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Sag mir, Tod, wie spät es ist Ein Erzählband über das Sterben, das Erinnern - und das, was bleibt. In diesem literarischen Zyklus begegnet der Tod den Menschen in vielen Gestalten: als stiller Begleiter, als Vater, als Pfarrer, als Fremder mit einem Traum im Gepäck. Mal erscheint er in einer Blume, mal in einem Uhrwerk, in einem vergessenen Bahnsteig, in einem letzten Blick. Dreizehn Geschichten erzählen von Momenten des Abschieds - aber auch von Nähe, Hingabe, Mut und Weitergabe. Ein Kind hört Stimmen, wenn es barfuß über das Friedhofsgras geht. Eine alte Frau schreibt Träume, die niemand überlebt. Ein Handy zeigt Todesfälle, bevor sie geschehen. Und eine Blume entscheidet, wer gehen darf - und wer noch nicht. Der Tod wird hier nicht gefürchtet, sondern betrachtet - mit Melancholie, mit Würde, mit Zärtlichkeit. Die Geschichten sind fein miteinander verwoben, ihre Figuren tauchen leise wieder auf, ihre Orte berühren einander wie Schatten im Nebel. Ein außergewöhnlicher Erzählband - still, poetisch, tröstlich und klug. Für Leserinnen und Leser, die das Ende nicht scheuen - sondern verstehen wollen, wie nahe es manchmal dem Anfang ist.
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Vorwort
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
Nachwort
Ich habe euch nie darum gebeten, mich zu mögen. Und ich nehme es euch nicht übel, dass ihr mich meidet, vertreibt, verspottet. Ich verstehe das. Ich verstehe euch. Ihr seid Wesen des Anfangs. Ich bin das Danach. Und was nicht jetzt ist, macht euch Angst. Aber ich war immer da. Im ersten Schrei eures Lebens lag schon mein Flüstern. In jedem Abschied, jedem Schnitt, jedem Wandel: mein Schatten. Ich bin nicht die Strafe. Ich bin das Maß. Ich bin nicht das Ende. Ich bin der Moment, in dem ihr aufhört, euch selbst zu belügen. Manche von euch haben mich gesehen. Nicht direkt – das geht nicht. Aber sie haben mich gespürt. Sie haben ihre Füße ins Gras gesetzt und meine Stimmen gehört. Sie haben Blumen verschenkt, die nicht blühen sollten. Sie haben Zeit geschenkt, die ihnen selbst fehlte. Sie haben mich geliebt. Und ich habe sie geliebt. In diesen dreizehn Geschichten bin ich nicht immer zu sehen. Aber ich war da. Manchmal als Flüstern. Manchmal als Frage. Manchmal als Vater. Du wirst mich erkennen. Nicht gleich. Nicht laut. Aber irgendwann – auf Seite siebzehn, oder auf Seite zweihundert. Und dann wirst du merken, dass ich dir nie fremd war. Ich bin nicht euer Feind. Ich bin nur der, der am Ende der Straße auf euch wartet. Ohne Uhr. Ohne Eile. Aber mit offenen Augen. Sag mir, Mensch – willst du überhaupt wissen, wie spät es ist?
– Der Sohn von Zeit und Leben
Michi – so nennt man sie, weil sie „Michaela“ nie mochte – öffnet die kleine Gartenpforte, die im Wind leise klappert, und tritt auf den verwilderten Pfad, der zum Bungalow ihres Großvaters führt. Er ist jetzt ihrer. Vererbt, wie man sagt, als wäre das Herz eines Menschen ein Möbelstück, das man weitergibt. Aber für Michi war er mehr als nur ein Großvater. Er war der, der ihr nicht Bücher vorlas, sondern Geschichten aus dem Nichts gebar – am Küchentisch, zwischen zwei Teetassen, mit einem Lächeln im Mundwinkel, das schon verriet, dass er selbst nicht wusste, wohin die Reise ging. Ihr Großvater war Schriftsteller. Aber seine schönsten Geschichten hat er nie aufgeschrieben. Er hat sie ihr erzählt. Nur ihr.
