nichts mehr kam. Kein Gespräch. Kein Kuss. Kein fremder Körper, der mich in Besitz nahm. Nur Stille. Und ich. In meiner Haut. Im Bett fühlte ich die Erschöpfung. Nicht körperlich – sondern als zähen Film über meinen Gedanken. Ich drehte mich zur Seite. Schob das Kissen zurecht. Atmete ruhig. Aber die Bilder kamen trotzdem. Jacks Hände. Sein Blick. Sein Atem nah an meinem Hals. Die Spiegel im Restaurant, in denen wir uns selbst sahen – fremd, verzerrt, verlangend. Sein Körper über meinem. Das Kleid auf dem Boden. Die Worte, die nicht mehr höflich waren, sondern roh. Ich wollte sie nicht. Diese Bilder. Aber sie kamen. Nicht wie Erinnerungen, sondern wie Schatten, die sich in meine Träume brannten. Und irgendwann war ich nicht mehr wach. Aber auch nicht wirklich fort.

03 – Ben

Die Bühne stand endlich. Zentimetergenau zwischen den beiden Deckenrosetten, deren Ränder sich längst vom Putz zu lösen begannen. Vier Meter achtzig – das war die Entfernung bis zur Kante des Gesimses. Ich hatte nachgemessen. Mit Augenmaß, dann mit dem Stahlband. Ich beugte mich gerade nach unten, die Finger schon am Hebel der Radbremse, als eine Stimme hinter mir auftauchte.

„Ben?“

Ich richtete mich halb auf. Der Kollege auf der anderen Seite der Bühne fluchte leise – das Ding war schwer, kippelig auf dem Steinboden. Ich drehte mich um. Jack. Schwarzer Mantel, schwarze Haare, schwarze Stimme.

„Weißt du, wo Sahra ist?“

„Nein.“

Jack blieb stehen, als hätte er nicht nur eine Frage gehabt, sondern einen ganzen Nachmittag lang Gespräch.

„Ich dachte, sie wäre hier. Sie hat neulich erzählt, dass sie den Stuck mag. Hat was gesagt von ‘verlorenem Himmel‘. Oder so.“

Ich nickte kaum merklich. Meine Hand war immer noch in der Luft, halb zurückgehalten von der unterbrochenen Bewegung. Jack trat näher. Der Blick ging nach oben, über die Risse im Gesims, die schuppige Ornamentik, das matte Gold, das keiner mehr als solches erkannte.

„Schön ist das“, sagte Jack. „Aber auch traurig irgendwie. Wie’n Lächeln von jemandem, der eigentlich längst weg ist.“

Ich schwieg. Ich kannte den Stuck. Hatte ihn fotografiert, vermessen, an ihm gekratzt, geschabt, geflucht, bewundert. Ich wusste, wo die Schwachstellen lagen, wo das Wasser reingekommen war. Ich brauchte keine Poesie dafür. Aber manchmal ertrug Ich sie.

„Wir müssen das sichern“, sagte ich leise, eher zum Raum als zu Jack. Meine Finger glitten zurück zum Hebel. Noch war kein Klick zu hören.

Kaum hatte ich den Hebel wieder in der Hand, rollte die Bühne los. Nur ein kleines Stück – aber genug, um mir fast die Finger einzuklemmen. „Verdammt!“ Dann kam der Schrei. Und gleich darauf das dumpfe Geräusch, wenn ein Körper aus zwei Metern auf Stein knallt. Ich rannte los, umrundete die Bühne. Mein Kollege lag da. Auf dem Rücken, die Augen offen, stöhnte.

„Hey. Was ist los? Was ist passiert?“ Keine Antwort, nur dieses Stöhnen. Die Luft um ihn flimmerte, als würde der Boden selbst nicht wissen, wie ernst es war. Ich griff nach dem Handy. 112. Sagte meinen Namen, den Ort, beschrieb die Lage. Knie neben ihm, meine Hände unter seinem Kopf, keine Ahnung ob ich’s richtig machte. Hauptsache ruhig halten. Dann kam Jack. Langsam, fast gelangweilt, als wär das hier irgendein scheiß Museumsbesuch.

„Du solltest besser aufpassen, Ben.“

Ich sah hoch. „Was?“

„Das war eine Warnung. Eigentlich warst du gemeint.“

Ich stand auf. Langsam. Alles in mir wollte zuschlagen, aber irgendwas in seiner Stimme hielt mich zurück. „Was redest du da?“ Jack trat näher, sah kurz nach oben, zum Stuck.

„Nur weil ich weiß, wie sehr Sahra dich mag, hab ich’s dir erspart. Diesmal. Nächstes Mal trifft es dich.“ Mir wurde kalt. Nicht weil ich’s glaubte. Sondern weil ich’s nicht ganz ausschließen konnte.

„Du brauchst Hilfe, Jack.“ Er grinste.

„Sahra ist meine. Ich hab sie gewählt. Du hast hier nichts verloren.“

Dann hörte man die Sirenen. Erst entfernt, dann näher. Jack drehte sich um, hob eine Hand, als würde er sich von irgendwem verabschieden, der ihm egal ist. Und dann dieses Kichern. Hell. Schief. Viel zu lang. Ich wünschte, ich hätte mir die Ohren zuhalten können. Aber ich stand einfach da – und hörte zu.

