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Du wolltest immer wissen, was in Dantes Göttlicher Komödie steckt - bist aber schon nach den ersten Versen im Mittelalter-Nebel stecken geblieben? Dann begleite Dante noch einmal - diesmal durch Neonflure, Zellentüren und Richtersäle. Ein namenloser Häftling erhält ein zerfleddertes Taschenbuch: DANTE - INFERNO. Je tiefer er liest, desto realer wird die Hölle um ihn: Panther und Leo beherrschen den Hof wie die Bestien der Wollust, Habgier rollt in Form von Zigarettenschulden, und im Styx aus Verleumdung droht er zu ertrinken. Doch die Kreise enden nicht im Beton. Terrassen der Reue, ein wiederaufgerollter Prozess, eine Brieffreundin namens Bea - alles spiegelt Dantes Läuterberg. Und als die Haftmauern endlich hinter ihm liegen, wartet der modernste Himmel überhaupt: ein Jugendknast-Fußballplatz, auf dem ein einziges faires Spiel schwerer ist als jedes Wunder. "Knastlektüre" erzählt die komplette Göttliche Komödie - Hölle, Läuterung und Paradies - in klarer, heutiger Prosa, eingewebt in einen rasanten Gefängnis-Plot. Kein Verslatein, keine Fussnotenepilepsie, dafür jede Bild-Wucht des Originals. Wenn du wissen willst, warum die Hölle heute noch leuchtet und wie Erlösung nach Neon riecht - steig ein. Dante wartet im Zellentrakt.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorweg
Prolog
Teil 1 – Inferno (Hölle)
Teil 2 – Purgatorio (Läuterung)
Teil 3 – Paradiso (Paradis)
Nachwort
Struktur der Göttlichen Komödie
Die meisten begegnen Dante Alighieris Göttlicher Komödie – wenn überhaupt – als dickem, ehrwürdigem Klassiker, eingehüllt in Fußnoten und allerlei lateinische Anspielungen. Doch wer sich durch das Pergament kämpft, entdeckt dort nichts Geringeres als einen mittelalterlichen Horror- und Fantasyroman: eine Reise voller Monster, albtraumhafter Landschaften, moralischer Prüfungen und grandioser Showdowns.
Dieses Buch ist der Versuch, Dantes gewaltige Bilderflut in einfacher, heutiger Sprache nachzuerzählen, ohne ihren Kern zu verkleinern. Der Stoff erscheint hier nicht als isolierter Nachdruck, sondern eingebettet in eine moderne Rahmenhandlung: Ein anonymer Häftling erhält hinter Gittern ein ramponiertes Exemplar der Commedia und entdeckt, dass jeder Höllenkreis auf unheimliche Weise seinen Alltag spiegelt.
Damit Sie originalen und neuen Text sofort unterscheiden können, sind alle Passagen, die direkt aus Dantes Werk stammen, kursiv gesetzt. Wer tiefer tauchen will, findet das vollständige italienische Versepos in unzähligen Ausgaben frei zugänglich.
Wer war Dante?
Dante Alighieri (1265 – 1321) stammte aus Florenz und wurde als Dichter, Politiker und Exilant Zeuge inneritalienischer Machtkämpfe.
Die Göttliche Komödie schrieb er in der Volkssprache (nicht auf Latein!) – ein mutiger Schritt, der Literatur für ein breiteres Publikum öffnete.
Das Werk gliedert sich in Inferno (Hölle), Purgatorio (Läuterung) und Paradiso (Himmel) – insgesamt 14 233 Verse in Terzinenform.
Jede jenseitige Landschaft ist zugleich moralische Landkarte: Sünden, Reue und Gnade bekommen sichtbare, oft schockierende Gestalt.
Was Sie hier erwartet
Inferno – eine Episodenfolge aus Gewalt, Machtspiel und langsamer Erkenntnis.
Purgatorio – der Moment, in dem unser moderner „Dante“ begreift, dass Erkenntnis allein nicht genügt.
Paradiso – eine Suche nach Versöhnung, die weder hinter Gefängnismauern noch außerhalb des Menschen endet.
Wenn dieses Buch erreicht, dass Leserinnen und Leser nach dem letzten Kapitel Lust haben, einmal selbst in Dantes Original zu blättern – oder zumindest erkennen, wie zeitlos Horror, Fantasy und Hoffnung bereits vor 700 Jahren verflochten waren, dann hat es sein Ziel erfüllt.
Willkommen auf einer Reise durch Beton, Stacheldraht und Sternenlicht. Möge jeder Schritt durch die Hölle ein Stück Himmel ahnen lassen.
Seit drei Tagen war er hier. In dieser Zelle, die kaum breiter war als der Schatten, den er auf dem Boden hinterließ. Noch wusste niemand, wer er war. Kein Name, keine Geschichte, kein Laut. Und das war gut so. Denn wenn sie wüssten, warum er hier war, würden sie ihn zerreißen – nicht aus Wut, sondern aus Prinzip. Er kannte die Spielregeln. Ganz unten in der Hierarchie bedeutete: keine Fehler, keine Blicke, kein Aufbegehren. Also schwieg er. Bewegte sich nur, wenn es sein musste, und selbst dann so leise, als wollte er durch die Ritzen in den Wänden verschwinden. Die Langeweile nagte an ihm wie feuchter Beton an den Knochen. Doch schlimmer war die Wut. Sie hockte in seiner Brust wie ein Tier, das er nicht füttern durfte. Zeigte er sie, würden sie ihn nicht hassen – sie würden sich über ihn beugen, grinsen, und ihn noch tiefer in den Dreck treten. Er wollte überleben. Mehr nicht. Nicht auffallen. Nicht kämpfen. Und auf keinen Fall schreien.