Michi bleibt einen Moment im Garten stehen. Für die Nachbarn war er nie mehr als ein Ärgernis – zu wild, zu unordentlich, zu sehr gegen das System aus akkuraten Hecken und linientreuen Rasenflächen. Aber Michi hat diesen Garten immer geliebt. Weil er atmete. Weil er sich weigerte, etwas anderes zu sein als er selbst. Der Rasen war keine disziplinierte Armee aus Grashalmen, sondern eine Wiese mit Eigenwillen – weich, widerspenstig, voll kleiner Überraschungen. Die Büsche standen, wie sie wollten, nicht wie sie sollten. Und der Apfelbaum war kein gezähmter Spalierträger, sondern ein gewachsener Riese. So hoch, dass man erst klettern musste, um seine Früchte zu erreichen. Michi war oft oben in seinen Ästen, ihre Eltern unten bleich vor Angst – doch ihr Großvater hatte dann immer diesen Blick, diesen stummen Stolz, der sagte: Schau sie dir an. Meine Enkelin. Eine, die sich traut.
„Ah, Frau Michaela.“ Die Stimme kommt von links, reißt Michi aus ihren Gedanken wie ein plötzlicher Windstoß ein Blatt vom Ast. Sie schaudert leicht – nicht nur wegen des Tons, sondern wegen des Namens. Niemand nennt sie so. Niemand, den sie mag. Der Nachbar steht an seinem Zaun, akkurat wie immer. Die Hemdknöpfe geschlossen, der Blick abschätzend freundlich. „Sie sind jetzt also die Besitzerin des Bungalows? Werden Sie hier wohnen wie Ihr Großvater?“ Noch bevor Michi antworten kann, hebt er die Hand zu einer beiläufigen Geste, als sei ihm der nächste Satz bloß so eingefallen. „Wissen Sie, ehrlich gesagt – ich fand das ja nie gerecht. Dass er hier dauerhaft wohnen durfte. Das ist in unserer Kleingartensparte eigentlich gar nicht erlaubt.“ Sein Lächeln bleibt aufgesetzt, doch in den Augen flackert ein winziger Triumph. Michi sagt nichts. Nicht, weil sie keine Antwort hätte – sondern weil der Garten hinter ihr leiser spricht als alles, was dieser Mann je verstehen wird.
Noch bevor Michi etwas sagen kann, redet der Nachbar weiter, mit dieser Art nervösem Eifer, bei dem jedes Wort ein wenig zu eilig die Lippen verlässt. „Also... ich bin ja ehrlich gesagt froh.“ Er stockt – nur für einen Sekundenbruchteil, merkt, wie das klingt, und beeilt sich mit der Korrektur. „Nicht, dass Ihr Großvater… also… natürlich mein Beileid, selbstverständlich. Ich meine nur – vielleicht kümmert sich ja jetzt jemand um den Garten. Er entspricht nämlich nicht… also, nicht ganz dem, was die Kleingartensatzung vorsieht.“ Er lächelt wieder, dünn und künstlich, wie die Farbe auf einem alten Gartenstuhl. „Ich habe das nie ganz verstanden, wissen Sie? Dass er eine Ausnahmegenehmigung hatte. Dauerhaftes Wohnen ist hier eigentlich nicht erlaubt und schon gar nicht so ein wilder Garten. Nur weil er ein… fast berühmter Schriftsteller war?“ Das „fast“ betont er mit der Präzision eines Mannes, der es sich seit Jahren zurechtgelegt hat. Michi sieht ihn kurz an, sagt aber nichts. In ihrem Schweigen liegt kein Zorn – nur Müdigkeit. Und vielleicht ein Hauch von Verachtung.
In Michi überschlagen sich die Gedanken. Der Nachbar – dieser selbsternannte Hüter der Ordnung – sprüht sein kleines, jämmerliches Beamtendasein aus jeder Pore. Dabei ist er nicht einmal Beamter, nicht wirklich. Postzusteller. Aber weil sein Diensthemd ein Abzeichen trägt, glaubt er, er sei hier die Staatsmacht in der Kleingartenanlage. Es ist nicht ihr Großvater, den er verachtet. Es ist das, wofür er stand: für ein Leben jenseits der Vorschriften, für Freiheit, für das Recht, unordentlich zu sein – im Garten, im Denken, im Herzen. Solche Menschen wie dieser Nachbar fürchten genau das. Nicht das Chaos, sondern das Unangepasste. Das Lebendige. Sie sind nicht böse – das wäre zu viel der Ehre. Sie sind banal. Und darin liegt ihre größte Gefahr. Michi sagt noch immer nichts. Sie weiß, es würde nichts ändern. Und vielleicht ist Schweigen in diesem Moment die einzige Form von Widerstand.