Der Notarzt kam nicht weiter. Zwei Leute hockten über dem Körper, spritzten irgendwas, tasteten nach Puls, wechselten Blicke, redeten schnell. Ich stand da. Hielt Abstand. Im Weg war ich trotzdem. Ich hätte ihn sichern müssen. Hätte nur den verdammten Hebel runterdrücken müssen. Drei Sekunden. Kein Aufwand. Ich hab’s nicht getan. Ich hab mich ablenken lassen. Wegen Jack. Der eine Sanitäter schüttelte den Kopf. Der andere fluchte leise, richtete sich auf. „Es tut mir leid“, sagte er. „Er war sofort bewusstlos. Massive innere Verletzungen. Wir konnten nichts mehr tun.“ Ich nickte. Ich glaube, ich hab genickt. In meinem Kopf war Stille. Kein Wort, kein Gedanke. Nur dieses Kichern. Nicht laut. Nicht echt. Aber es war da. Und die Stimme, die gesagt hatte: „Eigentlich warst du gemeint.“ Mein Blick blieb auf dem Boden. Steinfliesen. Staub. Ein Klecks Blut. Ich wollte schreien. Nicht laut. Nur irgendwie – raus damit. Aber ich stand da. Hände in den Taschen. Rücken gerade. Und wusste: das hier werde ich nicht los. Nie.

Sie kam kurz nach der Mittagspause. Die kleine Bude roch wie immer: nach Staub, nach Kaffee, nach Werkzeuggriff. Ich saß auf der Kiste beim Fenster, den Rücken gegen die Wand gepresst, die Hände noch immer schmutzig.

„Ben?“ Ich hob den Kopf. Sahra trat ein, schloss die Tür hinter sich.

„Man hat’s mir gesagt. Dein Kollege. Das mit dem Sturz.“ Ich nickte. Sagte nichts. Sie wartete. Ich spürte ihren Blick. Schließlich begann ich.

„Ich hab die Bühne nicht gesichert. Weil Jack mich angesprochen hat. Genau in dem Moment. Ich wollte grade den Hebel ziehen, dann kam er. Und dann…“ Ich stockte. Sahra kam näher, setzte sich gegenüber auf den kleinen Hocker.

„Jack?“

„Er war plötzlich da. Hat nach dir gefragt. Und nach dem Stuck. Hat mich vollgelabert. Ich war nur kurz abgelenkt, aber… es hat gereicht.“ Sie sah mich an. Geduldig.

„Und dann?“ Ich schluckte.

„Als mein Kollege gefallen war – Jack kam nochmal. Hat gesagt… es sei ’ne Warnung. Dass eigentlich ich gemeint war. Aber weil du… weil du mich magst, hätte er mir noch ’ne Chance gegeben.“ Stille. Sahra schüttelte leicht den Kopf.

„Ben… ich versteh, dass du durcheinander bist. Und unter Schock. Aber das ist nicht fair.“

„Was meinst du?“

„Jack die Schuld zu geben. Du hast die Bühne nicht gesichert. Das ist furchtbar, ja. Aber so was… mit Warnung und Absicht… das klingt wie aus ’nem billigen Horrorroman.“ Ich starrte sie an.

„Ich denk mir das nicht aus, verdammt.“

„Warum dann?“ Ihre Stimme war weich, aber fest. „Wegen Eifersucht? Meinst du, er will was von mir? Ben… wir sind Freunde. Du und ich. Beste Freunde. Mehr nicht.“ Ich wollte etwas sagen. Irgendwas. Aber sie stand schon auf.

„Ich bin enttäuscht. Von der Lügengeschichte. Wenn du wieder klar denken kannst, meld dich.“ Dann war sie draußen. Die Tür fiel leise ins Schloss. Und ich blieb sitzen. Auf der Kiste. Allein mit Staub, Kaffeegeruch – und einem Lachen, das nicht vergehen wollte.

Ich weiß nicht mehr, die wievielte Flasche das hier ist. Drei? Vier? Scheißegal. Zu viele jedenfalls. Sitze hier in meiner Küche, Licht flackert manchmal, Kühlschrank brummt wie immer, aber heute klingt’s irgendwie anders. Alles klingt anders. Ich krieg das nicht aus’m Kopf. Dieses Grinsen. Diese Stimme. Eigentlich warst du gemeint. Wer sagt so was? Und warum glaub ich ihm? Warum sitzt der noch immer in meinem Schädel, als hätte er sich da eingerichtet? Sahra… Sie hat mir nicht geglaubt. Hat dagestanden, mir zugehört, genickt – und dann hat sie’s mir nicht geglaubt. Hat gesagt, das sei 'ne Lügengeschichte. Dass ich Jack irgendwas unterstelle. Und das mit der Warnung – sie hat gelacht. Nicht laut, aber innerlich. Ich hab’s gesehen. Ich kann’s ihr nicht mal richtig verdenken. Wenn mir das einer erzählen würde – ich würd auch denken: Spinner. Oder Alkohol. Oder Trauma. Vielleicht ist’s ja auch so. Vielleicht bin ich kaputt. Vielleicht war das alles einfach nur… zu viel.

Aber dann war da dieser Blick von Jack. Dieses… Wissen in den Augen. Dieses Ich weiß mehr als du je wissen wirst. Und das war echt. Verdammt echt. Und dann hat sie gesagt: Du und ich. Freunde. Mehr nicht. Ich hab’s geschluckt. Weil ich nix gesagt hab vorher. Weil ich zu feige war. Weil ich dachte: kommt schon noch der richtige Moment. Kam nicht. Kam Jack. Und jetzt? Jetzt bin ich der mit dem Bier, mit dem toten Kollegen, mit der "Geschichte", an die keiner glaubt. Aber ich weiß, was ich gesehen hab. Und gespürt. Irgendwas stimmt mit dem Kerl nicht. Überhaupt nicht.