Doch es fiel ihm schwer, die Wut in sich zu halten. Er saß hier für eine Tat, die er nicht begangen hatte. Verurteilt, weggesperrt, abgestempelt – unschuldig. Nicht, dass er ein Heiliger gewesen wäre. Es gab Dinge in seiner Vergangenheit, für die man ihn mit gutem Grund hätte belangen können. Dinge, die er getan hatte, weil es keine anderen Wege gegeben hatte. Aber das hier – das war nicht seine Schuld. Nur interessierte das niemand. Schon gar nicht hier, wo jeder Zweite sich für ein Opfer hielt, für ein Missverständnis im Justizapparat. „Ich bin unschuldig“ – das war ein Satz, der in diesen Mauern klang wie eine Lüge, bevor man ihn ausgesprochen hatte.
Er hörte den Wagen auf dem Flur. Die klappernden Räder der Gefängnisbücherei. Vielleicht war es Zeit, etwas zu lesen. Bevor die Langeweile ihn auffraß. Als der Wagen an seiner Zelle hielt, trat er vorsichtig näher. Der Häftling mit dem Bücherdienst musterte ihn gelangweilt. „Hab nichts für dich.“ Er blickte auf den Wagen. Der war randvoll mit Büchern. „Der ist doch voll“, sagte er. „Alles vorbestellt. Hättest vorher was sagen müssen.“ Dann griff der andere nach unten. Warf ihm ein Buch zu. Ein schmales, abgenutztes Ding. Der Einband dunkelgrün, der Titel kaum lesbar. „Hier. Lies das. Hat noch keiner geschafft.“ Der Blick war spöttisch. „Zu schwer. Alter Kram. Kein Schwein kommt da durch.“ Dann grinste er breit. „Viel Spaß, Dante.“ Und mit diesem Grinsen – überlegen, gehässig – war der Name geboren.
Er nahm das Buch und ging zurück. Setzte sich aufs Bett. Schlug irgendwo in der Mitte auf. Ein paar Zeilen. Dann noch ein paar. Seine Wut kochte wieder hoch. Was für ein Scheiß. Wer sollte das lesen? Das war kein Stil. Das war Folter. Er klappte den Umschlag zu und las den Klappentext. Na klar. Tiefstes Mittelalter. Der Typ, dessen Name ihm gerade als Spitzname „verliehen“ worden war, hatte vor hunderten Jahren gelebt. Kein Wunder, dass der Kram so geschrieben war. Aber dann zuckte er mit den Schultern. Was soll's. Zeit hatte er genug. Und bevor ihn die Langeweile auffraß, konnte er sich auch durch diesen Mist quälen. Er blätterte zurück. Seite eins. Los geht’s.
Ich erwachte. Oder vielleicht war ich nie eingeschlafen. Jedenfalls lag ich da – auf kaltem, feuchten Boden – und rings um mich nur Finsternis. Kein Geräusch. Kein Wind. Kein Horizont. Nur diese Bäume, schwarz wie ausgebrannte Himmelssäulen, so dicht, dass kein Licht durch ihre Kronen drang. Ich erhob mich langsam. Meine Beine zitterten. Der Boden war uneben, von Wurzeln durchzogen wie von Adern unter der Haut der Welt. Der Gestank von Moder und altem Laub lag in der Luft, süßlich und faul zugleich. Ich wusste nicht mehr, wie ich hergekommen war. Nur dass ich mich verirrt hatte. Nicht auf einem Weg – nein, das war lange her. Ich hatte mich in mir selbst verloren. Und jetzt stand ich da. Mitten im dunklen Wald. Der Versuch, einen Pfad zu erkennen, war sinnlos. Der Nebel schluckte alles. Formen, Geräusche, Richtung. Ich ging ein paar Schritte. Das Knacken der Äste unter meinen Füßen klang wie brechende Knochen. Dann sah ich es. Ein Licht. Weit entfernt, flackernd, als wäre es nicht real. Ich rannte los, blind, stolpernd. Immer dem Licht entgegen. Bis mir ein Schatten den Weg versperrte.
Ein Tier. Kein Tier. Etwas dazwischen. Es hatte die Gestalt einer Pantherin, doch in den Augen lauerte Gier. Ihre Schritte waren lautlos, ihre Zähne weiß wie Splitter aus Eis. Ich wich zurück. Ein zweites Wesen trat aus dem Nebel. Ein Löwe – groß, muskelbepackt, mit einer Mähne wie aus lebendem Rauch. Er brüllte nicht. Er starrte mich nur an. Ich drehte mich um, suchte eine andere Richtung – und da war sie: eine Wölfin, mager und grau, aber mit einem Blick, der keine Hoffnung kannte. Ich konnte keinen Schritt weiter. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, wich der Weg zurück. Die Tiere rückten näher. Ihre Präsenz war nicht von dieser Welt. Und dann – eine Stimme. „Diese Pfade führen dich nur tiefer in das, was du fürchtest.“
Ich wirbelte herum. Ein Mann stand da. In ein dunkles Gewand gehüllt, mit einem Gesicht, das weder alt noch jung war. Die Augen ruhig. Die Stimme wie aus einer anderen Zeit. „Wer bist du?“ fragte ich. „Ein Schatten nur“, sagte er, „ein Echo des Wortes. Ich war Dichter, bevor das Leben mir den Stift entzog.“ Ich starrte ihn an. Sein Blick blieb fest. „Und du“, fuhr er fort, „bist verloren. Nicht, weil du gesündigt hast, sondern weil du vergessen hast, wer du warst.“ „Kannst du mir helfen?“ fragte ich. Ein Moment verging. Dann nickte er. „Ich kann dir den Weg zeigen. Aber du wirst durch Orte gehen, die nicht für Augen gemacht sind. Du wirst Dinge sehen, die dich zerbrechen können.“ Ich schluckte. „Warum solltest du mir helfen?“ Ein Hauch von Trauer huschte über sein Gesicht. „Weil jemand darum bat.“ Ich wollte fragen: Wer? Doch er wandte sich schon um. „Komm. Noch sind wir nicht jenseits der Hoffnung.“ Er setzte sich in Bewegung. Ich folgte. Die Tiere waren verschwunden. Oder sie hatten uns nur ziehen lassen, weil der Wald selbst entschieden hatte, dass mein Weg noch nicht enden sollte. Und so gingen wir los. Hinab. In die Tiefen unter der Welt.