Doch dann siegt der Trotz. Michi richtet sich innerlich auf, atmet einmal tief durch und schenkt dem Nachbarn ihr freundlichstes Lächeln – eines, das so viel Zähne zeigt, dass es fast schon beißt.
„Vielen Dank für Ihr Beileid“, sagt sie mit übertriebener Höflichkeit. „Und ja, ich werde hier wohnen. Ich hatte es zwar eigentlich nicht vor... aber jetzt, wo ich sehe, wie viel Wert Sie auf die Einhaltung von Regeln legen, ist es mir fast schon ein Bedürfnis.“ Sie macht eine kleine Pause, nicht weil sie überlegen muss, sondern um ihm Raum zu geben, ihre Worte voll auszukosten.
„Und der Garten... der bleibt, wie er ist. Im Andenken an meinen berühmten Großvater.“
Sie betont das Wort überdeutlich, lässt es fast wie einen Titel klingen. Dann fügt sie hinzu, als wäre es nur ein beiläufiger Gedanke: „Vielleicht bringe ich sogar eine kleine Gedenktafel an. Direkt am Apfelbaum. Für Besucher und Bewunderer.“ Der Nachbar öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Michi wendet sich ab und geht zur Haustür. Mit jedem Schritt fühlt sie sich leichter. Als hätte sie nicht nur das Gartentor geöffnet – sondern eine Geschichte betreten, die ihr Großvater für sie zurückgelassen hat.
Sie steckt den Schlüssel ins Schloss. Er lässt sich leicht drehen – nur einmal. Nicht zweimal, nicht dreimal. Nur einmal abgesperrt. Michi muss lächeln. Wenn das der Nachbar von der Post wüsste... Ein einziges Mal, und schon ist die Tür offen. Keine Sicherheit nach Vorschrift. Kein doppelt-verriegeltes Kleinbürgeridyll. Nur ein einfacher Riegel, dem das Leben vertraute.
Langsam drückt sie die Klinke herunter. Die Tür quietscht. Leicht. Alt. Wie eine Stimme aus einer anderen Zeit. Und Michi denkt bei sich: Ja!. Die Tür soll und muss quietschen. Ohne Quietschen kann ja jeder! Das wäre ja... normal. Sie tritt über die Schwelle. Und mit dem ersten Schritt ins Innere spürt sie: Hier beginnt etwas. Oder endet. Vielleicht beides.
Eine Weile bleibt Michi im Halbdunkel stehen. Ihre Augen gewöhnen sich langsam, doch ihre Nase erkennt sofort, was sich nicht verändert hat. Der vertraute Geruch liegt noch immer in der Luft – süßer Pfeifentabak, altes Papier, ein Hauch von Kaffee. Kaffee? Sie runzelt die Stirn. Das kann doch gar nicht sein. Der Duft von Kaffee verflüchtigt sich schnell. Zu schnell, um nach all der Zeit noch hier zu sein. Und doch ist er da – wie ein Flüstern, das sich in den Stoff der Gardinen eingenistet hat. Bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken kann, klopft es an der Tür. Nicht laut. Nicht fordernd. Aber bestimmt. Michi seufzt leise. Schon wieder Gegenwart. Schon wieder ein Schnitt durch den Strom der Erinnerung. „Herein“, ruft sie – leicht genervt. Nicht weil jemand da ist. Sondern weil sie gerade erst begonnen hatte, wieder hier zu sein.
Die Tür quietscht erneut – diesmal von außen – und öffnet sich einen Spalt breit. Ein grauer Wuschelkopf schiebt sich vorsichtig durch die Öffnung. „Hallo Michi?“ Dörthe. Sie ist so alt wie Michis Großvater – oder besser: wie er wäre, wäre er nicht gestorben. Dörthe ist die einzige in der Kleingartenanlage gewesen, mit der er wirklich gut auskam. Mit ihr war er auf Ostermärschen, auf Anti-AKW-Demos, bei Sitzblockaden und Lesungen, die mehr Protest waren als Literatur. Dörthe mochte den Garten, weil er eben nicht ordentlich war. Nicht wie die anderen, wo jeder Halm Befehl stand. Ihr eigener Garten musste Vorschriften entsprechen. Ihrer war genormt. Und sie durfte nicht dauerhaft hier wohnen. Nicht offiziell. Deshalb hatte sie oft bei Michis Großvater übernachtet. Und da es hier nur ein Bett gab... Michi muss lächeln bei dem Gedanken. Wie war das damals? Liebe, Sex und Freiheit? Vielleicht. Oder auch einfach nur Nähe. Wärme. Ein Mensch, der bleibt, wenn die Welt draußen wieder Ordnung spielen will.
Als hätte sie Michis Gedanken erraten, grinst Dörthe verschwörerisch. „Weißt du, dein Großvater war auch in diesem Bereich mit erstaunlich viel Fantasie gesegnet.“ Sie zwinkert. „Wir sind damals von einem Höhepunkt zum nächsten gewandert.“ „Frau Dörthe!“, ruft Michi – halb verlegen, halb lachend. Dörthe lacht kehlig, betritt nun ganz den Bungalow und lässt die Tür hinter sich zufallen. Doch bevor sie sie schließt, dreht sie sich noch einmal nach draußen. Der Nachbar steht immer noch am Zaun, steif wie ein Grenzpfosten. „Jetzt“, ruft Dörthe laut genug, dass er es ganz sicher hören kann, „werde ich Michi in die Geheimnisse der Liebe zwischen Frauen einweisen.“ Michi krümmt sich fast vor Lachen. Der Nachbar – bleich, mit offenem Mund – sagt nichts. Dörthe schließt die Tür. Drinnen riecht es noch immer nach Kaffee. Und nach Vergangenheit, die nicht verstaubt ist – sondern lebendig wie ein Feuer, das noch nicht verlöscht.
„Hör auf mit dem ‚Frau Dörthe‘“, sagt sie und schüttelt leicht den Kopf. „Das macht mich ja uralt. Du bist doch längst keine Kleine mehr. Du bist eine Frau. Eine, die ihren Mann auf der Baustelle steht – und, wenn ich das richtig gehört habe, den großen Kran bedient wie kaum ein Mann.“ Michi lächelt verlegen, aber stolz. Dörthe tritt weiter ins Zimmer, ihre Bewegungen gemächlich, aber voller Präsenz. Sie schaut sich um – nicht neugierig im Sinne des Nachbarn, sondern mit ehrlichem Interesse. „Ich hab dich schon gesehen, wie du das Gartentor geöffnet hast. Und... na ja, ich geb’s ja zu – ich bin auch neugierig. Was wird jetzt aus dem Bungalow? Und dem Garten? Wird er bleiben, wie er war? Oder wird alles glattgezogen, wie der Rest da draußen?“ Ihre Stimme klingt nicht vorwurfsvoll, eher wie eine leise Bitte. Michi antwortet noch nicht. Sie sieht Dörthe an – diese alte Rebellin mit dem wilden Herzen – und weiß, dass hier nicht nur das Haus ihres Großvaters vor ihr steht. Sondern auch ein Stück ihrer selbst.
„Na gut“, sagt Michi lächelnd. „Dann eben Dörthe. Und nicht Frau Dörthe – abgemacht.“ Sie reicht Dörthe die Hand, als sei sie ihr gerade erst vorgestellt worden – obwohl Dörthe sie schon kannte, als sie noch wacklig über die Gartenwiese tapste und in den Apfelbaum krabbeln wollte. Beide müssen lachen. Dann wird Michi ernst, aber nicht schwer. Eher entschlossen. „Ich hab eben mit dem Nachbarn gesprochen“, sagt sie. „Also... mit dem ‚Herrn von der Post‘.“ Dörthe verzieht das Gesicht wie jemand, der in eine Zitrone beißt. „Er hat wieder seine Paragraphen versprüht. Und ich glaube, das hat mir den letzten Schubs gegeben.“ Michi atmet durch. Ihre Stimme wird fester. „Ich werde nicht verkaufen. Ich wohne jetzt hier. Nutze das Sonderrecht meines Großvaters. Und der Garten bleibt, wie er ist. Verwildert. Frei. Wie er immer war.“ Sie blickt Dörthe an. „Das ist jetzt mein Zuhause.“ Dörthe nickt langsam. In ihren Augen glimmt ein Funkeln – vielleicht Stolz, vielleicht Dankbarkeit. Vielleicht beides.