Er hatte den Anfang gelesen. Oder sich eher durchgequält. Fast jede Zeile drei Mal. Manchmal vier. Jetzt dröhnte sein Kopf. Was zum Teufel hatte er da gelesen? Worum ging es überhaupt? Ein Wald. Dunkel. Irgendwas mit Verirrung. Und dauernd diese Vergleiche, diese Bilder, diese Worte, die sich umeinander wanden wie Schlangen. Warum konnten die im Mittelalter nicht einfach sagen, was sie meinten? Warum musste alles durch tausend Schleier gesprochen werden? Er schloss das Buch. Ließ es neben sich aufs Bett sinken. Dann drehte er sich zur Wand und schloss die Augen. Wenigstens der Schlaf redete nicht in Rätseln.
Ein Poltern reißt ihn aus dem Schlaf. Die Tür schlägt auf. Drei Häftlinge stürmen in die Zelle. Ohne Vorwarnung. Ohne Eile. Zwei von ihnen reißen seine Decke weg, stoßen gegen den Tisch, stoßen gegen ihn. Der Dritte, der die Führung hat, bleibt stehen. Er schaut sich um. „Dante“, brüllt er. „Soso. Du willst das Buch wirklich lesen …“ Sein Blick gleitet durch die Zelle. Er weiß genau, wonach er sucht. Dann sieht er es. Das Buch. Liegt neben dem Kopfkissen. Er greift danach. „Zuerst lese ich es.“
In seinem Kopf schwirren die Gedanken. Wenn er jetzt nichts tut, wird er für immer der Fußabtreter sein. Wenn er sich wehrt, wird alles schlimmer. Das weiß er. Das wissen alle. Hier drin gilt ein anderes Gesetz. Ein unausgesprochenes. Wegen dem, wofür er verurteilt wurde, ist er Freiwild. Was soll er tun? Früher hat er oft mit seinem Großvater Mühle gespielt. Der alte Mann starb viel zu früh. Aber er hatte Geduld. Und einen Blick für Fallen. Immer wieder lockte er „Dante“ in eine Zwickmühle. Kein Ausweg. Egal was man zieht – es wird schlimmer. Genau das ist es jetzt. Eine Zwickmühle.
Aber sein Stolz war stärker. Dieser verdammte Stolz, der ihm schon so oft das Genick gebrochen hatte. Er hätte einfach den Mund halten können. Abwarten. Sich fügen, wie so viele andere. Aber genau das konnte er nicht. Nicht, wenn ihn jemand auf diese Art behandeln wollte. Ihm ging es nicht um das Buch an sich. Es liest sich sowieso sehr beschissen. Es geht darum das man ihm etwas wegnehmen wollte. Ein Buch, das bis jetzt nicht der Hit war, aber eben auch seinen Stolz! „Du kannst lesen?“, fragte „Dante“ und hob den Kopf, so gut es ging. Seine Stimme klang heiser, aber fest. Die Antwort kam prompt. Ein Faustschlag traf ihn hart in den Magen. Er keuchte auf, ging in die Knie, krümmte sich vor Schmerz. Die Welt drehte sich kurz. Bevor er reagieren konnte, waren sie alle drei über ihm. Er spürte Tritte, Schläge, Fäuste auf Rücken, Rippen, Nacken. Der Raum wurde eng, laut, schmerzhaft. Wie durch Watte hörte er sein eigenes Stöhnen. Kein Ausweg. Kein Schutz. Nur die kalte Zelle und drei Körper, die auf ihn eindroschen.
Eine Stimme durchschneidet die Prügelei wie ein Messer. Laut. Klar. Befehlsartig. „Genug!“ Die Schläge hörten auf. Nicht aus Einsicht – aus Irritation. Der Rädelsführer drehte sich um, wütend. „Was geht dich das an? Verpiss dich.“ Doch die Stimme blieb ruhig. Fest. „Ihr schlagt ihn sonst noch tot. Und dann? Dann wird’s schwierig. Jetzt können wir noch was erzählen von Stolpern, Wut und Selbstverletzung. Glaubt euch zwar keiner, aber was anderes ist nicht zu beweisen. Er wird euch nicht verraten.“ Einen Moment herrschte Stille. Der Anführer musterte den Sprecher. „Und was macht dich da so sicher?“ Die Antwort kam ohne Zögern. „Er hängt an seinem Leben.“
Ein letzter Tritt, dann verschwinden die drei. Schnell. Wortlos. Zurück bleibt der Lärm in Dantes Schädel. Und ein brennender Schmerz in jeder Faser. Der Vierte tritt vor. Er reicht ihm die Hand. Hilft ihm auf, ohne ein Wort. „Danke“, murmelt „Dante“. Seine Stimme ist rau. „Das hättest du nicht tun müssen.“ Der andere grinst. „Nur wenn ich gewollt hätte, dass das hier dein absolutes Ende ist.“ Er klopft sich den Staub von der Hose. „Ich bin Mehmet“, sagt er. „Und was wollten Panther, Leo und Isegrimm von dir?“ In „Dantes“ Kopf flackert ein Gedanke auf. Ein Name. Vergil? Er zögert, dann antwortet er: „Das Buch.“ Mehmet nickt. Ein stilles, wissendes Nicken. Er weiß, dass es nicht ums Buch ging. Nie ging es um das Buch. Das war nur der Vorwand. Aber er fragt nicht weiter. Er dreht sich um und geht.