Nach einer Weile, in der nur der alte Holzboden unter ihren Schritten knackt und der Staub im Sonnenlicht tanzt, sagt Dörthe leise: „Das ist nicht erst seit jetzt dein Zuhause. Das war es schon immer.“ Michi will etwas sagen, doch Dörthe hebt leicht die Hand – nicht um zu unterbrechen, sondern um den Moment zu halten. „Ich kann mich noch gut erinnern, wie du mit deinem kleinen Kinderfahrrad hier durch den Garten gedüst bist. Ganz in Rosa, mit flatternden Zöpfen und diesem entschlossenen Blick...“ Sie lacht leise. „Wie Pippi Langstrumpf. Nur dass du kein Pferd hattest. Aber in deiner Vorstellung war das Fahrrad eins. Und du bist geritten, Michi. Nicht gefahren. Geritten.“ Michi lächelt still. Etwas rührt sich in ihr – nicht Schmerz, nicht Freude. Etwas Tieferes. Sie blickt durch das Fenster in den Garten. Es war immer da. Und sie war immer Teil davon.
Sie betreten den Wohnraum. Licht fällt schräg durch die halb geöffneten Vorhänge, wirft Muster auf den Boden, als wollte er Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählen. „Setz dich doch“, sagt Michi, doch Dörthe winkt ab und geht hinüber zur kleinen Junggesellenküche. Michi musste lächeln. Diese „Küche“ hatte sie schon immer fasziniert. Von außen, wenn die Türen geschlossen waren, sah sie aus wie ein gewöhnlicher Schrank. Unauffällig. Still. Doch wer sie öffnete, entdeckte ein kleines Wunder: Links ein schmales Spülbecken, rechts zwei Kochplatten. Darunter, hinter einer weiteren Tür, ein winziger Kühlschrank und ein dunkler Raum, in dem Putzmittel und andere Notwendigkeiten wohnten. Über dem Becken zwei Fächer – eines für Tassen und Gläser, das andere für Teller, Schüsseln, vielleicht ein einzelnes Weinglas mit abgeschliffenem Rand.
Nichts daran war modern. Aber alles daran war vollständig. Wie der Großvater selbst: kein Mann des Überflusses, aber jemand, der alles hatte, was er brauchte. Und mehr als das.
Dörthe öffnet den kleinen Küchenschrank, der doch eigentlich viel mehr ist als nur ein Schrank, und holt zwei Tassen hervor. Dann – fast feierlich – entkorkt sie die Thermosflasche, die sie seit ihrem Eintreffen ununterbrochen in der Hand gehalten hat, und gießt dampfenden Kaffee ein.
Sie reicht Michi eine der Tassen, nimmt die andere und lässt sich in dem gemütlichen Sessel nieder, der immer ein wenig zu tief war, aber genau deshalb so bequem. Michi setzt sich auf den Stuhl am Schreibtisch – dort, wo früher ihr Großvater saß, wenn er schrieb, las, träumte. Sie nimmt einen kräftigen Schluck – und prustet den Kaffee fast augenblicklich wieder aus. „Was zum…?“ Dörthe lacht laut, herzlich, ungefiltert. „So hat Kurt ihn immer getrunken. Ein großer Schuss Wodka. Morgens, mittags, abends – der Kaffee musste brennen, hat er gesagt.“ Michi wischt sich die Tropfen vom Kinn, muss selbst lachen. „Na dann“, sagt sie und hebt die Tasse, „auf Kurt.“ Dörthe hebt ihre Tasse ebenfalls. „Auf Kurt.“
Nach einigen Minuten des Schweigens – beide versunken in ihre Gedanken, jeder mit ihrer eigenen Tasse in der Hand, als hielte sie mehr als nur Kaffee – fragt Michi plötzlich, fast flüsternd, als hätte sie selbst Angst vor der Frage: „Warum warst du eigentlich nicht auf der Beerdigung?“ Dörthe blickt nicht sofort auf. Sie stellt die Tasse ab, sieht einen Moment auf das Muster im Teppich, als suchte sie darin nach einer Antwort. „Ich hatte einen Hexenschuss“, sagt sie schließlich. Die Worte kommen zu schnell, zu glatt. Michi nickt langsam. Aber in ihr wächst ein leiser Zweifel – oder vielmehr: eine stille Gewissheit. Dörthe hatte keine Rückenschmerzen. Sie hatte Gewissensschmerzen. Denn sie wusste, dass Michis Vater sie nicht mochte. Nicht offen. Nicht laut. Aber spürbar. Er hatte es nie gezeigt, wenn Michi dabei war – denn er wusste, wie sehr sie nicht nur ihren Großvater liebte, sondern auch „Frau Dörthe“. Und vielleicht war genau das der Grund, warum Dörthe nicht kam. Nicht um sich zu schützen. Sondern um Michi nicht zwischen die Fronten zu stellen. Michi sagt nichts weiter. Aber sie sieht Dörthe an – und in diesem Blick liegt Zweifel. Und eine Frage.
Dörthe versucht verzweifelt, Michis Blick standzuhalten. Erst lächelt sie – zu schnell, zu bemüht. Dann senkt sie die Augen und starrt in ihre Tasse, als könnte der dunkle Rest darin eine Antwort geben. Doch der Blick bricht etwas in ihr. Langsam, mit einer Stimme, die leiser wird, je mehr sie spricht, sagt sie: „Aber du darfst das nicht weiter erzählen, Michi, ja? Bitte.“ Michi nickt. Dörthe atmet einmal tief ein. „Dein Vater... der konnte mich nie leiden. Du weißt es wahrscheinlich. Oder du hast es gespürt.“ Ein Zucken geht über Michis Gesicht – nicht Zustimmung, nicht Überraschung. Nur ein leiser Schatten. „In deinem Vater steckt ein großes Stück von unserem Post-Nachbarn. Vielleicht nicht ganz so schlimm, aber... du weißt, was ich meine.“ Sie lehnt sich zurück, als müsse sie Kraft sammeln. „Er hat mir immer die Schuld daran gegeben, dass sein Vater – also Kurt – sich von seiner Mutter getrennt hat. Deiner Großmutter. Die war ja Staatsanwältin. Eine Frau der Ordnung. Der Vernunft. Der Karriere.“ Sie macht eine Pause. „Und dann kam ich. Mit meinen Transparenten, meinen Demos, meinem lauten Lachen. Und Kurt ist gegangen.“ Sie schaut Michi an. „Dass er später berühmt wurde, und dass es ihm finanziell nicht schlecht ging – das hat es vielleicht ein bisschen besser gemacht. Aber nur ein bisschen. In den Augen deines Vaters bin ich die, die alles kaputt gemacht hat.“ Dann, leise, fast entschuldigend: „Und ich wollte nicht, dass du dazwischen gerätst. Weißt du, trauernde Menschen... die sind nicht immer gerecht. Die fühlen mehr, als sie denken. Und ich war mir sicher, dass es laut geworden wäre. Richtig laut. Und das... das hättest du nicht verdient.“ Sie senkt den Blick. „Darum war ich nicht da. Nicht bei der Beerdigung.“
Michi steht wortlos auf, geht zu Dörthe hinüber – und nimmt sie in den Arm. Kein dramatisches Umfassen, kein großes Zerfließen. Nur Wärme. Nur Nähe. Dörthe zögert einen Moment, dann legt sie den Kopf an Michis Schulter. Als sie sich lösen, glänzen ihre Augen. Mit brüchiger Stimme fragt sie: „Würdest du mir... erzählen, wie es war? Die Beerdigung?“ Michi nickt. Auch in ihren Augen stehen Tränen. „Ja. Sehr gerne.“ Sie geht zurück zum Schreibtisch, setzt sich langsam. Legt die Hände auf die Tischplatte, als müsse sie sich sammeln – und beginnt leise zu erzählen.