„Dante“ räumt die Zelle auf. Langsam. Mechanisch. Er weiß, dass die Wärter keinen Vorwand brauchen. Aber er will ihnen auch keinen liefern. Zerknüllte Kleidung. Ein umgestürzter Stuhl. Sein Becher, zerbrochen. Die Scherben kehren ihm Erinnerungen ins Fleisch. Auf dem Tisch liegt das Buch. Das Buch, das ihm die Schläge eingebracht hat. Er weigert sich, daran zu denken. An den eigentlichen Grund. Er schiebt den Gedanken weg. Begräbt ihn unter Routine. Aber das Buch liegt da. Mitten in der wiederhergestellten Ordnung. Wie ein Hohn. Wie eine stille Anklage. Er starrt es an. Lange. Dann streckt er die Hand aus. Nimmt es. Und liest weiter.
Ich weiß nicht, wie lange wir gegangen waren. Der stille Lärm des verdammten Waldes war verstummt, als hätte jemand einen Schleier über die Welt gezogen. Kein Schrei mehr, kein Heulen, kein Wimmern – nur noch das Tappen meiner Schritte und das leise Rascheln der Kutte meines Begleiters. „Vergil“, flüsterte ich, ohne zu wissen, warum ich flüsterte. „Was ist das für ein Ort?“ Er antwortete nicht sofort. Sein Blick war geradeaus gerichtet. Sein Gang ruhig wie immer, aber in seinen Augen lag etwas, das ich bisher nicht gesehen hatte: Zögern. Oder war es Bedauern? „Dies“, sagte er schließlich, „ist der erste Kreis. Der Limbus.“
Wir traten durch eine Art Nebelwand. Dahinter öffnete sich eine weite Ebene, sanft gewellt wie ein schlafendes Meer. Kein Feuer. Kein Blut. Kein Gestank. Stattdessen: Licht. Ein fahles, mattes Leuchten, das aus keiner Quelle kam. Es war einfach da. Ohne Wärme. Ohne Schatten. In der Ferne sah ich Bäume. Hoch, still, ohne Wind. Eine Art Burg ragte hinter ihnen empor. Und da waren Gestalten. Viele. Schweigend, sitzend, gehend, lesend. Wie in einer Bibliothek ohne Bücher. Wie in einem Tempel ohne Götter. „Wer sind sie?“, fragte ich. Mein Herz klopfte schneller. Etwas in mir wollte näher treten. Etwas in mir wollte weglaufen. Vergil blieb stehen. „Die Großen“, sagte er leise. „Die, die vor dem Licht kamen. Die, die mit Vernunft lebten, mit Anstand und Weisheit. Aber ohne Taufe.“ Ich blickte ihn an. „Also... Heiden?“ Er nickte. „Philosophen. Dichter. Könige. Und auch Kinder, gestorben vor der Zeit. Unschuldig, aber ungeweiht.“
Ein Windzug fuhr durch mein Innerstes, doch kein Blatt bewegte sich. Die Stille war ohrenbetäubend. Ich ging weiter. Dann sah ich sie. Fünf Gestalten kamen auf mich zu, gehüllt in Gewänder, die nicht alterten. Sie sprachen nicht – und doch wusste ich, dass sie mich anerkannten. Vergil trat einen Schritt zur Seite. „Ehre ihnen“, sagte er. „Denn sie erkennen dich als ihresgleichen.“ Ich erstarrte. „Mich?“ „Du hast den Mut, lebendig zu gehen, wo nur Tote wandeln. Sie ehren den Wanderer.“ Die Fünf standen nun vor mir. Ein Mann mit hoher Stirn und fragendem Blick. Ein anderer mit gekräuseltem Bart und wissender Miene. Eine Frau mit leuchtendem Blick, die ihre Hände auf ein geschlossenes Buch legte. Und zwei Jünglinge mit ernsten Gesichtern, deren Augen an mir hängen blieben wie an einer Frage. Ich wusste ihre Namen nicht. Und doch kannte ich sie. Platon. Aristoteles. Sappho. Hippokrates. Cicero. Oder waren es andere? Es spielte keine Rolle. „Sucht ihr Erlösung?“, fragte ich. Meine Stimme zitterte. Der Bärtige antwortete. „Erlösung ist uns nicht verheißen.“ Sein Ton war sanft, fast milde. „Nur Erinnerung.“ „Und das genügt euch?“, fragte ich. Die Frau legte den Kopf schräg. „Was genügt einem, der nie das Licht gekannt hat? Wir waren edel im Schatten. Doch auch der Schatten vergeht.“
Vergil legte eine Hand auf meine Schulter. „Komm.“ Ich drehte mich noch einmal um. Da war ein Kind. Es saß auf dem Boden, die Knie umklammert. Ein kleiner Junge mit großen Augen. Er sagte nichts. Aber in seinem Blick lag eine Frage, die niemand beantworten konnte. Ich wollte zu ihm, aber Vergils Griff wurde fester. „Nicht einmal du kannst sie befreien“, sagte er. „Das ist der Preis.“ „Welcher Preis?“, fragte ich. „Gnade – die nur denen gilt, die im Licht geboren wurden.“ Ich sah noch einmal zurück, als wir weitergingen. Der Nebel schloss sich hinter uns. Und in meinem Inneren schloss sich etwas mit ihm. Eine Tür vielleicht. Oder ein Zweifel.
„Dante“ legte das Buch beiseite. Langsam. Als würde es nach ihm greifen, wenn er es zu schnell ablegte. Das, was er eben gelesen hatte, schwirrte ihm im Kopf herum. Kreise, Schleifen, Bilder – aber nichts ließ sich greifen. Gedanken kamen und verschwanden, als würden sie sich absichtlich entziehen. Wie Nebel hinter Gittern. Abgesehen davon fiel es ihm immer noch schwer, zu lesen, wie sein Namensvetter, Widerwillens, geschrieben hatte. Dieser Ton, diese Worte, diese Bilder – sie waren so weit weg von allem, was er kannte. Und doch … war da etwas. Etwas, das sich festgehakt hatte. Nicht mit Gewalt, sondern mit einer Art sanfter Hartnäckigkeit. Ein Haken in der Seele. Ohne Schmerz, aber mit Nachhall.
Mehmet schob den Kopf durch den Türspalt. „Kontrolle gleich“, sagte er knapp. Dann sah er sich um. Die Zelle war in Ordnung. Stuhl stand, Decke gefaltet, nichts lag herum. „Du warst schneller als die Wärter“, murmelte er anerkennend. Aber dann sah er genauer hin. „Dante“ saß auf dem Bett. Die Arme auf den Knien, den Blick ins Nichts gerichtet. Das Buch lag neben ihm, anscheinend unangetastet. „Was ist los mit dir?“, fragte Mehmet leise. Keine Neugier in der Stimme, nur leiser Ernst. Doch bevor „Dante“ antworten konnte, öffnete sich die Tür ganz. Zwei Wärter traten ein. Einer davon sah Mehmet. „Raus. Sofort.“ Mehmet hob die Hände, zuckte mit den Schultern. „War nur ’n Hinweis.“ Dann verschwand er. Die Kontrolle war schnell. Ein Blick auf den Tisch, einer unters Bett. Keine Fragen. Kein Kommentar. Nur ein Nicken. Dann waren sie wieder weg. Und „Dante“ war wieder allein.
Aber allein war „Dante“ nur kurz. Die Tür ging erneut einen Spalt auf. Mehmet war zurück. Er lehnte sich gegen den Rahmen, verschränkte die Arme. „Also“, sagte er. „Was ist jetzt los mit dir?“ „Dante“ sah nicht auf. Sein Blick blieb am Boden haften. „Das Buch“, murmelte er. Mehmet folgte seinem Blick. „Das da?“ Er musterte es wie einen toten Fisch. „Was ist denn mit dem blöden Buch?“ „Dante“ zuckte mit den Schultern. „Anscheinend gar nicht so blöd“, sagte er. „Wäre es nur nicht in so einem … blöden Stil geschrieben. Wie ein endloses Gedicht.“ Mehmet hob eine Augenbraue. „Na dann ist es doch blöd. Gedichte sind was für Mädchen.“ Er grinste breit. Aber sein Ton war nicht wirklich spöttisch. Eher neugierig. Und ein kleines bisschen respektvoll.
„Dante“ hob den Blick. Er sah Mehmet direkt an. „Glaubst du, dass Unschuldige bestraft werden?“, fragte er. „Oder besser: Dass sie in einer Situation sind, die einer Strafe gleicht … obwohl sie nichts falsch gemacht haben?“ Mehmet runzelte die Stirn. Ein paar Sekunden sagte er nichts. Dann schnaubte er leise. „Du willst mir nicht erzählen, dass du unschuldig bist.“ Er verschränkte die Arme. „Weißt du, wie viele hier das sagen? Jeder zweite. Vielleicht sogar mehr.“ Er schüttelte den Kopf. „Die meisten kriegen dadurch nur eins: Noch mehr Zeit hier drin.“ Er drehte sich um, klopfte zweimal mit der Faust gegen den Türrahmen. Dann ging er. Keine Wut in seinem Ton. Keine Abwehr. Nur diese ernüchterte Müdigkeit, die Menschen in sich tragen, die zu oft angelogen wurden.
Nur Sekunden später tauchte Mehmets Kopf erneut im Türspalt auf. Er sagte nichts sofort. Sah „Dante“ nur an – kurz, prüfend, vielleicht ein wenig enttäuscht. Dann: „Ich dachte, du bist anders als die anderen hier.“ Ein Schulterzucken. „Hab mich wohl getäuscht.“ Er wollte schon wieder verschwinden, doch dann fügte er hinzu – leiser, fast beiläufig: „Bis morgen.“ „Dante“ nickte kaum merklich. „Bis morgen“, sagte er. Seine Stimme war abwesend, wie jemand, der einen Satz spricht, den er selbst nicht mehr ganz versteht. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken weiter. Ungeordnet. Unaufhaltsam. Als wäre da ein Mahlwerk in ihm in Gang gesetzt worden, von einem Buch, einer Frage, und einem einzigen, müden Blick.
„Dante“ starrte an die Decke. Die Gedanken in seinem Kopf wollten nicht verstummen. Was, wenn das hier gar kein Knast war? Was, wenn das hier … der moderne Limbus war? Ein Ort ohne Schmerz, aber ohne Hoffnung. Ein Ort, wo man lebt, aber nicht weiterkommt. Ein Ort, wo man wartet. Nicht auf Erlösung – sondern darauf, vergessen zu werden. Der Gedanke blitzte auf. Hell. Dann verwarf er ihn. Dafür müssten alle hier drin unschuldig sein. Und das waren sie nicht. Nicht einmal annähernd. Neunundneunzig Komma neun Prozent – schuldig. Nicht immer im juristischen Sinne. Aber im Leben. Also … war es nur seine Zelle? Sein ganz persönlicher Limbus? Oder war das schon zu viel Pathos für jemanden, der einfach nur behauptete, nichts getan zu haben? Aber er hatte nichts getan. Nicht das, was man ihm vorwarf. Nicht das, wofür man ihn verurteilt hatte. Und genau das war der Gedanke, der ihm am meisten zu schaffen machte.