Michi steht vor dem Eingang zum Friedhof. Schwarzer Rock, weiße Bluse, ein schwarzes Bolerojäckchen darüber. Und diese Lackschühchen. Schwarz, eng, glänzend – und so unbequem, dass jeder Schritt sich anfühlt wie eine Prüfung. Sie fühlt sich unwohl. Nicht nur, weil sie gleich Abschied nehmen muss von ihrem Großvater – dem Menschen, der ihr in all den Jahren am nächsten war. Sondern auch wegen dieser Kleidung. So etwas würde sie sonst nie tragen. Sie ist nicht das „Mädchen“, als das man sie heute sehen will. Wenn sie jetzt ein Kollege von der Baustelle sehen würde... Der Spott wäre ihr sicher. Wochenlang. Alles, was sie sich in zwei Jahren aufgebaut hat – Respekt, Zugehörigkeit, Gleichrang – wäre dahin. Ein Rock reicht oft, um alles einstürzen zu lassen. Und trotzdem steht sie so hier. Weil ihr Vater sie darum gebeten hat. Weil manche Dinge größer sind als Trotz. Aber in ihrem Innersten hört sie eine Stimme – warm, verschmitzt, sanft rebellisch. Lass sie reden, Michi. Wir wissen’s besser. Es ist Dörthes Stimme. Und für einen Moment steht Michi ein wenig aufrechter.
Die innere Stimme, die Michi eben noch aufgerichtet hatte, verstummte jäh – verdrängt von einer anderen. „Guten Morgen, Michi“, sagte ihr Vater. Seine Stimme war neutral. Ruhig. Fast geschäftsmäßig. Michi zuckte kaum merklich zusammen. „Was genau soll an diesem Morgen gut sein?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Ein kurzes Räuspern. Die Mutter. Bevor der Vater etwas erwidern konnte, wandte sich Michi ihr zu, trat einen Schritt vor und nahm sie in die Arme. Die Umarmung war still, aber ehrlich. Dann erst wandte sie sich dem Vater zu, reichte ihm die Hand. „Guten Morgen“, sagte sie. Nicht warm. Nicht kalt. Nur korrekt. Er erwiderte den Händedruck – vielleicht einen Moment zu lang, vielleicht zu fest. Aber da war schon das nächste Schweigen zwischen ihnen.
Ihr Vater trug einen schwarzen Anzug, darüber einen leichten, makellos sitzenden Sommermantel. Auf dem Kopf ein schwarzer Hut, im Gesicht eine Sonnenbrille – obwohl der Himmel bedeckt war, von einem Hochnebel, der das Licht dämpfte und hinter dessen Grau die Sonne sich versteckte. Er war 110% korrekt. Wie immer. Mit den Bügelfalten seiner Hose hätte man Beton schneiden können. Neben ihm stand Michis Mutter – ein älteres Ebenbild ihrer Tochter. Dieselbe Haltung, dieselbe Stirn, dieselben Augen, nur müder. Man sah ihr an, dass auch sie in ihren Schuhen litt. Und dass sie schwieg, weil das in solchen Momenten von ihr erwartet wurde. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr sagte der Vater: „Wir sollten gehen.“ Nicht zu spät. Nicht zu früh. Perfektes Timing. Er setzte sich in Bewegung, die Mutter hinter ihm, wie ein Schatten, den man vergessen hatte. Michi folgte. Langsam. Nicht, weil sie trödelte – sondern weil es ihr einziger stiller Protest war.
Vor der kleinen Trauerkapelle hatten sich bereits gut ein Dutzend Menschen versammelt. Michi ließ den Blick über die Gruppe schweifen, suchte nach dem einzigen Menschen, der ihr in diesem Moment wirklichen Halt geben konnte. Aber „Frau Dörthe“ war nicht da. Noch nicht. Die meisten Gesichter waren ihr fremd. Bekannte ihres Vaters, Kollegen vielleicht, entfernte Verwandte. Und zwei Reporter.