Wenn das hier sein Limbus war – warum dann diese Wut in ihm? Die Seelen im Buch, die Schatten im ersten Kreis, sie waren ruhig. Leer. Melancholisch, ja – aber ohne Hass. Ohne Zorn. Und er? In ihm loderte etwas. Nicht laut. Aber echt. Bitter, heiß, unversöhnlich. Er hatte gelesen, dass dort niemand schrie. Niemand tobte. Und doch wollte er genau das. Schreien. Toben. Zuschlagen. Nicht gegen jemanden. Gegen alles. Von draußen drangen Stimmen herein. Gedämpft, aber unverkennbar. Panther. Leo. Isegrimm. „Dante“ spannte sich an. Die Muskeln angespannt wie Drahtseile. Dann – eine andere Stimme. Klar. Ruhig. Aber mit einer Schärfe, die schnitt. „Verschwindet.“ Mehmet. Die anderen sagten noch etwas, aber „Dante“ verstand es nicht. Die Worte blieben wie durch Wasser. Die Tür öffnete sich nicht. Und für einen Moment war da nur Stille.
Aber Stille herrschte nur draußen. Nicht in seinem Kopf. Dort rauschte es weiter. Ununterbrochen. Er versuchte sich einzureden, dass das hier sein ganz persönlicher Limbus war. Ein Ort ohne Ausweg, aber auch ohne Urteil. Manchmal glaubte er fast daran. Für einen Moment. Ein winziger Funke von Akzeptanz. Doch jedes Mal, wenn er kurz davor war, sich diesen Gedanken zu eigen zu machen, kehrten die Zweifel zurück. Wie Schatten, die nie ganz weichen. Er konnte sie nicht greifen. Aber auch nicht vertreiben. Warum? Woher kamen sie? Er hatte selten gezweifelt. Früher war alles einfach gewesen. Was er tat, tat er, weil es ihm etwas brachte. Nicht weil es richtig war. Nicht weil es falsch war. Nur, weil es ihm nützte. Keine Fragen. Keine Gewissensbisse. Nur Zweck. Doch jetzt, in dieser Zelle, mit diesem Buch in der Hand und der Wut im Bauch, verlor der Zweck an Gewicht. Und die Zweifel gewannen an Gestalt.
Er griff nach dem Buch. Und warf es. Hart. Mit voller Kraft. Es schlug gegen die gegenüberliegende Wand, klatschte zu Boden, und blieb aufgeschlagen liegen. „Scheiß Buch!“, fauchte er. Sein Atem ging schwer. Sein Herz pochte wild. Was tat er da? Was ließ er zu? Er musste an sich denken. Gerade hier drin. Nur an sich. So war das Spiel. So war es immer gewesen. Überleben bedeutete: Denken wie früher. Fühlen wie gar nicht. Was ihm nützte – das zählte. Nur das. Und dieses Buch? Was hatte das mit Nutzen zu tun? Er starrte zum Boden. Das Buch lag offen, auf dem Rücken, wie ein Käfer mit gespreizten Beinen. Und doch – es sah aus, als grinste es ihn an. Als wollte es sagen: So nicht, Freundchen. Mich wirst du nicht mehr los.
Seit einem Tag liegt das Buch nun an der Wand. Aufgeschlagen. Der Umschlag wellt sich leicht. „Dante“ hat es nicht mehr angerührt. Trotzdem meint er, es sehe ihn an. So wie etwas dich ansieht, das längst weiß, dass du verloren hast. Er hört den Bücherwagen draußen im Flur. Räder über Linoleum. Klackern, quietschen. Endlich. „Ich will tauschen“, sagt er, als der Wagen vor seiner Zelle hält. Der Häftling dahinter – sehnig, glatzköpfig, schon ewig hier – schaut nur kurz auf. Dann sieht er das Buch am Boden. „Tauschen, ja?“ Er zieht die Augenbrauen hoch. „Und was ist mit deinem Panther gegen Panther? Keine Lust mehr auf Literatentango?“ „Gib mir einfach was anderes.“ „Hast doch gesagt, das wär'n Witz.“ Der Alte schnalzt mit der Zunge. „Aber weißt du, was ich witzig find?“ Er grinst, ein schiefes Ding voller Zahnlücken. „Dass du echt denkst, du kommst hier raus. Aus dem Buch, mein ich. Oder aus dem Namen.“ „Was?“ „Du bist doch Dante, oder? So nennt dich hier jeder. Passt doch. Hölle, Irrweg, großer Abstieg. Wird 'ne lange Reise.“ Er lacht. Schiebt den Wagen weiter. Keine Bücher für ihn heute.
„Dante“ flucht innerlich. Nicht laut. Nicht hier. Die Luft ist dünn genug. Er will keine Szene machen, kein Theater mit dem Bücher-Alten. Aber der Spott sitzt noch. Verdammt tief. Die Tür geht auf. Mehmet. „Dante“ schaut hoch, genervt. Kein Wort. Nur ein Blick, der sagt: Was willst du denn jetzt? Mehmet bleibt im Türrahmen stehen. Lächelt leicht. „Du hast doch gesagt: Bis morgen.“ „Dante“ blinzelt. Atmet aus. „Stimmt. Sorry.“ Er deutet auf die untere Pritsche. „Setz dich.“ Mehmet kommt langsam näher, lässt sich nieder. Nicht zu nah, nicht aufdringlich. „Dante“ sieht ihn an. Diesmal offen. Erwartungsvoll. Er sagt nichts. Aber alles in seinem Blick fragt: Warum bist du wirklich hier?
Mehmet bricht das Schweigen. „Wegen gestern … ich dachte, du bist anders.“ Er schaut nicht hin, nur auf den Boden. „Aber du bist wohl doch wie die meisten anderen hier.“ „Dante“ runzelt die Stirn. Hebt den Blick. „Weißt du, warum ich hier bin?“ Mehmet nickt, ohne zu zögern. „Vergewaltigung. Darum hassen dich die meisten.“ Ein kurzes Zucken geht durch „Dantes“ Gesicht. Dann spricht er leiser: „Und warum hast du mich dann vor den drei anderen befreit? Warum hast du gestern dazwischengehauen?“ Mehmet schaut ihn jetzt an. Offen, ernst. „Es gibt einfach zu viel Gewalt“, sagt er. „Irgendwann muss es doch mal aufhören.“
„Dante“ zögert. Sekundenlang. Dann atmet er durch. Langsam. „Ich glaube nicht, dass du mir glaubst“, sagt er. „Niemand tut das. Aber ich will dir trotzdem erzählen, was passiert ist.“ Mehmet sagt nichts. Hebt nur eine Augenbraue. „Okay“, meint er dann ruhig. „Erzähl.“ Er lehnt sich zurück, lässt die Hände locker zwischen den Knien baumeln. „Ich verspreche nichts“, fügt er hinzu. „Aber ich werde versuchen zuzuhören. Und drüber nachzudenken.“ „Dante“ nickt. Einmal. Dann schaut er auf den Boden. Und beginnt zu sprechen.
„Ich war mit ihr zusammen“, sagt „Dante“ nach einer Weile. Seine Stimme ist ruhig, aber da liegt etwas in ihr – ein Flackern, das sich nicht ganz unterdrücken lässt. „Sie war gerade mal neunzehn. Ich weiß, ich bin über dreißig. Kein guter Look, oder?“ Er sieht nicht zu Mehmet. Redet weiter. „Aber du hättest sie sehen sollen. Sie war einfach … so lebendig. So frei. Und sie wollte mich. Hat mich angeflirtet, wie irre. Ich hab’s nicht abgewehrt. Klar nicht. Ich wär doch blöd gewesen.“ Ein bitteres Lächeln. „Ihre Eltern? Aus gutem Haus. Weißt du schon. Anwälte, Stiftung, Golfclub. Ich war der Dreck unter ihren Schuhen. Die Beziehung – keine Chance. Also haben wir sie geheim gehalten.“ Er verschränkt die Arme. Löst sie wieder. „Natürlich haben wir miteinander geschlafen. Oft. Es war nicht schmutzig, weißt du? Nicht … dreckig. Es war echt. Ich hab sie geliebt. Vielleicht dumm, aber ja, geliebt.“ Dann wird seine Stimme leiser. „Beim letzten Mal wollte sie es unbedingt draußen. Am Strand. Versteckt, im Gebüsch. Ich hab’s für sie getan. Für den Kick. Für das Spiel. Ich wollte ihr gefallen.“ Er holt tief Luft. „Aber da war jemand. Ein Typ, ein Spanner. Hat uns beobachtet. Sie hat’s nicht bemerkt, aber ich schon. Später hab ich rausgefunden, dass er bei ihrem Vater arbeitet. Irgendein Security-Mensch, der wohl mehr weiß, als er sollte.“ Ein kurzes Schweigen. Dann die Worte, die wie Steine fallen. „Sie hat alles abgestritten. Gesagt, ich hätte sie gezwungen. Sie hätte nein gesagt. Ich hätte einfach … genommen, was ich wollte.“ „Dante“ schluckt. „Und der Vater hat’s geglaubt. Oder geglaubt glauben zu müssen. Anzeige. Und dann, damit’s auch wirklich durchgeht … hat er Zeugen gekauft. Zwei Typen, die angeblich gesehen haben, wie ich sie gedrängt hab. Alles gelogen. Aber sauber vorbereitet. Die Familie weiß, wie man sowas aufbaut.“ Er schaut jetzt Mehmet an. Direkt. „Und jetzt sitz ich hier. Als Vergewaltiger. Mit einem Buch auf dem Boden, das mich anstarrt. Und mit nem Spitznamen, den ich nicht gewählt hab.“
Mehmet hatte ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen. Kein Stirnrunzeln, kein Nachhaken. Nur dieses ruhige, aufmerksame Gesicht. Jetzt sagt er nichts. Die Stille zwischen ihnen ist dicht wie Nebel. „Dante“ spürt sie. Diese Stille. Und er hält sie nicht aus. „Ich wusste es“, sagt er leise. „Ich wusste, dass du mir auch nicht glauben würdest.“ Mehmet hebt den Kopf. Sein Blick ist klar. „Ich denke gerade nach“, sagt er ruhig. „Ich halte mein Versprechen.“ Dann steht er auf. Streckt sich kurz. Geht zur Tür. Am Türrahmen bleibt er stehen. Dreht sich noch einmal um. „Bis morgen?“ „Dante“ nickt. Ein einziges Mal.
„Dante“ bleibt allein zurück. Die Tür fällt ins Schloss, dumpf. Der Raum wird wieder kleiner, enger, leerer. Sein Blick fällt auf das Buch. Es liegt immer noch da, an der Wand. Und doch: Etwas daran scheint sich zu regen. Mich wirst du nie mehr los, raunt es ihm zu. Nicht laut. Nur in seinem Kopf. Oder schlimmer – in seinem Innersten. Er bleibt noch einen Moment reglos. Dann beugt er sich. Langsam. Widerwillig. Nicht, weil er will. Sondern weil er nicht anders kann. Er hebt das Buch auf. Die Seiten sind leicht verknickt. Er schlägt die nächste Seite auf. Und liest weiter.
Kaum hatten meine Füße die Schwelle des ersten Kreises verlassen, wurde alles enger. Der Raum, der Atem, die Hoffnung. Der Pfad bog sich hinab, wie eine gebrochene Rippe unter der Haut der Welt. Die Luft wurde dick, sie brannte nicht – aber sie schmeckte nach Eisen und Moder. Und dann kam das Geräusch. Ein Heulen. Nicht tierisch. Nicht menschlich. Irgendetwas dazwischen. Wie Stimmen, die sich ineinander verkeilt hatten und nie mehr lösen konnten. Sie kamen von vorn. Von unten. Von überall. Vergil sagte kein Wort. Er ging, wie er immer ging: voran, als wisse er längst, was auf uns wartete. Doch diesmal war sein Gang langsamer. Bedachter. Als ob auch er wusste, dass dieser Ort etwas anderes war. Kein Denkmal mehr. Kein Schatten. Sondern eine Wunde.
Dann tat sich der Raum auf – und ich trat hinein. Ich sah einen Wirbel. Einen Sturm. Aber keiner wie auf Erden. Kein Regen, kein Blitz. Nur Wind – ein schneidender, rastloser, kreischender Wind, der nichts liebte, nur zerrte und schlug. Und in diesem Wind: Körper. Hundert. Tausend. Ohne Zahl. Sie flogen. Sie fielen. Sie stürzten ohne Aufprall, nur um gleich wieder emporgerissen zu werden. Keine Ruhe. Kein Halt. Nur Strudel aus Fleisch und Haar, aus klammernden Fingern und weiten Mündern. Manche schienen sich umarmen zu wollen, doch der Wind riss sie auseinander, bevor sie sich fanden. Andere waren ineinander verwickelt, als wollten sie nie wieder loslassen – doch selbst das wurde ihnen verwehrt. Ich sah einen Mann, dessen Gesicht in Tränen stand, doch seine Hände tasteten ins Leere, immer wieder, als wollte er etwas greifen, das nicht da war. Ich sah eine Frau, wunderschön und blutleer, die sich selbst im Flug zu berühren schien, als müsse sie sich daran erinnern, dass sie einmal geliebt hatte.
„Wer sind sie?“, flüsterte ich. Ich wusste nicht, ob Vergil mich hören konnte. „Sie sind die Wollüstigen“, antwortete er. „Die, die sich vom Sturm der Leidenschaft tragen ließen. Jetzt trägt sie der Wind.“ Ich sah sie. Ihre Gesichter. Ihre Münder, wie sie stumm nach Namen riefen. Nicht nach Erlösung. Nach Wiederholung. „Dort“, sagte Vergil und wies in eine der Spiralen, wo zwei Schatten einander immer wieder nahe kamen, nur um einander im nächsten Moment wieder zu verlieren. „Das sind Francesca und Paolo.“ Und da erkannte ich sie. Francesca – ihr Haar wie ein Schleier aus dunklem Gold. Paolo – die Lippen blutend, nicht vom Tod, sondern vom Kuss. Ich trat näher. Der Sturm schrie mir ins Gesicht, riss mir die Kleider vom Leib der Sinne. Ich fror nicht. Ich brannte nicht. Ich war – nackt. Und plötzlich schien Francescas Blick sich mit meinem zu treffen. Nur ein Augenblick, nur ein Zittern in der Luft. Doch ich sah in ihren Augen die Geschichte. Nicht nur ihre. Auch meine. Der Wind raunte mir zu. Von Nächten, die flüsterten. Von Küssen, die Grenzen zogen und dann verwischten. Von Händen, die sagten: Ich will. Und anderen, die sagten: Ich nehme. Und ich wusste: Die Hölle beginnt nicht mit Gewalt. Sie beginnt mit dem Wunsch, geliebt zu werden, egal um welchen Preis. Ich schwankte. Der Boden war längst verschwunden. Nur Vergils Hand hielt mich. „Sieh nicht zu lange hin“, sagte er. „Manche Stürme werfen dich nie wieder frei.“ Und ich sah weg. Nur für einen Moment. Aber ich wusste: Ein Teil von mir flog dort bereits mit.
Ich wollte mich abwenden. Ich wollte weitergehen, wie Vergil es riet. Doch da war Francescas Blick – und er hielt mich fest wie ein Haken im Fleisch. Ihr Leib taumelte im Sturm, doch ihre Augen ruhten still. Und dann sprach sie. Nicht mit der Stimme eines Geistes, sondern wie ein Mensch, der sich erinnert. „Es war Liebe“, sagte sie. „Am Anfang. Wie sie alle beginnt.“ Der Wind ließ sie nicht landen, aber ihre Worte fanden mich. „Er war der Bruder meines Mannes. Paolo. Sanft. Schweigsam. Er sah mich nicht wie die anderen. Er sah mich, wie ich war, nicht wie ich sein sollte.“ Ich sah, wie Paolo neben ihr kreiste, ein Schatten aus Sehnsucht. „Wir waren oft allein“, fuhr sie fort. „Doch nie zu nah. Nie über die Grenze. Bis zu jenem Abend.“ Sie stockte. Dann hob sie den Kopf, als würde sie in etwas blicken, das nur sie sehen konnte. „Wir lasen. Ein Buch. Über Lancelot. Und wie er Guinevere küsste. Nur ein Kuss. Aber als wir die Stelle lasen …“ Der Sturm schlug wilder, als wollte er den Kuss selbst zerreißen. „… da sah er mich an. Und ich ihn. Und seine Lippen trafen meine. Wie im Buch.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Das war der Moment. Kein Wille mehr. Kein Denken. Nur Wärme. Nur das Ende des Wartens.“ Ich konnte nicht sprechen. Ich konnte nur hören. „Ein Augenblick nur. Doch mein Mann sah uns. Oder er wusste es längst. Und so starben wir. Noch am selben Abend.“ Ich schloss die Augen. Doch ihre Stimme fand mich trotzdem. „Wenn du einmal geliebt hast, Dante“, flüsterte sie, „so, dass du dachtest: Jetzt bin ich ganz … dann verstehst du, warum ich hier bin.“ Und dann wehte sie weiter. Fort von mir. Fort von der Welt. In den ewigen Kuss des Windes.